Einsamer Engel von YvaineLacroix ================================================================================ Kapitel 3: Taken by a stranger ------------------------------ Ich schlug die Augen auf und bemerkte verwirrt, dass mein Gesicht tränennass war. Ich richtete mich auf und fragte mich was da gerade eben mit mir passiert war. Das konnte unmöglich nur ein Traum gewesen sein, dazu war alles zu intensiv und detailliert gewesen. Außerdem hatte ich noch nie zuvor so starke Gefühle in einem Traum gespürt. Ich musste im Schlaf eine Art Vision gehabt haben, bei der ich die Erlebnisse der Vergangenheit noch einmal hatte aufleben lassen. Doch wie war so etwas möglich? Mit gerunzelter Stirn starrte ich auf meine Hände. Erst jetzt merkte ich, dass ich die verwelkte Rose immer noch fest umklammert hielt. Im Schlaf musste ich diese wohl sehr stark gedrückt haben, denn mittlerweile waren die trockenen Blütenblätter fast alle abgefallen. Die einst so schöne Rose war nun nur noch ein verblasster Schatten von damals. Nicht mehr und nicht weniger. Und da bemerkte ich etwas, was mir eigentlich schon viel früher hätte auffallen müssen. Von der toten Blume in meinen Händen gingen keinerlei Schwingungen mehr aus. Die tiefe Traurigkeit, die ich beim Anfassen verspürt hatte, war verschwunden. Konnte es sein, dass die Rose mir die Vision beschert hatte? Immerhin war diese Blume einst ein Geschenk des Phantoms an Christine gewesen und im Traum hatte ich schließlich immer nur seine Empfindungen wahrgenommen. Als Empathin hatte ich schon immer die Gefühle und Stimmungen meiner Mitmenschen gespürt, aber so eindringlich wie vorhin war es bisher noch nie gewesen. Die Rose musste die starken Emotionen, die in ihr versiegelt gewesen waren, im Schlaf an mich weitergegeben haben. Das mochte absurd klingen, aber anders konnte ich es mir einfach nicht erklären. Gedankenverloren erhob ich mich und legte die Überreste der toten Blume zurück auf die Kommode. Ich lehnte mich an die Wand gegenüber vom Spiegel und dachte über den einsamen Mann nach, der sein schrecklich entstelltes Gesicht hinter einer Maske verbarg. Aufgrund dessen was mir gerade widerfahren war, konnte ich mir das Phantom einfach nicht als das Monster vorstellen, zu dem ganz Paris ihn machen wollte. In meinen Augen war er einfach nur ein unendlich einsamer Mann, der mit seinem grausamen Schicksal ganz allein leben musste. Ohne jemanden, der ihm zur Seite stand, sich um ihn kümmerte und ihn so liebte und akzeptierte wie er war. War es da verwunderlich, dass er verbittert war und seine Wut und Verzweiflung an seinen Mitmenschen ausließ? Und dann war da noch seine unglückliche Liebe zu Christine und der damit verbundene Schmerz. Für ihn, der niemals hoffen durfte die aufrichtige Liebe einer Frau zu gewinnen und der es trotz dieses Wissens versucht hatte, musste die Zurückweisung eine zutiefst bittere Enttäuschung gewesen sein. Ich seufzte traurig. Auf merkwürdige Art und Weise fühlte ich mich mit ihm verbunden. Wie einsam er in den letzten Jahren gewesen sein musste. Ich würde ihm gerne begegnen und mit ihm reden; ihm zeigen, dass es auch einen Menschen gab, der ihn verstand und bei seinem Anblick nicht von Abscheu erfüllt wurde. Zögernd trat ich zu dem großen Wandspiegel. In meinem Traum hatte ich ganz deutlich gesehen wie dieser Spiegel sich wie ein Tür öffnen ließ und ich wusste, dass der dahinter liegende Gang ins unterirdische Versteck des Phantoms führte. Mit meinen Fingern tastete ich vorsichtig am Rahmen entlang bis ich den verborgenen Griff entdeckte. Als ich leicht daran zog, öffnete sich die als Spiegel getarnte Tür. Ich nahm den Kerzenständer von der Anrichte und leuchtete in den finsteren Gang. Ob ich es wagen sollte diesem Tunnel zu folgen und irgendwann auf das Phantom zu stoßen? Wie er wohl reagieren würde, wenn ich sein Reich betrat? Sollte ich wirklich gehen? Unschlüssig stand ich vor der offenen Spiegeltür. Doch noch ehe ich mich entscheiden konnte, vernahm ich ganz in der Nähe gedämpfte Stimmen und Schritte, die schnell näher kamen. Entsetzt wirbelte ich herum und starrte zur Tür. Oh nein! Das durfte nicht wahr sein! Victors Männer! Wie hatten die mich bloß gefunden? Jetzt war alles vorbei. Meine ganze Flucht war umsonst gewesen. Panisch sah ich mich nach einem Versteck um, doch ich sah nicht ein einziges. Ich saß in der Falle. Wie gelähmt blieb ich stehen und lauschte den Stimmen, die nun deutlich zu vernehmen waren. „Sie muss hier irgendwo sein!“ Mein Atem stockte, als ich die zornige Stimme erkannte. Victor! Er war höchstpersönlich gekommen um mich zurückzuholen. Plötzlich packte mich eine Hand von hinten und zog mich hinter die Spiegeltür. Vor Schreck hätte ich beinahe den Kerzenleuchter fallengelassen und den Schrei, der meiner Kehle entschlüpfen wollte, konnte ich gerade noch unterdrücken. Ich prallte unsanft gegen eine harte Männerbrust und ehe ich mich versah wurde mir der Kerzenleuchter beinahe schon grob aus der Hand gerissen. Furchtsam blickte ich hoch und konnte gerade noch eine weiße Halbmaske erkennen ehe die Kerzen erloschen. Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, wen ich da vor mir hatte. Das Phantom der Oper stand leibhaftig vor mir. Ohne zu überlegen riss ich mich los und versuchte wieder durch die geschlossene Spiegeltür zu eilen, doch das Phantom ergriff mich und drückte mich eng an sich. Ich wollte empört aufschreien, doch eine große, in einem schwarzen Lederhandschuh steckende Hand, legte sich auf meinen Mund. „Sei still!“ zischte er leise. „Oder willst du, dass man uns entdeckt?“ Er verbarg mein helles Kleid hinter seinem schwarzen Umhang und zog sich mit mir in die Dunkelheit zurück, um durch den Spiegel nicht gesehen zu werden. Kaum waren wir im Schatten verborgen, öffnete sich die Tür und Victor trat ein. Mein Herz pochte wie verrückt, als ich den hochgewachsenen blonden Mann direkt vor den Spiegel treten sah. Sein Blick schien geradewegs auf mich gerichtet zu sein und ich wagte nicht auch nur das kleinste Geräusch von mir zu geben oder mich auch nur minimal zu bewegen aus Angst er könnte mich dann bemerken. Ich fühlte seinen maßlosen Zorn durch mich hindurch strömen und bekam eine Gänsehaut. Sollte er mich jemals wieder in seine Gewalt bekommen, dann würde es mir nicht gut ergehen, das spürte ich. Er würde mich dafür leiden lassen, dass ich ihm weggelaufen war und seine Pläne zunichte gemacht hatte. Und er würde jeden Augenblick davon genießen. Ich zitterte und drängte mich Schutz suchend näher an den Mann, der mich festhielt. Das Phantom versteifte sich jäh und lockerte den Griff um meine Körpermitte. Die behandschuhte Hand sank herunter und ballte sich zu einer Faust. Ich achtete jedoch nicht weiter darauf und beobachtete atemlos was Victor als nächstes tat. Ein Mann war hinter ihn getreten. Er umklammerte nervös seine Baskenmütze und sagte dann untertänig: „Mein Herr, sie ist nicht hier. Wir haben alles durchsucht, aber keine Spur von ihr gefunden.“ „Sie muss einfach hier sein! Durchsucht alles noch mal, aber diesmal noch gründlicher! Und Gnade euch Gott, wenn ihr sie dann noch immer nicht gefunden habt!“ brüllte Victor wutentbrannt und der Mann zuckte unwillkürlich zusammen. „Ja, mein Herr,“ murmelte er zaghaft und eilte davon. Victor wandte sich wieder dem Spiegel zu und betrachtete mit grimmiger Miene sein Spiegelbild. „Ich finde dich. Und dann wirst du bitter dafür büßen, dass du es gewagt hast mir zu entfliehen.“ Seine Stimme klang eiskalt und ich schauderte unwillkürlich. Schließlich drehte Victor sich um und verließ den Raum. Ich tat einen zittrigen tiefen Atemzug und wandte mich dann an das Phantom. „Vielen Dank für Ihre Hilfe,“ brachte ich leise hervor. Ich wollte mich abwenden und gehen, doch seine Hand umklammerte eisern mein Handgelenk. „Du kommst mit mir.“ sagte er leise, aber so bedrohlich, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich versuchte nicht noch einmal seiner Gegenwart zu entfliehen und ließ mich widerstandslos durch dunkle Gänge in die untersten Gewölbe der Oper führen. Ich war nervös, weil ich nicht wusste was er nun mit mir vorhatte. Doch auch wenn ich keine Ahnung hatte was er mit mir tun würde, wenn wir sein geheimes Versteck erreicht hatten, glaubte ich keine Sekunde lang, dass er mich in irgendeiner Weise verletzen würde. Er war verzweifelt, verbittert, einsam und im Moment auch noch wütend, doch wegen des sonderbaren Traums, den mir die verwelkte Rose beschert hatte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass jemand, der so betörend und mit ganzer Seele sang wie er, einer Frau weh tun konnte. Zögernd hob ich den Blick, den ich die ganze Zeit auf meine Füße geheftet hatte, und starrte auf seinen Rücken. Er hingegen drehte sich kein einziges Mal zu mir um, sondern zerrte mich lediglich schweigend hinter sich her. Mittlerweile war es nicht mehr so dunkel, da vereinzelt Fackeln an den Wänden befestigt waren, die ein wenig Licht spendeten. Ich sah, dass das Phantom einen schwarzen Umhang trug, der dank seiner ausgreifenden Schritte leicht hinter ihm her flatterte. Darunter hatte er offenbar einen dunklen Anzug an. Schließlich erreichten wir einen großen unterirdischen See. Er drehte sich zu mir um und im Schein der Fackeln konnte ich deutlich das von einer weißen Halbmaske verborgene Gesicht erkennen, das ich in meinem Traum gesehen hatte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Der Mann, der vor mir stand und mir die Hand hinhielt, war das legendäre Phantom der Oper. Ohne den Blick meiner großen grünen Augen von ihm zu reißen, ergriff ich seine Hand und ließ mir in das Boot helfen, das am Ufer des Sees vertäut war. Ich fühlte die Verwirrung, die ihn daraufhin ergriff. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm meine Hand tatsächlich geben würde. Doch kaum stand er hinter mir im Boot und begann uns über den See zu bringen, war dieser flüchtige Moment der Verwirrung auch schon wieder vorbei und all sein Zorn trat wieder an dessen Stelle. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich spürte wie seine Wut zurückkehrte. Ich wusste nicht ob diese Wut ausschließlich gegen mich gerichtet war, aber allmählich begann ich mir doch ein wenig zu fürchten. Er hatte mich vollkommen in seiner Gewalt. Ich war ihm hilflos ausgeliefert und konnte nur hoffen, dass ich mit meinem Gefühl recht behielt und er einer Frau wirklich nichts zu leide tun konnte. Furchtsam starrte ich auf die Oberfläche des Sees, auf der dichter Nebel herum waberte. Es war etwas gespenstisch hier unten, aber irgendwie fand ich es gleichzeitig auch faszinierend. Ich war tatsächlich tief unten im Reich des Phantom der Oper. Das hatte ich doch gewollt. Oder? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)