Für wen lächelt sie von Awenia ================================================================================ Kapitel 1: 1.Kapitel -------------------- Toris zögerte, bevor er die Tür öffnete. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt und nicht in der Verfassung, für das was gleich kommen würde. Die Litauisch-Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik. Tage- und nächtelang hatte Toris darüber nachgedacht, sowohl mit einer gewissen Freude, wie auch mit Sorgen. „Du machst dir immer Sorgen“, hatte Feliks ihm mal gesagt. „Über alles. Immer.“ Aber dagegen konnte Toris nichts machen. So war er nun einmal. Er hatte gerne dagegengehalten, dass Feliks oft zu unüberlegt handelte und in Schwierigkeiten geriet. Zögerlich schloss sich seine Hand um die Türklinke. Ivan ließ man besser nicht warten. Toris atmete tief durch und öffnete die Tür. Ein kalter Windzug wehte ins Haus, ließ ihn frösteln. Schnee bedeckte die Kleider seiner Gäste und Toris bekam ein schlechtes Gewissen, dass er sie hatte warten lassen. „Privjet, Kamerad“, grüßte Ivan ihn mit einer Stimme, die so müde klang, wie Toris sich fühlte. Er sah vollkommen geschafft aus; blass und mit dunklen Schatten unter den Augen. Natalja sagte gar nichts, sondern schmiegte sich enger an ihren Bruder. Mit heftig klopfendem Herzen suchte Toris ihren Blick. Natalja war so wunderschön wie immer. Ihr volles, blondes Haar fiel ihr offen über die Schultern, umrahmte ihr makelloses, helles Gesicht. Die schmalen Brauen hatte sie hochgezogen und in ihren dunkelblauen Augen lag eine tiefe Verachtung- wie immer. Dennoch schmeckte Toris bittere Enttäuschung. „Kommt doch rein“, sagte er mit einem versuchten Lächeln und ließ die beiden eintreten. Er schlug die Tür hinter ihnen zu, um die Kälte auszusperren und erhaschte so noch einen letzten Blick nach draußen. Schneeflocken tanzten durch die Luft. „Ich werde nicht lange hier bleiben“, verkündete Ivan und stellte eine Reisetasche ab. Sie war nicht sehr groß, anscheinend besaß Natalja nicht viel, dass sie hatte mitnehmen wollen. „Ich wollte nur sichergehen, dass Natalja auch ankommt. Es tut uns leid, dass wir erst so spät gekommen sind. Nicht wahr?“ Er sah Natalja scharf an und sie biss sich auf die Unterlippe. „Entschuldige bitte“, würgte sie schließlich hervor. Sie sah wütend und unglücklich aus und Toris fühlte sich schuldig, da er sich tatsächlich freute, dass dieses engelsgleiche Mädchen bei ihm einzog. „Das macht gar nichts“, sagte er schnell. Während andere Natalja aus Furcht mieden, hatte er sie stets anziehend gefunden. Es lag nicht nur daran, dass sie die schönste Frau war, die er kannte. Nein, er bewunderte sie auch für ihren eisernen Willen und ihren Stolz. Und der Gedanke reizte ihn, die Mauer aus Eis, die sie umgab, zu durchbrechen und das Mädchen, das sich dahinter verbarg kennen zu lernen. Ivan hustete unterdrückt. „Du wirst dich gut um Natalja kümmern, da?“, fragte er und Toris nickte heftig. „Natürlich. Natalja, ich freue mich, dich hier willkommen heißen zu dürfen.“ Vielleicht würde er sie besser kennen lernen können, ihr wahres Ich kennen lernen können, wenn sie erst bei ihm wohnte. Wenn sie von ihrem Bruder weg war und nur noch mit ihm zusammen, ein bisschen wie ein Ehepaar. Nataljas Kinn zitterte. „Vanja!“, sagte sie und in ihrer Stimme klang ein leichtes Entsetzen mit. „Bitte, lass mich hier nicht zurück!“ Toris schluckte. Ivan versuchte sich aus dem Klammergriff seiner Schwester zu befreien. Sie hatte lediglich einen Arm um ihn geschlungen -der zweite hing schlaff herab-, aber anscheinend legte sie ihre ganze Kraft in ihn. „Das hatten wir doch schon alles. Du ziehst zu Toris und...“ Er unterbrach sich und hustete. „Oh, Vanja!“, sagte Natalja besorgt. „Du bist krank! Wir...wir könnten heiraten und dann kümmere ich mich um dich!“ „Unsinn!“ Ivan wirkte, als würde es ihm schwer fallen, ruhig zu bleiben. „Mir geht es gut. Du kannst dich um Toris kümmern.“ „Aber...“ „Sestritschka!“ Ivan legte ihr eine Hand unters Kinn und drückte es leicht hoch, sodass sie einander in die Augen sahen. „Es ist nur zu deinem Besten“, erklärte er. „Siehst du? Ivan sorgt sich um dich. Du weißt doch, alleine seid ihr zu schwach. Ihr müsst euch vereinigen, um stark genug zu sein. Und ihr müsst stark sein, um den Kommunismus zu verbreiten. Das bedeutet mir sehr viel, verstehst du?“ Natalja nickte. Auf Ivans Gesicht erschien sein übliches Lächeln; er ließ seine Schwester los und wandte sich wieder Toris zu. „Du sorgst dafür, dass ich mir keine Sorgen machen muss, wenn Toris auf meine Natalja aufpasst“, sagte er in einem Befehlston. „Ich kann euch dann alleine lassen, da?“ „Warte!“, schrie Natalja. „Du kommst mich doch besuchen?“ Ivan lächelte etwas gequält. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Er hustete. „Aber momentan braucht mich mein Volk.“ Er drückte Natalja einen Kuss auf die Wange, nickte Toris zu und verließ das Haus. Natalja sah einen Moment so aus, als wolle sie ihm nachlaufen, dann blieb sie jedoch in der Türschwelle stehen und rief ihm nach. „Ja teba ljublju, bratez!“ „Do swidanja, sestritschka“, erwiderte Ivan, ohne sich umzudrehen. Natalja sah ihm nach, auch noch, als er längst nicht mehr zu sehen war. Sie sah einsam aus, wie sie da im Türrahmen stand und in den Schnee starrte. Toris räusperte sich. „Komm wieder ins Warme“, sagte er sanft und sie kam mit angezogenen Schultern herein. Zögerlich blieb sie im Flur stehen und weigerte sich beharrlich, Toris anzusehen. Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte sie leicht zusammen. Toris fühlte sich ein wenig hilflos. „Willst du deinen Mantel nicht ausziehen?“, fragte er. Sie zögerte kurz und schälte sich dann langsam aus dem Mantel, den Toris ihr abnahm und an die Garderobe hängte. Ihm fiel auf, dass sie dabei lediglich eine Hand benutzt hatte. Erst ohne das dicke Kleidungsstück fiel auf, wie schmal und zierlich Natalja war. Wie sie da stand; mit gesenktem Blick und bebenden Lippen, die Arme um den Körper geschlungen, wirkte sie unglaublich verletzlich. „He“, sagte Toris sanft. „Fühl dich hier einfach wie zu Hause, ja? Komm, ich führe dich herum.“ Zu seiner Erleichterung kam sie tatsächlich mit, hielt die Arme jedoch verschränkt, wobei die eine Hand leicht abgespreizt blieb, und machte ein mürrisches Gesicht. Toris’ Haus war nicht allzu groß, es hatte vier Zimmer und einen Keller, in dem Toris alles Mögliche aufbewahrte. Nachdem er jahrelang in Ivans riesigem Haushalt hatte leben müssen, zog er die Gemütlichkeit eines kleinen Hauses vor, sowie die Einsamkeit. Sein Haus befand sich am Waldrand, etwas abseits seiner Hauptstadt Vilnius. Toris zeigte Natalja das Wohnzimmer mit dem Kamin, die Küche mit der Essecke, das Badezimmer und schließlich das Schlafzimmer. Hier machte Natalja zum ersten Mal den Mund auf. „Ich schlafe nicht mit dir in einem Zimmer.“ „Das Bett wäre groß genug für zwei“, meinte Toris mit einem schwachen Lächeln und erntete einen vernichtenden Blick von Natalja. „Ich will nach Hause“, sagte sie. Gerne hätte Toris sie tröstend in den Arm genommen, aber er wusste, dass ihr das gar nicht gefallen hätte. „Ich wette“, sagte Natalja ein wenig weinerlich, „wenn Ivan gewusst hätte, dass du kein Gästezimmer hast, hätte er mich nicht gezwungen, hierher zu kommen.“ Das glaubte Toris nun nicht, aber er hütete sich, das auszusprechen. „Wir werden eine Lösung finden“, sagte er beruhigend. „Das verspreche ich dir. Sieh mal, dieser Schrank ist für dich. Da kannst du all deine Sachen einräumen.“ Nataljas einzige Reaktion war, dass sie ihre Tasche fester an sich drückte. Toris unterdrückte ein Seufzen. „Hast du Hunger?“, fragte er und fügte, als sie zögerte, „Wenn du willst, kann ich uns etwas zu Essen kochen“ hinzu. Sie nickte schließlich und Toris lächelte. „Gut, komm mit.“ Sie gingen zurück in die Küche und Natalja setzte sich an den kleinen Esstisch. Er wackelte ständig und so hatte Toris eine Holzscheite unter seine Füße gestellt. Toris füllte gerade etwas Wasser in eine Karaffe, als Natalja leise „Kannst du mir mal helfen?“ fragte. „Wobei?“ Er drehte sich zu ihr um und sah, dass sie einen Handschuh ausgezogen hatte und ihm nun die andere Hand hinhielt. Toris’ Augen weiteten sich leicht, als die Hand sah, die bis jetzt unter dem Handschuh verborgen gewesen war und die Natalja nun schützend an ihre Brust drückte. Mit Ausnahme des Daumens waren alle Finger geschwollen, stellenweise blau verfärbt und unnatürlich gekrümmt. „Du meine Güte, Natalja!“ Geistesgegenwärtig holte Toris ein Tuch aus einem Schrank und ließ kaltes Wasser darüber laufen. „Wie ist das denn passiert?“ Sie schwieg, aber er war schon erleichtert, dass sie ihn nicht angefaucht hatte, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Er setzte sich neben sie, nahm ganz vorsichtig ihre verletzte Hand in seine und drückte sanft das Tuch auf die geschundenen Finger. In Nataljas Augen schimmerten Tränen. Schließlich murmelte sie: „Ivan hat mir die Finger gebrochen.“ Toris sah sie entsetzt an. „Was? Warum denn?“ Natalja atmete tief durch. „Auf dem Weg hierher“, erzählte sie, „bin ich abgehauen. Ivan hat lange gebraucht, um mich einzufangen und dann hat er gesagt, ich solle so etwas nie wieder machen und hat mir die Finger gebrochen. Deswegen sind wir sind spät angekommen.“ „Das tut mir leid“, sagte Toris betroffen. „Das ist schrecklich von Ivan!“ Natalja ließ den Kopf hängen. „Nein, er hatte ja recht. Ich hätte nicht versuchen sollen, abzuhauen. Vanja ist sehr beschäftigt und er ist krank und ich mache ihm nur Ärger.“ Sie wirkte so niedergeschlagen, dass Toris eine Welle aus Zuneigung überrollte. „Deswegen kann er dir doch nicht einfach die Finger brechen“, ereiferte er sich. Natalja funkelte ihn wütend an. „Sprich nicht in diesem Ton von meinem Bruder“, kommandierte sie. Toris strich ihr zärtlich über den Handrücken. „Schon gut“, sagte er beschwichtigend. „Soll ich dich vielleicht in ein Krankenhaus bringen?“ „Nicht nötig“, sagte Natalja kalt. „Ich bin immer noch eine Landespersonifikation. Das wird von selbst verheilen.“ Diesmal seufzte Toris wirklich. „Wie du willst.“ Behutsam half er ihr den zweiten Handschuh auszuziehen und kümmerte sich dann wieder um das Essen, während Natalja sich in finsteres Schweigen hüllte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)