October to May von Earu (Intermezzo With A Stranger) ================================================================================ Kapitel 3: Midnight Celebration ------------------------------- „Du siehst schon, dass ich kein Mädchen bin?“ „Genauso wenig wie du damals eins warst. Und genauso wenig stört mich das auch jetzt … Hachiko.“ Wie bitte?! Gackt hatte es gewusst? Die ganze Zeit schon? Und trotzdem hatte er nichts gesagt oder getan? Was zur Hölle?! Während mir diese Gedanken durch den Kopf rasten und ich mich erst einmal langsam auf die Problembewältigung einstellen musste, starrte ich Gackt die ganze Zeit mit offenem Mund an. Er hingegen schien wesentlich fitter zu sein. Er lachte sogar. „Warum so sprachlos, Hachiko?“, neckte er mich mit einem breiten und fast schon bösartigen Grinsen auf den Lippen, „ist es dir etwa so peinlich? Oder bricht für dich grade eine Welt zusammen? Aww~ das wäre ja richtig süß. Armes, kleines Häschen.“ Daraufhin starrte ich ihn nur noch fassungsloser an. Der Kerl war ein ausgewachsenes Arschloch! Und augenblicklich schämte ich mich noch mehr als ohnehin schon, dass ich mich damals von ihm hatte einwickeln lassen. In den vergangenen anderthalb Jahren hatte ich das Intermezzo mit Gackt erfolgreich verdrängt. Natürlich hatte Tetsu mich damit anfangs noch etwas aufgezogen, allerdings nicht sonderlich lange, sodass ich es schon fast wieder vergessen hatte. Aber nun kam alles mit einem Schlag zurück: Wie er mich angemacht, genervt, mir einen Drink spendiert und mit mir getanzt hatte. Und wie wir dann … ich konnte beinahe schon seine Hände und seine Lippen auf mir spüren. Und noch etwas spürte ich: Wie mir die Hitze ins Gesicht kroch, die garantiert als verräterische Röte zu sehen sein würde. Aber ich hatte wenigstens einmal Glück, denn meine Bestellung, die ich über das Aufeinandertreffen mit Gackt schon fast wieder vergessen hatte, war endlich fertig. „Macht dann elf“, riss mich der Barkeeper aus dem Vakuum meiner (zugegebenermaßen ziemlich einseitigen) Konversation mit Gackt und stellte eine Cola und einen Cocktail vor mir auf den Tresen. „Was?“, fragte ich trotzdem recht irritiert und blickte ihn etwas ratlos an. „Elfhundert Yen. Tausend einhundert für die Getränke.“ „Oh … klar …“, murmelte ich, zählte den richtigen Betrag in Münzen aus meinem Geldbeutel ab und legte den Haufen auf den Tresen. Nachdem ich das Portemonnaie wieder sicher verstaut hatte, griff ich mir die beiden Gläser und wollte mich so schnell wie möglich verziehen, ohne noch ein Wort mit Gackt wechseln zu müssen, aber er war schneller. Und sein Gedächtnis schien ziemlich gut zu sein. „Das gleiche wie damals“, kommentierte er die Getränke in meiner Hand und lehnte sich locker gegen die Theke. „Du willst die kleine Komödie wohl wiederholen, Hachiko. Werden wir denn diesmal auch wieder von deinem Freund gestört oder können wir uns noch ein bisschen länger miteinander amüsieren? … Oh, du wirst ja ganz rot. War wohl ein Volltreffer!“ Shit!, fluchte ich innerlich. Aber so klein wollte ich dann doch nicht beigeben! Ich wollte ihm etwas an den Kopf werfen … irgendwas, das ihm und seinem bescheuerten Ego saumäßig weh tun würde. Nur lief es genau so, wie es immer lief: Wenn man mal eine schlagfertige Antwort brauchte, fiel sie ihm frühestens zehn Minuten nach Ende des Gesprächs erst ein, sodass ich nicht viel mehr zustande brachte als ein: „Amüsier dich doch mit dir selbst!“ Und dann rauschte ich ab, bevor Gackt mir schon wieder die Show würde stehlen können. Ich schlug einen großen Bogen um die herumstehenden Leute, um mich nicht direkt durch die Menge quetschen zu müssen und am Ende noch die Gläser fallen zu lassen. Dabei ward ich auch zwei- oder dreimal einen Blick über die Schulter, ob Gackt mir diesmal folgte. Doch genau wie damals war nirgendwo etwas von ihm zu sehen. Und wo es mich seinerzeit noch etwas gestört hatte, war ich diesmal mehr als nur froh darüber. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich schon damals, als mein Kopf endlich wieder klar geworden war, ganz gut damit hatte leben können, dass er uns doch nicht verfolgt hatte. Keine zwei Minuten später konnte ich dann endlich die Getränke auf unseren Tisch stellen, ließ mich gleichzeitig auf meinen Stuhl fallen und griff mir mein Glas Bier, welches ich in einem Zug halb leerte. Das brachte mir natürlich die verwunderten Blicke meiner Freunde ein – bis auf Ken, denn der schlug mir erst einmal anerkennend auf die Schulter und gratulierte mir zu dem großartigen Zug. Als er dann meinen miesepetrigen Blick sah, runzelte auch er die Stirn. Die entscheidende Frage stellte allerdings Tetsu: „Was ist denn plötzlich mit dir los?“ Und dann wandte er sich an Ken. „Hast du irgendwas mit ihm angestellt, als ihr an der Bar wart?“ „Iiich?“, entgegnete Ken daraufhin pikiert, „warum sollte ich? Er war noch ganz normal, als ich mit dem Bier weg bin. Es muss danach passiert sein.“ „In fünf Minuten?“ „Ja“, sagte ich dann auf einmal, noch bevor Ken zu irgendwelchen weiteren Rechtfertigungsversuchen ansetzen konnte, „ich hab jemanden getroffen …“ „Und?“, hakten meine beiden Freunde unisono nach, als ich nicht gleich weiterredete, sondern ein paar Sekunden lang schwieg, um meine Gedanken ein bisschen zu ordnen. „Ich hab Gackt wiedergesehen. Er hat sich mit dem Barkeeper gestritten, weil er anscheinend für Alkohol noch nicht alt genug ist-“ „Na, das ist doch mal was Neues“, warf Ken ein, allerdings ließ ich mich von seinem Kommentar nicht ablenken. „Ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn sie nicht so laut diskutiert hätten. Aber dann hat er mich auch bemerkt und mich erkannt“, schloss ich und machte wieder eine kleine Pause, die Tetsu für sich nutzte, um einen wesentlich konstruktiveren Einwurf zu machen. „Trotz, dass du damals ein Kostüm an hattest?“ „Tja“, seufzte ich, „so wie es aussieht, hat er die ganze Zeit gewusst, dass ich kein Mädchen bin. Und trotzdem hat's ihn nicht gestört. Er hat eben sogar noch gefragt, ob wir das Ganze noch mal wiederholen wollen.“ „Was ist denn das für einer?“, kam es daraufhin wieder von Ken – diesmal auch schon sehr viel verständnisvoller als eben noch. „Keine Ahnung … ein Arsch, würde ich sagen. Auf alle Fälle war es echt peinlich. Ich hatte es schon fast vergessen und er erinnert mich wieder dran. Mann, was bin ich nur für ein Pechvogel?“, seufzte ich erneut, stützte mich mit dem rechten Arm auf dem Tisch ab und bedeckte meine Augen mit der Hand. Danach sagte erst einmal niemand mehr etwas. Vermutlich blickten sie sich alle gegenseitig komisch an und wussten nicht, was sie jetzt mit mir anstellen sollten. Ich hatte keine Ahnung, ich sah es ja nicht. Dafür konnte ich mir das Elend umso bunter vorstellen, denn sie alle kannten die Geschichte und mussten sich schon denken können, dass der Abend für mich jetzt so gut wie gelaufen war. Allerdings irrte ich mich in einem Punkt: Sie wussten nicht alle Bescheid. „Was ist denn damals passiert?“, klinkte sich auch Ayana in das Gespräch ein, die bisher nur zugehört und ab und an an ihrem Cocktail genippt hatte. Auf ihre Frage hin sagte ich trotzdem erst einmal nichts, sondern spreizte nur die Finger meiner rechten Hand etwas, um durch sie durch die entstandene Lücke hindurch ansehen zu können. Und ich murrte etwas, denn ich hatte so gar keine Lust, den ganzen Mist noch einmal aufzuwärmen. Es hinterher Tetsu und dann noch einmal für Ken und Yuki erzählen zu müssen, hatte gereicht. Zweimal berichten war zweimal zu viel und ein drittes Mal … meh. Aber klar, sie und Tetsu waren damals noch nicht zusammen gewesen … sie hatten sich noch nicht einmal gekannt, also war es ganz natürlich, dass sie es nicht wusste. Ich war dann aber ganz froh, dass Tetsu mir die Arbeit abnahm, sodass ich ausnahmsweise selbst einmal nur Zuhörer war und ihn lediglich an ein oder zwei Stellen der Geschichte korrigieren musste. „Oh“, war Ayanas erste Reaktion, als Tetsu endlich bei unserem Heimweg angekommen war, „ich wusste ja gar nicht, dass …“ „Ist er auch nicht“, stellte Tetsu direkt klar, noch bevor ich eingreifen musste, „war einfach ein schräger Abend damals. Wir beide haben es mit den Kostümen wohl etwas übertrieben.“ „Und was willst du jetzt machen, Hyde?“, richtete Ayana ihre Fragen dann direkt an mich, „du musst dich doch ziemlich unwohl fühlen, wenn er auch gerade hier ist?“ „Das kannst du aber laut sagen“, meinte ich darauf und vernuschelte dabei die Hälfte, weil ich mittlerweile die Arme auf dem Tisch verschränkt und den Kopf darauf gebettet hatte. Tetsu hatte bestimmt eine viertel Stunde gebraucht, um die Halloweenparty damals zu rekonstruieren, und da war meine vorherige Sitzhaltung etwas unbequem geworden. Meine jetzige passte aber auch wesentlich besser zu meinem derzeitigen Gemütszustand, könnte man sagen. Weil man mich so allerdings nicht sonderlich gut verstand, rutschte ich mit dem Kinn etwas weiter vor, ehe ich weitersprach: „Ich werd noch ein bisschen hier sitzen bleiben, mein Bier austrinken … und dann werd ich nach Hause gehen. Und in der Zeit wird Gackt hoffentlich nicht auf die Idee kommen, nach mir zu suchen.“ „Mach dir da mal keine Sorgen, Doiha“, setzte Tetsu in einer beruhigenden Tonlage an, „wir bleiben hier sitzen und wenn der Kerl sich blicken lassen sollte, wird er es sich nicht wagen, irgendwas zu versuchen. Drei Bodyguards, die ihm den Arsch aufreißen können, sollten ja wohl reichen.“ „Und Yuki kommt später auch noch“, fügte Ken hinzu, ehe er sein Bier leerte, das Glas kurz zurück auf den Tisch stellte, es dann aber doch wieder in die Hand nahm. Warum er das machte, sollten wir auch direkt darauf sehen, denn er stand auf, hob sein leeres Glas an und blickte mich fragend an: „Willst du auch noch eins?“ „Weiß nicht“, meinte ich und zuckte mit den Schultern. „Dann bring ich dir einfach eins mit. Wird sich schon jemand finden, wenn du es nicht willst.“ „Danke.“ „Bis gleich, Leute.“ Und damit zog er ab, kämpfte sich durch die Menge, die in der Zeit, seitdem ich an der Bar gewesen war, noch einmal stark zugenommen hatte. Anscheinend war das Bedürfnis, die Berge an Arbeit zu Hause zu vergessen, bei meinen Mitstudenten ziemlich groß. Oder das Bedürfnis, seinen zwanzigsten Geburtstag deftig zu begießen, wenn es sich um Gackt handelte. Dann hatte er also morgen, am vierten Juli, Geburtstag. Na, schön, dass ich das jetzt wusste … ach, was dachte ich jetzt schon wieder an ihn?! Wenn ich besonders viel Glück hatte, würde ich es jetzt gar nicht mehr schaffen, ihn wieder zu vergessen – nachdem er mir ins Gesicht gesagt hatte, dass er mich nie für ein Mädchen gehalten und daher alles mit voller Absicht gemacht hatte, und ich mehr über ihn wusste, als ich eigentlich wollte. So ein Scheiß! „Geht's dir auch wirklich gut, Hyde?“, riss Ayana mich schließlich wieder aus meinen Gedanken und holte mich in das Hier und Jetzt zurück, „du siehst nicht gut aus.“ „Hab nur über was nachgedacht.“ „Doch nicht etwa darüber, dass du damals mit einem Kind so heftig rumgeknutscht hast?“, warf Tetsu ein, jaulte aber direkt danach wie ein getretener Hund auf und zuckte zusammen, „auuuuu! Ayana!“ „Das war nicht sehr hilfreich!“, keifte seine Freundin in daraufhin an, „es macht ihm doch schon genug zu schaffen!“ Anscheinend hatte sie ihn tatsächlich unter dem Tisch getreten. „Sorry, es ist mir nur grade eingefallen, weil Doiha gesagt hat, dass er vorhin …“, versuchte unser momentane Spezialist für Fettnäpfchen herauszureden, sah allerdings selbst ein, dass es ihm nicht viel bringen würde, und verstummte von selbst. Es konnte aber auch an Ayanas strengem Blick liegen, mit dem sie ihn im Augenblick bedachte – und mich damit auch vor unangebrachten Kommentaren beschützte. Und das zauberte mir dann doch noch ein Lächeln auf die Lippen. Ich konnte für Tetsu nur hoffen, dass er sie ganz doll festhielt und sie nie wieder gehen ließ. Etwas Besseres konnte ihm eigentlich gar nicht mehr passieren, denn Ayana stand nicht nur an seiner Seite, sondern auch an der seiner Freunde. Da war sie sich auch nicht zu schade, uns einmal zurechtzuweisen, wenn wir Mist bauten. Und wie man sah, machte sie dabei noch nicht einmal vor ihrem eigenen Freund Halt. Vielleicht konnte das hier doch noch ein ganz unterhaltsamer Abend werden … So schlimm wurde er im Endeffekt auch gar nicht – in jeglicher Hinsicht. Gut eine viertel Stunde später kehrte Ken mit den zwei Gläsern Bier zu uns zurück und nur kurz darauf kämpfte sich auch Yuki durch die Masse an Menschen zu unserem Tisch durch. Er erklärte uns dann erst einmal etwas gerädert, warum er erst so spät kam: Wasserohrbruch, weil der Vermieter der Wohnung seiner Eltern sich nun schon mehrere Wochen geweigert hatte, endlich einmal die Leitungen zu überprüfen, obwohl sie bereits seltsame Geräusche von sich gegeben hatten. „Jetzt hat er den Salat und darf noch mehr für die Instandhaltung bezahlen. Mein Pa hat wie immer einen auf ruhig gemacht, aber meine Ma hat ihn dermaßen angeschrien, dass er am Ende so klein mit Hut war“, endete er leicht grinsend und zeigte uns mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine Größe von nur etwa zwei Zentimetern. Im Gegenzug wurde ihm dann auch von meinem Vorfall berichtet und seine Reaktion fiel nicht sonderlich anders aus als die der anderen: Ich solle mir keine Sorgen machen, er wäre natürlich für mich da. Zumal der Kerl – also Gackt – es sowieso nicht wert wäre, wenn er sich anderen gegenüber so benahm. Ja, so war Yuki, immer ruhig, konstruktiv und sehr erwachsen. Er schlug eben eher nach seinem Vater als seiner Mutter und hieß es auch eher selten gut, wenn sie wieder einmal ihre aufbrausende Ader zum Vorschein brachte. Diesmal entschloss er sich allerdings dazu, uns noch etwas detaillierter von dem Vorfall mit dem Vermieter zu berichten und griff bei der Gelegenheit gleich auch besonders tief in die Mottenkiste mit Storys von seiner Mutter. Ich vermutete, dass er das zur allgemeinen Unterhaltung tat und mich damit ein bisschen von meinem Elend ablenken wollte. Und ich war ihm dankbar dafür, denn wenn ein Sprichwort stimmte, dann dieses: Lachen war die beste Medizin. Wir lachten an diesem Abend viel und unterhielten uns über alles mögliche, solange es nicht mit Uni, Arbeit oder gewissen Personen zu tun hatte. So vergingen die Stunden, die leeren Gläser auf unserem Tisch häuften sich und als ich um kurz vor Mitternacht nach draußen ging, um eine zu rauchen, brauchte ich noch nicht einmal mehr jemanden als Bodyguard. Es hätte ohnehin niemand mitkommen können, denn Ken war auf dem Klo, Yuki besorgte noch weitere Getränke und Tetsu wollte Ayana auch nicht allein am Tisch zurücklassen. Und sie mitzunehmen war auch keine gute Idee, denn dann wäre der Tisch ganz sicher weg. Zwar bat er mich, auf einen der anderen beiden zu warten, um nicht allein gehen zu müssen – zumal die auch Raucher waren und die kleine Pause an der frischen Luft sicherlich ebenfalls für sich zu nutzen wissen würden –, aber ich fühlte mich gut genug, um allein gehen zu können. Ob diese Entscheidung zu meinen besten gehörte oder nicht, hätte ich selbst hinterher nicht genau sagen können. Aber im ersten Moment bereute ich sie schon ein bisschen, denn kaum hatte ich mir draußen meine Zigarette angezündet, kam ein gewisser Jemand, ebenfalls mit einer Kippe im Mund, nach draußen und blieb nur ein paar Meter neben mir stehen, um sich mit dem Feuerzeug herumzuplagen. Es wollte wohl nicht gleich zünden. Und ich schaute auf meine eigene Zigarette und überlegte, ob ich sie nicht schon nach zwei Zügen wegwerfen und wieder reingehen sollte. Doch auf der anderen Seite waren sie dazu viel zu teuer und wer hatte eigentlich gesagt, dass ich immer die Flucht ergreifen musste, wenn ich Gackt irgendwo sah?! Ich würde doch wohl noch in Ruhe aufrauchen dürfen, ehe ich wieder verschwand. Vielleicht sah er mich im Dunkeln auch gar nicht und- „Sorry, hast du mal Feuer? Meins geht nicht.“ Oh, komm schon! Natürlich war er es, der mich das fragen musste! Und ihm schien auch jetzt erst aufzufallen, wen er da anleierte. „Oh, Hachiko … du bist das.“ „Hrm“, machte ich und schielte ihn aus den Augenwinkeln an, entschied mich dann aber dafür, kein Drama daraus zu machen und ihm Feuer zu geben. Vielleicht verzog er sich ja dann auch gleich wieder. Ich schob also die linke Hand in meine Hosentasche, holte mein kleines, blaues Billigfeuerzeug heraus und hielt es Gackt entgegen. Darauf bedankte er sich artig, zündete sich seine Zigarette an und reichte es mir dann zurück, damit ich es wieder einstecken konnte. Allerdings ging er nicht gleich wieder. Stattdessen standen wir nebeneinander, schwiegen und rauchten nur … für etwa zwei Minuten, als Gackt den Mund wieder aufmachte: „Hör mal, Hachiko … ich hab's nicht so gemeint. Wenn ich geahnt hätte, dass du deswegen so schlecht drauf bist, hätte ich meine vorlaute Klappe gehalten. Wollen wir nicht Frieden schließen?“ Ich schielte ihn wieder kurz an, sah dann aber direkt wieder weg und sagte kein Wort. Glaubte er wirklich, dass er so leicht damit davonkam? Mal ganz davon abgesehen … was interessierte es ihn überhaupt, was ich von ihm dachte? Was hatte er davon, wenn wir Frieden schlossen? Wir würden uns höchstwahrscheinlich sowieso nie wiedersehen. Meinte ich zumindest … aber ich hatte ja auch das letzte Mal schon gedacht, dass das ein einmaliges Treffen sein würde. „Hachi-“, setzte Gackt wieder an, allerdings fuhr ich ihm über den Mund. „Hör endlich auf, mich so zu nennen!“, ranzte ich ihn an und schlug ihm dabei gegen den Oberarm, erwischte ihn allerdings nicht richtig, weil er rechtzeitig einen kleinen Schritt zurücktrat. „Du hast mir ja nicht gesagt, wie du wirklich heißt“, gab Gackt sich dann ganz unschuldig, worauf ich schnaubte. „Hey, komm schon, wenigstens das könntest du mir zugestehen. Das wäre nur anständig.“ „Anständiger als du, was? Mit welchem Recht?“ „Na ja, immerhin hast du mich zuerst verarscht. Oder du hast zumindest gedacht, dass du es tun würdest. Ich dagegen war ganz ehrlich zu dir.“ Shit! Er hatte recht. Ich hatte ihm tatsächlich bewusst nicht gesagt, wer ich war. Zwar hatte er es von selbst herausgefunden, aber ich war davon ausgegangen, dass er weiterhin meiner Lüge erlegen war und mich für ein Mädchen hielt. Ich war also nicht unbedingt besser als er und … „Hyde.“ „Wie bitte?“ „Normalerweise nennen mich alle Hyde.“ „Freut mich … Hyde“, sagte Gackt und bot mir mit einem Lächeln seine rechte Hand an. Anscheinend wartete er darauf, dass ich sie ergriff und … keine Ahnung, vielleicht eine Art Neuanfang besiegelte. Ach, was soll's?, dachte ich dazu nur und ließ meine Zigarette von der rechten Hand in die linke wandern, so wie bei Gackt, um seine Hand schütteln zu können. „Freut mich auch“, murmelte ich dabei wie es so üblich war, ließ ihn kurz danach auch schon wieder los und wir verfielen ins Schweigen zurück. So, gut, alles erledigt. Jetzt hatten wir uns vertragen und gingen uns nun nichts mehr an. Ich würde noch aufrauchen, wieder nach drinnen gehen und dann- „Erzähl mal was, Hyde. Was machst du so den lieben, langen Tag, wenn du dich nicht gerade als Mädchen verkleidet auf Halloweenpartys rumtreibst?“ „Wieso willst du das wissen?“, gab ich mich ganz überrascht … und war es auch. Wieso fing er jetzt mit Konversation an? „Weil es mich interessiert. Immerhin hat nicht viel gefehlt und ich hätte dich flachgelegt.“ „Du solltest es nicht zu weit treiben!“, erinnerte ich ihn und zog erst einmal an meiner Zigarette, bevor ich weitersprach, „und red nicht so ein Blech! Du hättest doch nicht wirklich …“ „Was hätte ich nicht wirklich?“, hakte Gackt nach, als ich meinen Satz nicht zu Ende führte. „Du wärst doch nicht wirklich so weit gegangen“, erklärte ich und merkte schon wieder, wie mir etwas warm und ich immer leiser wurde. „Ich meine … die Knutscherei ist ja das eine und da hab ich auch kein großes Problem mit. Besonders, wenn ich was getrunken hab. Aber du müsstest schon schwul sein, um da noch … einen draufzusetzen.“ „Aha. Und wer sagt dir, dass ich dazu nicht in der Lage wäre?“ „Bist du etwa schwul?“, platzte es mir prompt heraus und ich starrte Gackt aus großen Augen an. „Jup“, bestätigte er mir locker und mit einem Schulterzucken, als wäre das alles gar nichts. Allerdings korrigierte er sich noch einmal: „Moment … direkt schwul bin ich nicht. Mir ist herzlich egal, ob ich einen Mann oder eine Frau vor mir habe, solange die Chemie stimmt. Bisexuell nennt sich das.“ „Ich weiß, wie man das nennt!“ Wollte er mich für dumm verkaufen? „Na, dann ist es doch wunderbar. Und wie sieht es mit dir aus? Im Gegensatz zu mir konntest du dir damals schließlich sicher sein, was du vor dir hast. Irgendwelche einschlägigen Tendenzen?“ „Eigentlich nicht“, antwortete ich direkt … denn ganz so sicher war ich mir dann doch nicht. Ich wusste mit Sicherheit, dass ich Frauen mochte. Aber wie ich Gackt gegenüber gerade zugegeben hatte – und wie er es auch schon am eigenen Leib erfahren hatte – war ich durchaus dazu fähig, mich bis zu einem gewissen Grad auch Männern zuzuwenden. Aber wie weit das genau ging, hatte ich mich noch nie gefragt. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich auch nicht hier bei Gackt damit anfangen. Schon wieder, wie mir gerade einfiel. „Und wie sieht's un-eigentlich aus?“, hakte besagter dann auch rotzfrech nach. „Äh …“ Ich blinzelte ihn an. Da hatte er mich anscheinend erwischt … na ja, so schwer war es auch nicht gewesen. Trotzdem wich ich aus: „Also, ich hätte es ganz sicher nicht so weit kommen lassen. Ich lass mich doch nicht von einem Kind … na ja … wie alt warst du damals eigentlich?“ „Uhm … achtzehn“, antwortete Gackt brav, nachdem er wohl selbst kurz hatte nachrechnen müssen, „aber du lenkst vom Thema ab.“ Ertappt. Sollte ich es dann vielleicht einfach zugeben? Aber dann war da auch wieder die Frage, was es ihn denn anging? Schön, er hatte mir freimütig von sich erzählt, aber das musste doch noch lange nicht heißen, dass ich das auch tun musste, richtig? „Hm … ich weiß nicht …“, erwiderte ich schließlich. „Oh, ich würde schon sagen, dass du ganz klar ablenkst.“ „Nein, das mein ich nicht.“ „Ach sooo …“, machte Gackt verstehend und zeigte dann sogar noch ein wenig mehr Verständnis, „dann solltest du dir vielleicht irgendwann mal ein paar Gedanken drüber machen. Nicht, dass du noch ein paar anderen Jungs Hoffnungen machst, die es allerdings nicht so gut vertragen, hinterher einfach stehengelassen zu werden.“ Nachdem er mir diesen Rat erteilt hatte, nahm er einen letzten Zug von seiner Zigarette, die er darauf zu Boden warf und mit dem Fuß austrat. „Darüber hab ich auch noch gar nicht nachgedacht“, gab ich zu und blickte ihn erschrocken an. Ich hatte damals einfach mein Spielchen mit Gackt spielen wollen, um mich nicht mehr so zu langweilen, ohne darüber nachzudenken, dass ich ihn damit genauso gut hätte vor den Kopf stoßen können. Ich hatte es nur als Spaß angesehen und war davon ausgegangen, dass es andersherum genauso war. Und ich kam mir auf einmal selbst grausam vor, wie ich ihn getäuscht hatte. Wie von selbst murmelte ich daher: „Tut mir leid.“ „Was denn?“, fragte Besagter daraufhin und schob die Hände tief in seine Hosentaschen. „Dass ich dich damals verarscht hab.“ „Ach, das ist doch nicht so wild“, winkte er ab, „es war witzig, wir hatten anscheinend beide eine gute Zeit und damit fertig. Ich kann so was verkraften. Allerdings hätte ich immer noch ganz gerne deine Telefonnummer. Wie sieht's denn heute aus? Gibst du sie mir?“ „Wozu brauchst du die denn?“ „Wozu wohl? Um dich anrufen zu können!“, lachte Gackt und grinste mich an, „mit dir scheint man sich ganz gut unterhalten zu können, wenn du nicht grade mies drauf bist. Und ich weiß immer noch nicht, was du so machst.“ „Hm …“ Meine Telefonnummer wollte ich ihm nicht unbedingt geben, aber ich glaubte so langsam, dass es nicht allzu sehr schaden konnte, ihm seine Frage zu beantworten: „Ich studiere Kunst.“ „Ah~ …dann musst du sicher gut zeichnen können. Macht's denn Spaß?“ „Das Zeichnen ist nicht ganz so wichtig, wie du vielleicht denkst – eher die Kreativität an sich und die Umsetzungen. Einen Picasso würden sich aufgrund seiner Zeichenkünste auch nicht alle an die Wand hängen. Aber ja, ich mag es … sonst wäre ich nicht viereinhalb Jahre lang dabeigeblieben.“ „So lange schon?“ „Ja, ich bin im vorletzten Semester. Im Winter schreibe ich nur noch meine Abschlussarbeit und dann bin ich fertig.“ „Und was macht man hinterher mit einem Kunst-Studium?“, stellte Gackt genau die Frage, die ich, fast alle meine Kommilitonen und sicherlich auch Großteil der anderen Geisteswissenschaftler so dermaßen hassten, weil es darauf keine Pauschalantwort gab. „Meh!“, machte ich deshalb nur und streckte die Zunge heraus, um ihm zu zeigen, dass ich mich dazu nicht unbedingt äußern wollte. Und erst recht nicht mitten in der Nacht. „Okay, okay“, beschwichtigte Gackt mich deshalb, „dann eine andere Frage: Wie sieht es denn nun mit deiner Telefonnummer aus?“ „Du lässt dir das nicht aus dem Kopf schlagen, oder?“ „Und du scheinst sie mir aus irgendeinem Grund nicht geben zu wollen. Nur aus welchem, ist mir nicht ganz klar. Ich hab doch wohl bewiesen, dass ich auch ganz lieb sein kann. Wieso schenkst du sie mir nicht?“ „Warum sollte ich sie dir schenken?“ „Weil ich in einer Minute Geburtstag habe und du garantiert sonst nichts für mich hast“, sagte Gackt schmunzelnd und zwinkerte mir zu. „Und wenn mich das nicht stört?“, entgegnete ich herausfordernd und warf nun ebenfalls meine Zigarette weg. Allerdings kam ich nicht mehr dazu, sie auszutreten, denn Gackt kam mir zuvor. Er machte einen Schritt auf mich zu, begrub die noch glimmende Kippe dabei unter seinem Schuh, und griff dann nach meinem rechten Handgelenk, um mich an sich zu ziehen. „Dann suche ich mir ein anderes Geschenk aus“, murmelte er in einem süffisanten Tonfall, schob mich gegen die Mauer, in deren Nähe wir gestanden hatten, und hinein in die Schatten. Wir starrten uns einige Sekunden lang an, in denen die Atmosphäre um uns herum so dicht war, dass wir sie hätten greifen können, und dann küsste Gackt mich. Ich zögerte noch sage und schreibe einen Moment länger, bevor ich die Augen schloss und in Erinnerungen an unser letztes Treffen versank. Denn er küsste noch haargenau so wie damals, so forsch und fordernd, so einnehmend. Auch seine Hände fanden wieder ihren Weg direkt zu meiner Hüfte, doch ließ er sie diesmal ganz brav über meiner Jeans liegen und machte auch sonst keine Anstalten, mir an die Wäsche zu wollen. Er verhinderte nur, dass ich mich von ihm löste, ehe er es für angemessen hielt. Das mochte jetzt auch wieder ziemlich arschig klingen und vielleicht war es das sogar, aber genau wie damals … wusste ich nicht genau, wie ich anders hätte reagieren sollen … können … wollen … Und noch etwas war wie beim letzten Mal: Zwar war es keine Maske, aber seine verdammte Brille störte mich beim Küssen! Doch bevor ich noch etwas weiterdenken konnte, war es auch schon wieder vorbei. Verwirrt öffnete ich die Augen wieder und sah gerade noch, wie Gackt sich über die Lippen leckte. Dann grinste er mich wieder an und flüsterte: „Alles Gute zum Nicht-Geburtstag.“ „Woher willst du das denn wissen?“, entgegnete ich und reckte den Hals etwas, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob ich ihn wirklich noch einmal küssen wollte … sollte … durfte … „War nur geraten. Hast du denn?“ „Nein, ich hab im Januar. Am Neunundzwanzigsten.“ „Ich werd's mir merken.“ „Alles Gutes zum Geburtstag.“ „Danke“, sagte er und drückte seine Lippen dann noch einmal kurz auf meine. „Und deine Telefonnummer?“ Ich seufzte und löste mich aus der halben Umarmung, in der Gackt mich hielt, rutschte ein Stück zur Seite und lehnte mich gegen die Mauer in meinem Rücken. „Dann gib mal dein Handy her“, forderte ich und hielt ihm meine rechte Hand, mit der offenen Handfläche nach oben, hin. Er grinste noch etwas breiter als vorher schon, während er sein Telefon aus der Hosentasche fischte und es mir gab. Ich tippte daraufhin meine Nummer aus dem Gedächtnis ein, fügte auch meinen Namen hinzu und drückte dann auf den Button, auf dem Speichern stand. Dann gab ich Gackt das Gerät wieder zurück, der es mit einem diebischen Ausdruck auf den Lippen in seine Tasche gleiten ließ. „Aber nicht, dass du mich jetzt ständig nervst“, ermahnte ich ihn noch. „Keine Angst“, beruhigte er mich direkt, „nur ab und zu, wenn ich ein bisschen Zeit übrig hab.“ „Hast du so viel zu tun?“, hakte ich daraufhin nach und zog gleichzeitig eine Augenbraue nach oben, als mir auffiel, dass ich noch gar nicht wusste, was er tat. „Ich hab drei Jobs – je einen für vormittags, nachmittags und nachts“, erklärte er mir gerade heraus. „Die machst du aber nicht alle jeden Tag, oder doch?“ „Um Himmels Willen, nein! Das würde ich nicht überleben. Das sind alles Teilzeitsjobs mit ein paar Stunden die Woche. Ich kann also mal ausschlafen und habe mal den Abend für mich. Und gelegentlich kriege ich es sogar hin, mir den ganzen Tag freizunehmen. Ich kann dir Bescheid sagen, wenn es mal wieder so weit ist, und wir gehen zusammen Kaffee trinken. Wie klingt das für dich?“ „Hm … ganz nett.“ „Nett?“ „Ja.“ Es war gelogen. Ein bisschen zumindest, denn ich freute mich sogar schon irgendwie darauf. tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)