Fremde Welten: Unmöglich ist nichts (#3) von Purple_Moon (Prinz Soach und das Prinzip des Chaos) ================================================================================ Kapitel 10: Das Ende der Hoffnung --------------------------------- Lord Edeh Arae wusste, dass er die Loyalität seiner Leute arg strapazierte, aber sie blieben ihm treu, wie es ihrem Schwur entsprach, obwohl besonders Rahzihf deutlich missfiel, was mit dem Gefangenen geschah. Allerdings konnte der Krieger wohl kaum das langjährige Vertrauensverhältnis zu seinem großzügigen Arbeitgeber mit einem vor vielen Jahren gegebenen Versprechen vergleichen. Dieses Versprechen verlangte keine Loyalität gegenüber Prinz Soach von ihm. Umgekehrt sah das hingegen anders aus. Seinem Versprechen folgend hatte der Magier seine Magie für den Sohn des Mannes geopfert, der damals sein ungeborenes Kind und die Mutter gerettet hatte. Und offensichtlich beschützte er den Burschen noch immer – logisch, wenn sein Opfer nicht umsonst gewesen sein sollte. Dem Lord kam das sehr gelegen. Da sein Gefangener unter den gegebenen Umständen brav gehorchte, musste er Kihnaf auch nichts antun, was das Risiko minimierte, dass Rahzihf die Seiten wechselte. Nicht dass der Krieger das jemals tun würde. Arae war völlig von der Treue seiner Untergebenen überzeugt, hatte er sie sich doch geduldig erarbeitet, mit einer kleinen Gabe hier, einer netten Geste dort. Dazu kam, dass Rahzihf ihm etwas schuldig war, ebenso wie Fawarius, nachdem die Söhne der beiden ihren Herrn bestohlen hatten. Das Schicksal spielte ihm in die Hände. Er war immer ehrgeizig gewesen, jedoch hatte er für sich in letzter Zeit keine Möglichkeit mehr gesehen, wie er seine Macht erweitern konnte. Mitglied im Zirkel des Bösen zu sein brachte viele Vorteile, aber auch Regeln und Beschränkungen. Dann, vor fast drei Jahren, hatte ihm seine Mutter auf dem Sterbebett erzählt, dass er der Sohn eines Königs war und einen Halbbruder hatte. Prinz Soach, der ironischerweise bald darauf begann, unter dem Namen Sorc auf sich aufmerksam zu machen. Der von einem Knilch aus der Welt des Blauen Lichts geschlagen wurde und vor dem Gericht des Zirkels landete. Der jetzt besiegt vor ihm kniete, um endlich das verdiente Todesurteil entgegen zu nehmen. Natürlich verdiente er das weniger wegen seiner Untaten als vielmehr wegen seiner Verwandtschaft. Sohn der Usurpatorin, empfangen durch einen miesen Verführungstrick! Arae allein gebührte der Thron, dem Sohn des Königs und seiner rechtmäßigen Partnerin! Im Prinzip konnte Soach nichts dafür, aber so entledigte er sich gleich des Rivalen. Denn wenn jemand wie Lady Charoselle sich die Mühe machte, das Blut des rechtmäßigen Königs in ihrem Sohn zu bewahren, gab es sicherlich einen Grund dafür, zum Beispiel, dass das königliche Schloss der Eisigen Inseln auf magische Weise nur dieses königliche Blut auf seinem Thron anerkannte – oder eben die Mutter des Erben. Als Unterweltlerin wusste sie das sicherlich ganz genau. Aber das würde ihr bald nichts mehr nützen. Arae trat neben Soach und zog dessen Kopf an den jetzt kurzen Haaren nach hinten, um ihm das Gift einzuflößen. „Trink, mein Bruder. Es bringt dich nicht sofort um, du hast noch einige Stunden. Schließlich möchte ich, das deine Mutter dabei sein kann, wenn du deinen letzten Atemzug tust.“ Soach presste für einen Moment noch die Lippen zusammen und sah zu ihm auf, doch jemand wie er flehe erwartungsgemäß nicht um Gnade. Er hatte zugestimmt zu tun, was von ihm verlangt wurde, aber würde er Gift trinken? Er tat es tatsächlich und verzog das Gesicht wegen des Geschmacks. Oder vielleicht war es ein Ausdruck der Verzweiflung, weil er nach und nach jede Hoffnung verlor? Vermutlich hoffte er noch, dass jemand ein Gegengift aus dem Ärmel zauberte. Was das anging, gab es noch weitere schlechte Nachrichten, die zu überbringen Arae gerne auf sich nahm. Er ließ Soach los, und der Prinz sank vornüber, stützte sich keuchend mit den Händen ab. „Wie ich sehe, wirkt es bereits,“ stellte der Lord fest. „Wird dir etwas schwindelig? Vielleicht hast du Schmerzen? Meinen Informationen zufolge werden die Symptome in den ersten paar Stunden erträglich bleiben. Später fallen die Opfer normalerweise ins Dilirium, aber bei dir werden wir uns mal überraschen lassen, nicht wahr?“ „Wie... lange?“ ächzte Soach. Sein Körper wurde von einem krampfartigen Zittern heimgesucht. „Oh... etwa zwölf Stunden ist der Durchschnitt, habe ich mir sagen lassen. Aber du kannst diese Zeit um etwa eine Stunde verlängern... indem du mich um das Gegenmittel anbettelst.“ „Was?“ Soach blickte auf, fasste sich jedoch gleich an den Kopf und kniff die Augen zu. Arae lächelte hinterhältig. „Du hast mich richtig verstanden. Bitte mich um das Gegenmittel, und ich werde es dir geben. Küss meine Füße, während du es tust. Mit dem Mittel wirst du gut eine Stunde länger leben... und wir können den Vorgang wiederholen, so oft du es schaffst, bevor das Gift dich doch noch dahinrafft.“ Sein Gefangener zeigte sich außerstande, länger eine gelassene Fassade zur Schau zu tragen. „Aber... rettet mich das Gegenmittel denn nicht?“ „Nicht wirklich,“ lächelte der Lord. „An dieser Stelle müssen wir zwischen einem Gegenmittel und einem Heilmittel unterscheiden. Das Gegenmittel habe ich im Haus. Es wirkt wie eine Medizin, welche die Symptome einer tödlichen Krankheit temporär aufhalten kann und dabei den Verlauf verlangsamt. Ein Heilmittel gibt es hier hingegen nicht... vielleicht in der Gegend, woher das Gift kommt, aber die Reise dahin dauert zu lange, um es zu holen. Oh... da fällt mir ein, auch das Gegenmittel habe ich nur in begrenzter Menge. Du du wirst innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sterben, und niemand kann das verhindern. Ich lasse dich nur bis dahin am Leben, damit Lady Charoselle dein Ende miterleben kann.“ Er beobachtete den anderen genau, um sich daran zu weiden, wie die Erkenntnis in dessen Kopf ankam. Seine Hoheit starrte ächzend in die Luft, presste eine Hand auf den Mund und schien um seine Fassung zu ringen. Waren das Tränchen, die da in seinen Augen glitzerten? Oh, welch ein Anblick! Wenn nur Lady Charoselle das sehen könnte! Doch es wurde noch besser. Prinz Soach von den Eisigen Inseln überwand auf Händen und Knien die kurze Entfernung zu ihm und unklammerte seine Knöchel. Dabei senkte er den Kopf auf Araes Schuhe, wobei der Lord aus seiner Perspektive leider nicht sah, wie er sie küsste. „Gebt es mir... ich bitte Euch!“ Der Unterweltler ließ sich einige Sekunden Zeit mit der Antwort. „Nun gut,“ erbarmte er sich schließlich. „Fawarius, du hast doch eine kleine Probe des Mittels dabei, gib sie ihm. Dann bring ihn in das Zimmer, das ich für ihn habe herrichten lassen. Rahzihf, hilf ihm dabei.“ Er trat Soach von seinen Füßen weg, weil er es konnte, und genoss, wie der Prinz wimmernd zur Seite fiel. Zwar wäre er gerne noch geblieben, aber er platzte fast vor Schadenfreude, deshalb verließ er den Raum mit herrschaftlicher Miene. Erst, als er sich allein in seinem privaten Gemach befand, ballte er triumphierend die Faust. „Ja! Jaaa!“ Er wandte sich breit grinsend dem Portrait einer schönen Frau reiferen Alters zu. „Mutter... ich räche endlich das Unrecht, das unsere Familie erfahren hat!“ *** Crimsons Drache flog hinter dem Chaos-Imperatordrachen her. Dagegen protestierte er nicht, nur hätte der Weißhaarige lieber etwas mehr Kontrolle über die Reiseroute gehabt. Aber dafür ging es schneller voran, als es mit den Schuldrachen der Fall gewesen wäre. Schattensturm und Blacky hielten ganz gut mit, ebenso wie die anderen Mitreisenden, die einen der Drachen vom Drachenhauchorden benutzten. Dabei handelte es sich um General Raiho und seine Männer, Ray, Fire, Vindictus und einen Praktikanten des Heldenordens. Letzterer erschien gerade in seinem Blickfeld. Crimson mochte den Burschen nicht, vielleicht weil er möglicherweise nur im Weg sein würde. Oder wegen seines Geschmacks an Kleidung, obwohl gegen eine schwarze Rüstung eigentlich nichts einzuwenden war. Das Gesicht blieb hinter einem Visier verborgen, in dem lediglich Schlitze für die Augen einen Einblick gewährten. Doch Crimson wollte ihn nicht zu offensichtlich anstarren oder ihm zu nahe kommen, dazu fehlte ihm auch die Zeit. Er tat seine Abneigung als Einbildung ab, die wahrscheinlich daher rührte, dass er sich um Soach sorgte. Sie reisten mit der höchsten möglichen Geschwindigkeit, daher in großer Höhe, wo die Luft kalt und dünn war. Aber der Drachenkörper gab etwas Wärme ab und Crimson nahm ein paar Unannehmlichkeiten gerne auf sich, wenn er schnell ans Ziel kam. Er versuchte immer wieder, den Freund telepathisch zu erreichen, hoffte, dass Soach vielleicht nur seiner Neugier nachgegeben hatte und irgendeine Zone betreten hatte, in der er durch einen natürlichen Bann abgeschirmt war. Jedoch wusste er von keiner solchen Zone in dieser Gegend. Plötzlich brüllte der Chaos-Imperatordrache und ging tiefer. Erst glaubte Crimson, dass ihn etwas verletzt hatte, auch wenn die Vorstellung geradezu absurd war. Wie sich herausstellte, stimmte das auch nicht. Weit unter ihnen fand ein Überfall statt. Ein Reisender wurde von ein paar Kriegern angegriffen, gegen die er sich kaum wehren konnte, deshalb versuchte er zu fliehen. Allein die Ankunft des Drachen brachte die Feiglinge aber zur Flucht. Luster in seiner Drachengestalt war weithin bekannt, weswegen der Gerettete auch keine Furcht vor ihm zeigte, sondern sich immer wieder dankbar verneigte. Vindictus ließ seinen Drachen in der Nähe landen, um den Fremden auf Verletzungen zu untersuchen. Crimson bekam gar nicht wirklich mit, was vor sich ging, denn sein Drache landete etwas abseits vom Geschehen, während der Praktikant näher dran blieb und die Gepäckstücke des Opfers zusammensuchte. „Ey geht’s hier bald ma weiter oda was?“ motzte Fire, dessen Drache ebenfalls am Boden war, und etwas weiter hinten der von Ray. Lediglich Schattensturm blieb in der Luft und segelte langsam voraus, nur konnte auch er nicht wirklich weiterreisen, weil er den Weg nicht kannte. Kurzum, sie verloren etwa zwanzig wertvolle Minuten. Natürlich hätte Crimson die Hilfe nicht verweigert, wenn die Entscheidung bei ihm gelegen hätte, aber er fühlte sich unruhig und unter Zeitdruck. Der Praktikant fing an, ein Messer zu schärfen. Das Geräusch nervte. „Ich würde ja helfen, wenn es dadurch schneller ginge, aber ich sehe nicht, was ich tun könnte,“ grummelte Crimson an Fire gerichtet. „Kannste was spürn? Von Vadder meinich.“ „Nein. Die Verbindung ist nach wie vor abgebrochen. Aber er ist nicht tot, das wüsste ich.“ Fire nickte bedächtig und wartete schweigend, bis die Helden fertig waren. Crimson beobachtete den Praktikanten und runzele die Stirn. Er kam ihm immer mehr bekannt vor... wie er sich bewegte... der Kerl hatte eine gewisse Arroganz an sich, die ihn unglaublich störte. Als hätte er Crimsons Gedanken gehört, drehte er sich in diesem Moment gemächlich zu ihm um. Den Magier gruselte es aus unerfindlichen Gründen. Er konnte die Augen des Kriegers durch das Visier nicht sehen, war aber sicher, dass er ihn direkt ansah und dass der Kerl wahrscheinlich auch grinste. „Wer isn das, kennste den?“ fragte Fire, der den Vorgang mitbekommen hatte. „Ich könnte schwören, dass ich den kenne,“ murmelte Crimson. „Dabei kann ich sein Gesicht gar nicht sehen...“ Der Praktikant schlenderte mit einer hochmütig anmutenden Gangart zu ihnen hinüber. „Hallo, Crimson. Hab gehört, du bist jetzt ganz dicke mit Sorc!“ Die Stimme! Crimson sprang von seinem geliehenen Drachen, trat dem Typen in den Weg und schleuderte eine magische Attacke auf ihn, die ihn nach hinten katapultierte und zu Fall brachte. Dabei flog der Helm weg, und zum Vorschein kamen platinfarbene Haarstoppeln und ein hämisches Grinsen. Er trug eine andere Frisur, aber das Gesicht änderte sich dadurch nicht. „Malice! Wie kommst du in den Drachenhauchorden?“ „Na ich bin Praktikant, weißt du doch,“ entgegnete Malice. „Das ist fast das gleiche wie Rehabilitand, nur nicht so streng überwacht.“ „Wie ist das denn passiert?“ regte Crimson sich auf. „Standest du nicht ebenso vor Gericht wie Soach?“ „Soach... ist das der richtige Name von Sorc?“ Malice strich sich übertrieben nachdenklich am Kinn entlang. „Soweit ich weiß, hat ihn der Zirkel des Bösen abgeurteilt, mich aber der Drachenhauchorden. Sie haben sich untereinander abgesprochen, aber ich und Sorc hatten keinen Kontakt. Doch habe ich durchaus mitbekommen, was aus ihm geworden ist. Helden sind sehr redselig, wenn man sie nur nett genug fragt, weißt du.“ „Das beantwortet nicht meine Frage! Wie konntest du diese Leute glauben lassen, dass es sich lohnt, dich als Praktikant in den Drachenhauchorden aufzunehmen?“ „Darauf kamen sie ganz von selbst, mein Lieber. Ich habe mich einfach nur bei meinen Aussagen etwas zurückgehalten und auf Fragen sehr bedacht geantwortet.“ „Du meinst, du hast Soach die Hauptschuld zugeschoben.“ „Ach... haben sie es so ausgelegt? Dafür kann ich nichts, ich habe mich lediglich nicht unnötig selbst belastet. Es ist auch nicht meine Schuld, dass dein Rehabilitand so loyal ist, dass er mich nicht reingeritten hat. Naja... ich sollte ihm wohl danken. Anscheinend denkt niemand mehr an mich, wenn von demjenigen die Rede ist, der das Schattenreich erobern oder gar zerstören wollte.“ Malice kicherte leise. Bis Ishzark bei der Gruppe erschien. „Wir sind hier fertig, Jungs. Es kann weitergehen.“ Malice sah Crimson an und ließ ihn beobachten, wie sich sein Gesicht änderte. Es wurde zu einer freundlichen, ja geradezu besorgt wirkenden Fassade – etwas, das auch Soach konnte, nur... anders. Seine Stimme verlor den üblichen hämischen Klang, als er sagte: „Lord Ishzark, haben wir alles getan, was wir konnten? Vielleicht sollten wir diesen Mann zu seiner Familie bringen, oder zumindest ins nächste Dorf.“ „Nein, nein,“ winkte der Herrscher der Eisigen Inseln ab. „Er war nur leicht verletzt, und Vindictus hat sich darum gekümmert, es kann weitergehen.“ Sein Blick streifte Crimson, und der Magier erkannte, dass auch Ishzark jede weitere Verzögerung ablehnte. Was Malice betraf... wollte der etwa absichtlich Zeit verschwenden? Crimsons Hass gegen den Kerl flammte erneut auf. Nicht dass er jemals erloschen wäre... Ishzark ging zurück zum Chaos-Imperatordrachen. Malice hingegen ließ sich noch einen Augenblick Zeit, bis der Held außer Hörweite war. „Hast du eigentlich noch manchmal Rückenschmerzen?“ fragte er, grinste breiter, als es einem normalen Menschen möglich sein sollte, und klappte das Visier wieder herunter. „Wir sehen uns bestimmt mal wieder.“ Crimson kletterte ebenfalls auf den Rücken seines Leihdrachens. „Doch, ich kenne ihn,“ murmelte er mit einem Seitenblick auf Fire. „Er ist es, der mir den Rücken aufgeschnitten hat. Er hat Kuro dazu gebracht, mich gefangen zu nehmen. Das war nicht dein Vater.“ „War aber dabei,“ meinte Fire schulterzuckend. „Vadders Beitrach war schlimm genuch, ne?“ „Ja, schon...“ Aber Soach trug er es nicht nach. Vielleicht, weil Soach Verantwortung übernahm und seine Strafe akzeptierte. Er hatte nie um Verzeihung gebeten oder großartig Reue gezeigt, aber er rühmte sich auch nicht so offen mit seinen bösen Taten wie Malice. Dieses schadenfrohe Gelächter raubte Crimson den letzten Nerv. „Wenn wir es nicht eilig hätten... es kann nichts Gutes dabei rauskommen, dass wir ihn dabei haben, aber wir haben keine Zeit, mit Luster zu diskutieren. Ich kann mir schon denken, wie das ausgeht.“ Crimson machte Black Lusters Stimme nach: „Aber Crimson, ich bitte dich. Dieser Mann hat einen neuen Anfang gewagt, verdient er nicht ebenso eine Chance wie Soach?“ Fire lachte, aber weiter kamen sie nicht, denn ihre Drachen flogen hinter ihrem Anführer her und erhöhten den Abstand zu weit, als dass eine Unterhaltung möglich gewesen wäre. *** Soach ließ sich widerstandslos wegbringen, froh über das vorläufige Ende der Demütigung durch den Lord. An sein unvermeidlich erscheinendes Dahinscheiden wollte er erst einmal nicht denken. Zunächst musste er noch einen Schwur erfüllen. Rahzif stellte sich von innen vor die Tür des Gästezimmers, welches Soach für die Dauer seines restlichen Aufenthaltes bewohnen sollte. „Ich hatte keine Ahnung, dass er es auch auf Eure Mutter und deren Thron abgesehen hat... Ich dachte, er hätte etwas Persönliches gegen Euch aus der Zeit, als Ihr das Schattenreich erobern wolltet.“ „Ja, das würde auch dazu passen, dass er immer für die Todesstrafe plädiert hat,“ bemerkte Fawarius, der im Schrank ein Nachtgewand in Soachs Größe heraussuchte. „Hier... das könnt Ihr überziehen. Der Lord stattet alle Gästezimmer gut aus...“ Soach kannte das so auch von Lord Genesis, dementsprechend wunderte er sich auch nicht über die Rüschen an den Ärmeln des knielangen, blütenweißen Gewandes. Er krempelte die Ärmel etwas hoch, so dass die Rüschen nicht störten. „So wie ich das verstehe, war Euch klar, dass er mich töten wollte, und dass mein Tod Eure Söhne vor Bestrafung retten sollte. Welch ein Glück, dass ich zur Verfügung stand, stellt Euch nur vor wenn nicht.“ Die beiden Männer tauschten einen langen Blick aus. „Was ist es, was der Lord mit Heranwachsenden macht, die ihm Schätze stehlen?“ wollte Soach wissen. „Hackt er ihnen eine Hand ab?“ „Das würde ich nicht ausschließen,“ murmelte Rahzihf. „Aber da das Diebesgut wieder auftauchte, wäre es nicht so gekommen, vielleicht zu körperlicher Züchtigung... Kihnaf hatte natürlich den Auftrag, das Euch gegenüber etwas schlimmer darzustellen und zu behaupten, dass er das Objekt noch besitzt.“ „Ihr müsst Euch gar nicht weiter rechtfertigen.“ Soach probierte aus, was für Schritte er in dem Nachthemd machen konnte. „Nur wäre es mir lieber, wenn es tatsächlich etwas Persönliches zwischen mir und Arae wäre statt zwischen ihm und meiner Mutter. Schließlich habe ich noch zwei Geschwister, mehrere Kinder, Nichten und Neffen. Wenn er es auf den Thron abgesehen hat, muss er bei denen weitermachen.“ „Der Lord hatte zuvor nie solche Ambitionen,“ warf Fawarius ein. „Er ist im Zirkel des Bösen und war damit zufrieden, und wir hatten einen sicheren Job bei ihm. Dann starb seine Mutter, und von da an veränderte er sich langsam, wurde launischer und grübelte oft. Doch er sprach nicht mit uns darüber, erwähnte nur einmal, dass er Eure Strafe zu lasch fand... deshalb dachten wir, dass er das korrigieren wollte und sonst nichts. Wir brachten das gar nicht mit dem Tod seiner Mutter in Verbindung, erst heute erfuhren wir davon.“ „Im Nachhinein scheint es mir aber, dass der Diebstahl durch unsere Söhne ihm ein willkommener Zufall war,“ meinte Rahzihf. „So konnte er ausnutzen, dass Ihr mir etwas schuldet.“ Soach hob eine Augenbraue. „Ich glaube nicht an Zufälle. Hätte er nicht auch einfach von Euch verlangen können, mich durch mein Versprechen in die Falle zu locken, ohne einen Grund?“ „Schon, aber ich bin sicher, das hätte er nicht getan,“ sagte der Krieger im Brustton der Überzeugung. Soach hatte das Gefühl, dass da jemand einfach nichts Schlechtes an seinem Herrn finden wollte.„Warum seid Ihr so loyal zu ihm, wenn ich fragen darf? Hättet Ihr zugelassen, dass er Eurem Sohn die Hand durchbohrt?“ Rahzihf sog hörbar die Luft ein und schloss einen Moment die Augen, ehe er Soach wieder ansah. „Vielleicht ist das schwer für Euch zu verstehen nach allem, was Ihr erlebt habt. Er ist nur hart zu denen, die sich etwas zuschulden kommen lassen, etwa... ihn bestehlen. Eine durchbohrte Hand wäre geheilt. Doch ich glaube fest daran, dass er es nicht getan hätte.“ „Das sehe ich anders,“ widersprach Soach. „Er hätte es tun müssen, wenn ich mich geweigert hätte, ihm zu gehorchen. Denn sonst hätte ich ihn nicht mehr ernst genommen.“ „Nun... ja, Ihr habt Recht,“ musste Rahzihf ihm zugestehen. „Aber er hätte es auch tun können, obwohl Ihr nachgegeben habt, um Euch eine Lehre zu erteilen. Das hat er nicht.“ „Damit hätte er wirklich Eure Loyalität aufs Spiel gesetzt,“ unterstellte Soach. „Oder hättet Ihr auch das hingenommen?“ Rahzihf zögerte mit der Antwort, rang sichtbar mit sich. „Vielleicht. Ich bin froh, dass es nicht dazu kam. Versteht mich bitte, Eure Hoheit! Der Lord hat mich aufgenommen, gab meiner Familie ein Dach über dem Kopf... er besorgte mir einen neuen Arm. Ich schwor ihm Treue bis in den Tod, und er versprach mir, bis an mein Lebensende für mich zu sorgen. Er kümmerte sich um die Ausbildung meiner Söhne und versicherte mir, dass meine Familie versorgt wäre, falls mir etwas zustoßen sollte.“ „Habt Ihr das schriftlich?“ konnte sich Soach nicht verkneifen zu fragen. Rahzihf blinzelte. „Wie bitte?“ „Schon gut,“ winkte Soach ab. „Was ist mit Euch, Fawarius?“ „Auch ich habe meinem Herrn Treue geschworen bis an mein Lebensende,“ gab der Magier ihm bereitwillig Auskunft. „Jedoch tat ich es, weil bereits mein Vater für die verstorbene Lady Arae gearbeitet hat, als ich noch jung war. Edeh und ich wuchsen quasi zusammen auf. Ich war sein Alchemist, seit er zwölf war und ich vierzehn. Natürlich war ich zu der Zeit noch kein besonders großer Alchemist. Die Lady ließ mich auf die Akademie gehen, damit ich meiner Aufgabe gewachsen sei. Ich tat mein Bestes.“ Dagegen ließ sich im Grunde nichts einwenden. Schließlich hatten auch die grausamsten Herrscher treue Untertanen, wenn sie es nur richtig anstellten. Soach lag es fern, die Treue dieser Männer zu ihrem Herrn zu untergraben, nur blieb er dabei leider auf der Strecke. „Ich halte Euch zugute, dass Euer Sohn versucht hat, mir dieses Schicksal zu ersparen,“ sagte er schließlich. „Und es tut mir Leid, dass wir Feinde sein müssen. Euer Lord Arae ist für mich schlicht und einfach derjenige, der meine Familie bedroht. Die Familie kommt für uns von den Eisigen Inseln an erster Stelle. Es gibt für mich nur noch eine Ausnahme, einen Mann, an den ich durch mein Wort gebunden bin. Und durch innige Freundschaft. Schickt Euren Sohn lieber weit weg, bevor er hier eintrifft, Rahzihf. Es sei denn, Euer Herr lässt mich dann einfach laufen.“ „Das werde ich nicht tun,“ widersprach der Krieger sofort. „Wir sind Lord Arae treu ergeben und werden für ihn kämpfen, gegen wen auch immer er uns führt.“ „Ich bitte Euch, Rahzihf,“ versuchte Soach es erneut. „Ich habe für Euren Sohn meine Magie geopfert, und nun sterbe ich für ihn. Lasst mir wenigstens die Gewissheit, dass es nicht umsonst war. Gewährt mir diesen letzten Wunsch.“ Rahzihfs Kiefermuskeln arbeiteten einige Sekunden lang. „Nun gut,“ nickte er schließlich. „Ich lasse mir etwas einfallen. Kihnaf wird das Haus verlassen.“ Er wandte sich zur Tür. Soach atmete auf. „Danke.“ Gerne hätte er zusammen mit dem Sohn auch den Vater in Sicherheit gewusst, schon weil Crimson dann auf weniger Widerstand treffen würde. Aber zumindest verlor Arae sein bestes Druckmittel. „Seid Ihr sicher, dass das Euer letzter Wunsch ist?“ erkundigte Fawarius sich, als sein Kollege fort war. „Gibt es nicht etwas Persönlicheres, vielleicht eine Nachricht, die Ihr an jemanden überbracht haben wollt?“ „Vielleicht... das würde ich dann aber als einen Gefallen bezeichnen, um den ich Euch bitte.“ „Nur zu, sagt mir, wenn es etwas gibt. Aber erst einmal würde ich Euch etwas zu essen besorgen, wenn Ihr möchtet.“ „Das wüsste ich sehr zu schätzen.“ „Mein Herr hat ja nicht verboten, Euch zu verpflegen. Ich nutze das lieber aus, bevor er es nachholt.“ Fawarius ließ den Prinzen alleine, schloss die Tür von außen ab. Zum ersten Mal seit seiner Gefangennahme konnte Soach durchatmen, ohne sich verstellen zu müssen. Doch er erlaubte sich lediglich ein unterdrücktes Schluchzen, ehe er sich energisch mit einem Ärmel über die Augen wischte. Ihm blieb nicht viel Zeit, bis er den Lord wieder um das Gegenmittel anbetteln musste. Er trat ans Fenster, doch es ließ sich nicht öffnen. Hinter dem Buntglas konnte er Gitterstäbe erahnen. Sicherlich dienten die eher dem Schutz gegen Einbrecher, aber Soach wollte darauf nicht wetten. Weder im Schrank noch auf dem Tischchen vor dem Fenster gab es irgendwelche Dekorationsgegenstände, wenn man mal von der Tischdecke absah. Auf einem von zwei Sesseln befand sich ein Zierkissen mit aufwändigen Stickereien. Ein kleines hängendes Bücherregal musste vor kurzem leergeräumt worden sein, denn dort war die hölzerne Wandverkleidung heller. Andere solche Stellen wiesen darauf hin, dass auch ein paar Bilder entfernt worden waren. Im Zimmer gab es einen mannshohen Standspiegel, in dem er sich selbst nicht wiedererkannte. Er sah aus wie... nun ja, wie ein sterbender Mann mit einer schwachen, schwarzen Aura. Seine Haut war eher grau als blau, die Augen mattrot statt leuchtend rubinfarben, und er schien Gewicht verloren zu haben. Das konnte unmöglich alles heute passiert sein. Andererseits war es das erste Mal, dass er sich genauer im Spiegel betrachtete seit der Ausbrennung. Soach straffte ein bisschen die Schultern, gab sich aber ansonsten keine Mühe, sein Erscheinungsbild zu verbessern. Statt dessen klopfte er auf die Spiegelfläche und betrachtete das gute Stück von hinten. Die Spiegelfläche bestand aus poliertem Silber mit Standfüßen, die sich nicht davon lösen ließen. Der Nachttisch bot nicht einmal eine Kerze und die Schublade war leer. Das breite Himmelbett lud zu ausgedehnten Ruhephasen ein, aber Soach interessierte sich mehr für den Nachttopf darunter. Fehlanzeige – er bestand aus lackiertem Metall und ließ sich nicht zerbrechen. Jemand hatte dieses Zimmer sorgfältig für ihn hergerichtet, denn auf den ersten Blick fand sich nichts, was sich als Waffe verwenden ließ. Frustriert seufzend ließ er sich aufs Bett sinken und blieb dort sitzen, bis er hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, dann trat Fawarius ein – und er brachte das versprochene Essen und Wasser mit. Soach ging ihm entgegen und riss dem Magier die Karaffe vom Tablett, noch ehe er es irgendwo abstellen konnte, und trank sie direkt halb aus. Das Wasser befreite Zunge und Rachen von dem widerlichen Geschmack des Giftes und spülte die Restaromen des Gegenmittels weg. Erst danach sah er nach, was es an Essen gab, schnappte sich ein Stück Wurst und schlang es ziemlich unzivilisiert hinunter. Dabei hielt er die ganze Zeit die Karaffe fest, als könnte sie ihm jemand stehlen. Den Inhalt sparte er sich auf, bis er auch noch ein Stück Brot, eine Handvoll Obst und ein paar Nüsse gegessen hatte. Erst als alles weg war, sank er auf einen Sessel und entspannte sich einigermaßen. Fawarius lächelte. „Wie schön, dass ich Euch damit eine Freude machen konnte. Es überrascht mich, dass ihr nicht vorsichtiger seid.“ „Wozu.“ „Auch wieder wahr.“ „Was für ein Gift habe ich da getrunken, Fawarius? Gibt es wirklich kein Heilmittel?“ Soach hatte sich nie Gedanken um den Unterschied zwischen den Worten Gegenmittel und Heilmittel gemacht, und nun offenbarte er sich ihm von selbst. „Falls es noch etwas gibt, hat es mir der Lord nicht verraten. Er brachte das Gift und auch das Gegenmittel von einer Reise mit. Ich vermute, dass beides von einem Tier oder einer Pflanze stammt und dort in der Gegend häufiger verwendet wird, so dass er ungefähr weiß, wie es wirkt.“ Der Magier setzte sich zögernd auf den anderen Sessel. „Ihr habt gedacht, es müsste etwas geben, nicht wahr? Deshalb habt Ihr Euch nicht geweigert, das Gift zu trinken. Ihr habt all Eure Hoffnung auf Euren Alchemistenfreund gesetzt.“ „Ja. Ich tat es, um Kihnaf zu schützen und weil ich sicher war, Crimson würde etwas zusammenrühren können. Er kennt Mittel gegen Schlangenbisse, Pilzvergiftungen, verdorbenes Essen... es muss etwas geben. Aber ich weiß nicht, womit ich es zu tun habe.“ „Er hat es weder mir noch Rahzihf gesagt, und wir haben nicht gefragt. Bis vorhin ging ich davon aus, dass das Gegenmittel auch das Heilmittel ist und dass er es Euch geben würde, wenn er Euch genug gedemütigt hätte. Vermutlich habe ich mir gewünscht, dass es so wäre, denn dann könnte ich guten Gewissens weiterhin loyal sein.“ „Nicht zu fragen ist auch eine Art, die Augen vor der Realität zu verschließen,“ stellte Soach fest. „Also... was erwartet mich? Nachdem ich das Gift geschluckt hatte, wurde mir etwas schwindelig, wie wenn man zu sehr dem Alkohol zugesprochen hat. Und ich fühlte leichte Muskelschmerzen, wie nach zu viel körperlicher Arbeit. Wird das schlimmer?“ „Das weiß vermutlich nicht einmal der Lord so genau.“ Insofern erübrigten sich alle weiteren Fragen zu dem Thema. Zum Beispiel, wie lange das Gegenmittel diese Symptome zurückhielt, oder ob das Opfer bis zum Schluss Herr seiner Sinne blieb. Der Gedanke, vor seinem Tod den Verstand zu verlieren, war Soach zuwider, allerdings erschien ihm die Aussicht auf Schmerzen und Übelkeit auch nicht besonders verlockend. „Es muss etwas geben,“ wiederholte er, sprach aber hauptsächlich mit sich selbst. „Es gibt immer etwas...“ Bitte lass es etwas geben... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)