Einsamer Engel von YvaineLacroix ================================================================================ Kapitel 2: Time for one more daring dream ----------------------------------------- Einen Moment lang hing ich mit meinen Füßen in der Luft bis ich auf etwas stieß, dass stabil genug schien um mein Gewicht zu tragen. Vorsichtig ließ ich mich hinunter und vergaß nicht das Gitter wieder anzubringen, damit niemand auf die Idee kam, dass sich jemand heimlich Zutritt zur Oper verschafft hatte. Als ich sicher stand, drehte ich mich um und versuchte in der herrschenden Dunkelheit etwas zu erkennen. Es dauerte eine Weile bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, aber dann konnte ich Einzelheiten wahrnehmen. Ich befand mich auf einem Tisch, der offenbar zu so einer Art Abstellkammer gehörte. Soweit ich das erkennen konnte, standen überall Besen, beschädigte Instrumente und alte, ausrangierte Requisiten herum. Ich stieg vom Tisch herunter und bahnte mir vorsichtig einen Weg zur Tür, da ich keine Lust verspürte in diesem engen, voll gestellten Raum zu bleiben. Wenn ich es schon gewagt hatte die Opéra Garnier nach allem was sich vor sieben Jahren hier zugetragen hatte zu betreten, konnte ich mich auch umschauen und vielleicht das eine oder andere Geheimnis ergründen. Ehe ich allerdings die Tür erreichen konnte, stolperte ich über den Saum meines nassen Kleides und fiel mit einem unterdrückten Aufschrei in einen Stapel Decken. Staub wirbelte um mich herum auf und ich musste mehrmals niesen. Als ich mich mühsam aufrappelte, stieß ich mit den Fingern gegen etwas Metallenes. Ich nahm es in die Hand und stellte fest, dass es ein dreiarmiger Kerzenständer aus Messing war, in dem noch halb abgebrannte Kerzen steckten. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Jetzt konnte ich ein wenig Licht in die Dunkelheit bringen. Schnell griff ich in die eingenähte Tasche meines Kleides und holte eine Schachtel Zündhölzchen hervor. Glücklicherweise waren diese trotz des strömenden Regens draußen trocken geblieben. Vorsichtig entzündete ich eins der kleinen Hölzchen und steckte die Kerzen damit an. Sogleich war ich umgeben von einem Kreis aus Licht. Ich nahm den Kerzenständer in die linke Hand und öffnete die Tür, durch welche ich in die riesige Eingangshalle der Oper gelangte. Mich ehrfürchtig um blickend schritt ich auf die breite Marmortreppe zu, die mit vergoldetem Stuck und goldenen Statuen verziert war. Einst musste diese Halle sehr prachtvoll und beeindruckend gewesen sein mit dem herrlich gefliesten Boden, den mächtigen Säulen, den glitzernden Kristalllüstern, den fein gearbeiteten Statuen und dem ganzen Gold. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich alles in seiner ganzen Pracht vor mir sehen und spürte die Vorfreude und Erwartung, welche die feinen Herrschaften beim Hinaufschreiten der Treppe erfasst hatte. Jetzt war die Eingangshalle zwar immer noch beeindruckend, aber die Jahre, in der das Opernhaus nun schon leer stand, waren auch an ihr nicht spurlos vorbei gegangen. Überall lag eine zentimeterdicke Staubschicht, die Statuen wirkten trüb und hatten ihren einstigen goldenen Glanz eingebüßt und von den Kristalllüstern hingen Spinnweben. Langsam erklomm ich Stufe für Stufe der eleganten Marmortreppe und betrat durch die linke Flügeltür das Herzstück der Oper: den Aufführungssaal. Auch hier verweilte ich einen Moment lang und nahm das, was ich erblickte, in mir auf. Dann ging ich zielstrebig auf die Bühne zu, kletterte hinauf und wandte mein Gesicht dem Zuschauerraum mit seinen mit rotem Samt bezogenen Sitzen und den zahlreichen prunkvollen Logen zu. Ich schloss die Augen und öffnete mich für die Empfindungen, die auf mich ein zu strömen begannen. Ich fühlte die maßlose Begeisterung des Publikums, welches die Darbietungen mit wohlverdientem Applaus honorierte. Ich konnte das Glück und die Zufriedenheit der Sänger und Sängerinnen spüren, die sich voller Stolz über ihre soeben erbrachten Leistungen vom Publikum bejubeln ließen. Doch da war noch etwas anderes. Hinter diesen starken Emotionen konnte ich noch etwas anderes wahrnehmen. Dieses Gefühl war nur sehr schwach vorhanden, aber es war unleugbar da: Angst. Ich fühlte eine mir unbegreifliche Angst unter all dem Ruhm, die immer allgegenwärtig war. Doch wovor hatten diese Menschen sich gefürchtet? Weswegen waren sie dermaßen besorgt, dass sie selbst im Augenblick des Triumphs nicht ganz vergessen konnten? Lag es etwa am Phantom der Oper? Bei diesem Gedanken öffnete ich die Augen wieder und schaute mich aufmerksam um. Ich durfte nicht vergessen, dass ich möglicherweise nicht allein im Opernhaus war. Das Phantom konnte überall sein und mich insgeheim beobachten. Dieser Gedanke behagte mir nicht sonderlich, also beschloss ich mir einen Raum zu suchen, wo ich mich ein wenig ausruhen konnte. Außerdem musste ich endlich aus meinem feuchten Kleid und dem nassen Cape heraus, bevor ich mich noch erkältete. Ich ging hinter die Bühne und begann nach einem geeigneten Raum zu suchen. Auf meiner Suche stieß ich auf ein großes Zimmer, in dem etliche wuchtige Schränke standen. Als ich die Türen eines Schrankes aufmachte, schnappte ich erstaunt nach Luft bei dem Anblick, der sich mir bot. Auf einer Kleiderstange hingen mehrere Dutzende Kostüme, eines schöner als das andere. Ein Kleid stach zwischen all dem Samt und Brokat besonders ins Auge. Es war aus cremefarbener Seide mit langen Ärmeln und mit weißer Spitze abgesetzt. Atemlos berührte ich es. Wenn man bedachte, das es nun schon sieben Jahre lang hier hing, war es in einem hervorragenden Zustand und in mir kam der Wunsch auf es anzuziehen. Bedächtig nahm ich es aus dem Schrank und legte es über die Lehne eines Stuhls. ich stellte den Kerzenständer auf einen Tisch und begann mein Cape abzulegen. Ich würde das Seidenkleid anziehen. Niemanden würde es kümmern. Und schließlich wollte ich es nicht behalten, sondern nur solange tragen bis mein eigenes Kleid aus Baumwolle wieder trocken war. Ich schlüpfte aus meinem feuchten Kleid und stand einen Moment nur mit meinem dünnen Hemdchen bekleidet da. Mein langes braunes Haar floss in sanft glänzenden Wellen über meine bloßen Schultern. Dann griff ich nach dem schimmernden Kleid und streifte es über. Es passte wie angegossen. Ich blickte mich nach einem Spiegel um, konnte aber nirgends einen entdecken. Merkwürdig. Hier hatten doch sicher Spiegel gestanden, oder nicht? Was war aus denen geworden? Gut, dann würde ich mich eben nicht betrachten können. Seufzend nahm ich meine Kleidungsstücke und den Kerzenständer und setzte meinen Weg durch die finsteren Gänge hinter der Bühne fort. Ich wanderte vielleicht noch eine halbe Stunde herum ehe ich endlich das fand was ich suchte. Das Zimmer, das ich nun betrat, war größer als alle bisherigen und mit kostbarem Mobiliar ausgestattet. Ich schloss die Tür und legte meine Sachen auf einen herrlich geschnitzten Stuhl. Dann sah ich mich um. Das erste was mir auffiel war der große Wandspiegel und mir stockte der Atem, als ich darin mein Spiegelbild erblickte. War die schöne Frau in diesem Traum aus Spitze und Seide wirklich ich? Langsam drehte ich mich um die eigene Achse ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. Es war einfach unglaublich wie sehr mich dieses Kleid veränderte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so wunderschön und elegant aussehen könnte. Eine Welle des Glücks durchströmte mich und ich lächelte mein Spiegelbild an. Schließlich löste ich mich und sah mich weiter um. Gegenüber des Frisiertisches stand eine lange Chaiselongue. Dort konnte ich mich hinlegen und ein wenig schlafen. Die überstürzte Flucht, die viele Rennerei und die ständige Angst jeden Moment gefunden zu werden, hatten mich mehr erschöpft als mir bewusst gewesen war. Ich stellte den Kerzenständer auf den Frisiertisch und entdeckte dabei eine längst verwelkte Rose, die von einem schwarzen Satinband umschlungen war. Ich nahm die Rose in beide Hände und strich sacht über die vertrockneten Blütenblätter. Aus irgendeinem Grund erfasste mich plötzlich eine tiefe Traurigkeit und meine Augen füllten sich jäh mit Tränen. Warum sandte diese Rose solch traurige Schwingungen aus? Welch Schicksal hatte den Überbringer dieses vergessenen Geschenks so unglücklich werden lassen? Ich brachte es nicht übers Herz die Blume wieder beiseite zu legen, also nahm ich sie mit, als ich mich hinlegte. Kaum hatte ich es sich auf der Chaiselongue bequem gemacht, als mir auch schon die Lider zufielen. Die Rose hielt ich fest in beiden Händen. *** Ich fand mich auf der Bühne des Opernhauses wieder. Eine wunderschöne brünette Frau stand dort und sang. Als sie endete, gab es tosenden Applaus und Blumen flogen auf die Bühne. Ein blonder junger Mann applaudierte besonders enthusiastisch. Dann war ich auf einmal in dem Raum mit dem hohen Spiegel. Die brünette Frau saß dort vor dem Frisiertisch und kämmte ihre Haare, als eine Männerstimme zu singen begann. Doch es war weit und breit niemand zu sehen. Schließlich erkannte ich, dass die Stimme hinter dem Spiegel hervorkam. Gefangen von diesem betörenden Gesang schritt ich darauf zu genauso wie die unbekannte Frau. Ein dunkelhaariger Mann mit einer weißen Halbmaske erschien und reichte der Frau seine Hand. Es war mir unmöglich den Blick von ihm zu wenden und so folgte ich den beiden durch den Spiegel immer tiefer in die unterirdischen Gewölbe der Oper bis in das geheime Versteck des Mannes, wo er so herzergreifend und voller Zärtlichkeit sang, dass mir das Herz weh tat. Dann sah ich mit an wie die Frau in eine tiefe Bewusstlosigkeit sank. Behutsam hob der maskierte Mann sie auf seine Arme und trug sie zu einem mit rotem Stoff bezogenen Bett, auf das er sie sanft niederlegte. Als er zärtlich ihre Wange liebkoste und Christine flüsterte, fühlte ich all die Hoffnung und Liebe, die er in diesem Moment empfand und ich schloss gerührt die Augen. Ein wütender Schrei ließ mich meine Augen wieder aufreißen. Christine lag am Boden, die weiße Halbmaske in ihrer Hand, ein stummes Zeugnis für das, was sie getan hatte. Und plötzlich wusste ich wer dieser geheimnisvolle Mann war, der sein Gesicht hinter einer Maske verbarg. Er war das Phantom! Und nun stand er da, darauf bedacht sein Gesicht hinter seinen Händen zu verstecken durchströmt von Wut und Enttäuschung über Christines ungeheuerliche Tat. Auf einmal fand ich mich im Freien wieder. Weiße Schneeflocken sanken sacht auf das Dach der Oper, auf dem ich stand. Direkt vor mir sah ich Christine mit dem blonden jungen Mann, den sie Raoul nannte. Sie küssten sich innig und schworen sich gegenseitig ihre Liebe. Doch anstatt Glück darüber zu empfinden, fühlte ich einen unsagbaren Schmerz und in dem Moment wusste ich, dass das Phantom auch anwesend war. Es war sein Schmerz über Christines Verrat, der mich durchzuckte. Als das Liebespaar verschwunden war, trat er aus dem Schatten hervor, kniete nieder und hob eine blutrote Rose auf, die von einem schwarzen Satinband umschlungen war. Er hielt sie an sein Gesicht und ich sah wie sich eine einsame Träne seine unbedeckte Wange hinunter stahl. Voller Mitgefühl streckte ich meine Hand nach ihm aus und machte einen Schritt in seine Richtung um ihn zu trösten, doch da wechselte die Szenerie auf einmal wieder. Nun befand ich mich in der prachtvollen Eingangshalle der Oper, in der anscheinend gerade ein Maskenball stattfand. In einer Ecke sah ich Christine und Raoul, die verstohlen einen Kuss austauschten. Um Christines Hals hing an einer Kette ein Ring und das konnte nur heißen, dass die beiden sich heimlich verlobt hatten. Diese Erkenntnis versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Plötzlich erloschen die Lichter im Saal und wie aus dem Nichts tauchte das Phantom auf. Es trug eine Totenschädelmaske und war mit einer Paradeuniform aus dunkelrotem Samt bekleidet. Es verkündete den entsetzten Anwesenden des Balls, dass es eine Oper geschrieben habe und verlangte, dass diese mit Christine in der Hauptrolle aufgeführt werde. Ich spürte die Freude dieses rätselhaften Mannes über sein gelungenes Auftreten, doch der Schmerz, der ihn gequält hatte, war immer noch vorhanden. Er hatte sich tief in sein Herz gegraben. Dann verschwand das Phantom wieder und mit ihm die ganze Szenerie. Mit einem Mal stand ich wieder auf der Bühne der Oper. Ich ahnte, dass nun der Abend der Entscheidung gekommen war. Christine betrat als unschuldiges Blumenmädchen verkleidet die Bühne. Von hinten näherte sich ihr ein Mann in einem schwarzen Anzug und begann mit verführerischer Stimme eine Arie zu singen. An seiner unvergleichlichen Stimme erkannte ich ihn: es war das Phantom. Bald stimmte Christine in den Gesang mit ein und ich konnte nur da stehen und atemlos zu sehen. Zwischen Christine und dem Phantom war soviel Leidenschaft, dass ich nicht wusste ob das ganze nun gespielt war oder ob es die Wirklichkeit widerspiegelte. Ich fragte mich ob Christine überhaupt wusste mit wem sie da sang. Auf dem Höhepunkt der Arie geschah es schließlich und ich konnte nicht fassen, dass Christine so grausam war das vor aller Augen zu tun. Sie riss dem Phantom seine schwarze Maske vom Gesicht und entblößte so das schreckliche Geheimnis, das dieser Mann mit sich trug. Seine linke Gesichtshälfte war furchtbar entstellt und zerfetzt. Augenblicklich durchfluteten mich die Wut und die tiefe Verzweiflung, die das Phantom empfand. Als es Christine packte und vor aller Augen mit ihr in der Tiefe verschwand, zögerte ich keine Sekunde. Ich folgte den beiden. Ich konnte nicht anders. Dann stand ich plötzlich im unterirdischen Versteck des Phantoms und musste mit ansehen wie das verzweifelte Geschöpf ein Lasso um Raouls Hals legte, bereit ihn zu erhängen. Es stellte Christine, die hilflos zu sehen musste, vor die Wahl. Wenn sie ihren Geliebten retten wolle, müsse sie für immer bei ihm bleiben, wenn sie das nicht tat, würde Raoul sterben. Dann tat Christine etwas mit dem ich in diesem Moment am allerwenigsten gerechnet hatte. Sie ging auf das Phantom zu, nahm sein entstelltes Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. Die Intensität der Gefühle, die daraufhin auf mich einströmten, zwang mich in die Knie. Ich war ebenso überrascht wie das Phantom selbst und verspürte dessen Freude und Dankbarkeit darüber, dass er einmal wie ein Mensch und kein Monstrum behandelt wurde. Als Christine zu Raoul eilte um ihn zu befreien und das Phantom überwältigt von der Zärtlichkeit ihres Kusses da stand, unfähig die Tränen zurückzuhalten, konnte ich den Blick nicht von ihm wenden. Ich litt mit ihm, fühlte wieder all den Schmerz und ohne es überhaupt zu bemerken, liefen auch mir die Tränen über die Wangen. Es zerriss mir fast das Herz, als dass Phantom Christine und Raoul wegschickte. Zitternd erhob ich mich wieder und musste tatenlos mit ansehen wie dieser einsame Mann verzweifelt und wütend sämtliche Spiegel mit einem Kerzenständer zertrümmerte, weil er seinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Wieso nur musste er dieses grauenhafte Schicksal erleiden? Er würde niemals jemanden haben, der sein Leben mit ihm verbrachte. Er würde bis zu seinem Tod allein sein, die Einsamkeit sein einziger Gefährte. Ich wurde jäh aus meinen traurigen Gedanken gerissen als das Phantom zu singen begann: „Du hast Licht in meine Welt gebracht. So stirbt mein Lied und die Musik der Nacht!“ „N e i n!“ schrie ich mit tränenerstickter Stimme. Das durfte er nicht tun! Er konnte doch nicht seine Musik aufgeben! Das einzige was ihm außer der Einsamkeit noch geblieben war. Sein Gesang hatte mich zutiefst berührt. Ich wollte ihn wieder singen hören, mich noch einmal von seiner unglaublichen Stimme betören lassen und deshalb konnte ich es nicht zulassen, dass er seine Musik sterben ließ. Bei meinem Schrei drehte er sich langsam um und sah mir direkt in die Augen. Mir stockte der Atem, als ich sein schmerzverzerrtes Gesicht erblickte. Aus seinen Augen sprach eine solch tiefe Verzweiflung und eine so unendliche Traurigkeit, dass ich einfach nicht anders konnte. Während mir selbst die Tränen über die Wangen rollten, schritt ich bedächtig auf ihn zu und streckte meine Hand nach seiner entstellten Gesichtshälfte aus. „Es wird alles gut,“ flüsterte ich beschwörend und wollte tröstend über seine Wange streichen. Doch ehe meine Finger seine Haut berührten, verschwand er und ich blieb mit all den schmerzenden Gefühlen allein in der Dunkelheit zurück... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)