Memory Hunt von Petulia ================================================================================ Kapitel 1: Zielen ----------------- In ihrem Kopf rasten die Gedanken, doch sie konnte keinen von ihnen klar fassen. Heftig atmete sie die kalte Nachtluft ein, zusammengesunken gegen eine Mauer, die nur wenig Schutz lieferte. Ihre Lunge brannte. Kälte und Hitze pulsierten zeitgleich durch ihre Adern. Lange durfte sie hier nicht sitzen, denn dann würde sie ihre restliche Kraft verlassen. Wer immer ihr Verfolger war, sie spürte seine Nähe. Entdecken würde er sie so oder so und damit fasste sie einen Entschluss. Wie ein Kaninchen schoss sie aus der Gasse und sprintete los. Ignorierte ihren schmerzenden Brustkorb. Konzentrierte sich darauf, nicht zu stolpern. Wie er sie gefunden hatte, was hieraus werden sollte, wo die anderen waren, das alles spielte keine Rolle, solange sie nur rannte, denn das war ihre einzige Chance. Apparieren hatte sie ausschließen müssen, denn dazu besaß sie keine Energie mehr. Sie hörte ihn und auch er war nicht unerschöpft, doch wesentlich fitter als sie. Wahllos schoss sie Zauber über ihre Schulter, hörte ihn zur Seite springen. Dann vernahm sie das Knallen des abwehrenden Schildzaubers. Sie führte ihre Zauber nicht vernünftig aus. Merkte wie ihre Kraft schwand. Adrenalin war nicht mehr genug, um sie auf den Beinen zu halten. Schmerz und Verzweiflung erfassten ihren Körper, ließen sie unachtsam werden und mit einem Ruck hatte er sie entwaffnet. Um nicht zu fallen, öffnete sie ihre Hand um den Zauberstab, welcher ihr aus den Fingern glitt, doch sie hielt nicht an. Wehrlos, kraftlos und hoffnungslos wie sie war, blieb ihr die eine Chance, denn der Todesser auf ihren Fersen würde sie nicht bekommen. Ein Stoßgebet in den Himmel schickend, fummelte sie an ihrem Umhang. Betete für Freunde, deren Gesichter im Rhythmus ihrer Füße vor ihrem inneren Auge erschienen. Lily, James, Sirius, Remus, Alice, Frank. Lily. Sie fand das kleine Fläschchen. Handlich und genau für Augenblicke wie diese gemacht. Der Verfolger hielt sich nicht einmal daran auf, sie durch einen Zauber anzuhalten. Er wusste, dass sie bald aufgeben musste, doch er wusste nicht, was sie in der Hand hielt. Wusste nichts von der saftig gelben Flüssigkeit, die sie entkorkte, während Tränen ihr Gesicht benetzten. Allen Mut zusammen nehmend, blieb sie stehen. Wirbelte auf den Fersen herum, um ihrem Ende in die Augen sehen zu können. Eine Kapuze, die Maske eines Todessers, ihres bitteren Feindes. Die letzte Chance nutzend kippte sie den Trank ihren Rachen hinunter. Schluckte noch den letzten Tropfen, bevor grobe Hände sie bei den Armen packten. “Was meinst du, wo sie bleibt?”, fragte Lily erneut. Ihre Hand rieb ununterbrochen beschützend über ihren runden Bauch, während sie besorgt zu ihrem Mann aufsah. Zur Beruhigung küsste James sie auf die Stirn. “Mach dir keine Sorgen, Liebling. Mary war schon immer ein bisschen verwirrt und chaotisch.” Vielleicht war sie das. Doch nicht zu diesen Zeiten. Nicht in so einem Moment. Schließlich war dieses Treffen bereits lange geplant. So sehr James es zu verbergen versuchte, in der Haltung seiner Schultern, den Blicken auf die Uhr, erkannte Lily, dass auch er nicht ganz an seine Worte glaubte. Mary wäre nicht die Erste, die sie verloren. Sie wäre eine von vielen und doch schmerzte jede Verletzung, jedes Verschwinden, jeder Tod so unheilbar. Mit James Eltern hatte es angefangen. Sie hatten die ersten beiden Löcher in Lilys Herz gerissen und während die Zeit voran schritt, fragte sie sich, ob von ihrem Herzen überhaupt etwas übrig bleiben würde. In diesen Momenten der Schwärze zog sie James an sich und verbarg ihr Baby zwischen ihnen. James und ihren gemeinsamen Sohn würde sie niemals verlieren. Wie lange hatte sie betteln müssen, damit ihr Mann sich zurücknahm und nicht mehr so oft kämpfen ging. “Wer wird dann kämpfen, Lily? Wer wird diesen Krieg für uns gewinnen?”, sagte er immer wieder. Sirius, Remus, Alastor, Albus, waren ihre stummen Antworten und sie fühlte sich schuldig für diese Gedanken, doch James hatte ein Baby. Er hatte eine Familie. Wozu hatte er jahrelang um sie gekämpft, wenn er sie jetzt aufgeben würde? “Bitte, James”, flüsterte sie sorgvoll, “können wir nicht irgendwie herausfinden, wo sie ist?” Er raufte sein schwarzes Haar, wollte seinen Standort nicht für ungewünschte Beobachter freigeben. Gleichzeitig wusste er, wie viel Mary seiner großen Liebe bedeutete. Beinahe so viel wie er und Harry, wenn Lily diesem Namenswunsch endlich nachgeben würde. Doch James hatte keine Zeit, diese Entscheidung zu treffen. Die Neuigkeiten purzelten durch den Kamin. Ein ganz und gar verwittert ausschauender Sirius brachte Ruß mit sich. Sein fehlendes Grinsen sprach Bände, doch Lily verschloss ihre Augen vor der Tatsache, die ihr ins Gesicht schrie. Sirius wilder Blick wanderte zwischen seinen Freunden hin und her. Je länger er schwieg, desto schmerzhafter verkrampfte sich Lilys Körper. “Tatze.”, drängte James mit belegter Stimme. “Sie haben sie.”, antwortete Sirius tonlos und beide Männer mussten mit ansehen, wie ein stummer Schrei Lily entfuhr. Wie sie sich krümmte und Erlösung suchte für die Schmerzen. James stürmte zu ihr, hielt und streichelte sie und Sirius kniete sich hilflos vor sie. “Evans, Evans!”, wisperte er, um sie zurückzuholen. “Sie ist nicht ganz fort! Man hat ihr den falschen Trank gegeben.” Unter schwerem Keuchen blickte sie zu ihm auf. Tränen benetzten ihr Gesicht, welches Unsicherheit und Unverständnis ausdrückte. “Denk an das Baby.”, flüsterte James ihr zu, in Panik durch ihre Hysterie könnten sie den gemeinsamen Sohn verlieren. “Den falschen Trank?” Lilys Stimme war brüchig. Noch immer zitterte ihr Körper und besser schien sie sich nicht beruhigen zu können. Heftig schluckte Sirius, unwissend ob seine weitere Information ihr mehr oder weniger zusetzen würde. “Wir haben das Fläschchen gefunden. Sie ist nicht tot.” Das Spiegelbild traurigster Qualen blinzelte ihn an. Denn alle drei dachten sie das gleiche: Noch nicht. Und sollte sie sterben, würde es ein weitaus schrecklicherer, schmerzender Tod sein. Körperinspition. Sicht verschwommen. Muskelkater beinahe im gesamten Körper. Pochender Kopfschmerz. Stechender Arm. Ein leerer Kopf. Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern an das, was geschehen war. Warum verspürte sie Schmerzen? Weshalb war ihr so kalt? Und wie lange hatte sie nicht gegessen? Ihr blondes Haar schien sehr verdreckt und sie schien es lange Zeit nicht gewaschen zu haben. Durch einen Nebelfilm über den Augen sah sie den Mann nicht kommen. Er packte sie grob am Kinn und sie blinzelte kräftig, um besser sehen zu können. “Wach?”, fuhr er sie an und als er sich wieder aufrichtete, konnte sie ihn besser erkennen. Groß, dunkelhaarig und hübsch, aber sehr selbstgefällig grinsend. “Wo bin ich?”, fragte sie dümmlich, obwohl ihre erste Frage eine andere hätte sein sollen. “In der Schule warst du doch so schlau. Denk mal ganz scharf nach.” Schule? Sie konnte sich nicht erinnern, mit ihm auf einer Schule gewesen zu sein. Wovon sprach er? “Ich weiß es nicht.”, antwortete sie verwirrt und schrak auf zusammen, als er ihr seinen Zauberstab gegen die Kehle stieß. “Wenn du spielen willst, spielen wir. Aber du wirst verlieren.” Tränen der Unverständnis sammelten sich in ihren Augen und Angst erfasste sie. Was konnte sie einem Mann wie ihm getan haben? “Bitte.”, wimmerte sie, doch seine Augen zeigten keinen Sanftmut. “Schön.” Beinahe ekelhaft vorfreudig richtete er sich auf und deutete mit seinem Zauberstab erneut auf sie. Zerreißender, unnatürlicher Schmerz ließ sie von innen heraus explodieren, ließ sie schreien und zucken. So schnell wie ihre Qual gekommen war, verging sie wieder, doch sie hinterließ Angst. Angst vor dem Mann, der sie grundlos und gleichgültig gefoltert hatte. Angst vor dem Mann, der sich ihr erneut näherte. Angst vor der Gewissheit, keine seiner Fragen beantworten zu können. “Warum tust du das?”, wimmerte sie und er lachte ungläubig. “Wie immer zu Späßen aufgelegt, Macdonald.” Sie schüttelte heftig den Kopf. Sie machte keine Späße und sie wollte bestimmt nicht mehr spielen. “Ich heiße nicht Macdonald.”, krächzte sie flehend. Er musste sie verwechselt haben. Erneut lachte er und schien tatsächlich amüsiert. “Nein? Du bist nicht das Mädchen, dass ich sieben Jahre lang in der Schule gesehen habe? Wer bist du dann?” Lauter als seine Stimme hämmerte ihr Herz in ihren Ohren. Als drängte es sie zur Antwort, doch sie kannte sie nicht. Die grausame Erkenntnis nahm ihr den Atem und die Sicht. Sie wusste es nicht. In ihrem Kopf gab es keinen Namen, keine Geschichte, keine Erinnerung. Sie wusste nichts. Er musste die Änderung wahrgenommen haben. Erkannte den Schock in ihrem Gesicht. “Ich weiß es nicht.”, hauchte sie und blickte flehend auf. “Ich weiß nicht, wer ich bin!” “Ach, tatsächlich?” Sein bittersüßes Lächeln verriet, wie wenig er ihr glaubte. “Lass mich dir helfen. Du bist Mary Macdonald, die beste Freundin von Lily Potter. Ihr beide, eure Freunde, sind Teil des Phönixordens, der gewaltigen Ärger macht. Du, meine Liebe, hast dich für die falsche Seite entschieden.” Phönixorden? Lily? Welche Seiten? Wovon sprach er? Ehe sie reagieren konnte, richtete er den Zauberstab auf ihren Unterarm und brach dessen Knochen. Der brennende Schmerz durchzuckte ihren Körper in pulsierenden Wellen und sie schrie aus vollem Leibe. Ein paar Minuten lang ließ er sie leiden, dann zwang er sie, ein fremdes Getränk zu sich zu nehmen, dessen widerlicher Geschmack, beinahe den Schmerz überdeckte. Bis neue Qualen mit der Flüssigkeit kamen. “Was tust du?”, brachte sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. “Ich lasse deinen Knochen zusammenwachsen. Das wird eine Weile dauern. Aber dann kann ich ihn von neuem brechen und damit weiter machen, bis du endlich bereit bist, zu sprechen. Der dunkle Lord belohnt jene, die sinnvolle Geiseln nehmen und über dich wird er sich sehr freuen. Ich darf nicht vergessen mir später auf die Schulter zu klopfen.” Bei seinem Zwinkern musste sie aufstoßen. Keines seiner Worte schien Sinn zu ergeben, doch sie verstand, dass er einer Sorte Sekte anzugehören schien und das machte ihn noch viel gefährlicher. “Noch wertvoller bist du allerdings-”, jetzt kniete er sich vor sie und hielt zärtlich ihr Gesicht in den Händen, “wenn ich schon Informationen aus dir heraus gekitzelt habe und bevor ich gehe, möchte ich dich noch darauf hinweisen, dass es noch andere Knochen als deinen Unterarm gibt. Schlaf gut.” Hatte sie jemals in ihrem Leben so viel geweint? Zwar konnte sie die Frage nicht beantworten, jedoch war es unvorstellbar. Wahrscheinlich war sie auch noch nie gefoltert worden. Wenn sie wenigstens etwas hätte, worüber sie nachdenken konnte. Dann könnte sie dem Elend ein wenig entrinnen, doch die ewige Fragestellerei führte nur dazu, dass sie sich noch verzweifelter und einsamer fühlte. Bald würde er doch verstehen müssen, dass sie ihm nichts sagen konnte! Dass sie offensichtlich nicht diejenige war, die er suchte. Der dunkle Lord. Ein Schauer rann ihr über den wunden Körper und verstärkte den Schmerz in ihrem Arm. Auf einer Welle an Schluchzern trieb sie in einen tranceartigen Schlaf, der ihr keine Erholung brachte, jedoch das Leid betäubte. Ihr Peiniger ließ ihr in den nächsten Tagen keine Ruhe. Unermüdlich quälte und folterte er sie. Fragte sie aus und mit ihrem letzten bisschen Verstand wünschte sie sich, er habe Recht. Sie wünschte sich all die Dinge zu wissen, nach denen er suchte. Zumindest hätte dieses Martyrium dann einen Sinn. Dann hätte sie wenigstens etwas wofür sie kämpfen konnte, worauf sie stolz sein konnte. Doch so war sie nur sein Spielball. Unfähig ihm selbst falsche Informationen zu liefern, um wen auch immer vor diesem Monster zu beschützen, doch wovon er sprach, erweckte in ihr keine Vertrautheit. Immer wieder hörte sie vom Orden des Phönix, von Dumbledore, vom Dunklen Lord und dieser Lily. “Wir wissen, wo sie sind.” Eindringlich sah er auf sie hinab. Ausgestreckt lag sie auf dem Boden, sein bedrohliches Gesicht gleich über ihrem. “Sprich, oder sie werden leiden.” Doch sie würden nicht leiden, denn er log. Lily musste wichtig sein und hätte man sie gefunden, wäre er nicht mehr hier. Diese Gewissheit beruhigte sie. Zu wissen, dass jemand vor ihm sicher war, selbst wenn sie keine Verbindung zu der Frau hatte. Wen immer dieser Mann nicht mochte, sollte beschützt werden, denn es konnten nur gute Menschen sein. “Sprich.”, drohte er erneut. Es gab nichts zu sagen und so, ohne sich zu rühren, spürte sie seinen Zauberstab unterhalb ihrer Brust ansetzend. Langsam, beinahe zärtlich fuhr er damit hinab zu ihrer Hüfte. Sie spürte den Schnitt, hatte aber keine Kraft mehr. Körperliche Resignation hatte sie eingenommen und so war ihre einzige Reaktion das scharfe Einsaugen von Luft, vorbei an ihren trockenen Lippen. Den Blick wandte sie von seinem nicht ab. Betrachtete seine Augen, das einzig menschliche an ihm. Sie leuchteten voller Lebensenergie und sah man nur sie - unabhängig von den wütenden Augenbrauen, dem aggressiv mahlenden Kiefer, den böse lächelnden Lippen - so waren sie wunderschön und erfrischend, wie eine Quelle klar sprudelnden Wassers. Mary Macdonald. Sie war härter zu knacken, als er gedacht hatte. All seine Begeisterung über den wertvollen Fang war verebbt, denn sie gab nichts preis. Nicht mal verräterische Gefühlsregungen hatte sie zu bieten. So konnte er sie dem Dunklen Lord nicht präsentieren. Nutzlos, wertlos. Nach anderthalb Wochen ohne Nahrung hatte er einen Bruch in der Fassade erwartet. Wie lange konnte man so tun, jemand anders zu sein, wenn Vitamin und Mineralzufuhr gestoppt waren? Wann würde sie endlich brechen? In ein paar Tagen hatte er sie ausliefern wollen, hatte verkündet, welch großartige Geisel im Keller schmorte. Nach einer neuen Technik suchend, ballte er die Fäuste gegen den Kaminsims. Vom Tisch aus beobachtete ihn seine Mutter. Sie hasste, was er tat. Hasste, dass er es in ihrem Haus tat. Doch es war nun sein Haus. Seit sein Vater vom Orden getötet worden war, gehörte das Haus ihm. Seine Mutter hasste auch ihn nun so sehr, wie sie seinen Vater gehasst hatte. “Das ist nicht wahr.”, hörte er sie scharf sagen. “Aus meinem Kopf, Mutter!”, herrschte er. “Vielleicht solltest du besser darin werden, mich abzuwehren.” Herausfordernd richtete sie sich auf. “Ich hasse keinen von euch. Dein Vater fehlt mir, aber für meinen Sohn habe ich mir etwas anderes gewünscht. Ich dachte, ich habe dich erzogen, Menschen zu respektieren. Besonders Frauen.” Die Schwere des letzten Wortes traf ihn. Brachte Erinnerungen an die Oberfläche, an diese Frau vor ihm, wie sie weinte und schmerzte und wie sein Vater über ihr stand. Heftig kämpfte er die Bilder in den Hintergrund. Stattdessen betrachtete er seine Mutter, wie sie jetzt war. Klein und schmächtig, aber so stark im Innern. Sanft ging er hinüber und zog sie in seine Arme. Zog sie an seine Brust, sodass sie sein Herz hören konnte. Sodass sie hören konnte, dass es noch schlug. “Es gibt Dinge, die ich tun muss.”, flüsterte er in ihr dünnes Haar. “Musst?” Eine ganz dezente Frage, doch sie löste so viele Zweifel in ihm aus. Seine Mutter war eine Schwäche. Die seines Vaters war sie nie gewesen, doch seine um so mehr. Nun löste sie sich von ihm. Ein schwerer, leidvoller Ausdruck lag in ihren Augen. Beinahe, als bereue sie seine Existenz. “Wenn du so weiter machst, hast du bald nichts, was du verhören kannst.” Mulciber. Das war sein Name. Jemand hatte ihn gerufen. Ob ihr ein Tormentor mit oder ohne Name lieber war, musste sie noch entscheiden. Mulciber. Er schien nicht unpassend. Ein wenig melodischer Name. Mulciber, der ihr die Knochen brach. Mulciber, der sie verhungern ließ. Mulciber, der ihre Schmerzen genoss. Mulciber, für den sie bedeutsam war. Mulciber, dessen Hände gegen ihrefiebrige Haut so kalt waren. Mulciber, ihr Folterer. Doch es war nicht Mulciber, der ihr Gefängnis betrat, als sich die Tür öffnete. Es war eine kleine Frau mit schütterem Haar. Ihre Erscheinung war dennoch elegant. Ihre Bewegungen gewählt. “Guten Morgen.”, grüßte sie. Dies war das erste Mal, dass sie diese Worte vernommen hatte seit - sie wusste, nicht seit wann. Denn sie wusste nicht, ob sie alleine gelebt hatte. Ob sie überhaupt Freunde gehabt hatte. Doch das musst sie getan haben, denn wen sollte sie sonst beschützen, wie Mulciber glaubte? Anstelle einer Antwort beobachtete sie die Frau, wie sie sich neben sie kniete. Auch ihre Hände waren kalt, doch es waren nicht nur Hände. Die weichen Finger verteilten eine Salbe auf den Wunden des geschundenen Körpers. In Ruhe und Schweigen gehüllt arbeitete die Frau und trotz ihrer Situation, trotz allem, empfand die Gefangene ein Vertrauen zu ihr, welches sie niemals wieder zu spüren geglaubt hatte. Dankbarkeit und Zuneigung. All das, obwohl sie wusste, dass ihre Taten das Unausweichliche nur heraus zögerten, ihre Pein nur verlängerten. Als sie mit den Wunden fertig war, holte die Frau eine Trinkflasche hervor. Ohne zu zögern wurde sie angenommen und in gierigen Zügen geleert. Beinahe spürbar floss Leben in ihren Leib. Mit jedem Schluck Wasser kehrte ihr Verstand zurück. Kaltes und klares Wasser. Und so viel davon! Ganz anders als die abgemessenen Tropfen, die ihr Peiniger, Mulciber, ihr verabreichte. Auch ein Stück Brot holte die Frau hervor, doch es kam kaum Hunger auf. Die Trockenheit des Gebäcks schmerzte im Rachen und löste Übelkeit aus. Schwindel holte sie ein und die Fremde stützte sie zurück in eine liegende Position, in der sie sie mit einer dünnen Decke schützte. “Ich kann ihm nicht helfen.”, flüsterte sie schwach. Vielleicht vermochte diese Frau zu verstehen, dass sie die Wahrheit sprach. Doch sie erhielt keine Antwort, keine Reaktion. Erneut wurde sie allein zurückgelassen und wie es ihr vorkam nicht für lange Zeit. Sie konnte ihn sprechen hören. “Ich werde sie ihm vorführen. Es ist Mary Macdonald.”, erklärte er jemandem. Sobald sie eintraten, erkannte sie, dass auch der zweite ein junger Mann war. Keiner, den sie kannte. Dem Zweiten fiel der Mund auf. “Mann, das ist sie, aber was hast du mit ihr gemacht?” Fand er es beeindruckend, erschreckend oder verwirrend, was geschehen war? Sie konnte es nicht entscheiden. “Ja, man sollte meinen, sie hätte was verraten.”, brummte der Folterer säuerlich. “Hat sie nicht?” Erstaunt trat der Zweite näher. “Na, Macdonald? Stärker als gedacht, was?” Sie antwortete nicht, regte sich nicht. Der Zweite schien eine Reaktion zu erwarten, Hass etwa. “Sie behauptet, nicht zu wissen, wer sie ist.”, grunzte Mulciber. “Könnte stimmen.” Beinahe dankbar, schloss sie die Augen. Erleichterung, weil endlich jemand zu verstehen schien, wenn sie ihn auch nicht leiden konnte, erfasste sie. “Hast du alle Zutaten im Kessel?”, kam es schnaubend von Mulciber. “Die tut doch nur so, um Potter und das Baby zu beschützen!” Das Baby. Hatte er nicht gesagt, Lily sei schwanger? Unbestimmte Freude durchzuckte Mary. Sie hatten diese Lily noch nicht entdeckt und scheinbar war ihr Sohn geboren. Ein Triumph für die andere Seite. “Nee, Mann. Die benutzen Tränke. Ganz alter Trick, damit wir nichts aus denen herausbekommen.” Sie blieb hellhörig. Wenn sie Recht hatten, gaben sie ihr dann gerade Informationen über ihre Vergangenheit? Darüber, wie sie hier gelandet war? “Ein ewig einschläfernder Trank. Mächtiges Gebräu. Das hat die auf jeden Fall nicht genommen.” Unsanft stupste Mulciber gegen ihre blaue Hüfte und leider nahmen sie die Schmerzen erneut in Beschlag. “Trotzdem. Du hast doch gesagt, die hätte was genommen, oder? Damals?” Stille herrschte im Raum. Aus seinem Gesicht las sie, dass Mulciber dieses Detail außer Acht gelassen, oder gar vergessen hatte. “Spielt aber keine Rolle.”, tat der Zweite die Situation plötzlich ab. “Halbblut, kann man noch was mit anfangen.” Abwägend blickte er auf sie herab. “Wenn du sie herrichtest. Schlammblut - so nutzlos, wie sie ist, wird der Dunkle Lord sein Hobby an ihr ausüben können.” Achselzuckend trat er in Richtung Ausgang. “Wir sehen uns später.” Nun war sie wieder allein mit Mulciber. Altbekannte Situation. Er starrte sie ausdruckslos an. Sie starrte abwartend zurück. Vermutete, dass er nicht wusste, was er ihr heute antun sollte. Dann kam Leben in ihn. Er zog die Decke herunter und sah, was die Frau getan hatte, doch zumindest wirkte er nicht überrascht. “Deine Zeit ist gekommen, Macdonald. Werden schon sehen, ob der Dunkle Lord dein Mündchen öffnen wird. Sonst findet der schon Verwendung für dich. Beziehungsweise keine.” Das vertraut fiese Grinsen spaltete sein Gesicht. Die Decke zog er nicht wieder hoch, ließ sie entblößt dort liegen. “Mulciber.”, flüsterte sie heiser, sodass er halb aufgerichtet Inne hielt, bevor er hinaus ging. Ausgesprochen hatte der Name nicht schöner geklungen als totgeschwiegen und die zweite Option erschien ihr sehr viel angemessener. In den Stunden des Wartens, dachte sie über das Gesagte nach. Der Dunkle Lord würde sie inspizieren. Abwägen, ob sie des Lebens wert war oder nicht. Wovon hing es ab? Ihrem Nutzen? Konnte sie ihnen irgendwie nützen? ‘Halbblut, kann man noch was mit anfangen.’, hatte der Zweite gesagt. ‘Wenn du sie herrichtest.’ Herrichten? Etwas anfangen. Es klang wenig nach ihrem Informationenreichtum und es schauderte sie. Als Frau konnte man nicht allzu viel Nutzen für einen Mann sein. Doch meinten sie Mulciber oder den Dunklen Lord? Doch Mulciber selbst hatte gesagt, entweder sie öffnete ihren Mund, oder es gab keine Verwendung für sie. Der Tod schien ihr als geringstes Übel. Ihr Leben war in Vergessenheit geraten. Vielleicht durch einen Trank? Jedenfalls kannte sie nichts, wozu sie entfliehen könnte. Schlaf für den Rest ihres Lebens schien in der Tat als wenig verwerflich. So wartete sie, darauf hoffend, dass sie ein Schlammblut wäre. Die Stunde schlug. Mulciber kehrte zurück, den Blick entschlossen. Er packte sie und scherte sich nicht um ihre dreckigen Kleidungsstücke. Die Unterwäsche an ihrem Leib schien ihm zu genügen, jedoch legte er ihr zumindest ihren alten Umhang über die Schultern. Vorm Verlassen des Raumes richtete er den Zauberstab direkt auf ihre Stirn. Ungesagt verschleierte er ihren Blick. Sie war nun blind. Angst ergriff von ihr Besitz und ließ sie zittern, während sie durch das Nichts tapste und ihr Tormentor, der Inbegriff allen Grauens, ihr einziger Halt war. An einer Treppenstufe stieß sie sich den Zeh und ironischerweise schmerzte diese Begegnung mehr als alles, was sie in den letzten Tagen gespürt hatte. Zumindest kam es ihr so vor. Am Ende der Treppe angelangt, hörte sie eine Tür aufspringen und es wurde wärmer. Sie mussten den Keller verlassen haben. Zwischendurch spürte sie Teppich unter den Füßen und dann hörte sie ein Feuer knistern, begleitet von menschlichen Stimmen. Aber waren sie menschlich? Mulciber ließ sie so plötzlich los, dass sie wankte und sich gerade noch auf den Beinen halten konnte. “Mein Lord.”, hörte sie ihn unpassend demütig sagen. “Ah, Mulciber.” Die Stimme des Lords war so kalt und unschön, dass sie ihr bis ins Mark drang. Schrecklicher als alles, was sie je gehört hatte. “Welches ist dieses Geschenk, dass du mir darbietest.” Geschenk. Unangenehm krampfte ihr Körper. Menschen bewegten sich. Sie wusste nicht, wie viele. Sie wusste nicht, wohin. Der Tod war nicht ihr gefürchtetster Ausweg, doch sie hatte ihm in die Augen blicken wollen. Hatte sich gegen das Bevorstehende wappnen wollen. Jede Sekunde konnte sie jemand angreifen, erdolchen, foltern und sie würde gänzlich unvorbereitet sein. “Mary Macdonald, mein Lord, Halbblut.”, antwortete Mulciber gehorsam. “Sie ist die beste Freundin von Lily Potter.” Der Dunkle Lord sog kalt die Luft ein. “Ihrem Erscheinen zu urteilen, hast du sie verhört.” “Ja, mein Lord. Bedauerlicherweise zu keinem Ergebnis. Wir vermuten, dass sie ihre Erinnerungen verloren hat.” “Ach.”, machte der Dunkle Lord mit seiner hohen Stimme und sie wusste nicht, was sie daraus lesen sollte. Enttäuschung vielleicht, Missbilligung, Unglaube? “Du scheinst gute Arbeit geleistet zu haben, Mulciber.”, lobte der Sektenführer und der Stein der dem Raum vom Herzen fiel war deutlich zu spüren. “Ich habe meine Wege, ans Ziel zu kommen. Früher, oder später.” Lily, dachte sie. Was wollten sie bloß von dieser Frau? “Ich nehme an, sie wird uns nicht von Nutzen sein.” Das Rascheln eines Umhangs. Würde er sie jetzt töten? Sanfte Schritte folgten und sie glaubte, dass sie in ihre Richtung kamen. Die Unsicherheit schnürte ihre Kehle zu, oder war es Angst? Aber sie war doch bereit zu sterben? “Mein Lord.”, sagte Mulciber plötzlich und ihr stockte das Herz. “Wenn es Ihnen nichts ausmacht, behalte ich sie.” Stille legte sich über sie. Mulciber schien beinahe gefürchteter als sie vor der Antwort seines Meisters. “Lass dich nicht vom Ziel ablenken, Mulciber.”, warnte der Dunkle Lord. “Ich belohne meine treuesten Diener.” Sollte es auch gut gemeint sein, es klang wie eine Drohung. Mit dem lauten Ploppen verschwanden der Dunkle Lord und ihre Chance auf einen schnellen Tod. Was würde jetzt geschehen? “Hast dir meinen Tipp zu Herzen genommen?”, hörte sie den Zweiten grinsen und plötzlich fassten Hände sie bei der Hüfte. Heftig schwankend wäre sie gefallen, wenn sie nicht im Klammergriff einer der beiden gehalten würde. Ihre Sicht klärte sich mit einem Mal und sie sah das Gesicht des Zweiten gleich vor ihrem, wodurch sie bemerkte, wie hässlich er war. Ekel stieß in ihr auf, doch sie fand die Kraft in ihrem Körper nicht, um ihn von sich zu stoßen. “Avery.”, fuhr Mulciber seinen Freund genervt an. “Lass gut sein!” Verwirrt und ein wenig zerknirscht folgte Avery seinen Anweisungen. Sein Kumpel hatte ihm den Spaß verdorben. Dann wanderte sein Blick an ihr hinab. “Schätze, du kannst sie noch etwas aufpolieren.” “Schätze, ich teile nicht gern.”, konterte Mulciber freundlich, aber bestimmt. Endlich nahm Avery Abstand und an seine Stelle trat die alte Frau die ihr einst die Wunden versorgt hatte. Trotz derer Schmäle fühlte sie sich beschützt und nahm den Raum um sich war. Ein Esszimmer, mit schwerem Tisch und einem luxuriösen Kamin. Die Wände und das Dekor waren heller und farbenfroher, als sie erwartet hätte. Mulciber und Avery entfernten sich zum Kamin, wo sie sich leise austauschten und als die Frau sich bewegte, folgte sie ihr instinktiv. Durch einen dunklen Flur und an ein paar Türen vorbei, hinein in ein funkelndes Marmorbad. Es war geräumig und die goldschimmernde Badewanne blitzte verlockend. Vorsichtig nahm die Frau ihren Umhang ab und faltete ihn auf einem kleinen Hocker. Dann ließ sie dampfendes Wasser in die Wanne laufen. Das Badezimmer war von weiblicher Dominanz, mit weichen Zügen und Farben und verschiedenen Schminkutensilien auf den Regalen. “Danke, Mutter.”, hörte sie Mulcibers Stimme und erschrak. Seine Mutter verließ den Raum. Unsicher was sie tun sollte, starrte sie ihn an. Gelassen lehnte er sich gegen den Türrahmen, strahlte weder Provokation, noch Aggressivität aus. Er würde sie nur nicht alleine lassen. Immer noch unwohl wandte sie sich um und trat vor den mannshohen Spiegel. Dort blickte sie in ihr eigenes Gesicht. Die Wangen waren eingefallen und strähniges, dreckiges Haar umrahmte es, doch immense Erleichterung überkam sie, bei der Vertrautheit, die sie erfüllte. Dies war ihr Gesicht. Wenn die Details ihr auch entfallen waren, sie erkannte es wieder. Beim zögerlichen Lächeln gruben sich kleine Vertiefungen in ihre Wangen. Grübchen. Nun betrachtete sie ihren Körper. Blau schimmerte es unter ihrer Haut und violett-braune Flecken zogen sich darüber. Sie war dünner, als sie natürlicher Weise wäre. Weniger kurvig, doch nicht ausgehungert. Trockenes Blut zog sich über ihren Oberkörper. Durch die Salbe waren allerdings ihre Schnittwunden verheilt. Mit großer Anstrengung ignorierte sie den Mann hinter sich und entkleidete sich völlig. Welche andere Wahl hatte sie? Die Gewissheit, dass sein Blick gleichgültig und unlüstern war, beruhigte sie. Die Sehnsucht nach diesem Bad war ihr unbewusst gewesen, bis sie nun die Zehen in das warme Wasser tauchte. Es schmerzte beinahe auf ihrer strapazierten Haut, doch sie sank bis zum Hals hinein. Verharrte ein paar Minuten, dann setzte sie an, um ihr Haar zu waschen. Ihren Körper hatte sie jedoch überschätzt. In der rutschigen, tiefen Wanne verlor sie den Halt und tauchte komplett unter. Beinahe ohne Zeit für sie zu reagieren, packten sie zwei Hände und zerrten sie an die Oberfläche. Mulciber stand neben der Badewanne, der Blick wild, und er hielt sie fest, damit seine Beute ihm nicht doch wegstarb. Sobald sie sich wieder oben halten konnte, griff er nach einem Eimer, füllte ihn mit Wasser und leerte ihn vorsichtig über ihrem Haar, während er mit der anderen Hand hindurch fuhr und Knoten löste. Schweigend wusch er den Schmutz aus ihren Haaren und sie heftete den Blick auf sein Gesicht, damit ihr keine gefährliche Gefühlsregung entging. Allerdings verzog er keine Miene, bis ihr Haar geschmeidig und sauber war. Dann zupfte er ein Handtuch von einem Hocker, faltete es auseinander, sodass sie sich aus der Badewanne direkt hinein wickeln konnte. Cremefarben und weich war das Handtuch und roch nach Lavendel. Für einen kleinen Augenblick des Genusses vergaß sie den fremden und gefährlichen Mann vor sich und vergrub ihr Gesicht in dem angenehmen Stoff. In seinen Augen las sie, dass er sich nicht sicher war, was er tun sollte. Ob die Situation für ihn so befremdlich war, wie für sie? Unbehaglich rieb er die Hände gegeneinander und sah abwechselnd zu ihr und zum Spiegel. Über den Rand ihrer, mit dem Handtuch bedeckten, Fäuste beobachtete sie seine Bewegungen. Abwartend. War er doch sonst nie verlegen um Worte gewesen, harsch und triezend, so sprach er nicht, als er sich umwandte und sie denselben Flur zurückführte. Würde er sie wieder in den Keller bringen? Doch bevor sie das Esszimmer erreichten, bog er ab und sie stießen auf eine Treppe. Unter ihren bloßen Füßen spürte sie den dicken, warmen Teppich, der die Stufen bedeckte. In einem solch luxuriösen Haus war sie in ihrem Leben sicher noch nicht gewesen. Vielleicht erschien ihr diese Villa auch nur größer, als sie tatsächlich war. Im oberen Stockwerk erreichten sie eine Tür, die er ihr aufhielt. Dahinter verbarg sich ein herrlich weibliches Gästezimmer. Helle creme-töne, blass violett, ein zwei Spritzer kräftiger Farbe und sanfte Formen dominierten den moderat großen Raum. Mulciber verließ so rasch das Zimmer, als verbrenne ihn ihre Anwesenheit. In der Mitte dieses Zimmers lag ein weiterer watteweicher Teppich. Neugierig vergrub sie ihre Zehen in den Fasern. Nach den Wochen im kalten, harten Keller fühlte sie sich plötzlich wie eine Prinzessin. Bei Betrachten des Doppelbettes, der Kommode und des Schminktisches wunderte sie sich, wer wohl darin gewohnt hatte. Zwar war sie noch immer eine Gefangene, allerdings schien ihr kein unmittelbares Unglück bevor zustehen. Auf dem Polster des Bettes hatte sie ein feines Nachthemd liegen sehen und so zog sie neugierig die Türen zum Kleiderschrank auf. Leere gähnte ihr entgegen, gefolgt von großer Enttäuschung. War sie also ein Mensch, der Kleidung liebte? Oder lag es daran, dass sie solange unbekleidet gewesen war, dass sie sich nun so sehr danach sehnte? Definitiv, liebte sie Mode, denn sonst würde sie in dieser Situation nicht Inventur vom Schrank nehmen wollen, sondern einen Fluchtplan schmieden. Wohin auch? Wohin sollte sie fliehen. Hinaus in eine Straße, die sie nicht kannte, oder eine Stadt, die ihr fremd war. Und sie wusste nicht einmal, was ihr übergeordnetes Ziel sein sollte, da sie keine Ahnung hatte, wo sie herkam. Nach einer Lily oder einem Dumbledore zu fragen, würde sie kaum weit bringen, da sie vermutlich an einen Muggel geriet. Könnte sie Zuflucht im Heim eines Fremden suchen? Mulciber kannte sich hier jedoch besser aus als sie und würde keine Stunde brauchen, um sie einzufangen. In dem Fall war die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie mit einem Bad belohnt werden würde. Die Frage, die sie dringend beantworten musste war, ob sie eine Gefangene war, oder mehr ein unfreiwilliger Gast. ‘Morgen.’, sagte sie sich, als ein unerwartetes Gähnen ihren Mund aufriss. Somit blieb ihr nichts anderes, als sich dem Schlafkleid zu zuwenden. Bei einem Blick auf das Schildchen wurde ihr bewusst, dass sie eventuell nicht in diese Klamotten passen würde, hätte sie nicht gezwungenermaßen so viel Gewicht verloren, denn ihre Statur, das wusste sie, war zu Beginn ihrer Zeit hier um einiges kurviger gewesen. Mit dem Handtuch rubbelte sie ihr Haar trockener und warf dann einen erneuten Blick in den geschwungen gerahmten Spiegel an der Wand, gleich über der Schminkkommode. Darin lächelte sie sich zaghaft entgegen und wurde erneut von einem Gefühl der Selbsterkennung und des Bewusstseins überspült. Mary Macdonald. Das war ihr Name und selbst, wenn Mulciber ihn ihr gegeben hatte, oder auch nicht, so fand sie ihn passend. Mary. Mary und Lily, beste Freunde. Nein, dieser Gedanke fühlte sich noch immer fremd an. Ihre Verwirrung und Fragen aufschiebend stieg sie in das fluffige Bett. Wie auf Wolken. Wie in Wolken. Auf jeden Fall himmlisch und sie erlaubte es sich, in einen tiefen, hoffentlich erholsamen Schlaf zu sinken. Sollte Mulciber sie heute Nacht ermorden, würde sie wenigstens den Umständen entsprechend zufrieden sterben. Jedoch starb sie nicht. Als sie erwachte, schien warmes, helles Sonnenlicht durch die Vorhänge. Früher Morgen war es nicht und somit hatte sie entweder keinen inneren Alarm, oder er hatte Schaden genommen. Unerklärlicher weise fühlte sie sich peinlich berührt beim Gedanken, verschlafen zu haben im Haus eines Fremden. Selbst wenn dieser sie gekidnappt und gefoltert und ausgehungert hatte. Apropros Hunger, er überwältigte sie mit einer solch wuchtigen Übelkeit, dass sie zu Knie fiel und mit sich selbst rang. Den Teppich ruinieren wollte sie nicht und den Weg zum Badezimmer wagte sie nicht. Keuchend und einen widerlichen Geschmack im Mund ging sie als Sieger aus dem Kampf hervor, doch fühlte sie sich miserabel. Das dringende Bedürfnis im Hintergrund ihres Bewusstseins brauchte sie ein paar Minuten, bis sie den Kleiderstapel auf dem kleinen Hocker am Fenster bemerkte. Ungewöhnlich lustlos näherte sie sich dem Geschenk. Nett vielleicht, doch sie bedeutete ebenfalls, dass jemand in der Nacht dieses Zimmer betreten hatte. Zumindest lebte sie noch. Mit der wenigen Auswahl, die zur Verfügung stand, entschied sie sich für eine dunkelgrüne Bluse und ein paar Jeans, welche erneut gerade so passten. Was nun? Wartete sie? Doch woher sollte er wissen, wann sie wach war? Weshalb durfte sie überhaupt ausschlafen? Das unheilvolle Knurren ihres Magens vernehmend, entschied sie sich für Mut und verließ ihr Zimmer - oder, wessen Zimmer es auch war. Vorsichtig tapste sie hinaus in den Flur und die Treppe hinab. Hatte sie jemals ein Haus so still gehört? Nach einer kurzen Orientierungskrise fand sie das Esszimmer, ohne fremde Türen zu öffnen und sich so Ärger einzuhandeln. Niemand war dort und es erschien ihr wie am Abend zuvor. “Hallo.” Erschrocken fuhr sie herum und sah Mulcibers Mutter, welche höflich lächelte. “Morgen.”, grüßte Mary erleichtert. “Beinahe nachmittag.”, korrigierte die ältere Frau und lockte damit eine Röte auf Marys Wangen, entschuldigen konnte sie sich jedoch nicht. Stattdessen herrschte wieder Stille. Die Mulcibers waren keine Freunde der Konversation, wie Mary fand, denn erneut musste sie ohne Aufforderung der Frau folgen. Etwas anderes blieb ihr kaum übrig und glücklicherweise war ihre Destination eine mittelgroße, gut ausgestattete Küche. Schweigend beobachtete Mary, wie Mrs Mulciber Eier kochte und Toast in das dazugehörige Gerät steckte. Auf einem Teller drapierte sie Aufschnitt und kleingeschnittenes Gemüse. Sich fehl am Platze fühlend, stand Mary daneben, bis Mrs Mulciber fertig war. Zu ihrer Freude durfte sie an der Insel in der Küche essen und musste sich nicht alleine in den großen Speiseraum setzen. Ausgehungert biss sie ins gebutterte Toast, herzhaft und voller Erwartung. Jedoch blieb ihr der Bissen im Halse stecken, sie bekam ihn einfach nicht herunter. Ihr unterdrückter Brechreiz schlug ihr erneut in den Magen und so jagte sie hinaus, alle Achtung hinter sich lassend. Im schönen marmornen Badezimmer erbrach sie Galle in die Toilette. Das Würgen schüttelte ihren gesamte Körper. Sie krampfte und Tränen rannen ihr über die Wangen. Mrs Mulciber war ihr gefolgt, hielt ihr Haar aus der Stirn und Mary konnte sich nicht erinnern, jemals so dankbar gewesen zu sein. Natürlich. Jeglicher Appetit war ihr vergangen und so wackelig, wie sie nun auf den Beinen war, geleitete die gute Frau sie zurück in das Zimmer, nachdem sie ihr eine Zahnbürste spendiert hatte. Schwindelig kletterte Mary ins Bett und sank unter die Decke. Schweißtropfen mussten ihr Gesicht bedecken und sie ersehnte die Wärme, die ihre Zuflucht ihr hoffentlich spenden würde. Sorgsam verabreichte ihr Mrs Mulciber einen Esslöffel voll Trank, der ihren Zustand stabilisieren und vereinfachen sollte. Das sich anbahnende Fieber legte sich nach einer Weile, die Mary schlaflos in den Kissen verbrachte. So sehr sie Mulciber in diesem Zustand nicht hatte sehen wollen, erfüllte es sie mit Enttäuschung, dass er nicht einmal nach ihrer Gesundheit sehen wollte, wenn er doch ihr Leben verschont hatte. Konfus wehrte sie einen Zitterkrampf ab. Dann plötzlich konnte sie ihn hören. Gleich vor ihrer Tür, während er heftig mit seiner Mutter diskutierte. “Du solltest sie sehen! Was hast du nur getan? Nicht einen Bissen hat sie herunter bekommen.”, mahnte seine Munter mit einer Mary unbekannt strengen und lauten Stimme. “Warum nicht? Und was soll ich daran ändern? Gib ihr eben irgendetwas. Suppe. Wenn sie sich zu Tode hungern will, kann ich auch nichts machen.” Mary schnaubte. Sich zu Tode hungern wollen? Als habe er nichts mit ihrem Zustand zu tun, dachte sie bitter amüsiert. Die Wut auf ihn blieb jedoch aus. So bereit zu sterben sie gewesen war, sie wertschätzte das Bett, das Bad und dieses Zimmer. Selbst wenn sie dem Sinn dessen kein Stückchen näher war. “Wirst du mir wenigstens verraten -”, bat die Mutter ihren störrischen Sohn. “Nein! Kümmer’ dich einfach um sie. Ich habe zu tun.” Auf dem Flur hörte Mary schwere männliche Schritte davon stapfen. Eine Weile blieb es still um sie herum, bis Mrs Mulciber zurückkehrte. Sie war allein, brachte allerdings tatsächlich Suppe. Lauch-Creme-Suppe wie es schien. Zaghaft führte Mary einen kleinen Löffel in die Nähe ihres Mundes. Bisher kein Übelkeitsgefühl. Auf den Hinweis der Frau hin pustete sie zum Kühlen, dann schluckte sie die Suppe und wartete besorgt ab. Heiß glitt die Flüssigkeit ihre Kehle hinab. Ganz richtig fühlte es sich nicht an, jedoch sah es danach aus, als wolle die Suppe im Magen bleiben. Nun, da sie Mut gefasst hatte, wagte Mary sich an einen volleren Löffel. Ein weiterer folgte, ehe sie gierig die Hälfte der Schüssel vertilgte, bis ihr vor Fülle übel zu werden drohte. “Danke.”, wisperte sie und schloss die Augen, um die Wärme zu spüren, die nun von ihrem Innern ausging. Mehr konnte sie dieser Frau nicht zurückgeben. Nur Dank für das bisschen Zuneigung, dass sie ihr bot. Manchmal wünschte Mary sich, Mrs Mulciber wäre nicht so gut zu ihr. Zumindest würde es ihre Situation nicht so verwirren. Diese Nacht benötigte sie den Sicherheitseimer neben ihrem Bett nicht. Erst am Morgen wurde sie von einem drängenden Gefühl im Rachen geweckt und hängte sich hektisch über die Bettkante. Für ein paar Minuten würgte sie, doch nichts geschah. Über die darauf folgenden Tage wurde es besser. Zweimal hatte sie sich erbrechen müssen, doch ihren Speiseplan hatte man erst um Zwieback und Tee erweitert. Dann Kartoffelpüree und schließlich sehr weich gekochte Spaghetti mit milder Sahnesoße. Den Kopf nun freier, da ihr nichts geschehen war, genoss Mary es, ihren Schrank zu nutzen, der mit vergangener Zeit voller geworden war. Jeden Tag lugte sie hinein, um herauszufinden, was man ihr nun zur Verfügung stellte. Mit der Diskretion, wie ihr Raum gesäubert, ihre Wasche gewaschen und aufgehängt wurde, war sie sicher, dass Hauselfen am Werk waren. Absolut talentierte Hauselfen, denn sie hatte nie einen entdeckt. In der Tat sah sie auch Mulciber nie. Sie hatte sich angewöhnt Mrs Mulciber beim Essen zu helfen. Nachdem sie sich jeden Tag schlecht fühlte, die Frau schuften zu lassen, begann sie mit zu schneiden und anzurichten. Das Verhältnis lockerte sich deutlich und jedes Mal gerieten sie in anfangs verhaltene Konversationen. Zwar schnitten sie stets belanglose Themen an, doch sie bildeten jeden Tag Marys Highlight. Mrs Mulciber empfahl Mary stets einen neuen Roman, wenn sie den vorigen beendet hatte. Natürlich nicht, ohne diesen ausgiebig diskutiert zu haben. Die ältere Frau schien eine ausgeprägte Leidenschaft fürs Lesen zu hegen und hütete die Bücherregale wie einen Schatz. So gewöhnte Mary es sich an, es ihr gleich zu tun. All diese Zeit begegnete sie Mulciber kein Mal. Tatsächlich bekam sie das Gefühl, dass er sie mied. Wobei die Situation doch andersherum hätte sein sollen. Was hatte sie ihm schon getan? Bald machte sein Verhalten sie zornig. Trotz ihrer regelmäßigen Unterhaltungen war Mrs Mulciber auf der Hut, nichts persönliches preiszugeben und besonders kein Wort über Mulciber zu verlieren. Doch Mary wollte wissen, warum sie dort war. Was war der Sinn des Ganzen? Hoffte er, dass sie ihre Erinnerungen wiedererlangte und doch von Nutzen war? Wie sollte das geschehen? Wo er doch der Einzige war, den sie möglicherweise gekannt haben konnte. Da er sich nicht einmal Zeit nahm, Regeln aufzustellen, schien es keine zu geben. Dennoch, das Anwesen zu verlassen, traute sie sich nicht. Jedoch konnte sie wenigstens das dieses erkunden. Irgendwo musste er doch sein? Bald entschied sie, dass das Haus eine große Villa war mit seinen drei Bädern, den Schlaf- und Gästezimmern, dem pompösen Esszimmer, der Küche und einem eleganten, aber gemütlichen Wohnzimmer. Dann war da immer noch der ihr verhasste Keller, sowie die kleine Bibliothek und ein paar andere kleine Räume, die sie zu öffnen noch nicht gewagt hatte. Es war nicht groß genug, um sich darin zu verlieren, aber imposant genug, um sich klein darin zu fühlen. Drei Tage dauerte es sie, bis sie fand, wonach sie suchte. Mrs Mulciber hatte ihre Erkundungstouren ignoriert und da Mary wusste, welches Zimmer die Frau beherbergte, sparte sie dieses aus. Eine Tür pro Tag, hatte sie sich gesagt und es war Tür Nummer drei im unteren Stock, die sie aufzog, um dahinter absolut überrascht ihren Fund zu erblicken. Erschrocken zuckte Mulciber zusammen, der über einer Rolle Pergament gehockt hatte. Erbost über ihr plötzliches Erscheinen trat er mit großen Schritten zur Tür und baute sich vor ihr auf. “Was denkst du, tust du?”, knurrte er missbilligend. Sein Ton und seine Statur schüchterten sie nicht mehr ein. Zumindest sagte sie sich das. Irgendwoher nahm sie den Mut, sich ebenfalls aufzubauen. “Genau das würde ich gerne wissen. Du nimmst mir den erwarteten Tod, nur um mich dann herum sitzen zu lassen. Gibt es irgendeinen Grund, warum ich noch hier bin?”, erwiderte sie schnippisch. Amüsiert klappte ihm der Mund auf. “Hätte ich dich sterben lassen sollen?” Nein, eigentlich war sie froh, dass sie noch lebte. Vor allem da dieses Leben bisher keine Folter enthielt, doch sie gab nicht klein bei. “Sag du es mir, indem du mir verrätst, warum du es nicht getan hast.” “Warum genau, denkst du, dass du das Recht hast, das zu wissen?”, zischte er und fixierte sie mit seinem wohl bedrohlichstem Blick. Harmlos gegenüber dem, was sie von ihm kannte. Wie ein Werwolf, den man eigentlich nur zu einem Vollmond befürchten musste. Aber es war nicht Vollmond. “Ich denke, ich habe das Recht, überhaupt etwas zu wissen. Ich kann dir nicht schaden, also sehe ich den Verlust für dich nicht darin.” Damit hatte sie erwartet ihn zum Stutzen zu bringen, doch er lehnte sich näher. “Wenn es ein Spiel ist? Wenn es mir allein zu meinem Vergnügen dient, dich im Unklaren zu lassen?” Süffisant lächelte er auf sie herab. “Spielen wir Verstecken?”, fragte sie zurück und nun schwieg er eine Sekunde zu lang. “Anscheinend spielen wir Fangen, sonst kämst du nicht herum schnüffeln.” “Ich habe nach Antworten gesucht. Wenn du mich schon hier behältst, kannst du dich wenigstens blicken lassen.” “Hattest du Sehnsucht nach mir, Macdonald?”, zwitscherte er und sie hielt sich davon ab, ihm einen Schlag zu verpassen. Das würde zu weit gehen. “Hast du mich dieser Hoffnung wegen hierbehalten, Mulciber?” Wieder stockte er eine Sekunde zu lang. “Ganz die Alte.”, murmelte er. “Vielleicht kommt deine Erinnerung ja doch zurück.” “Meine Erinnerungen sind gelöscht, aber meine Persönlichkeit scheinbar nicht.”, korrigierte sie bissig, sodass er die Augen zusammen kniff. “Schüchtern und kleinlaut hast du mir besser gefallen. Bring mich lieber nicht dazu, dich in den Zustand zurück versetzen zu müssen.”, drohte er. “Oh stimmt, wir wollen ja nicht, dass ich mich am Ende zu Tode hungere.” Damit machte sie kehrt und stolzierte davon. Weit kam sie nicht, denn ein Zauber riss an ihrer Schulter, sodass sie gegen die Wand strauchelte. Mulciber trat sehr nahe an sie heran und seine alte Bedrohlichkeit machte einen Gastauftritt. “Du bist meine Gefangene, Macdonald. Vergiss lieber die Macht nicht, die ich über dich habe, sonst muss ich dich erinnern.” “Du musst auch immer das letzte Wort haben.”, knirschte sie etwas kleinlauter. “Immer.”, bestätigte er kalt. Allerdings machte er keine Anstalten, sie zu erinnern. Dumm genug, um das Haus verlassen zu wollen, war sie nicht, doch alles andere, ließ er durchgehen. Gut, dieses eine bestimmte Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer waren Tabu, aber sonst konnte sie sich frei bewegen und tun, was sie wollte. Regeln stellte er noch immer nicht auf und nun gesellte er sich zum Essen sogar zu ihr, wenn er im Haus war. Ob ihr diese Änderung gefiel, wusste sie nicht. Schließlich wurden ihre Mahlzeiten dadurch oft genug distanziert, still und unwohl. Wenigstens normalisierte sich ihr Essverhalten, wobei ihr Menü sich auf gesunde Bestandteile beschränkte. Mit der Zeit entwickelte sie eine solch heftige Sehnsucht nach Schokolade, dass es ihr enorm schwer fiel, nicht danach zu fragen. Als sie jedoch eines Mittags in die Küche trat und zu ihrer Überraschung Kekse auf einem Teller fand, konnte sie nicht umhin, einen davon zu nehmen. Außen knusprig und saftig in der Mitte. Genau so, wie sie es liebte. Ein Räuspern hinter ihr ließ sie zusammen zucken. Natürlich musste Mulciber zum ungünstigsten Zeitpunkt überhaupt auftauchen. Sie war sich unsicher, was seine hochgezogenen Augenbrauen bedeuten sollten. “Hallo, Miss Piggy.” Empört wollte sie zum Gegenschlag ausholen, doch ein weiterer Mann trat hinter Mulciber durch die Tür und ihre Worte blieben schmerzhaft in ihrem Hals stecken. Averys Grinsen war abwertend und anzüglich und trotz voller Bekleidung fühlte sie sich wieder nackt. Mulciber machte ihr keine Angst mehr, Avery dafür umso mehr. “Die Kekse sind für den Besuch gedacht.”, erklärte Mulciber kälter als zuvor. “Mir macht’s nichts, wenn sie sich zu uns setzt.” Gerade wollte sie protestieren, jedoch kam ihr Mitbewohner ihr mit einem Nicken zuvor. “Warum nicht.”, murmelte er. Wenigstens trug sie einigermaßen unförmige Kleidung. Averys Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht unscheinbar genug, obwohl das wahrscheinlich nicht an ihr lag. Unbehaglich gesellte sie sich zu den Männern an den Kaffeetisch im Wohnzimmer. “Mary.” Langsam lehnte Avery sich vor zu ihr und sah ihr zu persönlich in die Augen. “Siehst fast wieder normal aus. Ein bisschen besser sogar.” Verführerisch gemeintes Zwinkern, das altbekannte Übelkeit in ihr auslöste. “Ich habe auch ein hübsches Gästezimmer.” Von sich selbst überzeugt lehnte er sich zurück gegen seinen Stuhl und verschränkte die mit den Muskeln spielenden Arme hinterm Kopf. “Das reicht dann, Max.”, sagte Mulciber beherrscht. “Oh, willst sie ganz für dich alleine.” Etwas angegriffen nahm Avery wieder eine normale Pose an. “Dann teil doch wenigstens die Erfahrung mit mir.” Herausfordernd grinste er seinen Freund an. Aber waren sie Freunde? Auf Mary wirkten sie viel mehr wie Rivalen. Momentan war ihrer größere Sorge jedoch die fehlende Erfahrung. Hatte Mulciber sie besser behandelt, als er es hätte tun sollen? Er zögerte. “Komm schon, Gabe! Sonst zierst du dich auch nicht so mit Prahlereien.” Genervt deutete Mulciber - Gabe? - auf sie, als wolle er nicht vor dem Objekt seiner Erzählung angeben. Ein misstrauisches Stirnrunzeln überzog Averys Gesicht. Aggressiv fixierte er Mulciber, den er schon viel zu lange und viel zu gut zu kennen schien. “Du hast gar nichts mit ihr.” Frage, Feststellung oder Drohung? “Jemals was davon gehört, dass diese Angelegenheiten privat sind?”, versuchte Mulciber es, doch der andere lachte spöttisch. Warum interessierte es Avery so sehr, wie Mulciber mit seiner... Gefangenen umging? “Ist es das plötzlich? Wir haben Jahre gemeinsam verbracht. Denkst du, nur weil sie dich jetzt nicht mehr hassen kann, hast du echte Chancen bei ihr? Sie ist immer noch ein Feind, Gabe.” “Wovon redest du eigentlich?” Mit den Nerven am Ende war Mulciber aufgestanden und hatte die Arme in die Luft geworfen. “Wovon redest du nicht?”, fauchte Avery und erhob sich ebenfalls. Voller Unwohl drückte Mary sich in ihren Sitz. “Ich behalte sie hier, weil sie noch nützlich werden könnte. Als Geisel zum Beispiel?”, schnauzte Mulciber, wütend dass er es überhaupt erklären musste. Vielleicht, weil sie dort war. “Ganz schön egoistisch von dir, dass du sie dann hier behältst. Ganz schön feige von dir, dass du dich nicht traust, sie dir selbst unter den Nagel zu reißen!”, dröhnte Avery und in einer flüssigen Bewegung hatte Mulciber seinen Zauberstab gezückt und ihn seinem Freund entgegen gestreckt. “Vor dir muss ich mich nicht rechtfertigen.”, zischte er. “Verlass mein Haus.” Auch der andere hielt nun seine Waffe in der Hand. “Vor mir vielleicht nicht, aber den Dunklen Lord könnte es interessieren, was du hier treibst.” Unbeeindruckt schnaubte Mulciber. “Wenn es das tut, werde ich ihn ohne Schwierigkeiten zufrieden stellen können. Jetzt geh.” Zornentbrannt verließ Avery das Haus und hinterließ einen rauchenden Mulciber, sowie eine verängstigte Mary. Sein Verschwinden wirkte sich jedoch deutlich positiv auf sie aus. “Tut mir leid, dass du Streit mit deinem Freund hast.”, war das erste, was sie nach einer längeren Pause murmelte. Überrascht fuhr er sich durchs Haar und steckte den Zauberstab weg. “Das geht schon länger so. Ist auch egal. Der ist nur mies drauf, weil der schon in der Schule auf dich stand.”, grummelte er. Zögerlich sah sie auf und erinnerte sich an das gerade gesagte. “Und du auch?”, fragte sie zaghaft. “Brauchst nicht gleich denken, dass die Welt dir zu Füßen liegt, Macdonald.”, triezte er, doch noch war sie nicht überzeugt. “Ich bin also wirklich nicht zu deinem Vergnügen hier.”, hakte sie dezent nach, was er mit einem spöttischem Blick quittierte. Wenn er sich schon einmal in Fahrt geredet hatte, konnte sie ruhig noch mehr aus ihm heraus kitzeln. Die wahre Gefahr war schließlich aus dem Haus. Eine Gefahr, vor der er sie erneut beschützt hatte. “Wäre dir das lieber?” Automatisch schoss ihre linke Augenbraue in die Höhe. “Von wegen.” Daraufhin schmunzelte er. “Alle scheinen das aber von dir zu erwarten.”, druckste sie. “Als gehöre es zu deinem Wesen und da frage ich mich-” “Ob du wirklich so hässlich bist.”, schloss er und grinste zufrieden, woraufhin sie wütend die Stirn runzelte. “Eben nicht. Ich bin nicht hässlich und kein Muggle, daher -” “Wie kommst du darauf, dass es wichtig wäre?”, fuhr er misstrauisch dazwischen. Frustriert verschränkte sie die Arme. “Es war ziemlich das erste, was du dem ‘Dunklen Lord’ versichert hast. Wie auch immer, jedenfalls frage ich mich, weshalb du von deinen Gepflogenheiten ohne ersichtlichen Grund abweichst.” Mit herausfordernder Neugier fixierte sie ihn, wie er zu debattieren schien, ob und wie weit er sie einweihen sollte. “Penetrant wie immer.”, murmelte er mit der Spur eines Lächelns in der Stimme und griff nach einem Plätzchen. Den Mund halb voll traf er eine Entscheidung. “Du erinnerst dich an Zauberei, an Manieren, deine Interessen -” “Was für Interessen?”, unterbrach sie verduzt. “Lesen zum Beispiel.” “Nein, ich lese gar nicht gerne.”, widersprach sie. “Hier gibt es bloß nichts anderes zu tun.” “Dann erinnerst du dich eben an deine Nicht-Interessen.”, lenkte er ungeduldig ein. “Jedenfalls unterscheiden sich die Symptome von einem Amnesia-Fluch.”, schloss er. “Ich will herausfinden, woran du dich erinnern kannst, dir Fragen stellen.” Um die Ursache des Gedächtnisverlustes zu bestimmen und eine eventuelle Gegenmaßnahme ausfindig machen zu können, beendete sie seinen Satz stumm. Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als ihn fragen zu lassen. Es klang besser, als Folter und würde auch ein wenig Licht in ihr altes Leben bringen. War er also abwesend gewesen, weil er nachgeforscht hatte? “Aber ich kriege die Kekse.”, stimmte sie nach einer kurzen Pause zögerlich zu. Langsam bekam Lily zu viel. Jedes Mal, wenn sie mit Ordensmitgliedern zusammen kamen, um wichtige Angelegenheiten zu besprechen, warfen diese sorgvolle Blicke auf ihren zunehmend runden Bauch. Als würde sie jeden Augenblick explodieren. Das führte dazu, dass sie überhörte, wie andere flüsterten, sie aus Konversationen ausschlossen. Dabei hatte sie genau das Recht wie alle anderen, am Kriegsgeschehen teilzuhaben. Wenn nicht im Schlachtfeld, dann doch wenigstens bei der Planung. “Es reicht jetzt!”, fuhr sie eines Tages James und Sirius an, die bei ihrem Zutreten abrupt verstummt waren. “Ich bin kein Kind, das man vor dem bösen Geschehen draußen beschützen muss. Ich bin eine erwachsene Frau und habe jedes Recht, alle Details zu wissen.” “Lily.”, murmelte James bedrückt und zögerlich. “Du bist wieder emotional, wir-” “Wag es nicht, James Potter!”, unterbrach sie ihn barsch. “Du gehst mir nicht wegen meiner Emotionalität auf die Nerven.” Verdutzt öffnete er den Mund und Sirius grunzte amüsiert, woraufhin sie ihren Frust auf ihn richtete. “Besser du gehst, Black, damit meine Emotionalität dich nicht auch noch trifft.” Nun ging auch er in die Defensive. “Tut mir leid, Evans - Potter!”, entschuldigte er sich Kopf kratzend. James versuchte es auf die Ehemann-Tour, indem er zärtlich über ihren Arm strich. “Mir tut es auch Leid, Lily.”, versprach er eindringlich. “Es ist mir nicht mal richtig aufgefallen. Ich will nur, dass dem Baby nichts geschieht, wenn du dich aufregst.” Sanft rieb er nun ihren Bauch und drang zu ihr durch, brachte ihr Herz erneut zum Schmelzen. “Gäbe es Grund zur Aufregung?”, fragte sie sofort besorgt. Beide Männer schüttelten den Kopf. “Nicht mehr als ohnehin schon.”, erklärte Sirius. “Und Mary?” Ein Knoten bildete sich in ihrem Hals. Hatte man die schreckliche Todesnachricht vor ihr verborgen? “Nichts.”, beruhigten die besten Freunde wie aus einem Munde. “Wir versuchen herauszufinden, was den Trank rückgängig machen kann.” “Wir wissen, was für einer es war?”, keuchte Lily. James zuckte mit den Schultern. “Der Trottel, der sie geschnappt hat, hat das Fläschchen zurück gelassen. Ich wollte es dir sagen!” Mit blanker Unschuldsmiene begegnete James dem anklagendem Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau. “Was war es denn nun?”, drängte sie voller Angst. “Ein Vergessenstrank.”, Sirius machte es kurz und schmerzlos. “Vergessen?”, hakte Lily tonlos nach. “Was vergessen?” Sie war ganz blass geworden, sodass James behütend einen Arm um sie legte. “Die Untersuchung zeigt Spuren von Wolfskrallen, Haiflossen, einem ganz kleinen Anteil Vampirzähnen und sehr mächtigem, sehr seltenen magischem Salz, dass im Nahen Osten hergestellt wird. Teuer und machtvoll.” Lilys Kopf schwirrte unangenehm. “Das heißt?” “Wenn wir den Trank richtig identifiziert haben, löscht er gewählte Erinnerungen. Alle, die mit uns zutun gehabt haben, zum Beispiel, schließlich hat uns noch niemand gefunden.” Ein Gedanke nach dem anderen, Lily, mahnte sie sich selbst “Warum ausgerechnet die?” James und Sirius tauschten verheißungsvoller Blicke und der erste sprach weiter. “Unsere Theorie ist folgende: Seltene Zutaten, die man nur von einer hohen Position aus erreichen kann. Eine hohe Position wie Voldemort sie beispielsweise Inne hält. Allerdings wird kaum ein Todesser den Trank zu ihr geschmuggelt haben können, ohne einige von uns zu entdecken und Alarm zu schlagen. Also muss es einen Verräter geben.” Einen Verräter? Warum schien alles so sehr aus den Fugen zu geraten? “Aber warum sollte er nützliche Erinnerungen über den Orden löschen?” “Weil er Mary nahestand und sie eher als Lockvogel sah. Nicht als Folterobjekt.” Jemand der Mary nahegestanden hatte? Nun, da es ausgesprochen war, stand es wie eine Mauer im Raum und voller Misstrauen beäugten die drei sich, bis Lily sich zusammenriss. “Nein, dahin werden wir gar nicht erst gehen! Wir können diesen Krieg niemals gewinnen, wenn wir einander nicht trauen.” Sirius nickt zustimmend und trat näher. “Ich schwöre euch beiden, dass ich eher sterben werde, als euch zu verraten.” James nickte zustimmend. “Das gilt auch für mich.” Atemlosigkeit übermannte Lily. Diese Versprechen ließen alles so viel bedrohlicher aussehen, so viel unsicherer. Ängstlich streichelte sie ihren Bauch. “Ich vertraue euch beiden, meine Rumtreiber.”, flüsterte sie mit tränennasser Stimme. “Für Harry würde ich sterben.” Doch niemals sonst, sollte er mutterlos sein. Ohne sie sein. “Ich liebe euch.”, wisperte sie weiter. Dann sah sie zu Sirius auf. “Ich will, dass du sein Pate wirst.” Kapitel 2: Schießen ------------------- Vor Mary ausgebreitet lagen vier Kleidungsstücke. Beinahe identische Blusen in unterschiedlichen Farben. “Hm.”, machte sie unschlüssig. “Sag mir, welche du bevorzugst.” Interessiert vorgelehnt hatte Mulciber seine Ellbogen auf den Beinen abgestützt. “Blau und blond sind zu typisch.”, schloss sie die erste Bluse aus. “Gelb steht nur den wenigsten Menschen und mit der grünen Bluse verbinde ich eher schlechte Erfahrungen.” “Schlechte Erfahrungen?” “Die hatte ich am ersten Tag an, als ich gekotzt habe?” Als habe er und nicht sie das Gedächtnis verloren rollte sie ihm die Augen entgegen und griff nach der dunkelroten Bluse. “Also, die hier.” Die Rädchen in seinem Kopf offensichtlich ratternd speicherte er ihre Wahl darin ab. Mit einer großen Kanne Tee und den heiß begehrten Keksen bedacht, war diese Fragestunde nicht einmal allzu unangenehm. Ab und zu machte Mulciber Witze, über die sie tatsächlich lachen konnte. Zu Anfang hatte sie nur unfreiwillig geantwortet, doch schlussendlich war es gar nicht so übel. Sie stritten und triezten einander nicht und es tat ihr gut, eine Unterhaltung mit jemandem neben Mrs Mulciber zu führen. Dieser Mulciber schien so anders, als der aus dem Keller. Als habe man einen Knopf in seinem Gehirn gedrückt und die ganz schlimmen Attribute ausgeschaltet. Nur weshalb? Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, riet sie sich selbst. Solange Mulciber sich zivilisiert verhielt, drohte keine Gefahr, solange sie auf der Hut blieb. “Entscheide dich zwischen Tapferkeit und Mut, Listigkeit und Größe, Intelligenz oder Loyalität und Freundschaft.” “Ähm. Warum hat eine der vier Möglichkeiten nur ein Attribut?” Genervt stöhnte er auf. “Das spielt keine Rolle.”
“Okay, okay. Listigkeit und Größe kannst du ins Feuer schmeißen. Intelligenz... Hm. Ich sage Loyalität, denke ich. Wenn man guten Freunden gegenüber loyal ist, wird man automatisch mutig für sie. Ich muss meinen Freunden loyal gewesen sein, schließlich wäre ich für sie gestorben.”, mutmaßte Mary. Sein Ausdruck zeigte für einen flüchtigen Augenblick Verwirrung, dann ging es weiter mit der Fragerei. “Was hast du als Kind gerne gespielt?” “Fangen.”, antwortete sie ehrlich nach einem Moment der Überlegung. “Erinnerst du dich an deine Eltern? Hast du ein Bild, Namen vor Augen?” “Nein.” “Was benutzen Zauberer, um zu kommunizieren?” “Eulen, natürlich.” Sein Blick verriet, dass er eine andere Antwort erwartet hatte. “Kennst du die Hauptzutat eines Ätz-Weg-Trankes?” “Weißwurz.”, kam es wie aus der Pistole geschossen. “Was ist dein Lieblingsfach?” “Fach?”, hakte sie nach. “Na, in der Schule. Verwandlung, Zaubertränke, Zauberkunst, Astronomie-” “Uh, Astronomie klingt, als sei es richtig spannend!”, trällerte sie dazwischen. “Du hattest Astronomie in der Schule?” “Du auch.”, bestätigte er leise und beäugte sie genau. “Ich glaube dir nicht, dass du dich nicht an Schulfächer erinnerst.” “Doch!”, beteuerte sie. “Es macht irgendwo Sinn, die Zauber in Verwandeln, Verzaubern und so einzuteilen, aber ich dachte Astronomie wäre fortgeschrittener.” “Erinnerst du dich denn an irgendwas astronomisches? Sternbilder?” “Der kleine Wagen?” Ratlos zuckte sie mit den Schultern. “Wie stellst du dir eine Zaubererschule vor?” Nachdenklich legte sie den Kopf in den Nacken. Warum war ihm diese ganze Schulgeschichte nur so wichtig? “Von Durmstrang weiß natürlich keiner, wo es liegt und wie es aussieht, aber Beauxbatons stelle ich mir als richtige Akademie vor, denke ich.” “An Hogwarts erinnerst du dich nicht?” “Nur, weil du es das eine Mal im Keller erwähnt hast. Wie sieht es denn aus?” Die Neugierde über Informationen aus ihrem Leben stand ihr ins Gesicht geschrieben. “Es ist ein Schloss oben in Schottland.”, antwortete er achselzuckend. “Wirklich?” Träumerisch sah sie in Richtung der Decke. “Richtig schön majestätisch? Mit Kerkern, Turmzimmern, Seitenflügeln und Zinnen und so?” “Ja, genau so.” “Wow!”, hauchte sie bewundernd und wünschte sich, sie könnte dieses Schloss in ihrem Kopf sehen. “Als Kind wollte ich immer in einem Schloss leben.”
“Als Kind wolltest du wahrscheinlich immer nach Hogwarts gehen, aber das weißt du nicht mehr.”, korrigierte er. “Schade. Es ist bestimmt prächtig dort.” Dann errötete sie. Er war immer noch da und beobachtete sie, während sie in ihre Fantasie abgedriftet war. Mit einem Kopfnicken forderte sie ihn auf, fort zu fahren. “Zähl ein paar magische Kreaturen auf.”, forderte er. “Drachen, Sphinxen, Gnome, Kobolde, Werwölfe -” “Kennst du welche?”, unterbrach er erneut. “Was, Werwölfe?” Überrascht sah sie ihn an. “Ja, genau.” Daraufhin lachte sie. “Natürlich nicht! Als Kinder wurden wir gewarnt, vor allem vor so einem, der Kinder entführt hat, aber ich kenne doch keinen! Werwölfe leben meist abgeschieden oder in Rudeln oder so.” “Aha. Erinnerst du dich an den Namen des einen?” “Nein.” Welch kuriose Frage. “Denkst du manchmal an Kleidungsstücke, die du gerne tragen würdest?” Darauf hatte sie wiederum eine sehr klare Antwort. “Oh ja! Wenn die Sonne scheint, wünsche ich mir, ich könnte mein weiß-rotes Sommerkleid tragen und selbst gemachte Limonade trinken und -” Sie verstummte. Einerseits, da ihr einfiel, dass sie das Haus niemals auch nur in den Garten verließ und andererseits, weil ein eigenartiger Ausdruck in sein Gesicht getreten war. “Was denn?”, fragte sie. “Ich kenne das Kleid.”, erklärte er nüchtern. “Ach ja?” Herausforderung lag ihn ihrer Stimme. “Ein klassisches Sommerkleid. Breite Träger, an der Naht zusammen gerafft. Das Oberteil reicht betonend bis zur Taille, darin dominiert der weiße Grundstoff. Der Rock fächert von da aus weiter raus. Fliegt schön hoch, wenn du dich drehst.” Seinen letzten Satz betonte er durch ein Zwinkern. “Genau das Kleid.”, hauchte sie verwundert. “Warum kennst du es so genau?” “Du hast es in der Schule oft am Wochenende getragen.”, erklärte er beiläufig. “Interessant, dass du dich daran erinnerst.” “Warum?” Er zögerte, den Blick zu Boden gerichtet. Dann sah er ihr neutral in die Augen. “Ave und ich haben dir einmal ziemlich übel mitgespielt. Deine Lily ist ziemlich drüber ausgerastet.” Immer noch stolz über seine Aktion kicherte er. Sie war hin und her gerissen zwischen möglichen Erwiderungen. ‘Wenigstens weißt du, dass es falsch war.’ ‘Hast du damals also doch ein Auge auf mich geworfen?’ Schließlich sagte sie: “Wir waren also auch dann schon Feinde.” Eine Feststellung. Das war gut. Doch er legte wage den Kopf schief. “Aaaah, so würde ich das nicht sagen. Eine Art Hassliebe vielleicht.” Mary schnaubte. “Ich habe es bestimmt geliebt, wenn ihr schwarzmagische Flüche an mir ausprobiert habt.” “Du hast es geliebt, deswegen sauer zu sein. Uns an zu meckern und Beleidigungen an den Kopf zu werfen und dich lauthals mit Lily über unser schlechtes Benehmen aufzuregen. Hätten wir aufgehört, wäre dein Leben so trist gewesen, dass du wahrscheinlich selbst nach Ärger gesucht hattest.” “Wohl kaum. Du solltest aus deiner Einbildung herausfinden und mir keine falschen Erinnerungen in den Kopf setzen.” “Nein, ehrlich.”, beteuerte er schief grinsend. “Wir hätten gute Freunde sein können, wenn da nicht die anderen Häuser wären.” “Andere Häuser, andere Seiten?”, erfragte sie. “Vielleicht.” “Dann wäre ich niemals in deinem Haus gewesen, niemals auf deiner Seite”, stellte sie klar. “Was macht dich so sicher?” “Du hast mich gefoltert.”, antwortete sie entgeistert. “Weil du auf der anderen Seite bist.” “Eben!” Sie starrte zu ihm auf, als sei es offensichtlich. “Ich würde niemals foltern und ich würde nicht mit solchen kämpfen wollen, die es tun.” “Dort draußen herrscht Krieg, Macdonald!” Bedrohlich sah er auf sie hinab. “Zauberer tun Dinge, die sie sonst nicht täten.” Durch heftiges Kopfschütteln vertrat sie ihren Widerspruch. “An mein Leben erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, wer ich bin! Mary Macdonald hätte sich niemals für die schlechte Seite entschieden.” “Was sagt dir, das meine die schlechte Seite ist? Du weißt ja nicht einmal, worum es in diesem Kampf geht.” Da war er wieder, der Streit. Seine Beschreibung ihrer Schulzeit hatte so unschuldig geklungen. Wie hatte dies daraus wachsen können? Und wie konnte er sein Verhalten rechtfertigen? “Deine Seite ergreift offensichtlich absolut unmenschliche Maßnahmen.” “Es herrscht Krieg!”, wiederholte er dann aufbrausend eindringlich. Da, er konnte es ganz und gar nicht rechtfertigen. “Das sagtest du bereits. Aber das war nicht dein Grund. Es hat dir Spaß gemacht.”, spuckte sie vorwurfsvoll. Sie sah, dass er widersprechen wollte. “Wir wissen beide, dass es wahr ist. Ich habe es in deinem Blick gesehen. Du hast doch eben selbst stolz verkündet, dass du und dein Kumpel Avery schon damals ein Faible für dunkle Zauber hattet.” “Wie du gut weißt, ist er nicht mehr mein Kumpel. Deinetwegen.” “Vielleicht wegen mir, aber nicht meinetwegen. Erwarte nicht, dass es mir leid tut.” “Aber genau das hast du doch gesagt? Dass es dir leid tut.” “Lenk nicht vom Thema ab.”, forderte sie barsch. “Ich befolge nun einmal Befehle! Irgendwie musste ich doch versuchen, Informationen zu bekommen.” Wie konnte er nur so blind für sich selbst sein? Weshalb sah er die Paradoxen seines Handelns nicht? “Schon mal was von Veritaserum gehört? Und so wie dein Anführer gesprochen hat, klang es so, als glaubte er genau das gleiche wie Avery! Warum widersetzt du dich also in dem einen Punkt?” Provozierend starrte sie ihn an. “Sollte ich noch irgendwelche Informationen von dir bekommen, wird es ihm ganz schnell egal sein, ob ich mit dir im Bett war oder nicht. Aber, wenn es dir so wichtig ist -” Ein gefährliches Blitzen schoss jetzt durch seine Augen, “will ich dir das Vergnügen natürlich nicht vorenthalten.” Mit einem Ruck war er aufgestanden, zu ihr getreten und hatte sie an den Armen gepackt und hochgezogen. Mit einer Hand fixierte er sie an der Schulter, die andere nutzte er, um ihren Kopf zur Seite zu biegen. Adrenalin hämmerte nun in ihrer Brust und sensibilisierte ihre Sinne, sodass es sie mit voller Wucht traf, als er seinen Mund auf ihre Kehle senkte. Ihr Körper glühte und sie nahm ganz genau wahr, wie er ihren Hals bearbeitete. Paralysiert wie sie war, riss sie sich nicht frei, doch trotz seiner mechanischen Vorgehensweise, spürte sie wie ihr Kopf gegen seine Hand sank und ihr Sichtfeld sich verschleierte. Nur bis seine Lippen ihre Haut entließen, dann fühlte sie ihre Beine wieder, die auf die plötzlich wahrgenommene Last nicht vorbereitet waren und sie zurück stolpern ließen. Als nächstes realisierte sie, dass Mulciber sie noch immer in den Händen hielt. Er musste ihren schweren Atem bemerken, jedoch erschien er selbst ein wenig neben der Spur. Sein wütender Blick schien auf ihr Schlüsselbein fokussiert. Mit einem Mal stieß er sie von sich, zurück in den Sessel. “Hoffe du bist jetzt zufrieden, Macdonald.” Ohne einen weiteren Blick auf sie, marschierte er aus dem Zimmer. Ganz und gar konfus hockte sie auf dem Fußboden in dem Versuch, das Geschehene zu verarbeiten. Bevor sie sich an ihre Gedanken wagte, wartete sie auf einen ruhigeren Atem, einen langsameren Puls. Noch immer pochte es in ihrem Hals und vorsichtig betastete sie ihre feuchte Haut. Mit einem Blick in die gläserne Tür bestätigte sich ihr Verdacht. Drei große, dunkle Flecken prangten auf ihrer Kehle, sichtbar für alle. Er lieferte den Beweis für ihre nicht existierende erotische Beziehung. Seine Vorgehensweise war ihr wie eine Strafe erschienen, warum hatte es sich dann nicht wie eine angefühlt? Mühsam versuchte sie das Wirrwarr in ihrem Kopf zu entknoten. Eines nach dem anderen. Mulciber hatte sie am Leben behalten unter dem geglaubten Vorwand, sie als Spielzeug zu gebrauchen. Dieses Gehabe schien sehr verbreitet unter seinesgleichen, wenn sie Avery betrachtete und die Selbstverständlichkeit, mit der der Dunkle Lord Mulcibers Bitte angenommen hatte. Avery wusste genau, was er mit ihr anstellen würde. Bei diesem Gedanken spürte sie Galle im Rachen. Angeblich hatte Avery schon in der Schulzeit ein Auge auf sie geworfen, denn sie war mit ihren besten Freunden, die nun beschützt werden mussten und ihren scheinbaren Feinden auf dieselbe Schule gegangen. Dort musste Avery und Mulciber sie getriezt haben. Hassliebe, hatte Mulciber es genannt. Tatsächlich konnte sie sich gut vorstellen leidenschaftlich wütend auf die damaligen Teenager gewesen zu sein. Laut Avery hatte auch Mulciber etwas Interesse an ihr gezeigt, doch laut ihm selbst, stimmte das nicht. Erneut berührte sie ihren Hals. Sein Verhalten sprach mächtig dagegen. Erst zeigte er sich völlig distanziert, dann griff er sie beinahe an, um sie mit Knutschflecken zu verzieren. In dem Moment, hätte er weiter gehen können. Sie hatte keinen Widerstand gezeigt. Scham und Ekel durchfluteten sie, als sie diesen Teil ihrer Überlegungen erreichte. Wie hatte sie dort stehen können? Wie hatte sie ihre Abwehr so leicht überwinden lassen können? Der Mann, den sie scheinbar ihr ganzes Leben gehasst hatte und der sie gefoltert hatte, hatte sie geküsst, grob noch dazu. Hätte sie sich nicht krümmen müssen vor Abscheu? Nun verabscheute sie nur sich selbst, denn ihr wurde bewusst, was für wenige Sekunden geschehen war. Es war keine Schreckstarre gewesen, die sie erfasst hatte. Nicht die ganze Zeit. Für einen Moment und Merlin bewahre, daran erinnerte sie sich genau, hatte sie sich fallen lassen. Fallen lassen in seine unheilvollen Hände, war aufgegangen in seiner Berührung, die sie hatte wütend machen sollen. Haare raufend wanderte sie in dem Raum auf und ab, mehr und mehr empfand sie ihre eigene Person als widerlich. Denn mehr und mehr stellte sie die falschen Fragen. Weshalb hatte er so einfach von ihr ablassen können? War sie wirklich so unattraktiv für ihn? “Nein, Mary, nein!”, verbat sie es sich selbst, sich von diesem Mann übersehen zu fühlen. Mit aller Macht kämpfte sie die verhassten Gedanken nieder. Es war nicht ihr Peiniger, den sie begehrte. Es war irgendein Mann. Die Einsamkeit hatte sie empfänglich gemacht. Schäm dich, Mary Macdonald, dachte sie voller Enttäuschung. Wieder war Mulciber vom Erdboden verschluckt. So sehr sie auf ihn lauerte in der Küche oder am Badezimmer, ja sogar vor seiner Tür, er zeigte sich nie. Ihre Erinnerungen zurückzuholen, schien nicht mehr wichtig zu sein. Ihre Existenz schien nicht mehr von Interesse. Vielleicht gelang es ihr nicht ganz ihren Frust zu verbergen, denn beim Bereiten des Mittagessens hackte sie mit solcher Wucht auf eine Möhre ein, dass ein Stück quer durch die Küche schoss. Der wachsame Blick von Mrs Mulciber hob sich sekundengleich. “Alles in Ordnung, Mary?” Peinlich berührt legt sie das Messer aufs Brett. “Ja, entschuldigen Sie. Ich bin ein wenig fahrig heute.” “Verstehe.” Woher nahm diese Frau nur die Wärme in ihren Augen? “Dem können wir entgegenwirken. Wie klingt eine Runde Schach nach dem Essen für dich?” Schach! Über diese Art der Beschäftigung hatte sie gar nicht nach gedacht. Neugierig horchte sie in sich hinein, doch sie schien keine Meinung zu dem Spiel zu haben. “Gerne.”, stimmte sie zu und Mulciber war beinahe aus ihrem Kopf geblasen. Beinahe. “Wird Mul- er mit uns essen?” Eine ganz beiläufige Frage. “Nein, leider hat er wieder keine Zeit. Hübsche Bluse übrigens.” Unbeirrt begann Mrs Mulciber das Gemüse zu braten, sodass Mary Zeit hatte, an sich hinunter zu sehen. Sie trug eine blass violette Bluse, an der nichts besonderes war, außer dass sie etwas betonter saß, als andere Kleidungsstücke. Hatte Mrs Mulciber etwas mit ihrem Kommentar beabsichtig? Kopfschüttelnd entschied Mary sich auf das bevorstehende Schachspiel zu konzentrieren. Nervös setzte sie sich ihrer Gegnerin gegenüber und sah hinab auf die zweifarbigen Figuren, nachdem sie das gebrauchte Geschirr in der Küche abgestellt hatten. Hauselfen würden sich darum kümmern, wie sie es vermutete. Das karierte Brett sagte ihr nicht viel. Sie wusste, was Schach war, doch in die Regeln musste sie sich noch einmal einweisen lassen. Mit aller Kraft den König beschützen, sagte sie sich selbst. Man hätte sie vor dem logischen Aufwand dieses Spiels warnen sollen! Zum Ende rauchte ihr der Kopf vor Anstrengung ihre Figuren zu bewachen und alle gegnerischen im Auge zu behalten. Nach und nach wurde Bauer um Bauer zertrümmert. Ihr Springer und ehe sie sich versah, verlor sie, ohne mehr als eine von Mrs Mulcibers Spielfiguren vom Feld geschlagen zu haben. “Schach Matt.”, erklärte die ältere Frau mit leiser Genugtuung. “Was?”, platzte es aus Mary hinaus und sie erkannte ihren Fehler. Dabei hatte sie so hart gekämpft! Mit einem ungewohnt kecken Zwinkern erhob die Gewinnerin sich. “Warum übst du nicht ein bisschen und zeigst mir beim nächsten Mal, wie du dich verbessert hast?” Mary ließ sich bestimmt nicht zweimal heraus fordern. “Auf jeden Fall!” Nur wie bei Merlin sollte sie alleine lernen? Ratlos stöberte sie durch die kleine Bibliothek, bis sie dort auf ein lehrreiches Buch stieß. Ihr Kämpferwille war wieder entfacht! Der dicke schwarze Wälzer präsentierte ihr immer schwerer werdende Schachsituationen in denen sie mit einer limitierten Anzahl an Zügen den König besiegen musste. Da ihr Kämpferwille einmal entfacht war, nahm diese Aufgabe Besitz von ihr. Ganz und gar versunken arbeitete sie sich jeden Tag durch das Buch und präsentierte ihre Verbesserung in regelmäßigen Partien gegen Mrs Mulciber, die diese mit Lob quittierte. “Schon wieder verloren.”, murrte Mary und beobachtete, wie sich die Schachfiguren erneut zusammenbauten. “Aber nur ganz knapp.”, wurde sie aufgeheitert. “Noch eine Runde? Danach werde ich einkaufen gehen.” Neidisch sah Mary auf. Wie gerne würde sie das Haus verlassen. “Warum nicht? Ich habe ja nicht viel anderes zu tun.” Sie versuchte es mit einem Lächeln, doch es täuschte Mrs Mulciber nicht. “Wenn dir das viele Schachüben öde wird, dann -” “Nein, nein. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es macht durchaus Spaß. Es lenkt ab.” Sorgsam ordneten sie ihre Figuren auf den gegenüber liegenden Brettseiten. Dann begann das Spiel. “Mrs Mulciber,”, begann Mary zufrieden, als sie den Springer ihrer Gegnerin vom Feld räumte, “woher kommt eigentlich die Kleidung in meinem Kleiderschrank?” Die Frau schmunzelte wissend. “Manches davon gehörte mir, als ich noch jünger war.” Verblüfft hielt Mary Inne. Sie trug die Kleidung seiner Mutter? “Die besten Stücke sind es, denn ich sehe sie nur ungern verstaubt. In meinem Alter bringt es nicht mehr so viel Freude nach Kleidung zu sehen, deshalb nehme ich es mir heraus, für dich einkaufen zu gehen.” Ein wenig wehmütig sah Mrs Mulciber auf ihre Hände. 
“Vielen Dank.”, murmelte Mary aufrichtig. “Ich wertschätze Kleidung und sie gefällt mir sehr! Ohnehin weiß ich nicht, wie ich mich erkenntlich zeigen soll, für das Zimmer und das Essen -” “Schon in Ordnung.”, unterbrach Mrs Mulciber sie. “Sorg dich nicht darum, schließlich hast du kaum eine Wahl.” Es war das erste Mal, dass Mary sie so etwas sagen hörte in ihrer Gegenwart. Etwas, das ausdrückte, dass seine Mutter vielleicht ein wenig auf ihrer Seite war. Die Stimme der Dame strahlte tiefstes Verständnis aus. “Danke.”, wiederholte Mary, dann befahl sie ihrem Läufer drei Felder vorzurücken. “Schach.”, stellte sie zufrieden fest. Beide starrten sie auf das Spielfeld, bis die Erkenntnis Mary durchzuckte. Freude und Stolz durchstoben sie. “Schach Matt!”, rief sie voller Begeisterung über die ungeplante Entdeckung. Mit ihrem Freudentanz entlockte sie Mrs Mulciber sogar ein Lachen. Fröhlich, wie sie es lange nicht mehr gewesen war, tänzelte Mary durch das Wohnzimmer. Ihre harte Arbeit hatte sich bezahlt gemacht. Sie hatte sich wirklich etwas beigebracht! Ihre Ekstase wurde unsanft gebremst, als sie eine Pirouette in einen unerwarteten Besucher vollführte. Mulciber war durch den Kamin getreten, genau in ihren Weg. Sie geriet heftig ins Straucheln und endete auf dem Hosenboden. Der ursprüngliche Schock verflog und sie strahlte hoch in sein verwirrtes Gesicht. “Ich habe im Schach gewonnen.”, verkündete sie und richtete sie zu ihrer vollen Größe auf. “Und?” Völlig unbeeindruckt starrte er immer noch auf sie hinab und sah dann zu seiner Mutter. “Ich habe mir alles selbstbeigebracht?”, beleidigt angesichts seiner Ignoranz stemmte sie die Hände in die Hüfte. “Beigebracht?” Vielsagend deutete sie auf das dicke schwarze Buch und seine Mutter nickte zustimmend. “Bei unserer ersten Partie war sie ein leichter Gegner, aber so hart sie gearbeitet hat, hat sie mich tatsächlich besiegt.” Langsam wandte er den Kopf zurück zu Mary und betrachtete sie wie ein schwer einschätzbares Alien. “Das musst du mir erst einmal beweisen, Macdonald.” “Fein.”, stimmte sie schnippisch zu und begab sich zurück zum Schachbrett. Mrs Mulciber hatte sich unbemerkt aus dem Raum entfernt, sodass ihr Sitz nun frei für Mulciber war. Dieser rollte seine Hemdsärmel hoch und wartete darauf, dass sie den ersten Zug machte. Es folgte ein anstrengendes Hin und Her, indem Mary verbissen war, ihr erworbenes Können zu beweisen. Schlussendlich tat er seinen letzten Zug. Mit lautem Klappern rammte sein Turm ihren König mit einem tödlichen Stoß. Mit enttäuschter Miene mied sie seinen Blick, bis sie die Verblüffung darin bemerkte. “Du hast verloren.”, sagte er dann provokant zufrieden. “Dann muss ich eben mehr üben.”, entschied sie. “Wo warst du?” “Das geht-” “Mich nichts an.”, führte sie leiernd seinen Satz zu Ende, dann plötzlich kroch dumpfes Unbehagen in ihre Magengrube. Die Flecken an ihrem Hals waren längst verblasst, dennoch hatten sie seit ihrem Entstehen kein Wort gewechselt. So sollte es auch bleiben, wie es ihr vorkam. Dem schönen Pullover, den sie trug, schenkte er keine Beachtung. “Gut erkannt, Macdonald. Du weißt also nicht mehr, wie man Schach spielt?” “Es hat mich noch nie interessiert.” Etwas an seinem Gesichtsausdruck war merkwürdig. “Tut mir leid, dass dich in diesem Haus nichts interessiert.”, sagte er unehrlich. “Malst du gerne?” “Eher nicht.” “Gerne zu tanzen scheinst du aber.”, triezte er ihre Vorführung bei seinem Eintreffen. Augenblicklich wurden ihre Wangen heiß. “Eigentlich tanze ich sehr gerne. Überhaupt mag ich Musik sehr gerne. Die gibt es in diesem trostlosen Haus aber nicht.”, fauchte sie, um ihre Scham zu überdecken. Um seine Mundwinkel herum zuckte es. “Trostlos.”, wiederholte er trocken. “Ich habe in meinem Leben wahrscheinlich mehr gefeiert als du.” “Mehr getrunken vielleicht.”, schnaubte sie. “Ach?” Mit einem Ruck hörte er auf zu kippeln und bewegte den Stuhl wieder in eine waagerechte Haltung. “Du unterschätzt mich, Macdonald.” “Das kommt dir so vor, weil du dich maßlos überschätzt.” Ihre unerklärliche Freude über sein Wiedererscheinen war verflogen. An ihre Stelle trat der Frust und die Wut der letzten Tage, denen sie nun freien Lauf ließ. Ihm schien das gänzlich unbewusst zu sein, oder vielleicht ignorierte er auch nur das Offensichtliche. Jedenfalls lachte er unangenehm vergnügt. “Ich würde dir meine Tanzkünste vorführen, aber ich habe Arbeit zu tun.” “Stimmt, es muss harte Arbeit sein, das bessere Selbst zu spielen.” “Soll heißen?” Den Blick scharf fixierte er sie. “Große Sprüche, kein Können.” Sie schien einen Wunden Punkt getroffen zu haben - sein Ego. “Davon musst du gerade sprechen. ‘Ich bin so gut im Schach, ich schlage alle.’”, imitierte er sie äußerst kläglich. “Das habe ich nicht einmal gesagt.” Ihren Protest überging er mit einem Schulterzucken. “Ich habe nie gesagt, ich könnte tanzen.” “Aber du denkst es.”
 “Macdonald!”, stöhnte er genervt. “Was ist dein Problem? Suchst du etwas, in dem du besser bist? Erinnerst du dich überhaupt daran, wie man tanzt?” Da war ihr wunder Punkt. Genau genommen hatte sie keine Ahnung, von welcher Art Tanz sie sprachen, geschweige denn, ob sie jedwedes Talent mit sich brachte. Auf ihr Schweigen hin schnaubte er und ließ sie allein vor den Schachtrümmern sitzen. Er hätte die Steilvorlage nutzen und mit ihr tanzen können! Hätte ihr nah sein können, doch das war offensichtlich nicht das, was er wollte. Zerknirscht räumte sie auf und begab sich zurück in die Bibliothek, um ein neues Buch zu suchen. Vom Schach hatte sie vorerst genug gehabt. Der Schlaf hatte gefallen am Versteckspielen gefunden. Seit mehreren Nächten brauchte es Gabriel Ewigkeiten, um die gewünschte Zuflucht zu finden. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Seine Untersuchungen führten ins Nichts, denn er hatte kaum die Zeit, sich in diese Arbeit zu stürzen, gab es auch noch andere Todesserdienste zu erfüllen. Er hätte niemals weich werden und sie hier behalten sollen. Nun stach ihm ihre Erscheinung Tag für Tag in die Augen, versprechend und doch nichtsbringend. Weitere Befragungen hatten zu keinem Ergebnis geführt. Sie erinnerte sich an manche Speisen, an andere nicht. Konnte mit Anekdoten nichts anfangen, konnte keinen Hogwartsprofessor bennen. Nicht einmal an Schach erinnerte sie sich. Dabei war sie Vorsitzende des Schachclubs gewesen, schlichtweg weil sie jeden vom Feld geputzt hatte. Inwiefern hatte diese Qualität etwas mit dem Orden zu tun? Genau darüber sollte er sich das Gehirn zermartern. Stattdessen hallten ihre Worte in seinem Kopf wieder und er fühlte sich über alle Maße beleidigt. Trostlos. Wonach mehr, als nach einem solchen Haus, konnte ein Mädchen fragen? Ein schönes Zimmer, Kleidung, die seine Mutter in Massen anschaffte, so sehr er es ihr auszureden versuchte. Sogar mit seiner Mutter selbst kam Macdonald gut aus. Mit ihm doch auch, für den einen Moment. Ohne ihren über die Jahre eingetrichterten Hass, kam sie gut aus mit ihm, wenn ihr programmierter Trotz nicht Besitz von ihr ergriff. Alle sollten zufrieden sein. Seiner Mutter zu Liebe hatte er sie überhaupt verschont. Zumindest sagte er sich das. Doch in seinen schwachen unbeobachteten Momenten, wusste er, wie ungern er sie sterben sehen würde. Dann in anderen Momenten war es Genugtuung, die ihn erfüllte, denn er und nicht Avery beherbergte den Preis, um den sie so oft gewetteifert hatten. Ihr Wetteifern, ein Gryffindormädchen für böse Jungs zu begeistern, so ausweglos und doch hatten sie stets mit Hypothesen und Ideen aufgewartet. Wer nahm schon gerne den einfachen Weg? Wo war der Reiz sich an dem zu bedienen, was sich präsentierte?Insgeheim hatte Mulciber es seinem Freund jedoch niemals gewünscht, das eine dieser Ideen Erfolg brachte. Besonders nicht jetzt, da er immer weniger seines Freundes in Avery wieder fand. Die kranken Vorschläge, die Max ihm entgegen brachte. Er war jener gewesen, der Mulciber in seinem Folterwahn bekräftigt hatte. Folterwahn, Trance. Im Bett liegend presste er sich sein Kissen auf die Augen. Ihr krankhaftes Aussehen, eine komplette Mutation. Deswegen war er ihr aus dem Weg gegangen. Hatte das Wesen, welches seiner Taten entsprungen war, nicht sehen wollen. Doch selbst jetzt, da sie so viel gesünder und so viel mehr wie sie selbst aussah, spürte er Reue. Gequält stöhnend wälzte er sich auf den Bauch. Nicht nur ihr Hass war fort, auch seiner war es. So sehr er sie damals begehrt hatte, so sehr hatte er sie gehasst für die Freundschaften, die sie pflegte, die Ansichten, die sie prägten. Mary Macdonald war sie ohne Frage. Hatte ihren neugierigen, oft aufmüpfigen Charakter. Aber sie wetterte nicht mehr gegen ihn wie früher. Sie gab ihm keinen Grund, sie verletzen zu wollen. Diese Frau im alten Schlafzimmer seiner Mutter war nicht mehr sein Feind. Sie war nur noch der blasse Schimmer eines Informationenträgers. Sollte er nichts über den kuriosen Trank herausfinden, war sie gänzlich nutzlos. Aussetzen konnte er sie dennoch nicht, denn nun hatte sie Informationen über ihn. Bald würde man sie als Geisel brauchen. Das wollte er nicht. Etwas in ihm sträubte sich stark dagegen, ihr Schicksal in die Hände anderer zu legen. Frustriert schleuderte er das verfluchte Kissen aus dem Bett. Trostlos. Von wegen. War es nur er, oder kleidete sie sich auch dezent anders? Mutiger? Er sollte seinen Fokus zurückgewinnen. Was kümmerte ihn ihre Kleidung? Diese war ohnehin schon ein viel zu wichtiges Thema im Haus geworden. Allein im Bett liegend mit seinen Gedanken hatte er das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Hastig strampelte er sich aus der Decke. Er musste etwas nützliches tun. Dieses Mal blieb er nicht ganz so lang weg. Dennoch nervte es sie ungemein, dass er erneut verschwunden war. Wozu hatte sie überhaupt dieses enge, edel ausschauende Alltagskleid übergezogen, wenn sie genau so gut eine Mülltüte spazieren tragen konnte, ohne dass es jemanden kümmerte? Nicht einmal Schach bot Anreiz mehr, denn Mary schlug Mrs Mulciber in jeder Partie. Als neue Beschäftigung entwickelte sie eine Besessenheit für ihr Aussehen. Jeden Tag verwandte sie Stunden auf Frisur und Outfit, lediglich um die vielen Stunden des Tages tot zu schlagen. Heute hatte sie mehrere Versuche benötigt, um einen spektakulären Flechtzopf zu kreieren. Die dadurch entstandenen Wellen band sie nun zu einem lockeren Knoten hoch, während eben jenes Kleid auf dem Badezimmerboden lag. Auf den Zehenspitzen hin und her wippend neigte sie den Kopf im Takt zur Seite und betrachtete sich im Spiegel. Ein kläglicher Versuch das Leben interessanter erscheinen zu lassen. Erst halb acht und sie trug schon ihre kurze Schlafhose. Sie hasste es nicht aus den Fenstern sehen zu können, die nur Licht und keine Sicht von außen herein ließen, Anhand des sich wärmenden Hauses konnte sie erkennen, dass es im Herbst noch einmal warm geworden war. Unerklärlicherweise müde verließ sie das Bad und dachte angestrengt nach, wie sie den nächsten Tag verschwenden konnte. Vielleicht konnte sie das Zubettgehen mit einem Glas Wasser hinauszögern? Es war als sie in die Küche trottete, dass sie ihn sah. Mehr überrascht als über seine tatsächliche Anwesenheit war sie über seine baldige Rückkunft. Allerdings nur so lange, bis sie das Bild vor sich ganz aufgenommen hatte. “Was ist passiert?” Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund. Sein Haar stand ungewohnt wild ab und sein Gesicht wies einige Kratzer auf. Mrs Mulciber kniete neben seinem Stuhl und widmete sich einer klaffenden Wunde an seinem Bein. Bis zum hohen Oberschenkel hatten sie seine Jeans abgeschnitten und so bot sich ihr der gesamte unschöne Anblick. Tuben und Tiegel umgaben die beiden. Gequält sah der Mann zu ihr auf und sein Blick wünschte sie deutlich weit, weit weg. Dieser Bitte konnte sie jedoch nicht nachkommen. Versteinert starrte sie auf seine Wunde und auf die heilenden Hände seiner Mutter. Eine von ihnen tastete nach ihrem Zauberstab und so hechtete Mary vor, um ihn ihr zu reichen. Vorher traf sie jedoch ein Fuß heftig in die Magengegend, sodass sie vor Schmerzen gekrümmt auf dem Fußboden lag. Der Leid erfüllte Schrei, der die Küche erfüllte, kam jedoch nicht von ihr. Mulciber hatte sich in der Verteidigung des Stabes übernommen und sein verletztes Bein benutzt, welches nun unerträglich zu krampfen schien. Keuchend nutzte Mary den Augenblick und rollte den Zauberstab zu Mrs Mulciber, die verzweifelt mit ansah, wie all ihre bisherige Arbeit zunichte ging. Geduldig wartete Mary ein paar Minuten ab, bis das Schlimmste eingedämmt war. Dann bedachte sie Mulciber mit ihrem giftigsten Blick. “Du bist wirklich einfach unmöglich und musst mich für sehr niederträchtig halten.”, beschwerte sie sich über seine Attacke auf ihren Bauch, der noch immer unwohl brummelte. “Willst du wirklich jetzt streiten, Macdonald?”, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. “Ich habe ja nicht angefangen!” Doch statt einer Antwort jaulte er voller Agonie, dass es ihr die Haare zu Berge stehen ließ und sie schwieg. Eine talentierte Hexe wie sie war, hatte die ältere Frau ihren Sohn bald zusammengeflickt, ihn mit Salben betupft, ihm einen beruhigenden Trank eingeflößt. Erschöpft hing er mit halb geschlossenen Augen in dem Stuhl, während seine Mutter das Chaos auf dem Boden beseitigte. “Das war ein ganz übler Fluch.”, stellte sie heiser fest. Die arme Frau war selbst ganz Blut beschmiert und schaute schrecklich schwach aus. Daher eilte Mary herbei, als die Mutter Mulciber stützen wollte. “Mrs Mulciber, lassen Sie mich das machen.” Der Mann stöhnte Protest, doch Mrs Mulciber nickte dankbar und somit lud sich die Last des Körpers auf Marys Schultern. Mit großer Anstrengung brachte sie ihn dazu, sich fortzubewegen und es brauchte sie weit zu lange, bis sie das Sofa im Wohnzimmer erreicht hatten. Die Treppen hinauf würde er es niemals schaffen. So behutsam wie möglich legte sie ihn auf dem Polster ab, dann räusperte sie sich. “Bist du in Ordnung?” “Sorgst du dich etwa?”, krächzte er leise. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ sie den Anblick eines geschwächten, schmerzenden, gequälten Mulciber auf sich wirken, dann antwortete sie leise: “Ja.” Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht, dass viel der beabsichtigten Häme verloren hatte. “Ich habe dir etwas mitgebracht.” Überrascht sog sie die Luft ein. Was in aller Welt konnte das sein? Die Aufhebung des Trankes? Wage deutete er auf einen Sack, der am Eingang zur Küche lag. Wenn er sich in diesem Zustand damit befasste, konnte es zumindest nichts belangloses sein. Neugierig hob sie den Beutel auf und fand, dass er beinahe nichts wog. Unter seinem wachsamsten Auge schnürte sie ihn auf und griff hinein. Ihre Hand umschloss Stoff. Zaghaft brachte sie diesen zum Vorschein und ihr stockte der Atem. Creme-weiße Farbe und verspielt rotes Muster. Es war ihr Sommerkleid. Überwältigt von Emotionen ließ sie es durch ihre Finger gleiten. “Du warst bei mir zu hause.”, wisperte sie. “Dort hat man dich angegriffen?” Tadelnd wiegte er den Kopf. “Ich sage nichts dazu.” Beim letzten Wort versagte seine Stimme kurz und er schloss zur Konzentration die Augen. “Es gibt noch mehr... aber ich dachte, dass dieses... am ehesten Erinnerungen hervorruft.”, brachte er heraus, bevor der Trank seiner Mutter vollends wirkte und ihn ins Reich der Träume zog. Stumm hockte sie eine Weile vor dem Sofa. Sie starrte auf das Kleid, versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Dann, kaum hörbar für sich selbst, flüsterte sie: “Danke.” Äußerst kritisch betrachtete Mary sich im Spiegel. An ihr saß das neue alte Kleid, welches Mulciber ihr gestern erst gebracht hatte. Anders als früher passte es nun nicht mehr wie angegossen, sondern war an Stellen etwas weit. Vermutlich bemerkte man diesen Makel nicht einmal, würde man sich nicht so stark darauf konzentrieren. Auch der Ausschnitt erschien ihr weiter, als sie gedacht hatte. Dieses Kleid zu tragen fühlte sich definitiv vertraut an, jedoch kamen keine Erinnerungen hoch, die sie mit dem Kleidungsstück verbinden könnte. Das würde Mulciber wohl weniger gefallen. Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, trat eben jener ein. Ein Schatten gemischter Gefühle huschte über sein Gesicht, als er sie in dem Kleid erblickte, doch er lehnte sich nur erwartungsvoll in den Türrahmen. “Und?”, fragte er. Nicht einmal zu einer Begrüßung ließ er sich herab. Jedoch schien es ihm sehr viel besser zu gehen. Bei seinem Eintreten hatte Mary nur ein leichtes Humpeln erkennen können. “Dir auch einen schönen guten Morgen. Dir geht’s besser?”, war ihre schnippische Reaktion. “Klar.”, tat er ihre Sorge ab. “War ja kein großes Ding. Und?” Seufzend sah sie wieder in den Spiegel. Schwupps hatte sich eine Stressfalte auf ihre Stirn geschlichen. “Nichts.” “Komm schon.”, drängte er sie. “Denk nach!” “So geht das nicht!” Wie eine lästige Fliege scheuchte sie ihn fort, denn er war ermunternd hinter sie getreten. “Hast du dich je an etwas erinnert, nur weil du dich darauf konzentriert hast? Es ist ja wohl eher anders herum.” Noch gab Mulciber nicht auf. “Die andere Kleidung? Hast du da mal einen Blick drauf geworfen?” Suchend schweifte sein Blick durchs Zimmer. Jedoch entdeckte sie den Stapel Kleidung, den die Hauselfen fein säuberlich neben ihrem Schrank platziert hatten, als erstes. Unter Mulcibers akribischer Beobachtung entfaltete sie jedes Kleidungsstück und begutachtete es. Die meisten kam ihr bekannt vor, doch erneut brachten sie keine Bilder oder Gefühle in ihr hervor. Zur Indikation zuckte sie die Achsel und er stemmte entmutigt eine Faust gegen die Wand. “All dieser Aufwand und das Risiko für nichts!”, brummelte er, sodass sie auflachte. “Eben sagtest du noch, es wäre keine große Sache gewesen.” “Ach was. War ja nicht ganz umsonst.” Verbittert nickte er zu ihr in dem Kleid herüber, während seine Stimme im Zynismus badete. “Das wichtigste ist doch, dass du zufrieden bist. Was immer die Dame wünscht.” Sein mieser Knicks vor ihr war nicht einmal mehr halbherzig, dennoch überraschte er sie. “Was immer ich wünsche?”, neckte sie. Er zögerte, schließlich war er nicht davon ausgegangen, dass sie darauf eingehen würde. “Von mir aus. Immerhin...” Kurz unterbrach er sich selbst und warf ihr einen knappen Blick zu. “Ist es dein Geburtstag.” “Wirklich?” Entgeistert starrte sie ihn an. Ihr Geburtstag! Die Existenz eines solchen Tages hatte sie zwar nicht vergessen, aber dennoch keinen Platz in ihrem Kopf dafür gefunden. Dieses Kleid, dass sie vielleicht ganz fern verband, war also nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch ein Geschenk. “Danke!”, jauchzte sie und fand sich beinahe mit beiden Armen um seinen Hals in einer stürmischen Umarmung, besann sich dann eines besseren und drehte eine schwankende Pirouette. Sie wusste ganz genau, was sie sich zu ihrem Geburtstag wünschte. Der Hausherr eilte ihr verblüfft hinterher, wie sie in die Küche stürmte und dort außer Atem und verlegen vor Mrs Mulciber Halt machte. “Ma’am, Guten Morgen.”, erinnerte Mary sich an ihre Manieren und schickte ein breites Lächeln hinterher. “Guten Morgen, Mary und Gabriel.”, antwortete diese herzlich. Aufgeregt verwob Mary ihre Finger mit einander. “Mrs Mulciber, ich habe mich gewundert...” Sie hielt Inne, sicher dass der Mann im Raum sie auslachen würde. “Könnten wir vielleicht Limonade machen heute?” In der Tat vernahm sich ein Glucksen hinter ihrer Schulter, doch ignorierte sie es. “Aber sicher.”, stimmte die Frau zu und Mary freute sich wie ein Osterei. Wie vom Blitz getroffen wandte sie sich um, deutete auf ihren liebsten Feind und befahl: “Du hilfst!” Selbstgefällig zog er seinen Zauberstab aus der Hosentasche, um damit die Zitronen zu pressen, doch erneut wedelte Mary mit dem Finger vor ihm.
“Ah, ah, ah! Ich denke heute, an diesem fabelhaften Tag, sind wir gleich berechtigt.” Für wenige Sekunden erstarrte er, dann ergab er sich der guten Laune der Frauen und entledigte die Zitrusfrüchte missmutig ihren Saftes. Mrs Mulciber kochte Pfefferminztee auf, den sie abkühlen ließen und mit den Zitronen, Wasser und etwas Honig mischten, bis es herrlich frisch in der Küche roch. “Und jetzt?”, fragte Mulciber mit skeptischer Miene an den Thresen gelehnt. “Schlage ich dich bei einem Glas Limonade im Schach natürlich.” Ungläubig lachte er kurz auf, nahm die Herausforderung jedoch an. “Nun gut, wenn du meinst.” Mit siegessicherer Miene schnappte er das Brett vom Wohnzimmertisch, verließ den Raum jedoch, sodass eine verwunderte Mary mit dem Tablett folgte. Mulciber führte sie zu einer Tür, die sie noch nie gesehen hatte und erst als er diese aufzog, konnte Mary ihr Glück fassen. Eine sanfte Herbstriese wehte ihr entgegen und trug den Geruch von Laub, frisch gemähten Gras und warmen Sonnenlicht. Der kleine Garten hinter dem Haus war von mannshohen, ungeschnittenen Hecken umrahmt. An einem großen Baum hingen zwei Stricke, die einmal zu einer längst verlebten Schaukel gehört haben musste. Unter diesen Baum in den Schatten rückte Mulciber einen runden Gartentisch und zwei Stühle, sodass sie Spiel und Getränk darauf absetzen konnten. Sobald ihre Hände frei waren ging sie auf eine kleine Erkundungstour. Neugierig berührte sie Blätter und Äste und sog tief die klare Luft in ihre Lungen. Die Sonne vergoldete ihre Sicht und Mary entdeckte sogar ein paar letzte Blumen. “Komm, Macdonald, oder gibst du schon auf?” Fröhlich schlenderte sie zu ihm zurück und goss die kühle Limonade ein. “Erhoff dir nicht zu viel. Ich mach dich kalt.”, versprach sie und so begann der Kampf. Ewigkeiten beäugten sie das Schachbrett, schlossen alle möglichen Züge ihres Gegners aus und kalkulierten absolut verpflichtend. So wie ihnen bald förmlich der Schweiß vor psychischer Anstrengung lief, war das erfrischende Getränk ein Segen. “Schach.”, säuselte Mulciber voller Genugtuung zu wiederholtem Male. Ihre Gedanken wurden hektisch, doch sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. Es war noch nicht vorbei. Der letzte Schlag war noch nicht vollbracht, ihr König noch zu sichern. Sie konnte ihn fortbewegen, jedoch befanden sie sich dann in einem Kreis des Hin- und Herrückens ihrer Spielfiguren. Es musste einen anderen Weg geben, ihre wichtigste Spielfigur zu schützen. Akribisch suchten ihre Augen das karierte Feld ab, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Um sie Schach zu setzen, hatte er mit seinem Springer gezogen und voller Siegestrunk dessen vitale Rolle im Leben des weißen Königs übersehen. Plötzlich ihrerseits selbstsicher befahl Mary: “Dame auf E3. Schach Matt.” Aus allen Wolken gefallen starrte Mulciber auf die schwarze Dame, wie sie unbeirrt auf seinen König zuhielt. Bevor jene ihn mit vernichtender Wucht treffen konnte, sauste Mulcibers Hand hervor, packte den König beim Kopf und sprang mit ihm auf. Ganz und gar ungläubig klappte Mary der Mund auf, als ihre Dame ins Leere schlug. “Das kannst du nicht machen!”, brach es mit hoher Stimme aus ihr heraus, als sie sich ebenfalls erhob. “Ich habe gewonnen.” Mit festerem Ton trat sie um den Tisch herum, doch Mulciber macht einen Satz nach hinten. Seine Faust umfasste jetzt fest den König und sie sah den Schalk in seinen Augen blitzen. Solch ein Sturkopf! Fest entschlossen stampfte sie ihm nach und musste ihr Schritttempo seinem anpassen, während er immer schneller durch den Garten huschte. An Sträuchern vorbei, über einen umgekippten Stuhl, um den Baum herum. Ihre Füße fanden schlechteren Halt auf dem Gras, aber irgendwie musste sie ihm doch den Weg abschneiden können. Sein breites neckisches Grinsen stachelte sie noch mehr zur Jagd an. Zugegebenermaßen huschte auch ihr des öfteren ein Lächeln über das Gesicht und endlich ergab sich die Gelegenheit, ihm in die Bahn zu springen, sodass Mary ein gelachtes “HA!” ausstieß. Beim Aufeinanderprall kam er gerade mal ins Wanken. Noch während sie fiel, streckte Mary die Finger nach der Spielfigur aus, doch Mulciber hielt seinen Arm hoch über den Kopf. Halb amüsiert halb genervt hüpfte Mary auf und ab, um ihn herum, während er sie triezte und neckte.
 “Gib ihn her, Mulciber, ich habe gewonnen!” “Ach was, Zwerg! Mein König lebt noch. Diese Festung ist uneinnehmbar.”, griente er, jedoch übersah er ihre Attacke. Mit aller Kraft warf sie sich auf ihn, stütze sich mit der linken Hand und den Füßen an ihm ab und schnappte nach seiner Faust. Zu fassen bekam sie nur das Handgelenk, doch es genügte, um den Arm und Mulciber hinunter zu zwingen. “Das ist nicht sehr lady like!”, tadelte er, während er verzweifelt seinen König festhielt. Sich nun rangelnd auf dem Boden wälzend, griff sie zu ihrer letzten Reserve. Mit geschickten Fingern fand sie seine Taille und setzte darauf, dass er kitzelig war - und wie. Sofort brach er in schallendes Gelächter aus und versuchte sich ihrer quälenden Handarbeit zu entziehen. Die gute Laune übertrug sich rasch auf Mary, bis beide vor zuviel Gelächter keuchend auf dem Boden lagen. Arme, Haare, Beine, Kleidung, alles zerzaust und verwickelt, wobei sich Marys Finger noch immer um sein Handgelenk klammerten. In diesem Moment verlor sie all ihre restliche Angst vor diesem Mann und instinktiv hob sie ihre Lippen an seine. Sollte er sich schämen dafür, dass dies plötzlich alles war, was er gewollt hatte? Entgegen seinen Behauptungen und seines Entschlusses schien mit diesem Moment sein Ziel erreicht. Wer sie war, was seine Aufgabe war, es kroch in den Hintergrund. Mickrige, lästige Schatten, die vor einer viel strahlenderen, wichtigeren Gegebenheit wichen. Er spürte nur ihre Lippen, zu einem sanften Lächeln gekräuselt. Sah sie vor sich liegen, jenes Kleid verrutscht und mit Laub versetzt, sowie ihre blonde Mähne, in der sich nun seine Hand verwob. Weshalb hatte es ihn solange gebraucht? Die Belohnung für all sein Leben lag vor ihm, bei ihm und warf sich an ihn, ohne dass er aktiv dafür gekämpft hatte. Ohne dass er sich bewusst gewesen war, dass er hätte kämpfen müssen, dass er in der Tat sein Leben dafür gekämpft hatte. War ihm doch alles egal. Seine Pflichten, ihr Status, ihre Vergangenheit, ihre Erinnerungen. Ihre Erinnerungen, in denen sie ihn hassten, in denen er ihr zuwider war, weil sie ihm nie eine Chance gegeben hätte. Weil sie verblendet gewesen war, gegenüber ihm und sich selbst. Zu stolz, um zuzugeben, was immer dort gewesen war. Umso mehr musste er jetzt in ihrem Geruch versinken, ertrinken in diesem Gefühl, dass sie erweckte. Musste voll aufgehen in der Art und Weise, wie verzweifelt und suchend und zugleich zufrieden ihre Hand seine Schulter umfasste. Wie dieses Mädchen, diese Frau, sich offensichtlich nach ihm verzehrt hatte, unwissend wie er selbst, raubte ihm die Sinne. Wie konnte ein Mann alle Unwahrscheinlichkeit der Welt, alles Glück der Welt, alle war gewordenen Wünsche in sich halten? Es war als müsse er zerbersten vor Genugtuung, Zufriedenheit, Stolz, Genuss und Unglaube. Stattdessen tauchte er tief ein in die schwere Stille des Wassers. Das Leben drang dumpf an seine Zellen, nur Mary war so klar, so fest und fühlbar, wie das Feuer. Als sei sie sein Rettungsring, hielt er sie fest, küsste sie, um nicht ohne Sauerstoff unterzugehen und dirigierte dennoch jede Bewegung genau, gezielt. So rasant sein Inneres sich fühlte, so lang und tief war ihr Kuss, mehr ausdrückend als sie es anderweitig hätten tun können. Sein Gehirn schien nicht zu verstehen, wie etwas so falsches, vermeidbares, ihn so randvoll einnahm und konsumierte. Eine knappe Minute lang war der Kuss gewesen, doch als sein Verstand an die Oberfläche tauchte, musste er den englischen Kanal geschwommen sein, aus dem Bett eines Wasserfalls emporgestiegen sein. Bemüht nicht allzu hilflos zu wirken, beruhigte er rasch seinen Atem. Marys klare Augen ließen nicht von seinen ab und er versuchte darin zu lesen. Fühlte sich dies ebenso paradox für sie an? War ihr Körper wiederholter Weise ex- und implodiert wie seiner? Ihr Geist in der Strömung ihres Verlangens abhanden gekommen? Sanft wie ihr Lächeln war, schien sie einem Engel vorm Einschlafen gleich. Unwissend was er tun sollte, richtete er sich auf. Taktlos vermutlich, ganz ohne Worte, dann bemerkte er die weiße Spielfigur, welche ein Muster in seine Handfläche gepresst hatte. Nachdenklich spazierte er hinüber zum Spieltisch. Hinter sich hörte er Mary ihm folgen. Er räusperte sich, kratzte sich am Kopf. “Tja.”, sagte er und augenblicklich sauste ihre linke Augenbraue skeptisch empor. War es Absicht, dass sie diese herablassende Geste lasziv ausschauen ließ, oder war er den tiefen des vergangenen Kusses noch immer nicht entkommen? “Erwartest du eine Entschuldigung?”, blaffte er in die Stille hinein. Nun gesellte sich die zweite Augenbraue zur ersten. Doch er hatte diesen Wahnsinn nicht begonnen! “Eigentlich,”, mit ernster Miene trat er näher und schüttelte dabei den König, “solltest du dich entschuldigen, in Anbetracht der Tatsache, dass du mein gesamtes Nervensystem kurzgeschlossen hast.” Amüsement mischte sich unter ihre Skepsis. “Habe ich das? Ich hatte das Gefühl dein Nervensystem hat ganz gut funktioniert.” Abgelenkt von ihren Augen, die ihn in ihren Bann schlugen, antwortete er nicht. Wie oft hatte er von diesem Gesicht geträumt? Entgegen seinen Willen oder mit dessen Zustimmung, es spielte keine Rolle. Ihre Relevanz für ihn war nie gering gewesen. Deshalb hatte er sie gefasst und niemand anders. Weil er sie so viel besser kannte, als einer von ihnen zugeben wollte. Ohne sich abzuwenden streckte er den Arm seitlich aus. Bei dem Splittern, das folgte, schrak Mary zusammen und wandte sich rasch dem Schachbrett zu. Dort hatte ihre Dame den zu seinem Urteil zurückgekehrten König unbarmherzig geköpft. “Du hast gewonnen.”, murmelte Mulciber und es gelang ihm sehr gut jegliche Bitterkeit aus seiner Stimme fern zu halten, denn dort war keine. Vom Innern des Hauses drang das dumpfe Klingen der Großvateruhr zu ihnen durch. “Zeit fürs Abendessen.”, stellte Mary fest, doch erst nach einer Sekunde des Zögern packten sie Geschirr und Spiel wieder zusammen und kehrten zurück. Duftend und dampfend stand das Essen bereits auf dem Tisch und gerade als sie sich setzten, stieß auch seine Mutter zu ihnen. Prächtig wie der Braten war, musste sie Hilfe von den Hauselfen gehabt haben. “Ich hoffe, du magst Braten?”, wurde Mary gefragt, die eifrig bestätigte und von ihrem Sieg im Schach berichtete. Ansonsten hielt es sich spärlich mit der Konversation. Gabriel vermutete, dass Mary sich unwohl bei dem Gedanken fühlte, dass seine Mutter wissen könnte, was draußen geschehen war. So wie sie beide aussahen war er sich sicher, dass sie zumindest eine Ahnung hatte. Unwillkürlich schmunzelte er beim Anblick eines Blattes, das unter Marys Haaren hervorlugte. Fragend hob sie eine Augenbraue, da sie seinen Blick bemerkt hatte und so senkte er belustigt den Blick auf sein köstliches Stück Braten, nur um Sekunden später wieder hoch zu blinzeln. “Hattest du einen angenehmen Tag?”, erkundigte sich seine Mutter beim magischen Abräumen des Tisches. “Oh ja, vielen, vielen Dank.”, versicherte Mary und gab ihr eine herzlichen Umarmung. Solche, die er seiner Mutter zu ihrem Leidwesen beinahe niemals zukommen ließ. Sie sah so glücklich aus, wie lange nicht und er war sich nicht sicher, ob er beizeiten zugeben sollte, dass es nicht ihr Geburtstag war. Ohne Absprache zogen er und Mary sich höflich zurück in den Flur auf dem Weg zu ihren Zimmer. Beide schwiegen sie. Sie sah schön aus, ein wenig erschöpft von der ganzen Aufregung und der Tollerei. Auf halbem Wege die Treppe hinauf hielt er es jedoch nicht mehr aus. Das Kleid und ihre kecke Eleganz waren schlichtweg nicht zu ertragen. Überwältigt von ihrer Nähe wandte er sich blitzschnell um und drängte sie mit Händen, Mund und Körper gegen die Wand. Zu seinem Glück machte sie keine Anstalten sich zu sträuben, sondern empfing seine Begierde mit offenen Armen. Dieser Kuss war stürmischer, als der im Garten. Dazu war es nicht nur einer und nicht nur ihre Lippen. Er schmeckte ihren Nacken, ihre Schlüsselbeine und Schultern, hörte ihr Seufzen und war sich sicher, dass dies seiner Mutter nicht verborgen blieb. Daher packte sie unterhalb ihres Gesäßes, hob sie auf seine Hüfte und ließ in keinem Moment von ihr ab. Die Beine um ihn geschlungen ließ sie sich in ihr Zimmer tragen, wo er die Tür verschloss und sie sturzfrei auf dem Bett absetzte. Kapitel 3: Treffen ------------------ Die Dinge hatten sich geändert. Alles strahlte ein wenig heller in der Villa und Mary selbst kam sich heller vor, leichter, beschwingter. Beinahe als sei ihr Gefängnis ihr Königreich geworden. Nie hatte sie sich wohler oder mehr zuhause gefühlt. Nirgendwo lauerten mehr Gefahren oder Unsicherheiten. Nicht einmal Gabriels düsteren Momente, in denen er so tat, als bedeute sie ihm nichts, konnten ihrer Fröhlichkeit etwas anhaben. Zu Anfang vielleicht, doch dann wurde sie sich sicher, dass kein Mann sie so küssen würde, wenn ihm nichts daran läge. So wie jetzt, als er sie zu sich herumzog und zielsicher ihre Lippen ansteuerte. Ihr überraschtes Keuchen wurde sogleich von seinen erstickt. Bevor er ihr gänzlich Atem und Sinne rauben konnte, brachte sie Distanz zwischen sie. “Du bist früh zurück.”, stellte sie zufrieden fest und er stimmte mit einem Brummen zu, während er ihre Wange, Kiefer und Ohr küsste. “Kann ich dich jetzt weiter küssen?”, hörte sie gleich neben ihrer Ohrmuschel, was sie kitzelte. “Deine Mutter bekommt das noch mit.”, versuchte sie lachend abzuwehren. Plötzlich sah er ihr todernst in die Augen. “Mary, sie weiß es schon längst.” “Okay, aber sie muss ja nicht aktiv daran teilhaben?” Diese Worte waren ihr letzter Widerstand gegen die magnetische Wirkung seines Körpers. Kopfschüttelnd machte er diesen zunichte, indem er mit dem Daumen ihren Mund für ihn öffnete. Nur zu gerne ließ sie sich von seiner Hitze erobern. Ließ ihn ihr Wohlbefinden erkunden und fand erneut die Sicherheit seiner tiefsten Zuneigung. Wenn er sie küsste, war es als spüre sie eine innere Verzweiflung in ihm aufkeimen, welche sich nach Gefühlen sehnte, die er zu verleugnen suchte. Seine Seele war hungrig und so nah er sie hielt, so hitzig er sie küsste, er schien sie nicht sättigen zu können. Es waren diese Momente, in denen er sie kostete, als sei sie vergänglich. Diese, in denen seine Hände sie nicht nur spürten, sondern hielten und in denen seine Lippen stumm nach ihr schrieen, dass er ihr sagte, was er nicht aussprechen konnte. Das Küchenmesser noch in der Hand schlang sie ihre Arme um ihn und schwelgte im Paradoxon ihrer Emotionen. Naturgemäß sollte er sie abstoßen, ängstigen. Stattdessen trug er sie in den Himmel der Köstlichkeit, öffnete ihre Augen für ein Paradies des Genusses, dessen Herrscher er war. Vielleicht, wunderte sie manchmal, war es genau das. Dieses Gefühl ihm zu gehören gleich von Anfang an. Er hatte ihr Leben besessen, dann ihre Erinnerungen bevölkert, denn es gab keine, die ihn nicht enthielten. Nun besaß er ihr Vertrauen, ihre Leidenschaft, ihr Herz. Sie liebte seine Dunkelheit, weil sie wusste, dass sie hindurch schien. Weil er ihr mit jedem Kuss und jedem gemeinsamen Augenblick auch sich selbst (ihr) gab. Wenn er sie jetzt küsste, war dort keine Küche mehr, kein Messer, keine Mrs Mulciber. Nur seine Zunge, die Fangen mit ihrer spielte und seine Finger, welche sich in ihr Fleisch gruben. Wer und wo sie war, spielte erneut keine Rolle mehr. Das einzig Wichtige war, wie Glück ihre Fasern durch stob. Endlich hatte Harry Ruhe gefunden. Erschöpft vom langen Tag und mit schmerzendem Rücken beugte Lily sich ein letztes Mal vor und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Zumindest würde er heute Nacht sorglos träumen. Dem starken Verlangen nach Tee folgend ging sie in die Küche der kleinen Wohnung. Trotz des vielen geerbten Geldes hatten sie und James beschlossen, sich erst einmal hier einzuquartieren. Es erschien sicherer, als ein eigenes großes Haus. Erst nahm sie nur eine Tasse aus dem Schrank, doch dann griff sie nach einer zweiten, in der Hoffnung James würde tatsächlich bald zurück sein, wie er angekündigt hatte. Sicher genug hörte sie ihn durch die Tür eintreten, sobald sie das heiße Wasser auf die Teeblätter gegossen hatte. Mit der Tasse in der Hand trat sie ins Wohnzimmer, um ihn dort zu empfangen, doch beim Anblick seiner Mine wich ihre gute Laune. “Ich dachte, du sagtest, du habest gute Neuigkeiten.”, grüßte sie mit trockener Kehle. “Lily.” Es war eine Entschuldigung, Beruhigung, Warnung. Alles in einem. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte nicht wissen, wen sie nun verloren hatten. Sorgsam nahm er ihr das Getränk aus der Hand und stellte es auf den Kaffeetisch. Dann hielt er sie fest bei den Schultern und fixierte sie. “Lily, deine Eltern sind tot.” In ihr herrschte die Ruhe vor dem Sturm. Sie spürte wie ihr Körper sich wappnete gegen den anrollenden Tsunami, bei dem sie nur Zuschauerin war. Beobachtete, wie der Schmerz sie entzwei riss, alle Barrikaden brach, wie ihr Mund in Agonie aufriss, ohne mehr als ein Krächzen zu entlassen. Sie sah ihre Beine fort knicken, ihren Kopf gegen James Schulter fallen, war Zeuge wie ihr Körper Beherrschung und Kraft verlor. Sie wusste nicht, dass in der Tat Tränen gerollt waren, bis ein Schreien, das nicht ihres war, in ihr Bewusstsein drang. Es war Harry in seinem Bett, der voller Inbrunst nach seiner Mutter brüllte, als spüre er ihren Schmerz. Doch zum ersten Mal konnte Lily nicht zu ihm. Es gelang ihr nicht sich zu erheben und ihrem Baby die Mutter zu sein, die sie sein musste. “Sshh. Shhhhh.”, hörte sie James an ihrem Ohr wispern. Er wiegte sie in seinen starken Armen, als sei sie selbst das Kind. Dem Drang, zu seinem Sohn zu eilen, widerstehend wartete James eine Ebbe ihrer Verzweiflung ab, in der sie versuchte tief zu atmen und ihren Schluckauf zu bekämpfen. Sie mit einer Hand haltend zog James einen Spiegel aus der Tasche und sagte: “Bitte, Tatze.” Sobald erneut die Messerstiche der Wahrheit Lilys Körper und Seele perforierten, war ihr Mann wieder ganz bei ihr. Am Rande nahm sie wahr, wie Sirius erschien und verschwand und wie eine Weile darauf, das Schreien verstummte. Sie krampfte in ihren herzzerreißenden Schluchzern, bis ihre Muskeln diese Leistung nicht mehr erbringen konnten. Von da an lag sie nur noch taub auf dem Boden, während unermüdliche Tränen unbemerkt weiter rannen. “Ich kann nicht mehr.”, sagte sie bald und ihre Stimme war kaum mehr als ein Windhauch. Ihr Mann war an ihrer Seite und streichelte ihr Haupt. “Doch, das kannst du. Du bist die stärkste Frau, die ich kenne. Ganze sechs Jahre lang hast du mir widerstanden.” Das Lachen, von dem sie sich nicht abhalten konnte, verwandelte sich in ein verstörendes Krächzen, dann ein Husten. Sirius näherte sich erneut. In seinem Arm trug er ihren schlummernden Sohn, den er vorsichtig auf ihrer Brust ablegte, in der Hoffnung, er würde sie beruhigen. Harry, den sie mit ihrem Leben beschützen würde. Sie war froh, dass Sirius ihn nicht alleine gelassen hatte. Ohne diese drei Männer könnte sie nicht weitergehen. Der Krieg verlöre jeden Sinn, wenn sie niemanden mehr hatte, für den sie kämpfen und leben könnte. Niemanden, den es zu lieben gab. “Es gibt immer noch eine gute Nachricht.”, versuchte James leise ein wenig Licht ins Dunkle zu bringen. Obwohl sie nicht wusste, ob die Neuigkeit ihre Trauer lindern konnte, sah sie auf. “Wir kennen das Gegenmittel für Marys Trank.” Harry zuliebe unterdrückte Lily das aufkommende Zittern der Verzweiflung. “Wir haben aber niemanden, den wir heilen können.”, sagte sie bitter. “Hey, Evans, wir sind der Sache aber einen Schritt näher.” Das war Sirius mit seiner schönen Stimme. “Haben wir das Gegenmittel?”, forderte sie seine Zuversicht unglücklich heraus. “Nicht ganz.”, druckste er. “Aber wir wissen, wo man blassgoldene Skarabäi findet.” “In Ägypten also. Irgendwo in Ägypten.”, vernichtete Lily auch diese letzte Hoffnung mit erstickter Stimme. Rasch nahm Sirius ihr das Baby ab, bevor sie erneut in eine Welt der Machtlosigkeit und des Verlusts versank. Gelangweilt hockte Mary in ihrem Stammsessel und beantwortete so gut sie konnte Mulcibers Fragen. “Kennst du ein Rezept für Kesselkuchen?” “Ja, natürlich, Gabe. Das von deiner Mutter.” “Ach, Mist. Kannst du rechnen?” Frustriert und beleidigt warf sie ein Kissen nach ihm. “Merkst du nicht, wie sinnlos das ist? Müssen wir wirklich mit diesen Fragen weiter machen?” “Ja.”, bestimmte er stur. “Ich habe immer noch einen Job.” “Wirst du dafür bezahlt?” “Nein.” “Na also.” Er stieß ein tiefes Seufzen aus. “Bitte, mach es nicht schwerer als es ohnehin schon ist.” Sie gab sich geschlagen und leierte Antworten herunter, die sie sicherlich schon 20 mal genannt hatte. “Erinnerst du dich an Hogwarts?” “Nein, verhext noch mal! Ich weiß nur, was du mir erzählt hast. Von der Decke in der großen Halle, vom imposanten Vertrauensschülerbad, von den Haustgeistern-” “Kannst du mir ihre vier Namen nennen?”, horchte er auf. “Der fette Mönch, die graue Dame, der blutige Baron. Einen vierten kenn ich nicht.” “Den hab ich dir ja auch nicht gesagt.”, stöhnte er. “Es ist der fast kopflose Nick.” “Du hast mir also meinen Hausgeist vorbehalten.”, war ihre tadelnde Feststellung. “Woher weißt du das?” “Du hast mir gesagt, dass ich in Gryffindor war und alle anderen Geister einem Haus zugeteilt. Ich habe schon etwas mehr Grips als ein Flubberwurm.” “Von mir aus.”, stöhnte er erneut. “Wie sieht Snape aus?” “Snape? Was hat er denn damit zu tun?” “Er war einer deiner geliebten Feinde.” “Was weiß ich! Moment, ist das der mit der krummen Nase aus dem Bild im Flur?” “Ja.” “So sieht er aus.” Zufrieden wackelte sie mit den bloßen Füßen. Stille herrschte, während Mulciber sie beobachtete. “Los, wo bleibt die nächste Frage?”, forderte sie, doch er sah nicht auf sein Blatt hinab, bevor er sprach. “Was für Unterwäsche trägst du?” Seine Miene blieb ernst, doch sie konnte ein schalkhaftes Blitzen in seinen Augen entdecken. “Ich trage eine weiße Bluse, also offensichtlich keine dunklen Farben.”, war ihre grobe Antwort. “Weiß also und weiter?” “Mit Spitze besetzt. Er ist sehr süß. Mit einem kleinen Steinchen in der Mitte.” “Süß. Ich dachte nicht, dass Mutter dir so einen aussuchen würde.” Ein Grinsen überzog ihr Gesicht in Anbetracht der Konzentration, die es ihn kostete. “Ach, sie kam letztens mit einem Katalog zu mir und hat mich ein paar Dinge auswählen lassen.” “Ich kenne sie also noch nicht.”, schloss er überrascht das Fazit und sie schüttelte keck den Kopf. Jegliches Vorhaben in den Wind schießend schritt Gabriel zu ihre hinüber und stützte sich auf den Armlehnen ihres Sessels ab. “Zeig her(.)!”, forderte er mit leiser Stimme, woraufhin ihre Augenbrauen in die Höhe wanderten. “Berufliches sollte man wirklich von Privatem trennen.” “Recht hast du.”, verkündete er und hob sie im selben Atemzug auf seine Arme. “Wir sollten das hier nicht im Arbeitszimmer tun.” Kichernd lehnte sie sich an seine Schulter und ließ sich von ihm in den Flur tragen. Anstatt ihr Schlafzimmer anzusteuern, öffnete er eine frühere Tür und sie hielt erstaunt die Luft an, als sie zum ersten Mal sein Zimmer betrat. Es war dunkler eingerichtet als meiste Räume im Haus, sodass es Mary sehr gemütlich erschien. Gerade das riesige Bett gleich gegenüber der Tür hatte eine äußerst einladende Wirkung auf sie. Mulciber setzte sie aber nicht darauf ab, sondern gleich auf demTeppich und nahm in einem Sessel beim Fenster Platz, den er in ihre Richtung drehte. Ein herausforderndes Schmunzeln lag auf seinen Lippen und so schloss sie die Tür, nahm allen Mut zusammen und öffnete ihre Hose. Wie sein Blick auf ihr ruhte, während sie sich ihrer Jeans entledigte, hatte etwas eigenartig intimes, doch war es wenig bedrohlich. Sie konnte nicht umhin, sich sehr sexy zu fühlen bei dem Glänzen, das in seinen Augen lag. Einzeln öffnete sie jeden Knopf ihrer Bluse und entblößte mehr und mehr ihrer Haut. Dies war nicht das erste Mal, dass sie in seiner Gegenwart entkleidet war, jedoch erschien es ihr anders und neu. Langsam trat sie auf ihn zu und erreichte ihn, als nur noch ein Knopf das Kleidungsstück verschloss. Große Hände zogen sie auf seinen Schoß und er befühlte ihre Schenkel, während er ihr Schlüsselbein mit Küssen berieselte. Nicht anders als sonst zerschmolz sie unter seinen Berührungen und begrüßte das Bett in ihrem Rücken mit Freude. Ihre Bluse war längst von ihr gegangen und Gabriels Daumen schoben sich unter ihre BH-Träger. “Wozu ziehe ich hübsche Unterwäsche an, wenn du sie eh nur wieder loswerden möchtest?”, seufzte sie amüsiert. Mit Unschuldsmiene begegnete er ihrem Blick. “Ich frage mich einfach, wie er dir steht, wenn du ihn nicht trägst.” Damit schnappte der Verschluss auf. Sein Gewicht über ihr erstürmte Gabriel ihren Körper. Er ließ keinen Zentimeter unberührt, während seine Hände ruhelos darüber wanderten. Bald gingen ihre Sinne auf Wanderschaft und das Universum tanzte vor ihren Augen. Bis zu dem Moment, in dem er beide ihre Handgelenke umfasste und über ihrem Kopf zusammenhielt, sodass unerwartete, gewaltsame Panik ihr die Kehle verschnürte. Verzweifelt wand sie sich unter ihm und schüttelte den Kopf zur Abwehr. Verwirrung trat in seinen Ausdruck, als er ihre verwandelte Miene sah. Sobald er sie frei- und von ihr abließ, rutschte sie an die Kante des Bettes und schlang das Laken um sich. Stumme Tränen benetzten ihre Wangen. Ratlos sah er sie an. “Was ist los?”, fragte er besorgt, doch sie schwieg und beruhigte ihren Körper, den Hitze und Kältewellen durchjagten. Beschwichtigend wollte er eine Hand auf ihre Schulter legen, aber seine Berührung erschien ihr plötzlich grob und gefährlich, sodass sie heftig zusammen zuckte. “Okay, es tut mir leid!” Seine Stimme war viel lauter als zuvor und er rutschte von ihr ab. Rasch legte sie eine Hand auf sein Bein. “Geh nicht weg.”, bat sie. “Was soll ich denn tun?” Härte schwang in den Worten mit, welche sie nicht verstand. “Weshalb bist du wütend?” Bedacht darauf das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen, sah sie zu ihm auf, wie er seinen Kiefer malte. Die zornige Fassade brach zu Schuld, Hilflosigkeit und Reue. “Ich will dir nicht mehr wehtun.”, gestand er seine Wut auf sich selbst. Zaghaft rückte sie näher zu ihm. “Du tust mir nicht weh.” Ein kurzes, besorgtes Zögern bevor sie weitersprach. “Aber musst du immer die Kontrolle haben?” Überrascht erforschte er ihr Gesicht, erprobte die Bedeutung ihrer Worte. “Was willst du?” Beschämt sah sie auf ihre Hände. “Zeig es mir.” Nach kurzem Zögern näherte sie sich ihm bedächtig und platzierte einen sanften Kuss auf seinen Lippen. Dann einen weiteren auf seiner Wange. Vorsichtig legte sie eine Hand auf seiner Brust ab und übte leichten Druck aus, um ihn zum liegen zu bringen. Gabriel erwiderte ihre Küsse nun auf dieselbe ruhige Weise. Bedacht und jede Bewegung voll aufnehmend. Sie erlaubte ihm, ihre Hüfte zu halten und genoss die Intensität mit der sie einander nun spürten. Ihm gefiel es, das wusste sie und mit einem Mal hielt er ihr Gesicht in den Händen, als sei es ein kostbares Juwel. Sie streichelten, küssten einander und lauschten dem Herzschlag des andern und beließen es an diesem Nachmittag bei trauter Zweisamkeit. In Gedanken versunken streifte Gabriel durch sein Arbeitszimmer und blätterte halbherzig durch seine Unterlagen. Der Dunkle Lord wurde ungeduldig. Es war Zeit eine Lösung für Mary zu finden, einen Nutzen als Geisel, denn sobald der ehrenvolle Orden von ihrem Wohlergehen erfuhr, würden sie eine Rettung versuchen. Würden vielleicht einen Austausch anbieten, verhandelbar sein und eventuell einen nützlichen Hinweis fallen lassen. Das war die Aussicht für Mary gewesen von Anfang an. Er hatte seinen Spaß gehabt, er hatte ihre Nähe genossen, hatte endlich bekommen, wonach er sich immer gesehnt hatte. Doch es war Zeit, nicht nur an sich selbst zu denken. Es war Zeit für ihn, sein Projekt zum Ende zu bringen. Seufzend legte er das Foto in ihrer Ordensakte zurück und räumte seine Notizen fort, sodass sie sicher vor allen Eindringlingen waren. Er war noch nicht bereit. Obwohl er schon zielstrebig auf den Flur getreten war, wandte er sich deshalb um und wechselte die Richtung. Ein Besuch in seinem Schlafzimmer konnte nicht schaden, bevor er sich aufmachte. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ihr Duft entgegen, von den Malen, die sie mittlerweile darin verbracht hatten. Eines seiner T-shirts, welches sie in der Nacht getragen hätte, hing am Bettpfosten. Zärtlich hob er es hoch und erinnerte sich an ihr Aussehen darin. Ein wenig verloren in dem weiten Stoff. Es erweckte einen Beschützerinstinkt in ihm. Sie war seins. Sie trug seine Kleidung und schlief in seinem Bett und sie war niemandes als sein. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er sie nicht ewig halten konnte. Andere Menschen wollten sie und würden sie ihm nehmen. Weil sie nie dafür gedacht gewesen war, ihm allein zu gehören. Er warf einen letzten Blick auf das aufgewühlte Bett und warf das T-shirt dann in den Wäschekorb. Es war Zeit. Mary war im Badezimmer, was die Angelegenheit nicht einfacher machte. Er klopfte an die Tür und hörte ein überraschtes “Ja?”, woraufhin er eintrat. Ihm bot sich ein göttlicher Anblick. Mit hochgepinnten Haaren entspannte sie in der Badewanne. Ihr Gesicht war ihm verlegen aber erfreut zugewandt und Schaum verbarg ihren Körper. “Planst du es, nur Zeit mit mir zu verbringen, wenn ich nackt bin?”, fragte sie keck und er schüttelte lachend den Kopf. “Ich wünschte, es wäre so.” Er zog den Hocker neben sie und setzte sich, die Ellbogen auf die Knie gestützt. “Sicher?”, neckte sie. “Gib mir wenigstens einen Kuss.” Dieser Aufforderung konnte er sich kaum widersetzen. Als er sich zu ihr herunter beugte, reckte sie sich ihm entgegen, sodass ihr Oberkörper sich über das Wasser erhob. Er spürte, wie seine Willenskraft ihn zu verlassen begann, mit jeder Bewegung ihrer Lippen, jeder flüchtige Blick auf ihre schaumbedeckten Brüste und jede Berührung ihrer nassen Hände. Sein Blutdruck stieg stark und es kostete ihn alle Mühe, den Kuss abzubrechen. Gespielt enttäuscht sank sie zurück ins Wasser. “Okay, was ist los?” “Du bist wunderschön.”, sagte er ernst und sie lachte verwirrt. “Danke, was ist wirklich los?” Sie hatte ihn zu gut kennengelernt und nun durchschaute sie ihn. Darüber wollte er schmunzeln, wenn er nicht wüsste, was bevor stand. Zärtlich griff er nach ihrer triefend nassen Hand. “Ich habe einen Auftrag.” Sorge trat in ihre Augen. “Das heißt, ich werde fortgehen müssen.” “Wie lange?” “Ein paar Tage wahrscheinlich.” Sie nickte, sah ihn jedoch nicht an. “Warum sagst du das so ernst? Wird es gefährlich?” “Nein, nein.”, versicherte er schnell, aber sie glaubte ihm offensichtlich nicht. Ihre Augenbrauen kniffen sich misstrauisch zusammen. “Sollte ich mich sorgen?” “Hör zu,”, begann er ernst, “du erinnerst dich daran, wie es war als ich mit deinen Klamotten zurück gekommen bin. Es ist immer gefährlich und meist weiß ich nicht einmal, weshalb ich raus gesendet werde. Dies mal wollte ich einfach, dass du Bescheid weißt, wenn ich weg bin.” Kurz zuckte er mit den Schultern. “Und dass du weißt, dass ich zurückkommen werde. Ich verspreche es dir.” “Danke, Gabe.”, wisperte sie und drückte seine Hand. Er stand auf, um zu gehen, und sie tat dasselbe. Stellte sich in die Badewanne und zog ihn in eine feste Umarmung. Das Wasser durchdrang sofort seine Kleidung. “Viel Glück.”, wünschte sie ihm und er spürte sie gegen seinen Hals lachen. “Ich glaube, du musst dich noch mal umziehen.” Ihre Zuversicht durchbrach auch seine Seriosität, sodass er ihr einen letzten fröhlichen Kuss gab. Es war wie immer wenn Gabriel fort war. Zu Beginn ging Mary unbeschwert ihrer Dinge. Sie sang und tanzte während sie Schach spielte, sich ankleidete, putzte, beim Kochen half. Dann wurde sie besorgt und stürzte sich in Arbeit, um ihre Gedanken von ihm zu lenken. Diesen Punkt hatte sie bei seiner derzeitigen Abwesenheit längst erreicht. Denn aus wenigen Tagen waren viele Tage geworden und nun Wochen. Kummer überfiel sie und halbherzig wandelte sie durchs Haus und ging ihrer Tätigkeiten nach. Ihre Konzentration schwand und wenn sie versuchte zu lachen, wollte sie am liebsten gleich weinen. Somit zeigte sie gar keine Emotion, bis sie nicht einmal mehr die Kraft fand irgendwelche Aufgaben im Haus zu verrichten. Als ihre Seele krank war, wurde es auch ihre Körper. Eine heftige Grippe schüttelte sie zum Winteranfang und so war es beinahe wieder wie zu Beginn ihres Aufenthalts. Sie bekam kaum mehr als Suppe hinunter und war an ihr großes Bett gebunden, bis sie Mrs Mulciber bat, ihr beim Umzug in seines zu helfen. Tagelang fristete sie ihr Dasein in seinen Daunen und starrte regungslos zum großen Fenster, als sollte er jeden Augenblick hinein springen. Zu der Zeit, da der Virus ihren Körper entließ, waren bereits drei Wochen seit Gabriels Abreise vergangen und sie war des Wartens müde geworden. Viel länger konnte er nicht brauchen, wenn er denn zurück kam. Doch diesen Gedanken wollte sie sich gar nicht erst erlauben und so erhob sie wieder ihr Haupt. Sollte er sie so sehen, wenn er zurückkam? Ohne Farbe in den Wangen mit plattem Haar und lustlosen Augen? Ihr Wiedersehen sollte schön und leidenschaftlich und fröhlich sein. Mit ihm an ihrer Seite würde sie nur zu gerne ein paar weitere Tage im Bett verbringen. In diesem Sinn fand sie neue Kraft, an sich und der Einrichtung zu arbeiten und sie spürte die Erleichterung der Hausherrin, dass ihr Dauergast sich endlich zusammen gerissen hatte. Ihr Glückstag war ein Sonntag. Sie wusste es, denn Mrs Mulciber hatte eine weitere Kerze auf dem Adventskranz entzündet. Gerade war sie dabei ihr Bett zu machen, da hörte sie ein ungewohntes Geräusch aus dem unteren Stockwerk. Ohne zu zögern ließ sie alles stehen und liegen und stürmte die Treppe hinab und hinein ins Wohnzimmer. Dort stand ihr Gabriel und wirbelte herum. Innerhalb einer Sekunde war sie in seine Arme geflogen und drückte ihn mit voller Kraft an sich. In diesem Moment, in dem sie seinen starken Griff um sich spürte und seine Wärme und seinen Atem, konnte nichts ihr Glück zerstören. Tränen der Freude füllten ihre Augen und sie küsste jeden Zentimeter seines Gesichts. “Mary.”, sagte er und sie strahlte ihn an. Zu ihrer Erleichterung sah er nicht allzu mitgenommen aus. Bloß müde, aber aufmerksam und ein wenig schmutzig. “Wo bei Merlin warst du, Gabe? Ich bin fast umgekommen vor Sorge.” “Es tut mir so leid.”, entschuldigte er sich gleich. “Ich konnte dich nicht benachrichtigen, falls der Brief abgefangen würde. Mary, wir haben nicht viel Zeit.” Sofort dämmte er ihre Ausgelassenheit. “Aber, du bist gerade erst zurück.”, wisperte sie enttäuscht. Anders als sonst konnte sie aus seiner Miene nicht lesen, während er ihr Gesicht in den Händen hielt. Ruhelos schnellten seine Augen zwischen ihren hin und her. “Ich weiß. Der dunkle Lord, er wird bald hier sein.” Wie hatte sie sich geirrt. Es war so einfach ihre Freude zu zerstören. Fragen schwirrten in ihrem verwirrten Kopf umher. “Aber -” “Nein, hör bitte einfach zu. Die Zeit ist gekommen, dass sie dich als Geisel benutzen wollen. Als Lockvogel. Der dunkle Lord denkt nicht, dass ich Ergebnisse erzielen kann. Aber er hat Unrecht.” “Was?”, konfus überschlug sich ihre Stimme. Er nahm sie bei der Hand und zog sie in ihr Zimmer, wo er rasch einige ihrer Kleider in eine große Tasche stopfte. Ihr Sommerkleid war darunter, sowie einer seiner Pullover. “Ich war in Afrika. Ich hatte das Gegenmittel schon so lange identifiziert, doch ich wollte nicht...” Er zögerte weiter zu sprechen. Indessen wechselte er ins Badezimmer, um dort einige Utensilien für sie zusammen zu klauben. Dann hielt er inne und fuhr sich durchs Haar. “Ich hatte Angst, dass deine alten Erinnerungen deinen Hass zurück bringen würden. Ich hatte Angst dich zu verlieren.” “Nein, Gabriel. Du verlierst mich niemals. Wir gehen zusammen fort. Du bleibst bei mir.” Voller Zuversicht griff sie nach seiner Hand, doch er schüttelte sie ab. “Du verstehst nicht. Sie könnten mich überall hin verfolgen, Mary. Sie würden meine Mutter foltern und töten.” “Ich will nicht von dir fort!”, sagte sie mit schriller Heiserkeit, während Panik sie erschlug. Wie konnte alles so schrecklich falsch kommen? “Bald sind sie hier.”, drängte er, doch sie schüttelte hektisch den Kopf. Daraufhin wurde er ruhiger. “Ich will dir wiedergeben, was meinetwegen genommen wurde. Du sollst alles wissen. Alles über uns und mich und du wirst dich entscheiden. Du wirst herausfinden, was du wirklich für mich fühlst und ich werde niemals sauer sein. Ich liebe dich, Mary.” Ihr Herz stockte, als er das sagte. Zum ersten Mal sprach er diese Worte aus und sie klangen wie ein Anfang, wenn er sie doch zum Abschied gebrauchte. Sie ließ zu, dass er auf sie zu trat und sie küsste. In dem Augenblick, in dem ihre Lippen sich berührten, wurde ihr Körper Übelkeit erregend zusammengequetscht und sie wurde fort gezogen, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte und eiskalte Luft ihren Körper einnahm. Hastig sog sie die Luft ein und stolperte. Die neue Umgebung überwältigte beinahe ihre Kräfte. Um sie herum waren Häuser und Straßenlaternen und Muggleautos. Heftig atmete sie ein und aus, wie ein Tier, dass man aus dem Käfig gelassen hatte, verlor sie die Orientierung. Jedoch holte Gabriel sie zurück. Er zog sie an sich und stellte sicher, dass sie nur ihn sah. “Bitte, vergiss alles um dich herum und hör mir ganz aufmerksam zu. Alles, was ich dir jetzt sage, wird unglaublich wichtig sein. Zuerst darfst du nie vergessen, was ich dir gesagt habe: Ich liebe dich. Du hast mich verändert und zu dem Menschen gemacht, der dich aufgeben kann, weil er dich liebt. Nimm dies.” Er drückte ihr eine kleine Schachtel in die Hand. “Darin ist das Tier, dessen Biss deine Erinnerungen zurückholen wird. Sobald ich weg bin, versteckst du dich und dann öffnest du dich die Schachtel.” “Geh nicht, bitte. Bitte, bleib.”, flehte sie panisch und taub vor Schmerz und Kälte. Sein Gesicht war ebenfalls schmerzhaft verzogen, aber in diesem Augenblick konnte sie nicht nachvollziehen, wie er selbst sich fühlen musste. Es war alles zu viel für sie und sie wusste nicht, wie viel mehr es werden sollte. “Bitte, hör zu.”, flüsterte er eindringlich durch ihre Tränen. “Wenn deine Erinnerungen zurückkehren, wird das überwältigend sein. Es könnte sogar wehtun, ich weiß es nicht. Aber es ist ganz wichtig, dass du sie gleich durchforstest.” “Wieso nicht jetzt? Wieso kannst du nicht bei mir sein?” Entschuldigend schüttelte er den Kopf und drückte sie an sich, sodass er dicht an ihrem Ohr war, als er weiter sprach: “Du musst in dem Augenblick stark sein, du musst ganz unbedingt einen Ort finden, an den du apparieren kannst. Ich kann nicht dabei sein, weil ich nicht wissen darf, wohin du gehen wirst. Ich werde zurück nach Hause gehen, wo der Dunkle Lord jeden Augenblick eintrifft. Ich werde dir Zeit kaufen und sobald sie in meinen Erinnerungen sehen, wo ich mich verabschiedet habe, werden sie hierhin kommen. Es ist ganz wichtig, dass du dann nicht mehr hier bist, Mary. Verstehst du das?” Stumm nickte sie. Ein dichter Nebel verwirrte ihren Kopf und nur Gabriels wundervoller Stimme drang hindurch. Sie sog jeden Klang seiner Worte auf wie lebenswichtige Luft. Etwas dringliches wollte zu ihr durch, doch sie konnte sich nur auf Gabriel konzentrieren und ihm zuhören, wie er verlangte. “Appariere irgendwo hin, wovon sie nicht ahnen können, dass es dein Ziel wäre. Sie werden so lange wie möglich nicht wissen, dass deine Erinnerung zurück ist. Sobald du den ersten Schock überwunden hast, nach dem Apparieren, verschwinde erneut. Möglichst an einen sicheren Ort. Zu deinen Freunden. Ich verspreche, niemand wird dir dorthin folgen können. Hast du alles verstanden?” “Ja, aber -”, murmelte sie, bis er ihre Finger um einen länglichen Gegenstand schloss. Überrascht keuchte sie. Doch natürlich, natürlich hätte sie seinen Plan nicht ohne dies ausführen können. “Mein -” “Ja.”, knirschte er, denn plötzlich war sein Gesicht voller Leid und er drückte die Hand auf seinen linken Unterarm. “Er ist dort.”, presste er hervor und gab ihr einen letzten Kuss. “Ich liebe dich.”, flüsterte sie und wollte mehr sagen, wollte ihm seine Schmerzen nehmen und ihn bei sich halten. “Du musst genau tun, was ich gesagt habe.”, drängte er jedoch und seine Augen durchbohrten sie, sodass sie es ihm versprach. “Es ist grausam von mir, dir nicht erneut die Erinnerung zu nehmen, aber ich bin ein Egoist.”, gestand er hart atmend. “Ich will nicht, dass du vergisst, was geschehen ist. Ich kann dich nicht verlieren.” Sie verstand nicht. Er sollte einfach bei ihr bleiben, doch mit einem Mal war er fort. Unerwartet stolperte sie nach vorne und fiel auf die pralle Tasche, die er gefüllt hatte. Der Nebel in ihrem Kopf war wie weggeblasen und die wichtige Information, die sich gegen ihren Schädel gepresst und die sie ignoriert hatte, hallte jetzt in ihrem Gehirn wieder. “Sie werden dich töten.”, flüsterte sie und verstand nun. Wenn sie nicht tat, wie er es befohlen hatte, würde sein Tod umsonst sein. Er würde sterben, um ihr Leben zu retten. Heiße Tränen rollten über ihre gefrorenen Wangen und mit steifen Fingern, krallte sie die Tasche mit der Hand, in die er ihren Zauberstab gelegt hatte. So wenig sie sich an das Gefühl erinnern konnte, bemerkte sie, wie sehr ihr diese Verlängerung des Arms gefehlt hatte. Es war ein vertrautes Gefühl, das Holz in der Hand zu halten. Rasch zerrte sie ihr Gepäck in einen Vordergarten und kauerte sich kniend in den frostig harten Boden unter einer Hecke. Mit dem faden Licht der Straßenlaternen dürfte diese Versteck ihr noch Zeit kaufen, falls die Todesser früher erschienen, als Gabriel erhofft hatte. Aber an ihn durfte sie nicht denken. Sie saß dort und roch noch seinen Duft und erneut kamen ihr die Tränen und sie bekam keine Luft. Doch sie musste weg und sie musste ihn jetzt dort lassen, auch wenn sie sich ansah und dafür hasste. Mit klammen Händen schob sie den Deckel von der kleinen Schachtel und sie sah kaum wie der große Käfer hinaus kletterte. Er orientierte sich und beinahe hatte sie schon Angst, dass er davon krabbeln und sie ihn im schwachen Licht verlieren würde. Allerdings hörte sie ihn dann wütend brummen und spürte einen stechenden Schmerz in der Handfläche. Vor ihren Augen blitzte es und es war als schließe man ihren Körper kurz. Sie wusste, dass sie fiel und in ihrem Kopf geschah so viel. Bilder über Bilder und laute Geräusche, sodass ihr beinahe schlecht wurde. So musste es sein, wenn man starb, denn ihr Leben zog an ihr vorbei. Nur dass es nicht so friedlich war, wie sie sich immer vorgestellt hatte. Sie steckte in einem Strudel fest, wurde nach allen Seiten geschleudert, denn ihre Erinnerungen taten ihr nicht den Gefallen geordnet zurückzukehren. Es war als stürme eine Masse der Größe eines gesamten Landes durch das Öhr einer Nadel. Sie drängten und kämpften und schubsten und stolperten. Und als der Sog vorbei war spürte sie endlich wie ihre Stirn fest auf den Boden aufschlug, denn sie hatte kurze Zeit das Bewusstsein verloren. Aber sie war zurück und so stark ihre Kopfschmerzen waren, sie war wieder eine Rebellin. Aufmerksam lauschte sie auf die Schritte von Todessern, doch da waren keine, dann folgte sie weiter Gabriels Anweisungen. Alle Informationen, die von ihr anerkannt werden wollten, drängte sie beiseite und fokussierte sich stattdessen auf den ersten unbekannten bekannten Ort, den sie in ihrem ungewohnt großen Erinnerungskatalog finden konnte. Eine andere Straße in hoffentlich einer anderen Stadt und mit einem Ploppen verschwand sie und ließ ihre Möglichkeit der Rückkehr zu Gabriel hinter sich. Gabriel. Sie hatte ihn wieder in ihre Gedanken gelassen und nun wurde sie erneut vom Pochen in ihrem Kopf geblendet. Gefühle tobten in ihr, während Bildsequenzen ihre Netzhaut erstürmten. Teenager Gabriel. Fies und ekelhaft, verabscheuungswürdig. Hass und tiefste Abneigung stießen in ihr empor. Sie wollte ihn verfluchen wie damals. Wünschte ihm die hässlichsten Furunkel an den Hals, wollte ihn so heftig verletzen, wie es in ihrer Macht stand. Er war ein Monster, vor dem sie ihre Freunde beschützen musste. Ihre geliebten Freunde. Ihre wunderschöne, herrliche Lily, zu der sie an jenem Abend gewollt hatte. Bis sie ihm dann gar nichts mehr anhaben konnte. Weil er sie gefoltert hatte. Weil er ihr all die Dinge angetan hatte, die sie ihm ihr Leben lang hatte zufügen wollen. Solange, bis sie sich verliebt hatte. Bis sie ihn wirklich gesehen hatte. Er war anders gewesen, sonst wäre es vielleicht nie so gekommen. Doch er behielt recht, sie konnte es nun sehen. Damals, als sie ihn schon verabscheut hatte, hatte sie gewünscht, er könne anders sein. Da war sie sicher. Ein Leben lang gepeinigt und gestritten und gekämpft hatten sie. Sich gehasst von dem Moment, in dem ihre Augen sich das erste Mal verhakten. Das Feuer dieses ausgeprägten Hasses loderte in ihrer Brust auf, doch so brannte dort auch die Glut ihrer Liebe. Dieses neue Gefühl, dass sie zu früheren Zeiten nie zu spüren vermocht hätte. Ich hasse alles an dir, also warum liebe ich dich, fragte sie sich selbst. Weil er sie auch lieben konnte. Sie hatten einander verändert, so wie er gesagt hatte. Er hatte ihr gesagt, sie würde sich entscheiden, doch wie hatte er glauben können, dass es dort eine Entscheidung zu fällen gab? Keine Vergehen der Vergangenheit konnten die wunderschönen Erinnerungen auslöschen, die er ihr beschert hatte. Im Gegenteil verwandelten sie sie in ein noch fabelhafteres Wunder und damit verdrehten sie auch Marys Herz. Dieses Wunder war vergangen. Es würde nur noch dort oben Leben. In ihren so kostbaren Erinnerungen und es würde mit ihr sterben, denn so sehr sie der Gedanke schmerzte, wusste sie, dass der ihr nun wichtigste Mensch fort war. Langsam kam sie wieder zu sich, dort auf dem eisigen Teer des Bürgersteigs auf irgendeiner Straße. Sie hatte das einst einzig wichtige in ihrem Leben verloren. Gabriel war fort, doch er hatte sie noch mehr zu einer Kämpferin gemacht und er hatte ihr etwas zurückgegeben, an dessen Wert sie sich nicht hatte erinnern können. Er hatte ihr mehr zurückgegeben, als er damals genommen hatte, denn nun sah sie all die fabelhaften Dinge das damals in noch schönerem Licht. Hogwarts war ein sicheres Heim, indem Kämpfe Spielereien gewesen waren. Fehden waren Windhauche gewesen in der großen Welt. Die Liebe zu ihren Freunden etwas, für das sie alles aufgegeben hatte. Eine Liebe, für die sie hatte sterben wollen. Ganz so, wie er bereit gewesen war, für sie zu sterben. Bevor Mary zu ihren Freunden zurückkehrte mit einer monatelangen Verspätung und bevor sie den Sohn ihrer besten Freundin zu Gesicht bekommen würde und sich mit schweren Stunden des Erklärens und Verstehens auseinander setzen musste, machte sie sich ein Versprechen. Erinnerungen an die kleinsten und größten Dinge, waren das kostbarste im Leben. Sie bewahrten die Momente, die einen zu dem formten, was man war. Sie mussten bewahrt und gepflegt werden, ob sie glücklich oder traurig waren. Aber ein Kopf war eben doch nur Nadelöhr im Verhältnis zur Gewalt eines Lebens voller Erinnerungen. Daher versprach sie sich, die signifikante Erinnerungen wohl verwahrt in ihrem Herz zu halten. Gabriel hatte sie mit Freuden gequält. Er hatte Grausamkeit an ihr verübt, sie mit Verachtung gestraft, ihr Unverständnis gegenüber gebracht. Er hatte sie ausgeschlossen und gefangen gehalten. Doch was war all das gegen den Aufwand, den er mit ihrem Zimmer getrieben hatte? Wie er unbeholfen ihren Kopf gewaschen hatte und seine Mutter geschickt hatte, um sie zu pflegen. Wie er ihren Geburtstag erfunden hatte, nur um das Abholen ihres Kleides zu rechtfertigen und wie er den König zu ihrem Sieg wieder auf das Schachbrett gestellt hatte. Seine Neckereien und Zärtlichkeiten, sein Vertrauen sie in sein Zimmer zu lassen, seine warmen Hände und seine Liebe für ihr Haar. Und schließlich seine Mühen, um für ihren kostbarsten Schatz zu kämpfen und seine Entschlossenheit sie zu retten. Sie waren die Erinnerungen, die auf ewig ihr Herz und ihre Seele nähren würden. Wenn sie weinte, würde sie aus Glück und Dankbarkeit weinen, weil sie am dunkelsten Ort Liebe gefunden hatte und weil jemand sie so unerwartet sehr wertschätzen konnte, wie er. Mit traurigem Lächeln auf den Lippen, fuhr sie mit dem Zauberstab hinauf an ihre Kopfhaut und trennte eine mittlerweile sehr lange Strähne ihres Haares ab. Diese wickelte sie um einen Ast und band eine Schleife. “Ich liebe dich.”, flüsterte sie ein letztes Mal und disapparierte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)