Der Sekundenzeiger aus flüssigem Stickstoff von Palmira (Eine Schneekugel im Globusherz) ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Der Globus musste weiter nach unten. Wenn er den Fuß abschraubte, konnte er das Kästchen mit Sand und Steinchen, großzügig bezeichnet als Mini-Zengarten, in der Kiste weiter in die Ecke klemmen. Das Poster kam obenauf – oder legte er es doch besser in den Atlas und vermied so Risse im Papier? Er konnte die Faltlinien später ausbügeln. Niemand sonst bügelte Poster, und die Struktur von Cellulose war auch nur bedingt dafür geeignet. Aber man strebte nach Individualität, so gut man konnte. Und auf der Fensterbank lag noch Staub. Die Zimmertür öffnete sich leise, auch wenn die schlurfenden Schritte nicht zu überhören waren. Wozu gab sich die Natur solche Mühe mit der Gewölbestruktur des menschlichen Fußes, der aufwändigen Federung des Knöchels zur optimalen Gewichtsverteilung, wenn man diese Funktionen nicht nutzte? Die Evolution sollte auf diejenigen beschränkt sein, die das Handbuch gelesen hatten. „Ty?“ Dieselbe Regelung galt für den ganzen Apparat des Kehlkopfs und der Stimmbänder. Vielleicht sollte er den Anatomie-Bildband hier vergessen. Vielleicht sollte er überhaupt regelmäßiger Dinge vergessen. „Ty?“ Und ihm war ein Kugelschreiber hinter den Heizkörper gefallen. Es wäre nicht unbedingt würdevoll, auf den Knien herumzukriechen und danach zu grapschen, also ließ er ihn da. Kleine Aufmerksamkeit des Hauses, beehren Sie uns bald wieder und vergessen Sie nicht, den Kundenzufriedenheitsbogen an der Rezeption abzugeben, vielen Dank. „Ty?“ Verkalktes, regressives Primaten-Ersatzgehirn. Er seufzte fast, hätte er nicht gerade einen alten Flyer entdeckt, der irgendwann hinter den Schreibtisch gerutscht war und den er bereits gesucht hatte. Ah, die kleinen Dinge des Lebens. „Umdrehen, anklopfen, Füße heben, nicht nuscheln, korrekte Aussprache in einem Zeitfenster von fünf bis sieben Sekunden abzüglich Reizverarbeitungszeit.“ Er schüttelte den Flyer aus und legte ihn sorgfältig in den Karton. Fehlte nur noch das Paketklebeband. Die Greiflöcher waren frei? Gut. Mit ergonomisch korrekter Haltung sollte das Anheben unproblematisch für seine Wirbelsäule sein. Die Reizverarbeitungszeit betrug diesmal etwa zwei Sekunden – sogar für ein Ersatzgehirn ein erbärmlicher Schnitt. Dann trampelten die Schritte gehorsam vor die Tür, eine Hand patschte dumpf gegen lackiertes Kiefernholz – na gut, das ließ er gelten, Feinmotorik hatte bekanntlich ihre Tücken – und schon war die unliebsame Präsenz wieder da, trat von einem Fuß auf den anderen und hatte das Hemd schon wieder nicht in die Hose gesteckt. „Tyree, gehst du wirklich?“ Nein, das umsichtige Packen von Umzugskisten gehörte zu seiner persönlichen Vorbereitung auf den Armageddon. Im Angesicht der unkontrollierten Naturkatastrophen, die um die Auslöschung allen Lebens buhlten, konnte man gebügelte Socken und einen auseinandergeschraubten Globus immer brauchen. Warum gab es für die Benutzung von Sprache nicht ebenfalls einen Eignungstest? Wer durchfiel, hatte immer noch das Recht auf Grunzlaute, die hatten sich in der Kommunikation über Äonen bewährt. „Ja.“ Tyree bemühte sich um einen gleichmäßigen Tonfall, um das Individuum nicht durch Stimmmodulation zu überfordern. „Ja, Cyrus, ich werde diese Kartons nehmen, damit die Treppe heruntersteigen, sie in den Umzugsanhänger räumen, danach Platz auf dem Beifahrersitz eines schwarzen Seat Altea nehmen und den Sicherheitsgurt anlegen. Requirierst du auch das Kennzeichen und die Kilometerzahl?“ Cyrus runzelte die Stirn über seinen blonden Augenbrauen. „Warum nennst du mich nicht Cy?“ Weil ‚Cy & Ty‘ ausnehmend stumpfsinnig klang und Tyree ihn noch nie so genannt hatte. Er hätte wissen sollen, dass Kreaturen wie diese nur durch Homophonie befähigt wurden, sich einen Namen zu merken, der nicht ‚Mommy‘ lautete. Wer seinen sabbernden, adipösen und toilettentrinkenden Hund ‚Mister Muffin‘ nannte, hatte nicht mehr viel Speicher frei für so diffizile zwei Silben. „Weil wir die plumpen Vertraulichkeiten auf sich beruhen lassen können“, sagte Tyree stattdessen und wischte die Fensterbank. Man hinterließ sein Zimmer tadellos ordentlich und sauber. „Wir sind eine Familie.“ Cyrus klang verständnislos, so entwurzelt, wie man nur hätte klingen dürfen, wenn die Grundfesten der Mathematik gerade zerbröselt wären. Und da Tyree keine Anzeichen entdeckte, dass die Summe seiner Finger nicht mehr zehn ergab, fand er dafür keinen Anlass. „Geringfügig unzutreffend.“ Tyree legte den Staublappen wieder zusammen, nachdem er ihn nach draußen hin ausgeschüttelt hatte. Es war herbstlich kühl, aber der Himmel war blau wie der weiche Einband eines Poesiealbums. „Du weißt, dass-“ „- ich Recht habe, weil ich von einer zwangsneurotischen, Wasserstoffperoxid-ausdünstenden Hausfrau abstamme und du von einem blasierten Westentaschen-Akademiker mit Gonokokken. Und weil die Scheidungspapiere gestern unterschrieben wurden.“ Er musterte Cyrus, groß, blond, für einen Sechzehnjährigen erstaunlich wenig schlaksig, dafür mit einem implantierten tumben Golden-Retriever-Blick, mehr Muskeln als Hirn. Ihre familiäre Bindung hatte stolze dreizehn Monate gehalten, man konnte sich darüber streiten, ob das nun ein Zeichen von Glück oder Unglück war. Cyrus, der ein Trottel war, vermutlich schon sein ganzes Leben. Tyree hatte in Monat zwei seinen IQ messen wollen, doch man hatte ihn daran gehindert. Cyrus, der harmlos dämlich war und noch nie einen Bruder gehabt hatte, weshalb er sich mit derselben triefäugigen Zuneigung wie seine zottelige Töle an diese unerwartete Gunst des Schicksals hängte. Jetzt sah Tyree ihn an und wurde das Gefühl nicht los, dass es Cyrus war, der die Ehe ihrer Eltern ruiniert hatte. „Warum sagst du diese Dinge?“ In demselben Tonfall hatte Cyrus ihm ungläubige Fragen über die Herstellung von Radionukliden gestellt, während er Tyrees Türschwelle mit seinen beleidigend anforderungslosen Hausaufgaben belagert hatte. Weil ich Lust hatte, in deinem Herzen einen kleinen Gefrierbrand zu hinterlassen. Irgendjemand muss den Rosenkrieg ja führen. Tyree zuckte mit den Achseln und versiegelte einen Karton mit Klebeband. „Weil sie wahr sind.“ Und weil die Stimme, die die unbegreiflichen Zusammenhänge der Naturwissenschaften zu entwirren vermochte, niemals log. So viel hatte Cyrus‘ simples Gehirn gelernt, und jetzt geriet er in die typische Diskrepanz. Nun, das Langzeitgedächtnis ließ sich nicht für dumm verkaufen. Gelernt war gelernt. „Das ging schnell.“ Sie klang sehr neutral. Tyree neigte anmutig den Kopf. „Ich bin effizient, Mom. Kann ich jetzt wieder ‚Fran‘ sagen, oder sollen wir damit warten, bis ich offiziell ausgezogen bin?“ Fran war blass, aber sie war aus härterem Holz geschnitzt als ihr kostbarer Sohn. Sie nickte. Ihre Lippen waren rau, wo sie ihre Zähne hineingegraben hatte, und ihr Haar begann sich stressbedingt zu kräuseln. Sie roch stärker nach Zigaretten als üblich. Ansonsten hielt sie sich gut. „Das ist okay.“ Fran war nicht der schlechteste Typ Frau. Klein und kompakt, mit strammen Waden und aschblondem Haar und ihren energischen Augenbrauen, wirkte sie bodenständig und vernunftgeleitet. Man sah ihr nicht an, dass sie gerade ihre fünfte Ehe geschieden hatte. Tyree hatte sich gewundert, dass David sie geheiratet hatte, als Stiefmutter hätte er sie jedoch noch eine Weile ertragen. Es gab Schlimmere. Das Schlimme an Fran war ihr Sohn. Fran legte einen Arm auf Cyrus‘ Schulter. Er war mehr als einen Kopf größer als sie, trotzdem schien er bei ihrer Berührung ein Stück zusammenzufallen. Seine Augen waren blau und gepeinigt wie die einer Ziege im Elektrozaun. Fran hatte das nicht übersehen. Tyree auch nicht. „Dein Vater wartet unten auf dich.“ Sie warf einen Blick auf die Kisten. „Brauchst du Hilfe?“ Und die Hilfe bestand worin, einem Tritt in seinen wertgeschätzten Arschbereich? Immerhin lebten sie jetzt nicht mehr unter demselben Dach. Wenn Fran ihr nomadenartiges Leben im Takt ihrer Scheidungen nicht radikal änderte (was sie nicht tun würde), lebten sie bald nicht mal mehr in derselben Stadt. Vielleicht auch nicht mehr im selben Staat. Er legte den Kopf schief und ignorierte die Frage. „Hast du noch mit David geredet?“, erkundigte er sich beiläufig, wie die nervige beste Freundin, die hinter einer Ecke hing und ihre zweite Hälfte ansprang, weil diese zu nah am Schulschwarm vorbeigegangen war und sich daraus eine hoffnungsvolle Beziehung entwickeln könnte. Fran hatte erst nach der Trennung festgestellt, dass Tyree seinen Vater immer beim Vornamen nannte und die ganze Daddy-Scharade nur der Konformität einer Ehe zugunsten aufgesetzt hatte. Sie hatte erstaunt, aber nicht wirklich überrascht gewirkt, so als sei jede bizarre Lüge irgendwie zu erwarten gewesen. Fran konnte nicht wissen, dass er es bereute. Menschen trauten ihm zu, dass er den Ammoniak-Kreislauf frei aus dem Gedächtnis darlegen konnte, aber nicht, dass er Dinge bereute. Was gut so war. „Kurz. Er steht im Halteverbot, also kommt er nicht rauf.“ Das war nicht der Grund, und sie beide wussten es. Cyrus indes wusste es wahrscheinlich nicht. Tyree hatte lange nicht verstanden, wie ihm eine Verbindung von wenig mehr als einem Jahr so viel bedeuten konnte. Und als er es verstanden hatte, war es zu spät gewesen. „Dann sollte ich mich besser beeilen“, stellte er fest und ging in die Hocke, um einen Karton – es gab derer nur drei – gelenkschonend aufzuheben. Man musste den Bandscheibenvorfall nicht anlächeln, auch mit neunzehn nicht. „Cy, nimm die große Kiste, bitte“, sagte Fran sanft und lächelte nicht, zog jedoch so langsam ihre Hand zurück, dass es ein Streicheln war. Cyrus nickte dumpf, schluckte trocken. Er bewegte sich ruckartig, als hätte sein Körper die Atomstruktur geändert, ohne ihm vorher Bescheid zu sagen. Clever, wenn es so wäre. Mit seinen kompensatorischen Laternenmast-Muskeln schien ihm Tyrees Drittel des Lebens nicht mehr Mühe zu machen als ein leerer Papierkorb, dennoch bewegte er sich schleppend. Sein fetter Neufundländer Mister Muffin wuselte ihm um die Beine und sabberte vor Begeisterung lange Fäden. Tyree hielt den Karton wie einen Schild und sah weg. Angeblich entmutigte Ignoranz Hunde, auch wenn sie so debil waren wie Mister Muffin. „Außerdem habe ich ihm gesagt…“, begann Fran und bückte sich nach der verbleibenden Kiste. Ihr borstiger Zopf rutschte ihr dabei über die Schulter, und ihr Blick unter den tiefliegenden, geraden Augenbrauen richtete sich auf Tyree. „… dass sein Sohn ein Soziopath ist.“ Das mochte Tyree an Fran: sie sprach diese Dinge aus, ohne dabei primitiv eine verletzende Absicht zu offenbaren, sie hielt ihr Gefühl aus Feststellungen fern und zeigte sich für Argumentation empfänglich. Es tat nicht weh. Tyree neigte den Kopf und versuchte, Mister Muffin im Auge zu behalten. „So?“ „Du denkst, ich will dich beleidigen.“ Fran presste die Lippen zusammen, vielleicht um zu unterdrücken, dass sie es irgendwo in ihrem Geist doch wollte, weil er kleine Spritzer aus Säure in Cyrus‘ ewig blank liegende Nerven träufelte. Bei ihrem Mutterinstinkt wäre das denkbar. „Nein.“ Tyrees Arme begannen, müde zu werden. „In ‚Soziopathie‘ steckt die Silbe ‚pathos‘ für ‚leiden‘. Eine leidvolle Schädigung, als solches, ist kein von mir beeinflussbarer Zustand, sondern eine Erkrankung.“ Es war übrigens sehr symbolisch, wie sie ihre Barrieren voreinander hertrugen. Hätte er das gewusst, hätte er noch ein paar alberne Buttons an die Kartons geheftet. Er hatte es geschafft, sie zu irritieren. „Du solltest… mit deinem Vater darüber reden.“ „Und ihm was sagen?“ Fran spannte ihren Kiefer an, dann seufzte sie schließlich. Mister Muffin wischte sich empathisch seine tropfende Hundenase an ihrer Hose ab. Tyrees Arme wurden allmählich so schwer, dass sie schmerzten. Das war allerdings auch der einzige Schmerz, den er empfand, und man konnte behaupten, dass Fran ihn – über Umwege – verursacht hatte. Insofern konnten sie beide mit sich zufrieden sein. Sie wandte sich ab und schob den Hund mit dem Knie zur Seite. „Irgendwann wird dir jemand ziemlich die Fresse polieren, Tyree“, brummte sie. „Bis dahin, pass auf dich auf. Sonst tut’s wer anders für dich.“ „Das war wunderschön zweideutig.“ Tyree hätte beinahe gelächelt, doch üblicherweise machte er sich die Mühe nicht, wenn es eh keiner sah. „Mach’s gut. Oder… mach’s richtig.“ Fran bleckte angespannt die Zähne, oder was man als Lächeln gelten ließ. „Du auch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)