Schmutzige Socken und alter Reis von Pairo (Das Leben einiger junger Menschen in Tokyo) ================================================================================ Kapitel 1: Feuer und Flammen ---------------------------- In einer beschaulichen Zweiraumwohnung, inmitten eines Vorortes des Ballungsraums Tokio, riss eine Dame, jenseits des Frühlings ihres Lebens, den Zettel eines weiteren Tages von ihrem Kalender. Die Zahlen zeigten den morgigen Tag, den 15. Mai 1999. Erschöpft von dieser kleinen Anstrengung ließ sie sich in ihren Sessel fallen, aufgrund ihrer Schwerhörigkeit verschont von dem unsäglichen Lärm in diesem zugegeben etwas heruntergekommenen Hochhaus. Links neben ihr schrie ein Ehepaar über das Plärren eines Kindes hinweg, über ihr knarrten und quietschten die Lamellen eines Bettes, unter einem wild auf ihm ausgefochtenen Tanzes. In der unteren Wohnung lief seit 3 Tagen durchweg der Fernseher, dessen Besitzer die Augen seit gestern Morgen nicht mehr geöffnet hatte. In der Wohnung rechts neben der etwas deplatzierten Rentnerin, lag ein Teenager – lediglich bekleidet von einer zu großen, schwarzen Jogginghose – vor einer veralteten NES-Konsole und zockte seit 2 Stunden, als ginge es um sein Leben. Der Junge hörte auf den Namen Shimon – Shi, wie „Shita“, also „unten“ - hatte glatt fallendes, etwas unordentlich (wahrscheinlich selbst!) geschnittenes Haar von tief dunkelblauer Farbe und blutunterlaufene, große Augen, deren Iris genauso schwarz war, wie die Pupille. Die Tatsache, dass etwas Erde in seinem Haar – nahe des Ohres – hing und zudem ein kleiner Zweig sein Haar schmückte, lies darauf schließen, dass eine Dusche mal wieder, gewiss nicht unangebracht war. Ein kleiner, sehr zottelig und etwas mutiert wirkender Hamster, krabbelte munter auf seinen Schultern herum, fast als wolle er das Geschehen auf der Mattscheibe anfeuern. Simon war am Gewinnen...denn das war etwas, worin er wirklich gut war: Videospiele. Hier war er – im Gegensatz zur echten Welt – durchaus erfolgreich. Ein toller, starker Held mit Rekordspielzeiten und einem der besten Highscores Japans. Nur wusste das außer ihm keiner, denn er hatte nie an einer offiziellen Meisterschaft teilgenommen. Wohl aber, hatte er sich überlegt, endlich einen Nutzen aus diesem etwas eigentümlichen Können zu ziehen. Mit Videospielen würde das allerdings kaum möglich sein, denn die Konsole, die er besaß, diese alte NES, war schon seit 1996 nicht mehr aktuell. Sie war mittlerweile nicht nur durch die SNES, sondern durch eine ganzen Reihe leistungsfähiger Konsolen mit feiner Grafik, innovativen Spielen und revolutionären Gameplay abgelöst worden. Shimon besaß nicht eine davon. Er wäre ja schon froh gewesen, wenn er genug zu Essen oder gar zum Anziehen besessen hätte. Was das Jugendamt unter „ausreichendem“ Budget verstand, war recht...moderat. Und da das Leben – und ganz besonders eine tokioer Wohnung, Geld kostete war er immer knapp bei Kasse. Er konnte sich nicht vorstellen, wann er das letzte Mal wirklich Geld – mehr als 1000 YEN – sein Eigen nennen konnte. Dies war ihnen – damit waren Shimon und sein älterer Bruder Kamina gemeint – aber von Anfang an klar gewesen. Beide stammten aus einem der überforderten Waisenhäuser dieser Stadt, und beide hätten lieber Würstchen-über-einer-brennenden-Kiste-bratend hinter der Mülltonne eines Burakumin gelebt, als weiter in diesen Mauern der Unfähigkeit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu verharren. Da gerade eine paar Pilotexperimente zur Selbstständigkeit der Waisen im Teenageralter stattfanden, wurde ihnen gebilligt auszuziehen – aber nicht mit mehr Budget, als ihnen vom Staat auch für das Waisenhaus zugestanden hätte und zudem unter der Voraussetzung, dass sie selbst eine Wohnung fanden. Zugegebenermaßen eine sehr unsoziale Bedingung...aber Kamina war noch am selben Tag ausgezogen, um einen neuen Wohnraum zu suchen – und hatte schon nach 4 Tagen, Erfolg gehabt, was sicher nicht zuletzt an seinem jugendlichen Charme lag. Der engagierte Teenager hatte schon immer seinen eigenen Kopf gehabt und Dinge auf seine manchmal obskure, absurde Mal durchschlagende, mal charmante Art geregelt. Das Waisenhaus schien zu jubeln, als der bei Erziehern wegen diesen Attributen nicht gerade beliebte – diese „Pädagogen“ hassten es, wenn jemand so aus der Reihe schlug und zu eigenem Denken fähig, statt brav war - Kamina endlich die Segel gestrichen hatte und dabei noch das viel gemobbte, unattraktive Sorgenkind Shimon mitgenommen hatte. Dies war nämlich Kaminas Forderung gewesen: Er würde nicht ausziehen, wenn man ihm nicht erlaubte, seinen selbsternannten und heißgeliebten „Seelenbruder“ mitzunehmen, was sich bürokratisch zwar als etwas schwierig erwies, den von ewigen Auseinandersetzung genervten Erziehern aber ganz recht kam. Der Ältere der beiden, hatte nie verstanden, wieso die anderen Shimon so sehr hassten und vor allem nicht, wie er selbst anfangen konnte, an sich zu zweifeln! Wie oft hatte er vor dem verunsicherten, in Selbsthass versunkenem Shimon gestanden, meist dann, wenn er mal wieder von den anderen gequält wurde, und hatte voller Inbrunst gerufen: „SHIMON! Wie kannst du dich nur für wertlos halten?! DU musst an dich glauben, so wie ICH an dich glaube! Und wenn du je aufhörst an dich zu glauben, so glaube eben nur an MICH, der an DICH glaubt!!!! Der große KAMINA irrt sich nie! Dieses Feuer der Brüderlichkeit BRENNT NUR FÜR DICH!“, öfter mal hatte er diese, oder ähnliche motivierende Worte, mit einem „liebevollen“ Schlag ins Gesicht des anderen verbunden, um ihn dann zur Vernunft zu bringen. Und allermeisten hatte das auch für kurze Zeit gefruchtet... Nun jedenfalls wohnten also beide in einer eigenen Wohnung, wobei sie allerdings Alle 3 Tage den netten „Besuch“ eines Sozialarbeiters dulden mussten, der kontrollierte, in wie weit der 17- und der 14 Jährige sich tatsächlich selbst verwalten konnten. Es war besonders schwer für Shimon, dem dann jedes Mal Kaminas Abwesenheit zu erklären, da es verboten war neben der Schule zu arbeiten...Manchmal aber schaffte der Ältere es, es tatsächlich zu managen, zu dieser Zeit zu Hause zu sein. Wegen der nicht gerade glänzenden Ordnung in dem Zimmer, den ständig mit Lippenstift verschmierten Hemdkrägen Kaminas, herumliegenden Schularbeiten, die nicht gerade himmlische Noten zierten, den müffelnden Socken und dem leeren Kühlschrank, war die Situation dabei schon oft eskaliert. Shimon wollte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn der Sozialarbeiter jemals die ganzen Schrammen und Blessuren auf seinem Körper erblicken würde, die er selbst vor Kamina geheim hielt, so gut er eben konnte. Momentan waren Ferien und sein Oberkörper war soweit unmalträtiert, dass er gefahrlos, nur in einer Jogginghose chillen konnte. Lediglich sein Magen schmerzte mal wieder und gab das nun auch laut zur Kenntnis. Der Hamster hörte das laute Magengrummeln und sprang mit besorgten Geräuschen – ach er war fast wie ein Mensch und Shimons bester, nicht-groß-brüderlicher, Freund – von der schmalen Schulter auf den Kopf des Jungen, wo er nervös herum tippelte. „Aaaaah...schon okay Buuta!“, kam es langgezogen von dem großäugigen Teenager. „Ich glaub, wir haben noch etwas Reis im Schrank...den könnt ich gleich mal kochen! Salz ist auch noch da!“, berührt von der Sorge des kleinen Pelztierchens, schloss der Junge Buuta zärtlich in die Hände und erhob sich langsam, wobei er den Hamster wieder auf seiner Schulter platzierte. Dieser schmiegte sich – als würde seine Sorge nicht unbedingt durch die Worte abgeflaut sein – an die rundliche Wange, des sonst eher mageren Schülers. Das NES-Spiel pausierte. Mitten beim Sprung über einen Abgrund war es eingefroren und zeigte die in der Luft hängende Figur. Shimon schob seinen etwas abgehalfterten Körper zu der Kochnische, dieser verdammt kleinen Einraumwohnung. Jeder normale Mensch, wäre durchgedreht, hätte er so eng mit einem anderen zusammen leben müssen. Nicht aber so Shimon und Kamina. Im Gegenteil, beide hatten das Leben im Waisenhaus als beengender und würgender empfunden, als das Miteinander in ihrer Mikro-WG. Der Einzige, den beispielsweise Shimon im Waisenhaus einigermaßen erträglich fand, war der Junge mit dem er sich – einfach weil sie im gleichen Alter waren – das Zimmer teilen musste. Dieser war ein Asperger-Autist, der nie etwas zu ihm sagte, oder tat und sich nur für sein Sudoku zu interessieren schien. Er war so unscheinbar, dass die anderen wohl gar nicht auf die Idee kamen, ihn fertig machen zu wollen. (Wie oft, hatte der Junge ihn dafür beneidet und sich sofort dafür schlecht gefühlt...immerhin, war er doch „gesund“!) Kamina hatte ohnehin kurz vorm Auszug gestanden und so war Shimon heilfroh, dass der andere ihn mitnehmen wollte. Der zurückhaltende Jugendliche hatte ohnehin nie verstanden, was sein geliebter „Aniki“ (wie er Kamina in etwas krassen Yakuzaslang nannte) nur an ihm fand. Shimon fand überhaupt nichts an sich, woran es sich zu „GLAUBEN!“ lohnte. Er war eine kleine, schmächtige Person, wirkte durch seine runden Wangen und kräftigen Waden, aber doch irgendwie kompakt, hatte grotesk große Augen, mit winzigen Iriden, abnormal große Hände (die ihm bei seinem nerdigen und lächerlichen Hobby, dem Graben von löchern, allerdings sehr hilfreich waren) und auch sonst keine attraktiven, äußeren Attribute. Kamina beteuerte zwar ständig, in feuriger Leidenschaft entbrannt, dass aus ihm ein wahnsinnig schöner Mann werden würde, aber der Jüngere wagte, daran zu zweifeln. Aber noch schlimmer als sein kümmerliches Äußeres, empfand Shimon sein verkrüppeltes Innerstes. Er war das genaue Gegenteil seines coolen, starken, entschlossenem Anikis. Aus irgendwelchen Gründen hassten die anderen Kinder ihn über das normale Maß – er hatte gehofft, dass auf der neuen Schule, in einem anderen Stadtteil als bisher – an dem sie nun näher wohnten – ein Neuanfang möglich wäre...doch hatte er nicht damit gerechnet, dass einige Kinder aus seinem ehemaligen Waisenhaus dort zu seinen Mitschülern zählen sollten. (Nicht alle Waisen aus ihrem Institut, gingen an dieselbe Schule!) So hatte die Welle der ewigen Schikane gleich auf die neue Schule mit übergeschlagen. Mittlerweile war der sensible Junge felsenfest davon überzeugt, dass es an ihm selbst liegen müsste – an seiner stillen, zurückhaltenden, NICHT draufgängerischen, höflichen, seltsamen und emotionalen, ABSOLUT unmännlichen und SCHWACHEN Art. Wahrscheinlich war sein Horizont so begrenzt, dass er nicht mal selbst merkte, wie unausstehlich er wirklich war. Daher war sein liebstes Hobby das Graben. Er buddelte schon in der Erde, seit er denken konnte und hatte immer davon geträumt, sich eines Tages, ein so tiefes Loch in den Boden graben zu können, dass er darin leben könnte. Da wäre ein Fest! Ruhe und Frieden, nur der Geruch von feuchter Erde, vielleicht ein paar versteinerte Knochen aus alter Zeit um ihn herum, lindernde Kühle für seine immer so brennende Seele und bei ihm nur sein Hamster Buuta, der ihn verstand, keine albernen Sprüche brachte und ihn so liebte, wie er nun mal war. Das war sein Traum...sein schon immer und ewig anwährender Traum. Er brauchte keine Menschen um sich herum, er wollte Aniki nicht stets enttäuschen und zur Last fallen und die Sonne, die ihm so in den lichtempfindlichen Augen brannte, hatte er auch noch nie leiden können! Das dachte der oft melancholische Gräber aus Leidenschaft jedenfalls. Um ehrlich zu sein, wusste er selbst nicht, ob er die Sonne jemals hätte leiden können. Vielleicht war das so...früher, als er noch „der andere“ war, damals als er abends von liebevollen Frauenarmen gehalten, vor dem Fernseher eingeschlafen war. Oder als ein paar schützende, starke Arme ihn vom Boden hochgehoben und auf die Schultern ihres Besitzers manövriert hatten. Das war eine schöne Zeit gewesen. Eine Zeit jenseits von Kamina, jenseits des Waisenhauses, jenseits des Hasses und des Mobbings. Das Wasser vor ihm, kochte schäumend auf, unbedacht, schüttete er etwas Reis hinein und setzte dem Topf einen Deckel auf. Während er im Schrank nach Salz spähte, fand er noch eine Dose Pilze und ein Lächeln schlich auf sein Gesicht. Das würde ja diesmal ein regelrechtes Festessen werden und er würde gut aufpassen, das meiste für Aniki übrig zu lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)