Henry Silver von hungrymon ================================================================================ Kapitel 1: Henry Silver ----------------------- Der Mann der vor Leon saß, war Henry Silver. Bis vor kurzem war er noch berühmt gewesen als sehr erfolgreicher Künstler, doch seit gestern zierte er aus einem anderen Grund die Titelseiten der Tagesblätter. Er stand unter Verdacht, zwölf Morde innerhalb eines Zeitraums von zweieinhalb Jahren begangen zu haben. Das Motiv für die Taten war bis jetzt ungeklärt. Leon musterte den Mann. Er wusste, dass Henry 34 Jahre alt war, was er kaum glauben konnte, da seine schneeweiße Haut keine einzige Falte aufwies. Überhaupt sah sein Gesicht noch sehr jugendlich aus. Die dichten, hellblonden Haare umspielten die sanften, um nicht zu sagen weichen Gesichtszüge. Seine Augen, die nicht ein einziges Mal dem musternden Blick des Polizisten auswichen, waren beinahe genauso hell wie seine Haut, die im Übrigen, wie Leon fand, im schlechten Licht des Verhörraums etwas unheimlich aussah. Die Iris war gewissermaßen wie ein Türkis, das man mit viel Wasser verdünnt hatte. Täuschte sich Leon, oder gab es nicht sogar ein Bild des Künstlers, das hauptsächlich in dieser Farbe gehalten war? Das beige Hemd, das Henry trug, wobei er die zwei obersten Knöpfe offen gelassen hatte, schmeichelte auf eine Art seinem schmalen, aber doch athletischen Körper. Eine silberne Halskette, an der ein einfacher Anhänger in Form eines Kreuzes hing, war das Letzte, was Leons Blick für einen Moment festhielt, doch dann wandte er sich der Tür zu, durch die er gekommen war und schloss sie. „Setzen Sie sich.“, wies Leon sein Gegenüber an. Henry befolgte den Befehl schweigend und blickte Leon, nachdem auch er Platz genommen hatte, immer noch still an. Leon ließ das Schweigen nicht lange andauern. „Sie haben die Polizei ganz schon auf Trab gehalten, Mister Silver.“ Kaum gab es wieder Hinweise über den Aufenthalt des damals noch namens- und gesichtslosen Mörder, denen nachgegangen werden konnte, war er verschwunden. „Einmal dachten wir wirklich, wir würden Sie auf frischer Tat ertappen, doch wir waren nur wenige Sekunden zu spät. Die Einsatzkräfte verloren wichtige Sekunden, als sie feststellten, dass das Auto, das in diesem Moment angelassen wurde, Ihr eigenes war und mussten die Verfolgung bald aufgeben.“ Es schien, als würde die Erinnerung an dieses Ereignis den Künstler zu belustigen, denn er schmunzelte ein wenig. „Als wir gestern zu diesen Haus in der Narzissenstraße aufbrachen, dachte ich schon, dass uns das Gleiche wieder passieren würde...“ „Aber nun sitze ich hier.“, sprach Henry. Seine Stimme war leise, aber sehr klar. „Stimmt. Jetzt sitzen Sie hier.“, bestätigte Leon. „Aber ich frage mich ehrlich gesagt, wieso. Es war die gleiche Situation wie damals. Ich hatte wirklich nicht einen Hauch von Hoffnung, als wir los sind. Wirklich. Aber da standen Sie dann. Sahen uns ganz ruhig an, als hätten Sie uns erwartet, als Mike die Tür aufriss. Warum haben Sie sich schnappen lassen, Mister Silver?“ „Wie kommen Sie darauf, dass ich mich schnappen habe lassen?“, fragte Henry. „Ich bin mir sicher, Sie hätten diesen Trick, oder was auch immer, auch gestern anwenden können. Sie hätten auch dieses Mal wieder entkommen können.“ „Das stimmt.“ So sehr Leon auch mit dieser Antwort gerechnet hatte, sie überraschte ihn dennoch. Er brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu sammeln, dann fragte er: „Und warum haben Sie es diesmal nicht getan?“ „Ich wollte nicht mehr.“, war Henrys einfache Antwort. Nicht sehr zufrieden stellend für Leon. Ein Mörder, der der Polizei jedes Mal wieder entkommt, hatte auch einmal keine Lust mehr? Nicht, dass Leon normalerweise verstand, was in den Köpfen der Verbrecher vorging, aber das konnte er nun wirklich nicht nachvollziehen. Wenn er nicht mehr gewollt hatte, warum war Henry dann nicht einfach untergetaucht? Mit seinen Fähigkeiten wäre ihm das bestimmt möglich gewesen. „Sie wollten also nicht mehr und haben deswegen sozusagen auf uns gewartet, um sich festnehmen zu lassen?“ „Ja. So kann man das wohl sagen.“ Leon schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Sie werden nicht mehr dazu sagen, nehme ich an.“ Als Henry dazu schweig, redete er weiter: „Und darf ich davon ausgehen, dass ich kein ausführliches Geständnis von ihnen erwarten kann? Aus welchem Grund Sie es getan haben? Wie Sie es getan haben? Dass Sie es getan haben? Auch kein Abstreiten der Taten, oder?“ „Sie haben doch ausreichend Beweise, oder nicht? Und außerdem haben Sie mich auf frischer Tat ertappt. Warum sollte ich es also abstreiten?“ ‚Vielleicht, weil das eigentlich jeder Verbrecher tut?’, dachte Leon, verwirrt über das beinahe gleichgültige Verhalten seines Gegenüber. „Und der Rest ist doch eigentlich nicht von Belang oder? Ich bin ein mehrfacher Mörder. Und Ende.“, sagte Henry Silver und auch diesmal klang seine Stimme, als ginge ihn das alles nichts an. „Für einen mehrfachen Mörder wie mich macht ein Geständnis doch keinen Unterschied.“ Da musste Leon ihn zwar Recht geben, aber er wollte sich nicht damit zufrieden geben. Dieser Mann hatte zwölf Menschen umgebracht. Niemand hatte einen Zusammenhang zwischen den Ermordeten feststellen können. Wieso hatte Henry Silver diese Menschen getötet? „Diese Frage will Sie wirklich nicht loslassen.“, meinte Henry auf einmal. „F-Frage?“ „Die Frage nach dem Warum. Auch, wenn Sie schon so viel Böses gesehen haben, glauben Sie nicht, dass jemand grundlos böse ist. Und ich, der ich so wahllos tötete, kann das auch nicht grundlos getan haben. Sie haben ihre Theorien, manche lassen mich sogar beinahe gut, menschlich dastehen, denn grundlos habe ich niemals getötet.“ „Mister?“ „Aber wenn ich ihnen meinen Grund sagen würde, wie würde ich dann wohl vor ihnen dastehen?“ Nun war Leon komplett sprachlos. Was redete Henry Silver da auf einmal? „Wahrscheinlich wohl alles anderer als gut und menschlich.“, antwortete er sich selbst. Dann lächelte er, was Leon nur noch mehr irritierte. „Aber wenn Sie es wirklich wissen wollen, Herr Polizist, dann werde ich es Ihnen sagen. Ich werde Ihnen erzählen, weswegen ich diese Morde begangen habe.“ Er wartete nicht ab, so empfand es zumindest Leon, denn nach nur wenigen Sekunden sprach er einfach weiter: „Sie werden bestimmt schlecht von mir denken, und dass, wo ich Sie wirklich sympathisch finde. Aber das ist wohl das Los eines Mörders.“ Henry Silver machte eine kurze Pause. „Nun, wo soll ich beginnen? Man könnte sagen, ich bin mit einer Gabe beschenkt worden. Das, was Sie als ‚Trick’ bezeichnet haben. Wollen Sie wissen, was es ist? Natürlich wollen Sie es, Sie wollen schließlich alles wissen. Sie sind ein wirklich neugieriger Mensch, Herr Polizist. Dadurch haben Sie sich doch auch sicher oft in Gefahr gebracht, oder? Wenn ihr Kopf immer so voller Fragen ist... Und dann dieser Drang, jede einzelne von ihnen zu beantworten...“ Leon starrte den Mann an. „Was ist es?“, war das einzige, was er hervorbrachte. „Meine Gabe? Ich kann, ganz einfach gesagt, mehr oder weniger in die Köpfe anderer Menschen sehen. Gedanken lesen, könnte man sagen.“, bekannte Henry. „Und so sind sie immer der Polizei entwischt?“ Henry nickte. „Ganz genau. Mit den Jahren lernt man, Gedanken auseinander zu differenzieren und sich auf bestimmte zu konzentrieren. Ich suchte also mehr oder weniger nach Gedanken von Polizisten, die aufgrund von bestimmten Hinweisen in meiner Nähe waren.“ „Sie hätten dieses Spiel ewig treiben können.“ „Oh ja, das hätte ich wohl. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Sie wollten wissen, wie ich zu einem Mörder wurde. Sie denken jetzt sicher an eine Geschichte wie, ‚Meine Eltern verstießen mich, weil sie mich nicht verstanden und ich musste einsam und auf mich allein gestellt aufwachsen’ und so weiter. Doch so war es nicht. Meine Mutter - mein Vater hatte sie verlassen, als ich noch nicht einmal auf der Welt war, was jedoch auch nichts zur Sache tut - war liebevoll und auch, wenn sie nicht tatsächlich nicht wirklich verstand, versuchte sie mir zu helfen, damit umzugehen. Niemand anderes wusste davon, ich wuchs wirklich glücklich auf und lernte, meine Gabe zu beherrschen. Was auch sehr wichtig war, denn meine Mutter predigte mir immer wieder, dass ich, auch wenn ich, wie sie sagte, ‚von Gott mit dieser Gabe beschenkt war’, sie niemals benutzen dürfte um mir einen Vorteil gegenüber von anderen zu schaffen. Ich bemühte mich, dies auch zu tun, las nicht die Gedanken des Lehrers, wenn er mich etwas fragte, oder die des Klassenbesten, während wir eine Arbeit schrieben und so weiter.“ Leon lauschte den Worten gebannt, auch, wenn er ihnen nur schwer glauben schenken konnte. „Eines Tages, als ich etwa siebzehn Jahre alt war, empfing ich auf den Weg zu einem damaligen Freund den Gedanken eines kleinen Mädchens. Es war eine Märchenfantasie, wie sie es alle Mädchen dieses Alters hatten, doch irgendetwas daran faszinierte mich so dermaßen. Es war auch wirklich eine magische Fantasie. Ein Märchenschloss auf einem Hügel, rund um das Schloss herum ein verzauberter Wald, in dem verschiedenste Geschöpfe leben, strahlend blauer Himmel... Ich war siebzehn, ein junger Mann - und bitte denken sie jetzt nicht ich sei schwul! - aber mich verzauberte diese Vision so, dass ich in den nächsten Laden lief und dort beinahe panisch nach Stift und Papier fragte, um die Märchenwelt auf Papier festzuhalten. Und es gelang mir wirklich gut. Ich war davor nie besonders gut in Kunst gewesen - nicht schlecht aber auch nicht herausragend - doch ich hatte es beinahe geschafft, jedes einzelne Blatt, jeder einzelne Ziegel des Schlosses wie in den Gedanken des Mädchens abzubilden. Die Faszination der Vision war nicht verloren gegangen, wie ich freudig erkannte. Und von da an lief ich durch die Straßen der Stadt, nur um Gedanken wie dieses aufzufangen und auf Papier zu bringen. Es waren wunderbare Sachen, wirklich wunderbar. Diverse Landschaften, noch schöner als es die meisten in der Realität sind, Frauen, die so übernatürlich hübsch waren, dass es mich beinahe erschreckte, spielende Kinder, die in ihrer Lieblichkeit so verzückten, dass einem vor Liebe beinahe die Tränen kamen.“ „Ich fange an, zu bedauern, noch keines ihrer Werke bestaunt zu haben. Ich habe nur einige Zeitungsartikel über sie überflogen...“, nuschelte Leon, beinahe ein wenig verlegen. „Die ‚Werke’ aus jener Zeit haben wohl nicht viele gesehen. Meine Mutter war einen von ihnen. Auch dieses Mal war sie die einzige, die von der Quelle, oder eher den Quellen meiner Inspiration wusste. Eine gute Freundin von mir - Isabell hieß sie - war es aber, die dann irgendwann den Gedanken aussprach, den ich schon eine Weile lang gehegt hatte. Ich solle doch versuchen, diese Bilder zu veröffentlichen. Ich sprach lange mit meiner Mutter darüber. Schließlich stahl ich mehr oder weniger die Gedanken der Menschen. Aber letztendlich entschieden wir beide, dass ich es versuchen sollte. Meine Mutter meinte, vielleicht sei das ja auch der Grund dafür gewesen, weswegen mir Gott diese Gabe geschenkt hatte. Um anderen Menschen die wundervollen Fantasien zu zeigen, die ihre eigenen Köpfe zu spinnen vermochten, jedoch so schnell wieder vergaßen oder verdrängten, dass sie sie nicht genießen konnten.“ „Eine wahrhaft schöne Erklärung.“ „Ja das war es. Meine Mutter glaubte gerne an so etwas. Nun - ich veröffentlichte also einige meiner Werke. Und es geschah das, worauf jeder hofft, aber womit niemand ernsthaft zu rechnen wagt. Sie hatten Erfolg. ‚Einfach nur ergreifend’ und ‚magisch und bewegend’ wurden meine Bilder genannt. Auf einmal waren Galeristen bei mir und baten - flehten beinahe, eines meiner Werke ausstellen zu dürfen. Und langsam kommen wir zu dem Grund, weswegen ich zu Mörder wurde. Tut mir Leid, dass ich soweit ausholen musste, Herr Polizist.“ „Ehm schon okay.“, stammelte Leon. Er hatte während der Erzählung schon beinahe vergessen gehabt, dass er sich in einem Verhör befand. „Ich war jung. Und auch, wenn ich das damals niemals zugegeben hätte, nicht nur verdammt unerfahren, sondern auch dumm. Der plötzliche und überwältigende Erfolg veränderte mich. Ich wurde arrogant und selbstverliebt und irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich nur noch für Ruhm und Erfolg und natürlich auch das Geld zeichnete. Doch es kam, wie es kommen musste und irgendwann stellte sich die Nachfrage für meine Bilder ein. Ich konnte es kaum fassen, als ich sie den Menschen beinahe aufschwatzen musste, um sie loszuwerden. In einem Moment der Verzweiflung fragte ich einen anderen Künstler, mit dem ich mich in dieser Zeit angefreundet hatte, was verdammt noch mal der Grund dafür war, dass ich keinen Erfolg mehr hatte. Er sagte, es läge wohl daran, dass ich keinen eigenen Stil hätte, nichts eigenes, nichts was mich einzigartig machen und woran man mich immer erkennen wird. Aber wie sollte ich auch einen eigenen Stil haben? Jedes einzelne meiner Bilder stammte aus einem anderen Kopf. Das, was anfangs wohl der Grund für meinen Erfolg gewesen war, war nun der Grund für meinen Ruin.“ „Was passierte dann?“ „Es ist auf jeden Fall nicht, wie Sie denken, Herr Polizist. Nein, es ist viel, viel grausamer, viel unmenschlicher, soviel Unmenschlichkeit trauen Sie mir nicht zu. Noch nicht. Da war ich nun also, ein Künstler, wieder völlig am Punkt Null angekommen. Ich traute mich nicht, zu meiner Mutter zu gehen, was ich allein schon tun hätte sollen, weil ich in meinem Übermut all mein Geld ausgegeben hatte. Und da kam er, der zweite Moment, der mein Leben verändern sollte. Als ich durch die Straßen streifte und in Selbstmitleid versank, hörte ich das kranke Gebrabbel eines Alten, der ohne mich zu beachten, an mit vorbeitorkelte. Er murmelte: „Es heißt, ein Mensch sieht, im Angesicht des Todes - und nur dann, das, was wahre Schönheit ist.“ Leon riss die Augen auf, als er erkannte, worauf Henry Silvers Geschichte hinauslaufen würde. „Ganz genau, Herr Polizist. Ich werde auch nicht versuchen, mich hinaus zu reden. Ich war verzweifelt, sehr verzweifelt und noch dazu arm wie eine Kirchenmaus. Und verzweifelte Menschen tun Dummes, noch viel mehr Dummes, als junge Menschen. Ich beschloss, es auszuprobieren. Ich schnappte mir den Alten und drückte ihn gegen die Wand. Hielt meinen Unterarm gegen seine Kehle, bis er aufhörte zu zappeln, und noch, bis er aufhörte zu atmen. Er sah mir in die Augen, wissen Sie, Herr Polizist. Doch was er dann sah, im Angesicht des Todes, was er in meinen Augen sah, war tatsächlich wahre Schönheit. Es waren mehr als Farben und Formen, zwar abstrakt, aber dennoch konkret, es war - Magie pur!“ Seine Augen leuchteten, als er diese Worte aussprach und zum ersten Mal sah Leon tatsächlich die Unmenschlichkeit in Henry Silver. „ Die Bilder - sie sind übrigens nur ein schwacher Abklatsch von dem, was ich gesehen habe, was diese Menschen gesehen haben - waren ein Riesenerfolg. Es ist wirklich schade, dass ich all diese Morde nur um meines Erfolges willen begangen habe... Ich bin wirklich ein Unmensch, Herr Polizist, nicht wahr?“, beendete Henry seine Erklärung. „Wahrscheinlich, ja, Mister Silver. Höchstwahrscheinlich.“ Da lehnte sich Henry in seinem Stuhl zurück und lächelte. „Es war nicht das, womit Sie gerechnet hatten, aber nun sind Sie zufrieden. Und Sie hassen mich gar nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte. Ich mag sie wirklich, Herr Polizist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)