Yours to keep. von Anemia ([Vivian & Theon]) ================================================================================ Kapitel 3: 3. Kapitel - Crash my World. --------------------------------------- Vivian Es gab Tage, an denen gestaltete sich das Erwachen grausam. Man bekam die Augen nicht auf, obwohl man sich noch so sehr bemühte, gegen den Schlaf war man allerdings machtlos und musste sich geschlagen geben. Wenn ich getrunken hatte war es immer besonders schlimm. Dann kamen noch ein quälender Kopfschmerz und schwache Glieder hinzu, die einem das Leben zusätzlich zur Hölle machten und das Munterwerden zu einem Ding der Unmöglichkeit mutieren ließen. Ich weiß nicht, ob es Pech oder eher Glück war, dass meine Bandkollegen von meinen postalkoholischen Problemen wussten und alles dafür taten, damit ich meinen Hintern aus dem Bett schwang. So auch heute. Kaum war der milchige Schleier, der sich über Nacht auf meine Augen gelegt hatte gewichen, rüttelte man unsanft an meiner Schulter und brüllte mich beinahe an. "Vivian! Der Videodreh!" Eindeutig Theons Stimme. Ich grummelte. Ach ja, der Dreh. Nach dem war mir allerdings überhaupt nicht zumute. Ich sah mich jedenfalls noch nicht irgendwo in Tampere stehen und die gemeinsamen Szenen mit Theon abdrehen. Dazu pochte mein Schädel zu stark. Und als ich mich leicht bewegte, stellte ich fest, dass mein Hirn mal wieder hin und her flutschte wie ein Schwamm in einem mit Wasser gefüllten Behälter. "Gleich...", murrte ich, rieb mir über den schmerzenden Kopf und hoffte auf Gnade, die mir jedoch nicht gewährt wurde. Theon konnte gnadenlos sein, wenn auch selten, und dann hasste ich ihn auch immer ein wenig, aber das war nie von Bedeutung. Er schien Verstärkung in Julian gefunden zu haben, denn die Beine vor meiner Nase identifizierte ich als die seinen und es gab zudem keine andere Stimme, die mir so durch Mark und Bein gehen konnte. Zwar handelte es sich bei ihm um unser Nesthäkchen, aber das bedeutete nicht, dass er keinen perfekten Weckruf auf Lager hatte, der einen augenblicklich stramm stehen ließ. "VIV! DU STEHST JETZT AUGENBLICKLICH AUF UND SPIELST NICHT WEITER DAS WEICHEI, VERSTANDEN?" Dazu riss er mir die Decke vom Leib und schleuderte sie aus meiner Reichweite. Ich fühlte mich schrecklich, aber ich begab mich langsam in die Vertikale. Oh Scheiße, Videodreh fällt aus, dachte ich einmal mehr, kniff die Augen zusammen und verbarg sie zusätzlich mit den Handflächen vor dem grellen Licht. "Hier, trinken", wurde ich nun von Theon angewiesen, bekam ein Glas Wasser gegen die Hand gestoßen, in dem eine Brausetablette sprudelte, wie ich feststellen konnte, als ich dann doch leicht blinzelte. Ja, genau das brauchte ich jetzt. Eilig stürzte ich das zugegebenermaßen ziemlich eklige Gebräu hinunter und hoffte auf baldige Besserung. Bis dahin brauchte ich meine Ruhe. Doch für Ruhe blieb keine Zeit. "Hopp, hopp, es ist schon fast zwölf Uhr!", trieb Theon mich an und klatschte dabei auffordernd in die Hände. "Du kannst jetzt nicht rumsitzen, du musst dich noch waschen und anziehen und -" "Ja, ja, ist ja gut", murrte ich und erhob meinen Arsch letztlich von der Matratze, um daraufhin schwerfällig in das Badezimmer zu trotten. Und ich fragte mich nun ernsthaft, wieso ich mich nur so volllaufen gelassen hatte. Ich sollte disziplinierter werden, eindeutig. Schließlich war ich keine zwanzig mehr und besonders wenn man wie ich eine Tochter hatte musste man sich ein wenig zusammenreißen. Schon wegen der Vorbildfunktion. Aber ich tat es trotzdem immer wieder. Der Alkohol winkte mir jedes Mal förmlich zu und ich konnte nicht widerstehen. Genau das war es auch, was ich Theon erklärte, als wir mit der Eisenbahn zu unserem Drehort nach Tampere tingelten. Ich war wieder einigermaßen beisammen, sah jedoch noch immer aus wie eine Moorleiche, wie mir mein bester Kumpel lachend bestätigte. "So ist das eben", redete ich weiter und zuckte mit den Schultern. "Du kannst doch bei schönen Frauen auch nicht nein sagen." Mir war klar, dass Theon es nicht mochte, wenn ich dieses Thema anschnitt, warum auch immer, aber ich tat es trotzdem ziemlich häufig, denn es bereitete mir einen nicht abzustreitenden Spaß, Leute in Verlegenheit zu bringen. Besonders bei Theon gefiel es mir, wenn er sich leicht schämte, dann wurden seine Wangen rot und sein Lächeln wurde ganz breit. Ja, er hatte dann tatsächlich etwas von einem schüchternen Mädchen an sich, wie ich fand. Aber das sagte ich ihm natürlich nicht, denn welcher Mann wollte schon mit einem Mädchen verglichen werden? "Aber du solltest dich in Zukunft wirklich zügeln", beharrte der andere noch immer auf dem Ausgangsthema. "Das gestern, das war schon heftig. Sehr heftig. Das hat den Vogel total abgeschossen." Nun war ich verwirrt. "Hä, wieso 'Vogel abgeschossen?'", hakte ich etwas beunruhigt nach und wurde sofort über mein Verhalten am gestrigen Abend aufgeklärt. Dank Filmriss konnte ich mich nur noch bis zu dem Moment erinnern, an dem dieser kleine Groupie zu uns an die Bar gekommen war. Dahinter gaffte ein riesengroßes Nichts. Geschockt musste ich mir erzählen lassen, dass ich meinem Verehrer gegenüber beinahe handgreiflich geworden wäre und Theon mich dann heimbringen musste, weil ich weder selbständig stehen noch laufen konnte. "Sorry, dass ich dir das so direkt sagen muss, Viv", meinte Theon abschließend, "aber du hast dich benommen wie ein Arschloch." "Aber du hast mich trotzdem nicht in irgendeiner Ecke liegen gelassen...", überlegte ich leise und schüttelte dann den Kopf über mich selbst. Dann schaute ich den anderen direkt an, der den Blick fragend erwiderte. "Weißt du was? Sollte ich mich wieder mal so gehen lassen, dann trete mir einfach in den Arsch und schrei mich an. Wahrscheinlich brauche ich das, wenn ich besoffen bin. Vielleicht lerne ich dann endlich mal, wo meine Grenzen liegen." Ein leichtes Lächeln zuckte über mein Gesicht. "Wenn man mich dann noch bemuttert und zu sich ins Bett nimmt, genießt es mein betrunkenes Ich doch erst recht noch." "Ich konnte halt nicht anders", kam es ernst von Theon, der seinen Blick abwandte und nun den Boden anstarrte, als wiese dieser irgendein interessantes Muster oder dergleichen auf. "Du bist doch...mein bester Freund..." "Ach, Toro", seufzte ich tief und legte mir ohne groß darüber Gedanken gemacht zu haben den Arm um ihn, so wie oft. "Du bist eindeutig zu gut für mich. Zu gut für diese ganze Welt. Wenn ich dich nicht hätte..." Die letzten Worte waren mehr nur noch ein Säuseln, ich meinte es ernst. Der häufig so stille Theon, der selten über seine Gefühle sprach, aber umso häufiger über sie sang, hatte so ein gutes Herz. Selbst einem Rüpel wie mir hatte er einen Platz darin eingeräumt und diesen über all die Jahre niemals freigegeben. Wahrscheinlich würde er es auch in Zukunft nicht tun, überlegte ich. Wahrscheinlich, weil ich im Grunde doch kein so schlechter Kerl war. Weil auch ich meine Qualitäten hatte. Aber so ein Goldschatz wie Theon war ich bei Weitem nicht. Das war niemand. Theon war jemand, der immer hinter dir stand, wenn er dich mochte. Der dich niemals mit Absicht verletzt hätte. Der so gut und geduldig zuhörte, wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen war. Der nicht verurteilte, sondern immer ruhig blieb, egal, was du ihm gerade eröffnetest. Ich musste wieder lächeln, ganz kurz nur, als ich ihn betrachtete, ihn, den schon wieder so abwesend wirkenden Sänger. Ja, Theon war schon toll. Ich war so froh, dass ich ihn hatte. ***** Wir hatten Glück. Das Wetter hatte uns nicht wie beim letzten Mal einen Strich durch die Rechnung gemacht und danach verlangt, den Dreh auf einen anderen, trockeneren Zeitpunkt zu verschieben. Selbstverständlich hatte es auch seinen Reiz, ein Video komplett im strömenden Regen abzudrehen, schließlich sorgte dieser doch für eine ganz besondere Atmosphäre, aber es gestaltete sich wesentlich einfacher für uns sowie das Team, wenn der Boden trocken war. Und außerdem war die Laune aller Beteiligten bei Sonnenschein deutlich besser. Besonders Miikka, dem Regisseur, war es sofort anzumerken, wenn er wetterbedingt schlechte Stimmung schob. Heute schien jedoch alles in Butter. Er hüpfte uns beinahe schon wie ein überdimensional großer Gummiball entgegen, als Theon und ich am Ort des Geschehens eintrafen. Bedingt durch seinen doch etwas korpulenteren Körperbau verstärkte sich dieser Effekt noch zusätzlich und es war fast schon niedlich mit anzusehen, wie er uns am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Irgendetwas hatte ihn in Hochstimmung versetzt, das konnte er nicht abstreiten. Und wir sollten im Folgenden erfahren, was es war. "Jungs!", jubelte er vollkommen außer sich, wirkte dabei wieder wie ein kleiner Junge, obwohl er schon rapide auf die Vierzig zuging. "Ich habe die Idee des Jahrhunderts! Und das nur, weil Susa krank geworden ist! Jungs, ihr glaubt es gar nicht, aber ich würde ihr am liebsten die Füße küssen dafür." Hätte uns diese Information nicht wie der Blitz getroffen, hätten wir uns wahrscheinlich über Miikkas Euphorie amüsiert, genau wie das restliche Kamerateam. Doch mir blieb das Lachen prompt in der Kehle stecken. Und auch Theon schaute aus der Wäsche, als hätte er einen Geist gesehen. "Krank? Susa ist krank? Aber -", setzte Theon geschockt an, er war der erste, der die Fähigkeit zu sprechen wiedererlangt hatte. Bevor er jedoch weiterreden konnte, fuchtelte Miikka wie verrückt mit den Händen herum und schüttelte heftig den Kopf. "Keine Sorge, Jungs, wie gesagt, das hat mich zu der Idee des Jahrhunderts inspiriert!", erklärte er aufgebracht und blätterte hastig in seinem Skript umher, bis er uns wieder mit funkelnden Augen ansah. "Ursprünglich war es ja so geplant, dass du, Theon, Susa vor Vivians Angriff rettest. Aber wer will denn immer nur die Klischees bedienen und Dinge wiederholen, die man schon tausendmal gesehen hat?" Er schnippte vor unseren verdutzten Nasen mit den Fingern und strahlte dabei mit der Sonne um die Wette. "Wir machen etwas ganz Innovatives! Etwas noch nie Dagewesenes!" Oje. Miikka war zwar ein Genie, wenn es um kreative Prozesse und Drehbücher ging, aber mittlerweile fürchtete ich, er sei von allen guten Geistern verlassen worden. Irgendetwas sagte mir, dass es sich bei seiner alternativen Idee um etwas handelte, das mir nicht gefallen würde. Aber wir wollten ihm trotzdem eine Chance geben. Und die erforderte, dass wir zunächst geduldig anhörten, was er uns zu sagen hatte. "Ja, also, ich habe mir das so gedacht: Du bist dieses Mal der Retter Theons, Vivian. Du greifst ein, als Theon von einem Fremden angegriffen wird. Wir erzählen die ganze Geschichte so, dass man eure tiefe Freundschaft auch ohne große Worte erkennen kann. Nur durch Blicke, Gesten und getragen von diesem wunderschönen Lied." Ich sah, wie Theon den Mund aufmachte, aber dieses Mal stumm blieb. Ich jedoch platzte sofort mit meinen Einwänden heraus. "Aber...'Yours to keep' ist doch ein Liebeslied...wir würden uns ziemlich lächerlich machen, glaube ich...also..." "Aber nicht doch, nicht doch!", fuhr mir prompt wieder Miikka dazwischen. "Man könnte auch eine Art Bruderliebe in die Lyrics hineininterpretieren und deswegen -" "Theon hat es aber als Liebeslied geschrieben", argumentierte ich. "Ich will nicht, dass der ursprüngliche Sinn verfälscht wird." Theon sah mich daraufhin lange an. Ich glaubte, Dankbarkeit in seinem Blick erkennen zu können. Aber auch noch irgendetwas anderes. Etwas...Flehendes? Wollte er Miikkas neue Geschichte etwa tatsächlich so abdrehen? Konnte er sie als Ergänzung zu seinen wundervollen Lyrics akzeptieren? Ich wunderte mich sehr darüber, aber ich hatte tatsächlich diesen Eindruck. Das war vielleicht auch der Grund, weswegen Theon keinerlei Einwände gegen Miikkas Idee geäußert hatte. "Moment, Miikka, wir müssen das unter vier Augen besprechen", entschuldigte ich mich kurz und zog Theon dann am Arm weg von den anderen. Schließlich stand er mir gegenüber und schaute mich stumm an. "Im Grunde musst du entscheiden, schließlich hast du die Lyrics geschrieben", erklärte ich ruhig. "Wenn die Geschichte so, wie sie Miikka vorgeschlagen hat, für dich wirklich okay ist, dann werde ich mich nicht dagegen stellen." Meine Stimme wurde leiser, ruhiger. "Ich will nur nicht, dass die Message verfälscht wird. Dass den Hörer nicht mehr genau das erreicht, was du vermitteln wolltest." "Es ist in Ordnung, Viv", nickte Theon sacht, seine Mundwinkel zuckten unsicher. "Ich bin um ehrlich zu sein für Miikkas neue Geschichte. Sie ist etwas ganz anderes, da hat er Recht. Und außerdem will ich nicht, dass du immer der Böse bist. Das passt nämlich eigentlich gar nicht zu dir..." "Oh, wenn ich will, dann kann ich seeehr, seeehr böse sein", grinste ich dreckig, da man Miikka aber bereits von weitem winken sah, setzten wir uns wieder in Bewegung und teilten ihm schließlich unseren Entschluss mit. Wir wollten das Video nach seinem neuen Skript drehen. Dass ich dennoch nach wie vor Zweifel hegte, behielt ich für mich. Ich wollte es versuchen, Theon zuliebe. Hier ging es weniger um mich, sondern viel mehr um ihn. Und außerdem musste man ja stets offen für neue Dinge sein, damit man nicht irgendwann zum Stillstand kam. "Ähm, Miikka", äußerte Theon nun allerdings und schaute sich suchend um. "Wer soll eigentlich meinen Angreifer spielen? Die anderen Jungs sind nicht da und sonst..." Miikka aber blickte entschlossen an ihm vorbei, in die vermeintliche Ferne. Doch dem war nicht so. Erkennen funkelte in seinen Augen und mit einem Mal wirkte er wieder ziemlich aufgeregt, winkte und rief laut "Hierher, Junge, hierher!". Verwirrt drehte ich mich schließlich um und konnte prompt meine Kinnlade nicht mehr vom Hinunterfallen abhalten. Es war dieser verrückte Groupie, der direkt auf uns zuschlenderte. Seine langen Haare und dieses fiese Grinsen waren unverkennbar ihm zuzuordnen und auch wenn ich absolut nicht begeistert, ja sogar schockiert über Miikkas Wahl war, so wusste ich, dass es wahrscheinlich keinen besseren Bösewicht auf der Welt hätte geben können. "Wo hast du den denn aufgetrieben?", hakte Theon, der den Typen nun auch entdeckt hatte, ebenso wenig erfreut nach. "Ach, das war alles nur ein großer, glücklicher Zufall", erörterte Miikka mit ausladenden Gesten und nahm den Jungen happy in Empfang, dieser aber verabscheute die Knuddeltour sichtlich und sah zu, dass er ein paar Zentimeter zwischen sich und Miikka brachte. "Kurz nach Susas Absage lief mir Neo über den Weg und ich hatte den kompletten Film vor Augen, mit ihm, mit euch. Ich musste ihn einfach fragen, ob er denn nicht im Video mitspielen wolle. Und er hat 'Ja' gesagt!" Den letzten Satz presste er nur noch kieksend hervor, während ich Neos Blick unaufhörlich auf mir ruhen spürte. Hatte es ihm denn nicht genügt, dass ich ihn letzte Nacht beinahe verkloppt hätte? Er war hartnäckig, das musste man ihm lassen. Und ich begann zu erkennen, dass es wirklich eine sehr gute Idee war, ihn in dem Video Theon angreifen zu lassen. Es würde mir helfen, meine Rolle verdammt authentisch rüberzubringen. ***** Es dunkelte bereits, als wir uns alle in die Ausgangsposition begaben. Ich hatte mir meine Kapuze tief in das Gesicht gezogen, sodass sie beinahe meine Augen verdeckte, Miikka meinte, das ließe mich zunächst wie einen weiteren Antagonisten wirken. Wahrscheinlich wollte er mir aber nur einen leicht bösen Touch andichten, weil er mir einfach gut zu Gesicht stand. Theon teilte seine Meinung zwar nicht, wie ich erfahren hatte, aber der musste sich im Augenblick ohnehin viel zu sehr darauf konzentrieren, das arme Opfer zu spielen. Im Moment sah ich lediglich Neos Rückseite, die sich vor Theon geschoben hatte, aber ich wusste, dass er ein Messer in der Hand hielt, welches er unserem Sänger gegen die Kehle drücken sollte. Es ist nur ein Spiel, versuchte ich mir einzureden und dennoch fühlte ich mich mit dieser Gewissheit ganz und gar nicht wohl. Sogar ein kleiner Funken von Wut flammte in meiner Brust auf, rutschte tiefer in den Magen, wo er förmlich explodierte und meine Hände zu Fäusten werden ließ. Dieser Neo war mir einfach nicht geheuer. Ich vertraute ihm nicht. Wusste nicht, zu was er fähig war. Aber Gnade dir Gott, Bürschchen, raste es durch meinen Kopf, während Miikka laut 'Action!' rief und die Klappe geschlagen wurde. Wenn du Theon wehtust, dann mache ich dich fertig. Wild entschlossen spurtete ich los. Meine Blicke fixierten mein Ziel, es dauerte nicht lange, bis ich Neo zu fassen bekam und ihn von dem sich erfolglos wehrenden Theon zerrte. Letzteren riss ich an mich und fühlte mich dabei tatsächlich wie ein Held. Theon strauchelte, doch ich hatte ihn. Hielt ihn fest. Sein Atem ging schnell, genau wie meiner. Seine Lippen waren einen Spalt weit geöffnet. Ich zog mir die Kapuze vom Kopf, sodass man den tapferen Retter erkennen konnte. Und es ermöglichte mir zudem einen Blick direkt in Theons Gesicht. Seine Augen waren groß, geweitet, wendeten sich keinen einzigen Herzschlag lang von mir ab. Und auch ich konnte auf einmal nicht mehr wegsehen. Sog jedes Detail seiner Züge in mir auf und in dieser Sekunde wuchs ein schier übermächtiges Gefühl in mir heran. Mir war, als wollte ich die ganze Welt umarmen, dieses Empfinden irgendwie kompensieren. Ich war so überwältigt, dass ich nichts mehr um mich herum mitbekam. Alles war ausgeblendet. Meine komplette Aufmerksamkeit galt Theon. Theon und seinen eisblauen Augen. Ich fühlte mich ihm plötzlich so nah, so verbunden, es war so intensiv wie nie zuvor. Ich hatte keine Ahnung, was in diesem Augenblick mit mir passiert war. Ich spürte nur, dass es groß war. Ein tiefes, dumpfes Gefühl, dass noch lange anhalten sollte. Doch mir war bewusst, dass es etwas mit Theon zu tun hatte. Wann immer ich ihn in den nächsten Stunden anschaute, flackerte wieder dieses irre Gefühl in mir, warm und wohlig wie die Kerzen an einem schönen Christbaum. In mir war der Wunsch gewachsen, nach Feierabend unbedingt noch etwas mit ihm zu unternehmen. Irgendwie wollte ich mich nicht mehr von ihm verabschieden müssen. Ich wollte wieder in seiner Nähe sein, obwohl ich diese Gefühle nicht mehr einzuordnen wusste. So anders waren sie, so viel tiefer, als ich sie ihm gegenüber kannte. Noch durchleuchtete ich sie nicht weiter, denn ich wollte sie viel lieber genießen, ohne ihnen einen Namen zu geben. Die Zeit war noch nicht reif, um sie zu hinterfragen und in eine Schublade zu stecken. Das wusste ich ganz genau. Die Szene musste noch ein paar Mal wiederholt werden, ehe Miikka und auch wir endgültig zufrieden waren. Das bedeutete auch, dass ich Theon noch häufiger im Arm halten musste oder auch durfte und dass ich bei jedem Mal verrückter wurde. Ich konnte kaum hinsehen, als wir uns die Szene auf dem kleinen Bildschirm der Kamera ansahen, denn ich schaute Theon ohne zu übertreiben wie ein hungriger Wolf an. Und es war mir äußerst unangenehm, dass dies auch Miikka aufgefallen war. "Du guckst, als würdest du Theon gleich fressen wollen", amüsierte er sich, ich schwieg jedoch eisern. Und auch Theon sagte nichts, wirkte wieder einmal ziemlich abwesend. Wo er mit seinen Gedanken nur immer war? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich an diesem Abend ständig in Träumereien erwischte, die sich alle um diesen besonderen Moment drehten. Theon war selbstverständlich einverstanden, dass wir noch ein gemeinsames Feierabendbier einnahmen und so zogen wir uns nach getaner Arbeit müde, aber sehr zufrieden und noch immer aufgewühlt in unser Lieblingslokal in unserer geliebten Heimatstadt zurück. "Aber heute passe ich auf, dass du dich nicht wieder komplett volllaufen lässt", warnte Theon mich, als wir unser erstes Bier geordert hatten. "Geht klar, Chef", salutierte ich grinsend mit der Gewissheit, dass ich heute ohnehin keinen Alkohol benötigen würde. In mir schwammen so viele Glücksgefühle, dass ich mich wirklich sehr zügeln musste, um sie nicht ausbrechen zu lassen. Die Welt war so schön. Alles leuchtete, allem konnte ich heute eine positive Seite abgewinnen. Und trotzdem vermied ich nach Möglichkeit Blickkontakt mit Theon. Denn dieser ließ mich jedes Mal beinahe komplett durchdrehen. Es war verrückt. So verdammt verrückt. Ich machte Späßchen noch und nöcher, Theon hielt sich den Bauch vor Lachen, was meine Stimmung noch höher drückte. Ich hatte das Gefühl, dass es nichts mehr geben konnte, was mir hätte meine Laune ruiniert. Für mich gab es nur noch Theon, immer nur Theon, Theon, Theon und nochmals Theon. Doch es existierte nicht umsonst dieses Sprichwort, welches besagte, dass auf einen hohen Flug ein tiefer Fall folgte. Um mich und Theon schien sich eine Glocke gebildet zu haben, die die komplette Außenwelt abschottete. Ich nahm das Geschehen um uns herum nur noch beiläufig war, deswegen musste ich erst darauf hingewiesen werden, dass ich Besuch bekommen hatte. Tatsächlich. Neben dem Tisch stand plötzlich meine Frau und schaute mich fragend an. "Äh ja, hallo", begrüßte ich sie schließlich überrascht und noch immer ziemlich fahrig, aber ich hatte mich immerhin so weit gefangen, dass ich Worte aus mir herauspressen konnte. "Was machst du denn hier? Um die Zeit?" Ihr Gesicht blieb allerdings starr, ihre Augen kalt, kein einziges Lächeln hatte sie für mich übrig. Mich überkam Angst. "Ist irgendwas passiert?", wollte ich wissen, erhob mich sogar von meinem Stuhl und ließ sie nicht mehr aus den Augen. "Ist was mit Liina?" "Nein, nein, alles okay", beruhigte sie mich sofort und ich atmete tief durch. Aber damit war noch nicht alles ausgestanden. Sie tat einen Schritt auf mich zu und zischte: "Ich muss mit dir reden." Dieser Satz klang nicht gut. Überhaupt nicht gut. In Filmen bedeutete dieser stets den Auftakt für etwas Schlimmes. "Jetzt?", hakte ich nach. "Können wir das nicht morgen besprechen? Es müsste doch fast schon Mitternacht sei und -" "Es ist wichtig, Viv." Ich runzelte die Stirn, wiegte mit Seitenblick zu Theon hin den Kopf und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Dieser aber hatte einmal mehr Verständnis dafür, ließ mich ruhig ziehen. Wahrscheinlich wusste er selbst zur Genüge, wie die Frauen waren: Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, dann konnte sie nichts von ihrem Vorhaben abhalten. Wir ließen uns an einem Tisch abseits des wilden Kneipenlebens nieder; Katra saß mir gegenüber und fackelte gar nicht lange, bis sie mit dem Grund für ihren plötzlichen Besuch herausrückte. "Ich will die Scheidung." Ich war baff. Reckte geplättet den Hals nach vorne. Zum zweiten Mal an diesem Tage hätte ich meine Kinnlade fast nicht mehr vom Fallen abhalten können. Doch diese Situation war wesentlich bedeutender, einschneidender, schockierender als jedes Auftauchen Neos. Sekunden brauchte ich, um mit dem eben Gehörten fertig zu werden. Wir sahen uns längst nicht mehr an, ich verfolgte nur noch unbewusst die Maserung des Holztisches und vermochte meine Gedanken nicht mehr zu ordnen. "Aber...warum?", entkam es mir schließlich mit bebender Stimme, nun schaute ich sie auch wieder an, fand aber ihren Blick nicht. "Vor ein paar Tagen, da war doch noch alles gut bei uns..." "Und genau das ist der Punkt", ergriff sie den Gesprächsfaden, ich verstand nicht, sie musste es mir genauer erklären, was sie auch tat. "Vor ein paar Tagen haben wir uns zum letzten Mal gesehen, dann warst du wieder weg, mit deiner Band. Weißt du, wir sehen uns viel zu selten. Wir sind doch schon längst keine Einheit mehr, leben nur noch nebeneinander her." "Aber ich...ich liebe dich doch!", beteuerte ich fassungslos, war mir, nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, jedoch plötzlich gar nicht mehr sicher, ob das, was ich für sie empfand, tatsächlich noch die Bezeichnung Liebe verdient hatte. Sie war meine Heimat, sie war die Mutter meines Kindes, ich schätzte sie sehr. Doch war das noch Liebe? Oder nur noch bloße Gewohnheit? All diese Dinge prasselten nun auf mich nieder, ich wurde ihnen kaum noch Herr. "Eine Ehe funktioniert für mich nur, wenn die Partner sich zumindest jeden zweiten Tag sehen", fuhr sie fort. "Tut mir Leid, Viv." "Wir haben das doch aber alles damals besprochen", warf ich ein. "Du wusstest genau, auf was wir uns einlassen. Dass meine Band viel Zeit erfordert und deine auch. Und trotzdem wollten wir es durchziehen. Schon Liina zuliebe. Sie sollte mit Mutter und Vater aufwachsen dürfen. Und jetzt willst du das...alles einfach so hinschmeißen?" Die letzten Worte zischte ich nur noch verständnislos, spürte, dass ich kurz davor war, die Fassung zu verlieren. All das, was ich sagte, war nichts als die Wahrheit. Und nun wollte sie all das einfach so auflösen? Das funktionierte nicht. Und plötzlich sah es so aus, als würde sie es einsehen. Sie war ganz still geworden, fuhr sich durch ihr langes Haar, wie immer, wenn sie mit etwas haderte oder wenn sie mir etwas verheimlichte, was in jeder guten Ehe ab und an vorkam. Ich wusste plötzlich, dass hier etwas faul war. Dass sie mir nicht alles erzählt hatte. Dass sie nur nach einer fadenscheinigen Ausrede gesucht hatte. Ich kannte sie lange genug, um das behaupten zu können. "Raus mit der Sprache, was ist hier wirklich los?", forderte ich eindringlich, kesselte sie so lange ein, bis sie sich schließlich geschlagen gab. Im Lügen war sie noch nie gut gewesen, das wusste sie doch ganz genau. Und trotzdem versuchte sie es immer wieder. "Ich habe mich in Aki verliebt. Wir sind seit ein paar Wochen zusammen. Es tut mir so unendlich leid, Vivian, aber es ist einfach pas-" "Einfach passiert?" Ich konnte mich kaum mehr auf meinem Stuhl halten. Wünschte mir sogar, dass ich die Wahrheit niemals erfahren hatte, denn sie tat weh. Verdammt weh. Und als sie auch noch reumütig nickte und mich beruhigen wollte, hatte ich Mühe, mich beherrschen zu können. "Ich bin dir seit so vielen Jahren treu, habe nichts mit Groupies, verbringe jede freie Minute mit dir und zum Dank gehst du mir mit deinem Drummer fremd?" Ich war aufgesprungen, ließ mich nun aber wieder auf meinen Stuhl sinken und schüttelte den Kopf. "Ich fass es nicht...ich fass es einfach nicht..." "Alles klar?", hörte ich nun eine mir vertraute Stimme fragen, schaute Theon allerdings nicht an, denn ich kämpfte noch immer mit dem gerade Gehörten. "Nichts ist hier klar", presste ich hervor, stand jetzt endgültig auf und hastete ziellos durch die Kneipe, rannte dabei mehrmals gegen Stühle, spürte aber die Schmerzen aufgrund der Zusammenstöße nicht. Letzten Endes fiel ich auf die Bank am anderen Ende der gemütlichen Stube und starrte zitternd an die Decke. So lange, bis mich jemand an sich drückte, mir etwas zusäuselte, das ich aber nur wie durch einen dichten Schleier vernehmen konnte. "Sie...sie hat einfach einen anderen. Einfach so...", purzelte es aus mir heraus; ich plapperte noch mehr wirres Zeug vor mich hin, bis ich glaubte, überhaupt nichts mehr empfinden zu können. Ich spürte gerade noch so, wie mir Theons Hand über den Kopf strich, immer und immer wieder. "Wie soll es jetzt weitergehen?", fragte ich, erwartete aber nicht ernsthaft eine Antwort. "Ich...ich...hier ist doch alles...alles im Arsch..." "Ich bin da", meinte Theon daraufhin mit so viel Wärme in seiner Stimme. "Ich bin für dich da, Vivi. Du kannst mit zu mir kommen, meine Wohnung ist groß. Ich mach dir eine heiße Schokolade, dann gehts dir vielleicht ein kleines bisschen besser. Okay?" Ich nickte, ohne über seine Worte nachgedacht zu haben. Mir war einfach alles recht. Und ganz tief in mir drin wusste ich, dass Theon einfach das Beste war, was mir passieren konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)