Lost in Time von Shelling__Ford (ShinichixRan) ================================================================================ Kapitel 1: Professor William Bell --------------------------------- Hallo liebe Leserinnen und Leser, erst einmal vielen Dank für die Kommentare! Ich freue mich wirklich über jedes Einzelne (Klischee ich weiß ^//^ und dennoch wahr]. Ich freu mich das sowohl meine alten Leser *heftigzuwink* als auch ein paar neue *BegrüßunsgGummibärendalass* zu dieser FF gefunden haben. Lange Rede kurzer Sinn, ich hoffe mit diesem Kapitel ein paar Fragen beantworten zu können. Es klingt vielleicht erst mal alles ein wenig abseits von Conan, aber das bleibt nicht so, keine Sorge ;D Viel Spaß beim Lesen, Liebe Grüße eure Shelling__Ford Professor William Bell Der große Hörsaal roch nach muffigem, altem Holz. Die Tische und Stühle waren in einem Halbkreis angeordnet und führten zu einer eingelassenen Tribüne herab, auf der das schlichte Holzpult stand. Nur die ersten beiden Reihen zu waren besetzt. Viele Studenten waren nicht mehr übrig geblieben … die meisten hatten schnell gemerkt, dass die Realität ziemlich wenig mit den spektakulären Kriminalfällen im Fernsehen zu tun hatte und hatten beschlossen, Blut, Mord und Tod doch eher aus dem Weg zu gehen. Die Vorlesung neigte sich dem Ende zu. Ruhig stand er hinter dem kleinen Pult, lauschte dem leisen Kratzen der Kugelschreiber, gewährte den Stundeten ein paar Minuten, um ihre Mitschriften zu vollenden und sah in die Runde. Die Angst, dass sie sein Geheimnis herausfinden könnten, war mit der Zeit verflogen, sein Unwohlsein jedoch - war geblieben. Shinichi unterdrückte ein geräuschvolles Ausatmen; der Gedanke daran, was passieren würde, wenn sie wüssten, dass ihr Professor körperlich um einiges jünger war als sie selbst, bereitete ihm immer wieder Übelkeit. Sie würden bestimmt nicht schlecht staunen. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Züge. Ein falsches Lächeln, auf einem falschen Gesicht einer von ihm kreierten Person. Professor William Bell. Er schluckte; nichts… absolut gar nichts war mehr echt. Noch immer war er um zehn Jahre zurückgeworfen in der Zeit. Nie hatte Conan ihn los gelassen… er hatte sich unter einem Haufen Schminke versteckt und lediglich in eine andere Gestalt verwandelt, deren Auftritt er nun von Tag zu Tag vollzog. Er war nach Amerika gegangen, lehrte nunmehr seit anderthalb Jahren, doch unter einer Schicht von Silikon, einer Perücke und Make-up lauerte noch immer das Gesicht eines 17 Jahre alten Oberschülers. Das Gesicht von Shinichi Kudo. Sich in der Öffentlichkeit so zu zeigen wäre unmöglich gewesen. Natürlich hätte er sich mit ein paar kleinen Veränderungen ebenso gut in eine neue Schule integrieren können… Er hätte es so vielleicht leichter haben können. Genervt schluckte er, der plötzliche Geschmack von Blut machte ihm erst jetzt bewusst, dass er sich auf die Lippe biss. Shinichi minderte den Druck seiner Zähne, nahm die schmale Brille von der Nase und polierte nachdenklich die Gläser. Er hatte sich dagegen entschieden, nahm die Unannehmlichkeiten in Kauf, die ihn diese Scharade kostete. Das Schwitzen unter der Perücke im Sommer, der vorsichtige Umgang mit der Farbe in seinem Gesicht… das alles war besser als diese Geschichte von Neuem beginnen zu lassen. Neue Freunde zu gewinnen … die er belog, hinterging und denen er etwas vorspielte. Nein, diese Geschichte hätte sich nicht wiederholen dürfen. Seufzend setzte er die Brille wieder auf, schaute bedächtig in die Reihen und merkte, dass ihn einige Studenten bereits fragend ansahen oder aber mit einem leichten Grinsen über die aufgestellten Versuche tuschelten. Auch auf seinen Lippen erschien wieder ein Lächeln; seine Studenten waren noch weit davon entfernt heraus zu bekommen, wer sie da wirklich unterrichtete. Er rückte sich die Brille zurecht, ging mit bedächtigen Schritten zu dem kleinen Tisch, den er vor dem Podium hatte aufstellen lassen und betrachtete seine Versuche. Blut. Blut war heute ihr Thema gewesen. Vom biologischen Aufbau, Anämien bis hin zu der kleinen Geschichte der Erkennung von Blut am Tatort. Die dünne Schaumkrone des Kaste-Meyer-Tests hatte sich bereits in Nichts aufgelöst, allein der rostrote Fleck erinnerte noch an seinen Einsatz. Shinichi hatte gleich erkannt, dass die Geschichte der Blutspuren seine Studenten nur mäßig interessierte. Kein Wunder, im Zeitalter moderner Analysemethoden. Traurig schüttelte er den Kopf, konnte das freche Grinsen auf seinen Lippen nicht vermeiden, das unechte Falten um seinen Mund legte; er würde ihnen die nächsten beiden Tests schon schmackhaft machen. Mit einem Schmunzeln schielte der vermeintliche Professor zu dem kleinen Tischchen, auf dem die Historie der chemischen Methoden zum Nachweis von Blutspuren Platz genommen hatte. Er räusperte sich, versicherte sich so der Aufmerksamkeit seiner Studenten und begann zu referieren. „Sie haben nun eines der drei Testverfahren kennen gelernt, die ich Ihnen am Ende dieser Stunde erläutern möchte. Natürlich finden die meisten dieser Nachweisverfahren derzeit keine Anwendung mehr, dennoch sind sie ein wichtiger Schritt zu unseren modernen Analysemethoden.“ Shinichi hatte den Satz noch nicht beendet, als er aus dem Augenwinkel heraus erkennen konnte, wie ein Arm in die Höhe schoss. Mit einem süßlichen Lächeln wandte sich Professor Bell einem seiner Studenten zu. Die Augen des jungen Mannes brannten wie sein feuerrotes Haar und die winzigen Sommersprossen, die sich wie ein dünnes Netz über seine Nase gelegt hatten, verstärkten das freche Glimmen in seinem Blick. „Ja Mr. Simes? Was ist?“ Der Junge schien es nicht für nötig zu halten, die Skepsis aus seiner Stimme zu verbannen - abschätzend wanderte sein Blick von Professor Bell zu dem kleinen Tisch voller Altertümchen, den er missmutig betrachtete. „Ich verstehe ja, dass diese Verfahren Grundlage für die heutigen Arbeitsmethoden in der Kriminalistik sind. Aber mit Verlaub Professor, würde es nicht reichen sie zu erwähnen? Ich denke wir sollten uns eher um die modernen Methoden kümmern … die die wir später auch einmal anwenden müssen.“ Die Blicke der Studenten wanderten von Simes zu Bell und wieder zurück, der etwas vorlaute Ton war längst kein Grund mehr sich zu wundern, das war nun mal Simes… und Mr. Bell hatte seine ganz eigene Art entwickelt, mit seinem Studenten umzugehen. Ohne dass das Lächeln von Shinichis Lippen wich, sprach er weiter, ging ganz ruhig auf die Frage des jungen Mannes ein. „Sie haben ganz Recht Simes, wir verwenden heute ganz andere Methoden um diesen verräterischen Spuren auf die Schliche zu kommen. Das jedoch ist nicht das Problem, die eigentliche Frage ist doch, warum wir nicht auf diese rudimentären Techniken zurückgreifen können?“ Ein leises Gemurmel ging durch den Saal als sich Shinichi zu dem kleinen Tischchen umwandte, dennoch spürte er, dass der skeptische Blick Simes‘ noch immer auf ihm lag. Mit einem wissenden Lächeln hielt Shinichi ein kleines Becherglas in die Höhe, zeigte es so in die Runde. „In diesem Glas befindet sich ein winziger Tropfen Blut in Wasserstoffsuperoxid gelöst. Mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Nun warten sie ab, was passiert, wenn ich das hier hinzu gebe.“ Vorsichtig nahm er ein anders Fläschchen zur Hand, gab ein paar Tropfen in die Lösung und wartete. Schon nach ein paar Sekunden stellte sich der Farbumschlag ein. „Es wird blau!“ „Ach ne…“ Launisch kommentierte Simes die Aussage seiner Kommilitonin, er war eindeutig pikiert darüber, dass sein Professor ihn so offensichtlich ignorierte. Shinichi jedoch nickte dem Mädchen aufmunternd zu. „Ganz richtig. Was Sie hier sehen ist die Guajak-Probe, ein scheinbar sehr deutlicher Nachweis für minimale Spuren von Blut.“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Züge, langsam stellte er das eine Becherglas ab und nahm ein anderes dessen Inhalt immer noch farblos war. Mit unverhohlener Freude wandte er sich nun zu Simes. „Um wieder auf Ihre Frage einzugehen Mr. Simes. Würden sie mir die Ehre erweisen?“ „Was? A-Aber?“ Verwundert schaute der Rotfuchs auf das zweite Becherglas, dass ihm der Professor vor die Nase hielt, der beißende Geruch des farblosen Wasserstoffperoxids brannte in seiner Lunge. „Was soll ich denn tun?“ Shinichi konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, seine Wortwahl war jedoch betont höflich. „Ich bitte Sie darum, dort hinein zu Spucken.“ „BITTE?“ Nicht nur Simes Augen wurden groß, auch die anderen Studenten starrten ihren Professor entgeistert an. „Sie haben schon ganz richtig gehört, Verehrtester.“ „Aber ich… ich kann doch nicht… ich meine-„ Für einen kurzen Moment erfüllte das Lachen Bells den Saal. Leise kichernd schüttelte er den Kopf, ging zurück zum Pult und krönte seine Darbietung indem er in aller Seelenruhe eine Flasche Rotwein hervorzog und mit einem leisen Knall entkorkte. Entgegen der Erwartung vieler seiner Stundeten setzte Shinichi die Flasche nicht an, sondern ließ einen winzigen Tropfen der bordeauxfarbenen Flüssigkeit in die zweite Lösung fallen. Wieder kombinierte er die Mixtur mit dem Guajak-Harz und schuf so innerhalb von wenigen Sekunden ein leuchtendes Blau, das sich kein Stück von dem Reagenz mit dem Blut unterschied. Ein kurzes Murmeln ging über die alten Tische und Bänke des Hörsaals, doch die Augen der Stundeten hafteten an der Probe und ihrem Professor. Mit einem zufriedenen Lächeln stellte Shinichi das Glas neben das andere zurück auf den Tisch. „Wie auch Holmes schon sagte, ist auf die Guajak-Probe, wie man sieht, keinerlei Verlass!“ Ein kurzes Kichern ging durch die Reihen, seinen Spitznamen hatte ihr Professor weg, dennoch lauschten sie weiterhin gespannt seinen Worten. „Der Nachweis von Blut durch das Harz des westindischen Guajak-Baums ist wie man sehen kann, nicht spezifisch. Das Harz reagiert mit Blut und Rotwein genauso wie es bestimmt auch mit dem Speichel von Mr. Simes hier reagiert hätte … die Lösung Färbt sich blau.“ Shinichi wandte sich an den sonst so energischen jungen Mann, dessen Wangen jetzt ein leichtes Rot zierte. „Ich will Ihnen und Ihren Mitstudenten also zeigen, welche Tücken uns auf dem Weg zur modernen Blutanalyse begegnet sind. Manchmal darf man eben nicht einmal seinen eigenen Augen trauen.“ Anerkennend nickte Simes. Während er seinen Professor beobachtete, konnte er jedoch auch das traurige Lächeln erkennen, das sich für wenige Sekunden an den Schluss seines Satzes anreihte, bis es im Nichts der voluminösen Stimme Bells verschwand, der nun zur nächsten Probe überging. Das Uhlenhut-Verfahren bildete den krönenden Abschluss der für die Stundeten fast schon mittelalterlich erscheinenden Nachweisverfahren. Ein Test, der sowohl bei altem als auch frischem Blut funktionierte und nur auf menschliches Hämoglobin reagierte… oder anders gesagt die „Holmes-Probe“. Denn schließlich hatte Sherlock Holmes ein ganz ähnliches Verfahren angewandt, wie Shinichi seinen Zuhörern einmal mehr ans Herz legte. Mit einem Blick auf die Uhr beendete Professor Bell seine Vorlesung und entließ seine Studenten ins Freie. „Wir sehen uns in einer Stunde in der Pathologie, Herrschaften. Ach, und Simes, hier-„ Der Student blickte auf die Rotweinflasche die ihm sein Professor vor die Nase gestellt hatte. „Entsorgen Sie das für mich, ja?“ Der rothaarige starrte ihn fragend an, begriff dann aber schnell, als er das Lächeln auf den Lippen seines Professors sah. „Wollen Sie das nicht selbst machen Professor?“ Shinichi stockte kurz, wich seinem Blick dann mit leicht gedämpfter Stimme aus. „Nein, schon gut Mr. Simes.“ Er ging zum Pult schulterte die seine Aktentasche und versuchte ein unverfängliches Lächeln. „Ich mache mir nicht besonders viel aus Alkohol.“ Die Pathologie gehörte, anders als der alte Hörsaal, zu dem frisch sanierten Teil des Universitätskomplexes, dies jedoch machte sie keineswegs freundlicher. Die Unpersönlichkeit, welche die herrschende Sterilität mit sich brachte, ließ Shinichi jedes Mal aufs Neue einen Schauer über den Rücken laufen, er hatte diese Räume von je her gehasst. Schön und gut, persönliche Gefühle mussten hinter diesen Türen zurück gelassen werden, doch diese Kälte hatten selbst die Toten nicht verdient. Grade einmal rund zehn Studenten pro Vorlesung passten in den grau gekachelten Raum, sodass sich alle noch gut bewegen konnten. Die linke Wand sah aus wie der verchromte Teil eines Bienenstocks, dessen Bewohner die Waben fälschlicherweise rechteckig konstruiert hatten. Dicht an dicht war die Wand mit den stählernen Kühlkammern bepflastert. Auf der gegenüberliegenden Seite hingen allerlei Gerätschaften, die manche Studenten nicht nur von dem Raum selbst fort gehalten hatten. Sägen, Meißel, Geräte zum Spreizen der Rippen, eine Art Heckenschere, Bohrer und etwas das einer Schöpfkelle verdächtig ähnlich sah. Shinichi wandte den Kopf ab, er hatte nicht vor auch nur eines dieser Werkzeuge zu benutzen. Sollten sich die Gerichtsmediziner doch darum schlagen, diese Menschen wie einen Setzkasten auseinanderzunehmen, er würde das ganz sicher nicht tun. Sein Augenmerk lag allein auf dem Erscheinungsbild der Opfer, und um dadurch schon am Tatort selbst eine erste Aussage zu treffen brauchte er keines dieser Fleischermesser. Genervt atmete er aus, versuchte zur alten Objektivität zurückzukehren, auch wenn ihm das nicht allzu leicht fiel, schließlich wusste er ganz genau, dass auch sie höchstwahrscheinlich einer Obduktion unterzogen worden war. Abwehrend schüttelte Shinichi den Kopf, fixierte nun die drei stählernen Tische, die er für die heutige Lehrstunde hatte aufbauen lassen. Durch die sauberen grünen Tücher konnte man die Konturen der Personen noch immer gut erkennen. Die Art und Weise, wie sie zugedeckt waren, erinnerten mehr an eine OP als an eine Leichenbeschau, doch kein Chirurg der Welt hätte diese Patienten wieder ins Leben zurück rufen können. Traurig zog Bell die Stirn kraus, räusperte sich kurz und rief so die quasselnden Studenten wieder zur Ruhe. Die Zeiten, in denen diese noch reihenweise umgefallen oder zur Toilette gerannt waren, wenn sie diesen Raum nur betreten sollten, waren vorbei - längst war der Tod zur Routine geworden, ihrem Job. Eine Medaille, die, wie Shinichi wusste, zwei Seiten hatte. „Ich danke Ihnen allen für Ihr Erscheinen. In dieser Stunde möchte ich mit Ihnen ein wenig an der Praxis feilen. Wie Sie ja alle wissen, ist es Aufgabe der Kriminalistik, den Tatort auf Hinweise zu untersuchen und dazu gehört nun mal auch immer ein Blick auf die Leiche. Sie haben gelernt, anhand der Leichenstarre und den Totenflecken den Todeszeitpunkt zu bestimmen, aber ein Mordopfer besteht nicht nur aus dem Bericht, den der Pathologe für Sie anfertigt. Dinge, die für die weitere Ermittlung wichtig werden können, stehen oft nicht in diesen Schreiben. Unser heutiges Ziel ist es also, ihre Augen für diese kleinen Details zu schärfen. Dafür-“,er wandte sich zu den Tischen um, „Stehen uns nun diese drei Versuchs- … Personen zur Verfügung. Alles ist so gelassen worden, wie man es am Todesort gefunden hat. Ich werde Ihnen nicht sagen, ob es sich in den einzelnen Fällen um Mord handelt oder nicht. Bereit?“ Einige Studenten nickten flüchtig auf Shinichis Frage; der schaute noch einmal kurz in die Runde, ehe er das erste Tuch vorsichtig bis zur Hälfte der Leiche zog und sie so entblößte. Es war eine Frau. Shinichi schluckte, studierte sie zusammen mit den anderen einen Augenblick lang. Auch er hatte die Leichen noch nicht gesehen, sodass auch für ihn die Suche immer wieder von Neuem begann. Nach nur wenigen Minuten verstärkte sich der Schatten zwischen seinen Augenbrauen, ernst schob er sich die Brille auf der Nase zurecht, ließ seinen Blick erneut über die Frau schweifen. Sie war jung - zwanzig, zweiundzwanzig vielleicht - das blonde Haar war strähnig und hatte nichts mehr von dem Glanz, auf den seine Besitzerin zu Lebzeiten wohl Wert gelegt hätte. Mit schnellem Blick durchforstete er die Akte in seiner Hand, im Gegensatz zu den Informationen, die seine Studenten hatten, hatte er einen Namen, und das Alter der Toten auf seinem Blatt stehen… sie war sechzehn. Er schluckte, räusperte sich und wandte sich zu den Studenten um. „Swan, erzählen sie mir etwas über die Leiche.“ Die Angesprochene war bei ihrem Namen zusammengezuckt, schob sich nun nervös die Brille zurecht und begann zerstreut in ihren Unterlagen zu blättern. „Nu- Nun… es handelt sich um eine Frau. Todeszeitpunkt vor ca. 18 Stunden. Sie hat ein großes Hämatom am linken Unterarm, die Todesursache ist allerdings noch unklar.“ Schweigen trat ein. Swan holte Luft, lugte vorsichtig von ihren Unterlagen auf, der Professor aber sah sie nicht an. Von ihr abgewandt stand Bell da und betrachtete die Leiche. „Tut mir leid…“ seine Stimme hatte einen sanften, fast schon traurigen Ton, für einen Moment wusste keiner mit wem Bell nun wirklich sprach. „Ich fürchte, Swan, Sie haben meine Frage missverstanden.“ Er drehte sich um, schaute fragend in die Menge. „Kann einer weiterhelfen?“ Nur vorsichtig ging der Arm eines Mädchens hoch, nervös wickelte sie eine ihrer braunen Locken um den Finger während sie sprach. „Nun… ich denke, Zeit des Auffindens und die Nummer des Totenscheins sind noch zu ergänzen, sie lautet 586-„ „Nein!“ Bells Stimme hallte durch den kleinen Raum, nur mühevoll schaffte es Shinichi sich zu mäßigen, massierte sich müde die Schläfe und drosselte seine Lautstärke. „Nein … so geht das nicht.“ „Ich weiß, Ihnen allen wurde eingebläut, dass Sie Distanz waren sollen, das ist auch keinesfalls verkehrt! Aber wenn sie sich nur auf die Daten, Zahlen und Nummern stützen, die Ihnen vor die Nase gelegt werden, lösen Sie niemals einen Fall. Sie arbeiten hier nicht mit irgendwelchen Objekten, Dingen, oder sonstigen Gegenständen, Sie arbeiten mit Menschen. Auch der Tod erkennt ihnen das nicht ab, also …“ sein Blick glitt über die Brillengläser, „… erzählen Sie mir etwas über diese junge Frau.“ Bell trat einen Schritt zur Seite und gab so den Blick auf die Leiche wieder frei. Er konnte beobachten, wie es in den Köpfen einiger Studenten zu arbeiten begann, andere blätterten weiter hilflos in ihren Unterlagen herum, bis eine kräftige, aber helle Stimme die Stille durchbrach. „Sie war verliebt.“ Eine junge Frau trat einen Schritt aus der Gruppe hervor, ihre grünen Augen fixierten abwechselnd die Leiche und ihren Professor. „Der Fleck an ihrem Hals gehört definitiv nicht zu den Totenmalen. Außerdem…“ Sie lächelte traurig. „… hat sie ein Herz mit zwei Initialen auf ihre Handfläche gezeichnet.“ Der Rest der Gruppe machte einen Schritt auf die Leiche zu um sich die ominöse Zeichnung genauer an zu sehen. Shinichis Augen aber ruhten auf ihr; als sie aufsah, nickte er ihr anerkennend zu. „Sehr gut, Miss Tomsen. Genau das ist es … sie sollen beobachten. Natürlich hilft es nichts, Theorien aufzustellen ohne entsprechende Beweise, aber um Beweise zu finden, muss man gezielt nach ihnen suchen können. Deshalb ist es wichtig, von den leblosen Körpern zurück zum Menschen zu deduzieren. Also weiter… was fällt Ihnen auf?“ „Sie muss geheu- ähm, geweint haben.“ Shinichi hob die Augenbaue. „Wie kommen die darauf, Simes?“ „Nun… in unsere Pathologie werden normalerweise nur Menschen aus dem Umkreis geliefert und ihre Schminke ist verwischt, aber bei uns hat es gestern nicht geregnet. Also entweder hat sie sich, so wie sie ist, unter die Dusche gestellt oder aber… sie hat geweint.“ Die braunen Augen des Rotschopfes wurden ein wenig matt als er seinen Blick erneut über die Leiche streifen ließ, ehe Shinichi ihm langsam zunickte. „Das alles sind Dinge, die Sie in Ihre Ermittlungen mit einbeziehen, die Sie überprüfen und mit denen Sie Arbeiten müssen. Wir sind heute hier, damit Sie den Blick für diese Details lernen und so der Wahrheit auf die Schliche kommen…“ Traurig sah er zu dem jungen Mädchen. „…so ernüchternd sie auch manchmal sein mag.“ Shinichi musste nicht auf den Bericht des Gerichtsmediziners warten. Ihre gelb verfärbten Augäpfel, ihre junge, von Falten durchzogene Haut, die geröteten Nasenflügel und die verräterischen kleinen Blutspuren, die sich durch den grauen Pulli in ihrer Armbeuge gezwängt hatten, sprachen für sich. Prüfend fiel sein Blick auf die Blutanalyse in seinem Skript. Drogen. Professor Bell seufzte kurz, die Studenten um ihn herum waren seinen Augen gefolgt, auch sie waren in der Lage, erste Schlüsse zu ziehen, sodass wohl nicht nur Simes mit der Flasche im Gepäck ein wenig mulmig wurde. Ohne einen Ton über die Gedanken aller zu verlieren deckte Shinichi die Leiche zu und ging zum nächsten Tisch über. Bei dem folgenden Fall war die Frage ob Mord oder nicht wohl gänzlich überflüssig. Das Opfer war männlich, in seinen Dreißigern und offensichtlich um seine Gesundheit oder seine Figur besorgt gewesen. Genützt hatte ihm das wenig. Die Schweißränder unter seinen Armen waren getrocknet, hoben sich auf dem grünen Jogginganzug kaum von den Blutflecken ab, die den Stoff dunkel gefärbt hatten. Seine abgelaufenen Schuhe erzählten davon dass es sich bei ihm keinesfalls um einen reinen Gelegenheitsläufer handelte. Der Bräunungsstreifen an seinem Handgelenk sprach von einer fehlenden Uhr, zusammen mit dem Fundort der Leiche in einem unsicheren Gebiet New Yorks ließ dies mehrere Schlüsse zu - der brutale Schnitt durch die Kehle jedoch nur einen. Die Studenten lernten langsam, das anzuwenden von dem Bell gesprochen hatte, sodass sich Shinichi mit zufriedenem Lächeln der nächsten Leiche zuwenden konnte. Das grüne Tuch zeichnete einen Frauenkörper ab und ließ schon jetzt erahnen dass der Tod auch für sie zu früh gekommen war. Mit einem schnellen Ruck zog er an dem Stoff und legte so die Leiche bis zur Taille frei. Sofort wurde es still im Raum. Die Augen der Studenten wanderten über die junge Frau, von dem blassen Gesicht und den rot geschminkten Lippen bis hin zu dem Loch in Höhe ihres Herzens. Langsam richteten sich die Blicke auf Professor Bell, sie warteten darauf, dass er etwas sagte, doch bei seinem Anblick wurde allen schnell klar, dass er dazu derzeit nicht in der Lage war. Jegliches Blut war aus seinen Lippen gewichen, Bells Augen waren weit aufgerissen und das kühle Blau wirkte starr. Züge solcher Angst und Panik zeigten sich sonst nur in den Gesichtern der Ermordeten, die dem Tod selbst ins Auge geblickt hatten. Shinichi aber spürte die Blicke auf seiner Haut nicht. Panik, Angst und Schmerz töteten jede andere Empfindung in ihm ab. Er wollte wegsehen, von hier verschwinden, doch etwas in ihm ließ das nicht zu. Etwas in ihm zwang ihn, hinzusehen, verbot ihm, wieder wegzulaufen und hatte scheinbar Gefallen an seiner Qual. Er sollte erkennen, was er angerichtet hatte… er sollte leiden. Starr, beinahe tot ruhten seine Augen auf dem Mädchen, immer wieder verschwamm das Bild mit ihrem in seinen Gedanken. Sie sah ihr ähnlich. Ihr Gesicht war makellos, blass und rein, als hätte der Tod selbst es aus Marmor gemeißelt. Der dunkelrote Fleck in ihrem grünen Pullover schuf ein schwarzes Loch in Höhe ihres Herzens. Ihre Lippen waren mit Blut rot geschminkt und das feine Rinnsal an ihrem Mundwinkel sah aus, als wäre sie eben erst mit ihrem Lippenstift abgerutscht. Ihr Haar stand im völligen Kontrast zu ihrer tödlichen Blässe, die rotblonden Strähnen umschmeichelten ihr Gesicht noch im Tod und fielen ihr bis auf die Schultern. Sie war zwanzig … zweiundzwanzig vielleicht, so alt wie sie damals hätte sein müssen. „Nein!“ Das leise Keuchen drang heiser aus seiner Kehle, er spürte, wie sich kalter Schweiß auf seine Stirn schlich und seine Tarnung zu zerstören drohte. Es war ihm egal. Shinichi schaffte es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Ständig flimmerten Bilder und Szenen vor seinen Augen, er konnte nicht entkommen. Zitternd ballte er die Hände zu Fäusten, rang nach Luft und versuchte endlich den Blick von ihr zu wenden, doch es gelang ihm nicht. Fluchend presste er die Augen zu, doch auch jetzt ließen ihn die Bilder nicht los, egal wohin er floh, der schwarze Schatten in seinem Nacken blieb. „Professor? Alles in Ordnung?“ Shinichi schrak auf als er den unsicheren Druck auf seiner Schulter spürte, der Ort an dem er sich befand schlug, ihm mit all seinen Eindrücken in den Magen. Die Kälte, das helle Licht, der Geruch nach Desinfektionsmittel, Blut und Tod trieben die Übelkeit in ihm hoch. „Bitte gehen Sie… die- die Stunde ist beendet.“ Seine Stimme zitterte, hatte nichts mehr von dem, was man von Bell sonst kannte. Unsicher und besorgt sahen sich die Studenten an. „A- Aber Professor?“ „Ich sagte RAUS!“ Wütend drehte er sich nach ihnen um. „RAUS! UND ZWAR ALLE!“ Erschrocken traten die Studenten zurück, Shinichi erkannte die plötzliche Angst in ihren Augen und drehte sich beschämt um, doch sein Körper regierte noch immer die Panik. Zitternd stützte er sich an dem Tisch ab, das kalte Metall fraß sich in seine Handflächen, als er hörte wie sich die Studenten aus dem Raum verzogen, bis die Stille ganz und gar Einzug hielt. Schon lange nicht mehr hatte ihn seine Vergangenheit derart drastisch eingeholt. Das hier durfte nicht passieren… er durfte sich nicht so benehmen. Fluchend kniff er die Augen zusammen, tastete vorsichtig nach dem Stoff - er konnte sie nicht so liegen lassen… nicht so. Er öffnete vorsichtig die Augen wollte das Mädchen wieder zu decken, doch ihr Anblick zerriss ihm den Magen. Blind floh er aus dem Raum. Die Übelkeit in ihm verstärkte sich, er lief weg… schon wieder. Seine Schritte hallten schrill und laut von den Wänden wieder, kleine Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gesammelt. Yorks Blick richtete sich auf die schmale Tür vor ihm, er stieß sie auf und hörte unter seinen Worten nur dumpf, wie sie zufiel. „Herrgott Bell! Ich hab sie schon überall gesucht! Was zum-?“ Der Universitätsleiter Maximilian York schaute seinen Mitarbeiter fragend an, das rauschende Wasser bildete die leise Geräuschkulisse, die jedoch keiner der beiden Männer zu hören schien. Bell stand in der Herrentoilette, die Hände auf dem Waschbecken und hatte bis eben dem fließenden Wasser zugesehen wie es im Ausguss verschwand. Er hatte seinen Fluss wie in Trance beobachtet, als würde er nur darauf warten, dass er ihn endlich mit sich riss. „Was tun Sie denn hier?“ Shinichi Schluckte geräuschvoll, schaute seinen Vorgesetzten dann mit einem frechen grinsen an. „Ich war auf der Toilette Chef, aber wenn Sie die Details interessieren, schreibe ich Ihnen gerne einen Bericht." Der Angesprochene rümpfte scheinbar beleidigt die Nase, lächelte kurz, schaute aber nicht minder besorgt zu, wie William die Hände flüchtig unter das fließende Wasser hielt und sie dann mit dem kratzigen Papier vorsichtig trocken tupfte als ob er Angst hätte, etwas zerbrechen zu können. Eigenartig. Dieser Mann war von je her nur eigenartig. Ein Einzelgänger und doch redegewandt und schlau, sodass, wenn man ihn dazu überredet hatte, ein Gespräch mit ihm nicht nur aufschlussreich und interessant, sondern auch durchaus unterhaltsam war. Seine Lehrmethoden waren ab und an etwas gewöhnungsbedürftig, aber noch nie war ein Semester so erfolgreich verlaufen wie bei ihm. Die Studenten, die Dozenten, jeder mochte ihn, aber ehe ihm jemand zu nahe kommen konnte verkroch er sich in seinem Schneckenhaus aus Fallakten, Mord und Tod. Über sein Privatleben war kaum etwas bekannt, die allgemeine Meinung war stets nur, dass dort der Grund für sein seltsames Verhalten liegen musste. Die schlauen, ab und an fast schon jugendlichen Augen hatten an manchen Tagen einen seltsamen trüben Glanz, der jeden glauben ließ, dass William Bell selbst Opfer eines Falles sei, den keiner, nicht einmal der erfolgreiche Kriminologe und Detektiv selbst, lösen konnte. York kannte ihn mittlerweile gut genug um zu wissen, dass er sich auch von niemandem dabei helfen lassen würde. Wenn es etwas gab, einen Fall, der Bell im Magen lag, konnte er sich Stunden, Tage lang damit beschäftigen und vergas beinahe alles um sich herum. Eine Tatsache, die weder für seine Gesundheit noch für die Universität besonders förderlich war. Ein breites Grinsen zog sich über die Wange des Universitätsleiters. Er hatte das perfekte Heilmittel für seinen Kollegen in der Hinterhand. Als Freund würde er ihm dazu raten und als sein Angestellter würde Will nicht den Hauch einer Chance haben, sich im zu widersetzen. „Und?“ Das zu einer genervten Grimasse verzogene Gesicht Bells starrte ihn an und riss York aus seinen Gedanken. „Was kann ich denn für Sie tun? Ich nehme mal nicht an, dass sie mir auf die Toilette gefolgt sind um meine Tätigkeiten auf dem stillen Örtchen zu protokollieren… Sir?“ Der Angesprochene räusperte sich verlegen, überging jedoch den leicht spitzfindigen Ton seines Professors, viel zu deutlich lag noch immer der trübe Schleier über Bells Augen. Er hätte einen hervorragenden Schauspieler abgegeben, da war sich York ganz sicher. Der Blonde schüttelte nur den Kopf, seine Stimme war ernst und ließ schon jetzt keinerlei Widerspruch zu. „Ich habe einen Fall für sie Bell.“ „Hm?“ Interessiert hob Shinichi die Augenbraun, folgte dem stummen Wink seines Vorgesetzten, ihn in sein Büro zu begleiten. Keiner der beiden verlor ein Wort, während sich Shinichi von York in sein Zimmer führen ließ und in dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz nahm, während Mr. York hinter ihm die Tür schloss. Es war nicht ungewöhnlich, dass man ihm einen Fall übertrug, mittlerweile war er ein gern gesehener Gast bei der New Yorker Polizei… doch irgendetwas war diesmal anders. Shinichi schluckte, hörte wie die Tür in seinem Rücken mit einem sanften Klicken ins Schloss fiel, er konnte das ungute Gefühl in seiner Magengegend nicht länger ignorieren… irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Kaum war die Tür zu, hörte er ein kurzes Rascheln, dann ein zweites Klicken und wie erwartet trat York mit der üblichen Zigarette zwischen den Lippen hinter ihm hervor, umrundete seinen Schreibtisch und setzte sich Shinichi gegenüber. Er war Kettenraucher, unter den Studenten kursierte das Gerücht, das York selbst mehr rauchte, als die ganze Stadt jährlich an Smog produzierte. Er war Mitte vierzig, der fein gezwirbelte Schnurbart hätte ohne den hässlichen Nikotinfleck wohl auch Poirot neidisch werden lassen, doch das blonde, schon leicht gräuliche Haar verriet seine Sucht. „Haben Sie die Zeitung schon gelesen?“, fragte York, ohne den Blick von seiner Schreibtischplatte zu heben. Ein kurzes Aufatmen schüttelte ihn, Shinichi hatte schon befürchtet, einer seiner Studenten hätte sein seltsames Verhalten bei seinem Chef angemerkt, doch dem war, wie es schien, nicht so. Dankbar und erleichtert über die willkommene Ablenkung lehnte er sich in dem braunen Ledersessel zurück. „Nur einen Teil. Da ich allerdings nichts von einem Raub, einer Entführung oder einem Mord weiß, nehme ich an, dass ich nicht bis zu der Seite vorgedrungen bin, die etwas mit dem ominösen Fall zu tun hat.“ Er stockte, schaute fragend auf. „Es hat doch etwas mit dem Fall zu tun, oder?“ York nickte, strich die Asche seiner Zigarette mit drehenden Bewegungen an dem bronzenen Aschenbecher ab. Shinichi beobachtete ungeduldig das Verhalten seines Chefs, dessen Worte sich diesem Ausweichmanöver anpassten. „Sie brauchen dringend Urlaub, mein Freund… sie sehen alt aus.“ Shinichi konnte das Entgleisen seiner Züge nicht verhindern, allein das bittere Lachen konnte er zurück halten, verschluckte sich jedoch prompt daran. Er unterlag mehrere Sekunden lang einem schweren Hustenanfall, der York anscheinend nur noch mehr Sorge bereitete. „Ich meine das ernst. Sie sind öfter und langer in dieser Fakultät als ich… und dabei beschwert sich meine Frau schon, dass ich doch gleich hier einziehen könnte!“ Abwertend schüttelte er den Kopf, nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette und wandte sich dann wieder Professor Bell zu. „Fakt ist, dass sie Urlaub brauchen.“ „Aber Sir, das ganze haben wir doch schon mal durch gekaut. Es macht mir nichts-„ „Nein!“ Rüde unterbrach York seine Versuche, die Sache im Sand verlaufen zu lassen; diesmal ließ er nicht locker. „Kein Aber heute Bell! Ihr Verhalten eben… unten in der Pathologie spricht wohl für sich. Selbst die Studenten machen sich um Sie sorgen, Mann. Sie brauchen Ruhe.“ Shinichi rang umsonst mich sich, schon längst hatte sich jeder Muskel in seinem Inneren versteift. Er wandte den Blick von York ab, starrte stur ins Nichts und krallte die Fingernägel in die Knie seiner Cordhose. Es hatte also doch jemand geredet. Shinichi stöhnte innerlich auf. Wahrscheinlich war es Janice, die immer ein wenig überfürsorglich war, wenn es ihrem Professor nicht gut ging. Dieses Mädchen wollte ihm nur helfen … dennoch hatte sie keine Ahnung, was sie diesmal wieder angestellt hatte. Stumm richtete sich sein Blick wieder auf York, der seinen Mitarbeiter durchdringend ansah. Der Mann wusste, wann und wie er seinen Joker zu setzen hatte. Doch York selbst ging nicht mehr auf sein schlagfertiges Argument ein, als wäre dessen Zweck allein der gewesen, William zu zeigen, dass er wirklich über alles, was an dieser Universität passierte, bestens Bescheid wusste. „Ich weiß, dass in Ihnen ein Workaholic steckt.“ York schüttelte missbilligend den Kopf, fuhr dann aber in einem verständnisvollen Ton fort. „Ich will Sie ja auch gar nicht von der Arbeit abhalten, ganz im Gegenteil. Dennoch denke ich, dass Ihnen eine kleine Luftveränderung nicht schadet.“ Interessiert hob Shinichi eine Augenbraue; das hörte sich schon anders an. York erkannte das Funkeln hinter den Brillengläsern und begann sichtlich zufrieden zu erklären. „Es ist schon alles geplant und vorbereitet. Ihr Flug geht morgen Früh um halb Neun. Mein Freund und Leiter der örtlichen Universität wird Sie in Empfang nehmen und für eine Unterkunft Sorge tragen. Wundern Sie sich nicht, seine Vorlesungen sind nur noch begrenzt, sein Betätigungsfeld ist die Pathologie und wir haben das Glück, dass er eben diesen Fall von der Kriminalpolizei aus betreut. Sie werden ihn mögen, er ist wie Sie auch ein wenig…“ Verkappt, lag ihm auf der Zunge, doch sein Mund entschied anders. „…eigen.“ Beendete York seinen Redeschwall. Er erkannte den missbilligenden Blick in Bells Zügen, dass genervte Zurechtrücken der Brille war der beste Beweis dafür, dass ihm etwas nicht passte. Anfangs war auch York nicht wohl dabei gewesen, William derart vor vollendete Tatsachen zu stellen, aber er hatte die besseren Argumente auf seiner Seite, das wusste Bell nur noch nicht. Nachdenklich taxierte dieser seinen Vorgesetzen, späte mit ruhigem, aber fragendem Blick über den Rand seiner Brillengläser. „Dann werde ich also morgen um halb Neun im Flieger sitzen. Und wohin geht meine verheißungsvolle Reise, wenn ich fragen darf?“ „Japan.“ Das Wort hallte wie ein Schuss in Shinichis Ohren nach. Der Schlag hatte ihn getroffen und nahm ihm die Luft zum Atmen. Shinichi spürte, wie jegliches Blut aus seinen Wangen wich und war froh, dass genügend Schminke seine Blässe verbarg. Sofort tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf, peinigten und quälten ihn bis tief in sein Inneres. Ihr Bild mischte sich wie ein böser Alptraum mit dem des Mädchens, das unten in der kalten Aluminiumbox lag. „Nein…“ Es war kaum mehr als ein Wispern, das seine raue Kehle hervor brachte. York verzog überrascht das Gesicht, versuchte dann jedoch mit der friedlichen Miene eines Geistlichen zu vermitteln. „Die örtlichen Behörden sind auch schon informiert, die japanische Polizei macht zwar keine Luftsprünge, aber die Presse leckt sich dafür schon umso mehr die Finger nach Ihnen.“ „Ich sagte NEIN!“ Bell war aufgesprungen, stand nun mit zu Fäusten geballten Händen vor ihm. Die blauen Augen sahen zornig auf ihn hinunter, dennoch erkannte York die gleiche Panik in ihnen, die eben auch schon im Bad ans Licht gekommen war. Eindringlich sah er den Professor für Kriminalistik an, fing in einem sehr bestimmten Ton an, mit seinem Mitarbeiter zu reden. „Nun hören Sie mal William, ich erlaube Ihnen in diesem Institut wahrlich Narrenfreiheit. Dennoch sind und bleiben Sie mein Angestellter. Sie werden morgen fliegen. Sie eigenen sich am besten für den Job, allein wegen Ihrer umfassenden Sprachkenntnisse. Was ist? Schauen Sie mich doch nicht so an! Mein lieber Bell, meine Kenntnisse der japanischen Sprache sind zwar begrenzt, dennoch weiß ich, dass jemand, der so ausgiebig in dieser Sprache fluchen kann wie Sie es bei dem letzen Fall im Big Apple bewiesen haben, mehr als nur einen geringen Wortschatz zu bieten haben muss. Außerdem habe ich ein Zertifikat über einen zwei Jahre langen Aufenthalt, Ihrer Person an einer japanischen Universität in Ihrer Akte, falls Sie das schon vergessen haben.“ Shinichi stand da wie vom Blitz getroffen. Natürlich hatte er diesen Aufenthalt vergessen… schließlich hatte es ihn nie gegeben. Das Zeugenschutzprogramm hatte ihm da einen Streich gespielt. Er biss sich auf die blutleeren Lippen, eigentlich hatte er sein Englisch gut im Griff, aber als der Mörder ihm Letztens so knapp durch die Lappen gegangen war, war seine Muttersprache in den widerlichsten Tönen ausgebrochen. Er stöhnte, ließ sich hilflos zurück in den Sessel sinken und wurde vom immer noch warmen Leder empfangen. In seinem Inneren überschlug und drehte sich alles. Er hatte seit zehn Jahren keinen Fuß mehr in seine Heimat gesetzt. Und seine Abmachungen mit dem FBI, das Zeugenschutzprogramm, verbot es ihm es zu tun bis… Er schluckte, schüttelte ergeben den Kopf und verbannte die Vorstellungen aus seinen Gedanken. Müde rieb er sich die Schläfe. York schaute seinen Mitarbeiter verständnislos an, versuchte dann weiter Überzeugungsarbeit zu leisten. „Professor Matzudo ist nun mal Leiter unserer Partneruniversität. Und als Pathologe in diesem Fall war er gerne bereit, auf meine Anfrage einzugehen. Glauben Sie mir Bell, niemand eignet sich besser für den Job als Sie.“ Shinichi schaute ergeben auf, konnte sich grade noch mühevoll davon abhalten, mit der Hand über das Gesicht zu fahren und richtete sich stattdessen erneut die Brille. „Und wieso, wenn ich fragen darf? Wieso soll ausgerechnet ich den Fall übernehmen?“ York lächelte wissend, verschwand kurz unter dem Tisch und tauchte mit der hervorgekramten Zeitung wieder auf, die er William nun auffordernd unter die Nase schob. „Ganz einfach, der Fall wird sie interessieren… Sherlock.“ Shinichi hob die Augenbraue, sein Spitzname unter den Studenten machte ihn immer wieder nervös, dennoch konnte er sich nicht davon abhalten, die Analogien während einer Vorlesung zu ziehen. Er seufzte - eine Tatsache, die ihm jetzt, wie es schien, zum Verhängnis wurde. Er griff nach der Zeitung breitete sie auf seinen Knien aus und fing an zu blättern. „Seite Fünfzehn, lesen Sie.“, meinte York nur und lehnte sich abwartend, mit einem zufriedenen Grinsen in seinem Sessel zurück. Gespannt beobachtete er, wie die außergewöhnlich feinen Hände Bells die Seiten umschlugen, bis seine Augen an dem fraglichen Text hängen blieben. Für ein paar Minuten studierte Shinichi die Zeilen, doch schon bei dem Namen des Bezirks in Tokio blieb sein Herzt stehen. Beika. Shinichi schluckte, seine Augen flogen über die Zeilen, doch seine Gedanken erreichten die Buchstaben schon lange nicht mehr. Es ging nicht! Es war einfach ausgeschlossen. Er konnte diesen Fall nicht übernehmen. Niemals. Er versuchte sich zu kontrollieren, irgendwie musste er York davon überzeugen, dass der Fall nichts für ihn war. Langsam lehnte er sich zurück, ließ das Käseblatt auf seine Knie sinken und legte abschätzend die Fingerspitzen einander. „Ein Mord an einem fünfunddreißigjährigen Japaner, der von der Presse direkt schon als potentieller Beginn eines Serienmordes eingestuft wird? Warum bitte sollte mich diese Überreaktion der örtlichen Beamten interessieren?“ „B-Bitte?!“ Yorks Stimme klang heiser, ungläubig griff er nach der Zeitung, blätterte die Seite um und rieb sie seinem Kollegen unter die Nase. „Deswegen! Deswegen Bell! Ihr Faible für einen gewissen Detektiv ist bekannt, es gibt niemanden der sich besser für diesen Fall eignet als sie!“ Doch Shinichi hörte ihn schon nicht mehr, längst hafteten seine Augen an den Zeilen, die der Mörder bei seinem Opfer hinterlassen hatte. Verehrte Damen und Herren, Es scheint als ob die Einäugigen nun gänzlich erblindet sind. Ich erlaube mir deswegen Ihnen meine Hilfe zur Verfügung zu stellen, um die Studie in Scharlachrot erfolgreich zu Ende zu führen. Hochachtungsvoll, Mr. Sherlock Holmes Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)