A Doll's Lament von Flordelis (Ib ~ Alternatives Ende) ================================================================================ Part I: Erwachen ---------------- Schlaf wird oft eine heilende Wirkung nachgesagt. Es lindert Schmerzen, hilft dem Körper, Reserven zu aktivieren, um Verletzungen zu heilen und nicht selten ist eine Portion Schlaf auch der mentalen Gesundheit zuträglich. Das wurde auch Garry bewusst, als er aus einem tiefen Schlaf erwachte, der mehrere Jahre angehalten zu haben schien. Mit einem lauten Gähnen setzte er sich aufrecht hin, noch bevor er die Augen geöffnet hatte. Der Traum, der ihn in dieser Nacht begleitet hatte, war furchterregend gewesen. Er war allein in einem dunklen Museum umhergeirrt, nur umgeben von unheimlichen Ausstellungsstücken, noch niemals zuvor hatte er sich derart einsam gefühlt. Dann hatte er eine Treppe entdeckt, die ihn in ein Labyrinth voller Gefahren führte. Bilder, die plötzlich zum Leben erwachten, kopflose Statuen, die ihn verfolgten, Puppen, die unbedingt von ihm mitgenommen werden wollten und eine schaurige Gestalt, die aus dem Rahmen kam, um... diese Erinnerung zerrann zwischen seinen Fingern wie Sand und er war davon überzeugt, dass es besser war, sich nicht mehr daran zu erinnern. Aber da war noch etwas anderes. Ein junges Mädchen mit braunem Haar und roten Augen, in derselben Farbe wie die Rose, die sie mit sich getragen hatte. Eine Rose, genau wie er, nur dass seine blau gewesen war. Und wenn die Blumen welkten, geschah dasselbe mit ihrem Leben. Er verstand diesen Traum nicht, konnte sich höchstens vorstellen, dass er von dem beeinflusst war, was er in der Ausstellung gesehen hatte. Aber war er überhaupt dort gewesen? Bei genauerem Nachdenken: Ja, war er. Er erinnerte sich sogar noch daran, wie er minutenlang vor dem Bild mit dem gehängten Mann gestanden und es angestarrt hatte. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, nach Hause gegangen zu sein. Am Ende ist der Traum wahr gewesen, dachte er amüsiert bei sich, und ich bin diese Treppe hinuntergegangen und hab all das verrückte Zeug erlebt. Er schüttelte sich bei diesem Gedanken vor Lachen, sagte sich immer wieder, wie idiotisch allein die Annahme war, dass so etwas in der Realität geschehen könnte – und stellte plötzlich fest, dass er noch immer die Augen geschlossen hielt. Ihm schien, als wolle sein Körper ihn davor bewahren, erneut in den Zustand zurückzufallen, in dem er sich vor dem Schlaf befunden hatte. Es war nicht gut gewesen, nicht normal, aber gleichzeitig wusste er auch, dass es so nicht bleiben konnte, dass er nicht an diesem Ort bleiben konnte. Egal wie lange er die Augen geschlossen hielt und so tat als würde er nicht wissen, was um ihn herum vor sich ging, nichts von dem, wovor er sich während seines Traums gefürchtet hatte, würde verschwinden. Und dann war da noch etwas, etwas sehr Wichtiges, weswegen er nicht einfach aufgeben konnte. Er wühlte tief in seinem Gedächtnis, um dem Mädchen einen Namen zu geben und kaum fiel er ihm ein, riss er Augen und Mund auf. „IB!“ In der Sekunde, in dem ihm wieder seine Umgebung bewusst wurde – der finstere Raum mit all den düsteren Puppen, deren blutrote Augen auf ihn gerichtet waren, die blaue Rose in seiner Hand – spürte er, wie die Verzweiflung wieder in seine Seele und der Wahnsinn in seinen Verstand kriechen wollte. Er war hier gewesen, um eine Farbkugel aufzuheben, war dann eingesperrt worden und dann war dieses... Ding aus dem Bild gekommen. Erschrocken wandte er den Blick nach links, wo er eine weiße Leinwand vorfand, aber keinerlei Spur, dass etwas an diesem nicht stimmte. Sein Herz schlug ihm dennoch bis zum Hals und so starrte er es weiterhin an, in der sicheren Erwartung, dass sich das Wesen jeden Moment noch einmal zeigen würde. Als nichts weiter geschah, entspannte er sich wieder ein wenig und schaffte es dann endlich, seine Aufmerksamkeit der einzigen Person zuzuwenden, die außer ihm anwesend war. Das Mädchen, das vor ihm lag und ebenfalls zu schlafen schien, erkannte er sofort. Realistisch gesehen, mochte es nicht viel Zeit gewesen sein, die sie miteinander verbracht hatten, aber in einer solchen Situation war es ihm vorgekommen wie eine Ewigkeit, in der sie seine einzige Stütze gewesen war. Er wollte nach ihrem Puls fühlen, nur um sicherzugehen, dass es ihr gutging, aber da erkannte er bereits, dass sich ihr Brustkorb immer hob und senkte. Noch dazu hielt sie die volle rote Rose fest in ihrer Hand. Sie war eindeutig am Leben und diese Erkenntnis ließ ihn erleichtert aufatmen. Dennoch musste er sie aufwecken, sie konnte hier nicht weiterschlafen und außerdem waren sie so kurz davor, endlich zu entkommen, das spürte er einfach und noch einmal wollte er hier nicht einschlafen. Also griff er nach ihrer Schulter und rüttelte vorsichtig an dieser. „Ib... Ib, wach auf. Es ist Zeit, aufzustehen.“ Sie murmelte etwas Unverständliches, richtete sich aber dennoch langsam auf und blickte ihn irritiert an. Er befürchtete schon, sie hätte vergessen, wer er war, doch plötzlich kräuselten sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Garry...“ Ehe er sich versah, hatte sie ihn bereits umarmt, was ihm ebenfalls ein Lächeln entlockte. Behutsam legte er die Arme um ihren zierlichen Körper. „Es ist schon gut, tut mir Leid, dass ich dir solche Sorgen bereitet habe.“ Das musste immerhin der Grund sein, weswegen sie hier bei ihm war, statt an dem Ort, wo sich Mary nun befinden mochte, wo auch immer das sein durfte. Aber bei diesem Namen fiel ihm noch etwas anderes ein, etwas Wichtiges, das er allerdings komplett vergessen hatte und nicht mehr greifbar war. „Geht es dir gut?“, fragte Ib, ihre Stimme kam nur undeutlich bei ihm an, weil sie ihr Gesicht noch immer in sein Hemd drückte. „Jetzt geht es mir schon um einiges besser“, antwortete er mit einem zuversichtlichen Lächeln, das sie beide beruhigen sollte. Urplötzlich löste Ib sich wieder von ihm und griff in ihre Rocktasche, wo sie nach kurzem Suchen triumphierend etwas hervorzog. Garry kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand genauer in Augenschein zu nehmen und erkannte das Zitronenbonbon, das er ihr gegeben hatte. Damals, zu einer Zeit, die ihm inzwischen endlos entfernt schien. Sie reichte es ihm wieder. „Hier. Du hast es mir gegeben, damit ich mich besser fühle, ja? Ich will, dass du dich auch besser fühlst.“ Diese Geste rührte ihn ungemein, wie er zugeben musste. Sie war ein neunjähriges Mädchen und doch so stark, es wunderte ihn nicht, dass sie ihm das ganze Abenteuer über eine große Stütze gewesen war. Er lächelte, als er das Bonbon in seine Hand nahm. „Weißt du was? Ich nehme es jetzt wieder an mich, aber sobald wir hier draußen sind, werde ich dir ganz viele Bonbons kaufen. Wie findest du das?“ Sie lächelte ebenfalls wieder und nichts deutete mehr darauf hin, wie es ihr wohl vor dem Schlaf gegangen sein musste. „Abgemacht.“ „Dann sollten wir jetzt aber verschwinden.“ Er stand auf und half ihr dann ebenfalls nach oben. In dem Moment, in dem er ihre Hand hielt und sie sich gegenseitig ansahen, glaubte er regelrecht zu spüren, welche Verbindung zwischen ihnen herrschte und wie wichtig es war, dass sie beide auch weiterhin zusammenhielten. Sie war seine mentale Stütze in diesem grauenvollen Albtraum, so wie er die ihre war und deswegen gab es nur für sie beide einen gemeinsamen Weg. Doch während er diese Erkenntnis hatte, blickte Ib sich suchend um. „Wo ist Mary?“ „Ich schätze, sie ist vorausgegangen.“ Mary dürfte nicht viel älter als Ib sein, was bedeuten würde, dass sie mit dieser Situation heillos überfordert gewesen war. Garry konnte gut verstehen, dass sie da einfach allein die Flucht ergriff, er hätte auch Verständnis dafür aufgebracht, wenn Ib das getan hätte. „Das ist noch ein Grund, uns zu beeilen“, sagte Garry. „Wir holen sie sicherlich noch ein.“ Dabei wusste er nicht einmal, wie lange sie geschlafen hatten. Vielleicht war sie bereits längst über alle Berge und erfreute sich der Realität. Doch bei diesem Gedanken stutzte er wieder. Mary und Realität, etwas passte da nicht so ganz zusammen. Mary, die aussah, als wäre sie selbst einem Gemälde entsprungen und... Natürlich! Das Buch! Mary ist eines von Guertenas Porträts gewesen! Und sie war allein mit Ib! Er betrachtete sie prüfend, was sie seinen Blick verwirrt erwidern ließ. „Was ist los?“ „Hat Mary dir irgendwas getan?“, fragte er zur Antwort. „Hat sie dich verletzt?“ Zu seiner Erleichterung schüttelte Ib mit dem Kopf. „Nein, warum sollte sie denn?“ „Oh, schon gut.“ Er wollte das Thema nicht unnötig vertiefen, wenn es nicht weiter akut war. „Lass uns lieber endlich gehen. Dieser Raum jagt mir Schauer über den Rücken.“ Anhand des Blicks, den sie umherwarf, wusste er, dass sie offenbar nicht dasselbe sah, wie er, aber er wollte auch nicht lange darüber nachdenken, was sie sehen konnte, sondern nur noch fort. Allerdings konnte er nur ein paar Schritte in Richtung der Tür machen, als er eine leise, piepsige Stimme hörte: „Wohin gehst du?“ Erschrocken hielt er wieder inne, ein schauderhaftes Frösteln fuhr durch seinen ganzen Körper. Ib, die bereits an der Tür stand, wandte sich ihm fragend zu. Sie schien nichts gehört zu haben. Widerwillig, aber wie unter Zwang, drehte Garry den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und erkannte mit einem Schaudern die Puppe – oder das, was davon noch übrig war – die ihn bereits zuvor heimgesucht hatte und inzwischen nur noch ein Kopf war, was sie aber nicht davon abhielt, ihn weiter zu nerven. Es war dieser Gedanke, der ihm schließlich die Furcht nahm und ihn mit Wut erfüllte. Wut, dass er an diesem Ort gelandet war, der ein einziges Labyrinth zu sein schien, dass er beinahe den Verstand verloren hätte und für immer in diesem Albtraum gefangen geblieben wäre. „Nimm mich mit“, piepste die Puppe. „Sei nicht so. Wegen dir habe ich schon keinen Körper mehr. Du hast mir wehgetan!“ Bei ihrem letzten Satz wurde ihre Stimmen zu einem verzerrten Kreischen und das konnte anscheinend auch Ib nun endlich hören, denn ihr Blick fokussierte sich nun, genau wie seiner, auf den Puppenkopf, dessen rote Augen geradewegs zu lodern schienen. „Nimm mich mit!“, kreischte sie. „Lass mich hier nicht allein!“ Garry ging zu der Puppe hinüber und hob den Fuß. Seine Wut verlangte, dass er sie diesmal nicht nur trat, sondern sie unter seinem Fuß zerquetschte, bis sie nicht mehr nach ihm kreischen könnte und endlich ein für allemal still war. Doch bevor er das umsetzen konnte, spürte er, wie jemand nach seinem Mantel griff. Er hielt inne, wandte den Kopf und war bereits dabei, auszuholen, um die ungebetene Störung beiseite zu wischen, aber da stellte er fest, dass es sich dabei um Ib handelte, die ihn bittend ansah. „Tu das nicht“, murmelte sie. „Das hat sie nicht verdient.“ Er erinnerte sich, dass sie beim ersten Mal, als er das Mannequin getreten hatte, die Augen geschlossen hielt und als er der Puppe begegnet war, waren sie voneinander getrennt gewesen. Aber dieses Mal hielt sie ihn davon ab, verhinderte, dass er sich noch unglücklicher machte, als er es bislang war – und das erzeugte ein warmes Gefühl von Sicherheit und Verantwortung in seinem Inneren. Er konnte nicht einfach der Wut nachgeben und Ib damit ebenfalls ins Unglück stürzen, so wie es beinahe bereits geschehen wäre. Garry lächelte leicht, um Ib wieder zu beruhigen und stellte sich aufrecht hin, ohne der Puppe weiter zu schaden. „Du hast recht, ich habe mich gehen lassen. Tut mir Leid, das kommt nicht mehr vor.“ Sie lächelte ebenfalls und nahm seine Hand. „Gehen wir lieber.“ Gemeinsam mit ihr verließ er den Raum, nur um noch einmal innezuhalten. Auf den Wänden waren die Kritzeleien zu sehen, die er bereits von der Puppe kannte und jede davon hatte dieselbe Botschaft: NIMM MICH MIT! Sie waren in unregelmäßigen Abständen auf den Wänden verteilt, selbst in einer Höhe, in der es eigentlich gar nicht hätte möglich sein dürfen. Er widerstand der Versuchung, den Kopf in den Nacken zu legen, um festzustellen, ob die Decke ebenfalls betroffen war. „Was ist mit ihr?“, fragte Ib traurig. „Sie ist traurig und deprimiert“, antwortete Garry, der das durchaus nachvollziehen konnte. „Ich wäre es auch, wenn ich an diesem Ort festsitzen müsste.“ Deswegen strebte er auch eilig weiter und zog Ib dabei mit sich, um dem allem endlich zu entgehen. Im Gegensatz zu ihm gehörte diese Puppe immerhin in diese Welt, sie hatte in der Realität nichts verloren. Er aber wollte endlich wieder raus, unter andere Menschen, nach Hause, in sein Bett. Aber wie so oft stellte er fest, dass diese Welt ihre ganz eigenen Regeln besaß. Ib führte ihn in den braunen Korridor hinauf und dann zu der einzigen Tür, die sie bislang noch nicht benutzt hatte, wie sie sagte. Eine der kopflosen Statuen stand in einem kleinem Raum, die Treppe neben ihr war allerdings frei. Mit gerunzelter Stirn stellte Garry fest, dass auch diese Stufen direkt hinunter führten. Er glaubte nicht wirklich daran, dass all die nach unten führenden Treppen sie zurück ins Museum führen würden... immerhin war er durch eine solche ja erst in diesen Albtraum geraten, also bräuchte er eigentlich eine nach oben. Aber vielleicht ist das auch eine Sache des Glaubens. Ich verstehe diese ganze Sache nicht, also ist es vielleicht etwas Religiöses. Oder Guertena war ein reichlich verwirrter Mann. Ib schien darüber wesentlich weniger nachzudenken, denn sie zog ihn bereits weiter, mit sich die Treppe hinunter, um jenen Ort zu erreichen, der sich am Fuß eben dieser befand. Ein wenig beneidete er sie darum, dass sie mit ihren kindlichen Gedanken nicht nur weniger über all das nachdachte und damit zögerte, sondern auch, dass sie sie vermutlich manche Dinge gar nicht wirklich verstand und so sah wie er es tat. Als Kind war ihm immer daran gelegen, schnell erwachsen zu werden, aber nun sehnte er sich doch wieder danach zurück, ein unbedarfter Junge zu sein, den das alles hier gar nicht weiter kümmerte. Ich hätte aber auch nie gedacht, dass ich einmal in einen solchen Albtraum gerate. Und dieser war noch lange nicht vorbei, wie er feststellte, während sie weiterliefen. Part II: Flieder ---------------- Der Gang, der sich vor ihnen auftat, war fliederfarben, was Garry leise seufzen ließ. Es war eine neue Farbe in dieser Welt und das bedeutete, sie würden erst weitere Rätsel lösen müssen, ehe sie wirklich fliehen könnten. Immerhin entdeckte er aber auf den ersten Blick keine Gemälde, die Interesse daran haben könnten, sie anzugreifen. Sehr vertrauenserweckend wirkten jene, die er sehen konnte, allerdings auch nicht. Puppen waren darauf abgebildet, auf jedem einzelnen. Auf manchen Gemälden saßen sie zusammen wie bei einer Teeparty, auf anderen saßen sie in Reih und Glied auf Regalen und auf anderen schienen Menschen mit ihnen zu spielen. Vor einem solchen hielt Garry wieder inne und verzog das Gesicht. Zwei Porträts, die direkt nebeneinander hingen, zeigten einmal ihn und einmal Ib, doch während sie von niedlichen Plüschkaninchen umgeben war, lag er auf dem Boden, diese unheimliche Puppe, die ihn verfolgt und die er getreten hatte, unbeschadet in seinen Armen. Allein der Gedanke ließ ihn schaudern. „Deh jah fuh...“ Ibs Stimme holte ihn aus seinen Überlegungen, schon allein weil ihre Worte keinen Sinn für ihn ergaben und er herausfinden wollte, was sie meinte. „Was hast du gesagt?“ Sie deutete auf die Plakette unter den Bildern, von denen er direkt seine Antwort bekam: Déjà-vu Ib und Déjà-vu Garry. „Was bedeutet das Wort?“, fragte Ib. Im Laufe ihrer gemeinsamen Reise war es zu einem kleinen Ritual geworden, dass Garry ihr jene Wörter auf den Plaketten erklärte, die sie nicht verstand. Sie war äußerst lernbegierig und er hatte so Gelegenheit, ein wenig von seinem Wissen zu teilen, wozu er sonst nie kam. „Es bedeutet, dass einem etwas, was man sieht oder erlebt, bekannt vorkommt.“ Er lächelte ein wenig. „Bis gerade eben wusste ich aber nicht einmal, wie man es schreibt.“ Erkannt hatte er es natürlich, aber hätte man ihn zuvor gefragt, wie man die Akzente setzen musste, wäre er die Antwort schuldig geblieben. Ib nickte verstehend und zog ihn dann weiter, als wüsste sie genau, dass er nicht zu lange vor diesem Bild stehenbleiben sollte. Oder sie wollte einfach nur nach Hause und war der Rätsel langsam überdrüssig, was er gut nachvollziehen konnte. Der Gang mündete schließlich in einen großen Raum, ähnlich eines Ausstellungssaals – aber es gab nur eine einzige Besonderheit, eine gläserne Vitrine, direkt in der Mitte, die von einem Scheinwerfer beleuchtet wurde. Es war wie jener kitschige Moment in Filmen, in denen der letzte Hoffnungsschimmer so sehr beleuchtet wurde, dass auch der langsamste Zuschauer es verstand. Es fehlt nur noch die Musik. Er schmunzelte ein wenig, während er die Vitrine näher in Augenschein nahm. Im Inneren lag, auf schwarzem Samt gebettet, ein fliederfarbener Schlüssel, der eindeutig notwendig war, um diesen Teil des Labyrinths hinter sich zu bringen, wenn er dem vorigen Muster entsprach. Er wusste genau, dass er hätte misstrauisch sein müssen, weil es zu einfach war, aber die Euphorie war stärker und so versuchte er, die Vitrine zu öffnen – doch das Glas gab kein bisschen nach. Selbst als er mit den Fingern nach einer Lücke suchte, die helfen sollte, die Vitrine zu öffnen, war er erfolglos. Seine Nerven spannten sich immer mehr an. „Ib, halt dir die Augen zu und tritt einen Schritt zurück“, forderte er schließlich und wartete darauf, dass sie das auch tat. Nachdem er sichergestellt hatte, dass sie sicher war, holte er mit dem Ellenbogen aus und ließ ihn auf das Glas niedersausen. Ein scharfer Schmerz fuhr durch seinen Arm, schien ihn kurzzeitig zu lähmen und entlockte ihm ein leises Stöhnen. „Was zum...?!“ Das Glas war nicht zersplittert, obwohl er die volle Wucht eingesetzt hatte, es war nicht einmal ein kleiner Sprung zu sehen, so als hätte es die Vitrine nicht einmal bemerkt. Mit noch mehr Wut in seinem Inneren, wollte er nun mit dem Fuß ausholen, um einfach das gesamte Stück umzuwerfen, aber wieder war es Ib, die ihn mit leiser Stimme aufhielt: „Ich glaube, du solltest das nicht tun.“ „Warum nicht?“ Als er sich ihr zuwandte, stellte er fest, dass sie immer noch die Hände vor ihre Augen hielt, was seine Wut wieder ein wenig zerstreute. Als sie bemerkte, dass er innegehalten hatte, spreizte sie die Finger ein wenig und blickte ihn durch diese hindurch an. „Erinnerst du dich noch an das, was im grauen Korridor geschehen ist?“ Das tat er – mit Schrecken. Das von der Decke hängende Mannequin, die rote Farbe, die wie Blut in die Vase tropfte, das Poster und vor allem die Worte hinter diesem, all das hatte Spuren auf seiner mentalen Gesundheit hinterlassen. „Erhängter Garry“... Das will ich nicht noch einmal lesen. „Du hast recht“, sagte er schließlich. „Ich sollte nichts mehr kaputtmachen. Es muss einen anderen Weg geben, an den Schlüssel zu kommen.“ Derart beruhigt, inspizierte er die Vitrine genauer und bemerkte dank Ib, die wesentlich aufmerksamer war, als er, eine Vorrichtung, in der offenbar drei Gegenstände angebracht werden mussten. Sie war aus Holz, darin waren Löcher in verschiedenen Formen angebracht, ein Quadrat, ein Dreieck und ein Kreis. Er kam nicht umher, an Kinderspielzeug zu denken, in dem es darum ging, dass das Kind das eigens dafür gefertigte Spielzeug durch die passenden Öffnungen schob. „Vielleicht geht es auf, wenn wir da etwas reintun“, sagte Ib, die möglicherweise denselben Gedanken hatte. „Wie ein Schlüssel.“ „Dann lass uns herausfinden, was wir da benutzen müssen.“ Garry blickte sich um und entdeckte eine Spur von roten Klecksen, die von der Vitrine fortführten. Als sie dieser folgten, gelangten sie zu drei Türen, hinter denen sich, wie er hoffte, die erforderlichen Gegenstände befanden. Aber bestimmt wartet hinter jeder Tür ein Rätsel. Wäre auch zu schön, wenn es einfach wäre. Um Ib nicht zu beunruhigen, sprach er diese Gedanken allerdings nicht aus, sondern öffnete die linke Tür, um herauszufinden, was auf sie wartete. Der Raum dahinter war nicht groß, wie er erleichtert feststellte, an den Seiten standen Regale mit Mannequin-Köpfen, am Ende des Raumes war ein Bilderrahmen an der Wand angebracht, in dem sich eine dreieckige Figur aus demselben Holz befand, wie jene Vorrichtung an der Vitrine. Doch egal wie sehr Garry versuchte, diese Figur aus dem Bild zu lösen, es gelang ihm einfach nicht. Ib betrachtete derweil zwei rote Bodenplatten, die nicht im Mindesten zum Rest passten, was Garry sagte, dass es sich dabei um einen Teil des Rätsels handelte. „Es gibt zwei Platten“, bemerkte er. „Wir müssen wohl gleichzeitig draufsteigen.“ Ib nickte und legte den Kopf in den Nacken. „Was tust du da?“, fragte Garry. „Ich suche nach Fallen.“ Am Liebsten hätte er sich selbst gegen die Stirn geschlagen, dass ihm das nicht eingefallen war. „Gute Idee, Ib.“ Er folgte ihrem Beispiel, konnte aber nichts entdecken, was auf eine Falle hinwies. Die Decke sah erschreckend normal aus, aber nicht gefährlich. Nichts war dort angebracht, was vielleicht herunterfallen könnte. „Es sieht sicher aus“, sagte er schließlich. „Lass es uns versuchen.“ Ib nickte, zählte bis drei und stieg dann gemeinsam mit Garry auf die gefärbten Platten. Jene, auf der er stand, färbte sich blau, aber die von Ib blieb rot, selbst als sie es mit hüpfen versuchte. „Es funktioniert nicht“, stellte sie frustriert fest. Sie wollte zurück, genau wie er, deswegen verstand er das durchaus und sah sich bereits nach einer Möglichkeit um, die ihnen helfen könnte, doch das einzige, was er entdeckte, waren die Mannequin-Köpfe, die er eigentlich nicht berühren wollte. Aber Ib war sicher nicht stark genug, es selbst zu tun. Also blieb ihm nichts anderes übrig. „Ich habe eine Idee. Steig wieder von der Platte.“ Ib gehorchte sofort und trat wieder auf den normalen Boden, so wie er. Sie blieb vor dem Schalter stehen, während er an das nächstgelegene Regal trat und dort versuchte, einen der Mannequin-Köpfe zu bewegen. Er war nicht so schwer wie erwartet, aber dennoch sollte es ausreichen, Ibs Gewicht zu unterstützen. Also stellte er den Kopf dort ab, stellte sicher, dass er dort stehenbleiben würde und kehrte dann wieder auf seine Position zurück. „Jetzt kannst du wieder zählen.“ Ib wiederholte ihren Countdown, wieder stellten sie sich gleichzeitig auf die Platten, die sich diesmal beide verfärbten, worauf sich das Dreieck mit einem leisen Geräusch aus dem Rahmen löste und zu Boden fiel. Triumphierend sprang Ib wieder von der Platte und hob den Gegenstand auf. Die ganze Reise hindurch hatte sie wichtige Gegenstände für sie beide aufbewahrt, sie schien ihm sehr verantwortungsbewusst, deswegen störte es ihn nicht. Ihre Eltern haben sie wirklich gut erzogen. „Dann lass uns nachsehen, was wir als nächstes tun müssen.“ Sie verließen den Raum und betraten dann den in der Mitte, der Garry wesentlich besser gefiel. Abgesehen von einer Fliederpflanze gab es darin nichts, aber genau das fand er beruhigend. Er war in keinerlei seltsame Form geschnitten, stellte nichts da, es sah sogar fast so aus, als ob jemand das Gewächs nur aus Versehen abgestellt hatte. Schmetterlinge umschwirrten den Flieder, aber bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass die Insekten nur aus Papier waren. „Das ist hübsch“, sagte Ib. „Ich dachte nicht, dass es hier auch so etwas gibt.“ Garry nickte zustimmend. „Ja, es wirkt fast schon unpassend. Aber wo finden wir jetzt...?“ Er verstummte, während er die Pflanze genauer betrachtete, genau wie die Schmetterlinge, die unablässig flatterten, als würde seine Anwesenheit sie nervös machen. „Vielleicht ist dieser Raum auch nur eine Ablenkung“, überlegte er murmelnd. „Aber normalerweise gibt es hier so etwas nicht...“ Es sei denn, der Raum diente lediglich zum Durchlaufen, aber ansonsten hatte jeder seinen eigenen Zweck besessen und das musste auch für diesen gelten. Doch ein „Ah!“ von Ib lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen ganz bestimmten Schmetterling, der träge auf einem der Äste saß. Garry betrachtete ihn genauer und stellte fest, dass nur die Flügel aus Papier waren, während der Körper aus einer hölzernen Kugel bestand. „Das ist er.“ Doch als er nach ihm greifen wollte, flog der Schmetterling davon, an Ib vorbei, die ebenfalls die Hand danach ausstreckte, aber das Insekt wich erstaunlich wendig aus. Auch als Garry es noch einmal zu ergreifen versuchte, funktionierte das nicht. „Hmpf!“, brachte er empört hervor. „Ein richtiges Rätsel wäre mir lieber, als das hier.“ „Schmetterlinge mögen den Geruch von Blumen, oder?“, fragte Ib, die bereits wieder an etwas anderes zu denken schien. „Ja, ich denke schon.“ Er schwieg für einen kurzen Moment, aber da kam ihm, dank ihrer Bemerkung, bereits ein Gedanke, auf den sie vermutlich sogar gehofft hatte. Sie beide blickten auf ihre Rosen hinunter und sahen dann den jeweils anderen an. Auch ohne etwas zu sagen, wusste Garry, dass sie denselben Gedanken hegten, weswegen er Ib zuvorkam und seine Rose ausstreckte. Er glaubte nicht, dass diese Sache ohne Opfer ablaufen würde und er wollte nicht, dass sie diejenige war, die es erbrachte. Die anderen Schmetterlinge ignorierten seine Rose glücklicherweise, jener, den sie benötigten, widmete sich der Blume, flatterte hinüber und setzte sich auf die blaue Blüte. Garry lächelte zufrieden. „Das funktioniert wirk- au!“ Ein scharfer Schmerz ließ ihn nicht nur verstummen, sondern wischte auch das Lächeln aus seinem Gesicht. Ein Blütenblatt segelte zu Boden, aber Garrys Blick galt vielmehr dem plötzlich erschienen Schnitt auf seinem Handrücken. Ich kann es kaum erwarten, hier wieder draußen zu sein, damit so etwas nicht mehr geschieht. Zu seinem Glück lohnte sich das Opfer allerdings auch, denn die Flügel des Schmetterlings verbrannten und der kugelförmige Körper fiel zu Boden, wo er von Ib aufgehoben wurde. Dann wandte sie sich ihm mit besorgter Miene zu. „Alles in Ordnung?“ „Natürlich, alles bestens.“ Er lächelte aufmunternd, um ihm zu zeigen, dass ihn das nicht weiter störte, immerhin hatte er schon eine schlimmere Situation hinter sich. „Lass uns weitergehen.“ Sie folgte dem nur allzu gern und so betraten sie den rechten, als letzten vorhandenen, Raum. In diesem stand ein Tisch, auf dem ein Rahmen lag, genau wie ein Glaskasten, in dem das hölzerne Quadrat lag und der nicht geöffnet werden konnte. An der Wand hing ein Gemälde, dessen zentrales Thema eine Sanduhr war, deren ganzer Inhalt im unteren Bereich aufgestaut war, aber Garry beachtete es nicht weiter und kümmerte sich stattdessen lieber um den Rahmen, der auf dem Tisch lag, genau wie Ib es tat. „Das ist ein Milchpuzzle, oder, Garry?“ „Sehr gut, Ib“, lobte er sie lächelnd. „Du hast es dir wirklich gemerkt.“ Tatsächlich befand sich ein komplett weißes Puzzle im Rahmen, das bereits fertig gelegt war. Dennoch war der Glaskasten fest verschlossen, also war das Rätsel noch nicht gelöst – oder aber es hatte noch gar nicht begonnen. „Wollen wir das Puzzle zusammen machen?“, fragte Ib. „Zusammen macht es bestimmt Spaß.“ „Dann glaubst du auch, dass es ein Teil des Rätsels ist?“ Sie nickte zustimmend und wartete darauf, dass er etwas tun würde, um es in Gang zu setzen. Er war sich zwar nicht so sicher, was er tun sollte, beschloss aber, das nächstgelegene zu tun und hob den Rahmen an, um irgendwie an das Puzzle zu kommen. Kaum schwebte es ein wenig, brachen die Stücke aus dem Rahmen heraus und landeten quer durcheinander verstreut auf dem Tisch. Im selben Moment drehte sich die Sanduhr und die Körner begannen träge, sich in Bewegung zu setzen und in den unteren Bereich zu fallen. Gleichzeitig erschienen Wörter auf dem Bild, die ihnen verrieten, was sie zu fürchten hatten: Wenn der Sand der Zeit verrinnt, welken alle Rosen, doch Milch wird euch erlösen. Garry brauchte keine weiteren Erklärungen. „Lass uns anfangen, Ib.“ Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit. Sie übernahm automatisch die Aufgabe, alle Randstücke zu finden, während er sich auf das Innere zu konzentrieren versuchte. Er wusste nicht, wie viel Zeit genau ihnen diese Sanduhr verschaffen würde, ob sie überhaupt richtig funktionierte oder die Körner nicht zu schnell durch den Spalt fielen. Waren es zehn Minuten? Fünf? Zwei? Vielleicht nur eine? Wie lange saß er nun schon daran und wie viel Zeit blieb dann noch? Er wusste es nicht, versuchte, nicht darüber nachzudenken, auch nicht, als er plötzlich einen stechenden Schmerz spürte und dann bemerkte, dass ein weiteres Blütenblatt abgefallen und ein Schnitt auf seiner anderen Hand erschienen war. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, seine Augen huschten über die Teile, in seinen Gedanken versuchte er sie bereits zu verbinden, so dass seine Hände nur noch folgen und seine Überlegungen umsetzen mussten. Es lief gut, aber immer wieder kam ihm die Frage in den Sinn, wie viel Zeit sie noch hatten, aber er versuchte krampfhaft, nicht den Blick zu heben. Als Ib einen leisen Schmerzenslaut von sich gab, der ihm verriet, dass sie abwechselnd verletzt wurden, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass Puppen neben der Sanduhr erschienen, die sie wirklich zu beobachten schienen und dabei grinsten, als würden sie ihnen sagen wollen, dass es ohnehin sinnlos war und sie lieber aufgeben sollten. Garrys Finger begannen zu zittern, immer wieder ließ er Teile fallen, die er aufgenommen hatte, um sie woanders mit dem passenden Gegenstück zusammenzusetzen. Ib arbeitete still und konzentriert weiter, er wusste nicht, ob es daran lag, dass sie das Gemälde nicht beachtete oder ob sie einfach nur eine beneidenswerte Ruhe innehatte – aber er wusste, dass er sich zu sehr von all diesen Gedanken ablenken ließ. Ein weiteres Blütenblatt fiel von seiner Rose und verschaffte ihm einen brennenden Schmerz in seiner linken Schulter. Aber es brachte ihm durch das entstehende Adrenalin auch genauso einen neuen Konzentrationsschub, der ihn wieder besser arbeiten ließ. Und so – nach einer gefühlten Ewigkeit – setzten er und Ib gemeinsam die jeweils bearbeiteten Stücke beisammen. Kaum war das Puzzle beendet, gab es ein leises Geräusch, der Glaskasten öffnete sich und die Sandkörner fielen nicht mehr. Garry atmete tief auf, während Ib ein leises Summen von sich gab, das allerdings nur einen kurzen Moment anhielt und ihre Freude zum Ausdruck zu bringen schien. Ohne zu zögern griff sie sich das Holzquadrat, dann sah sie ihn mit leuchtenden Augen an. „Das war echt toll, Garry! Ich wusste gar nicht, dass du so gut darin bist.“ „Letztes Mal habe ich länger gebraucht“, erwiderte er lachend. „Ich steigere mich anscheinend. Auch dank deiner Hilfe, Ib. Du warst auch sehr gut.“ Sie lächelte wieder zufrieden über sein Lob, dann nahm sie seine Hand. „Holen wir uns jetzt den Schlüssel.“ Doch bevor er loslief, kniete er sich noch einmal vor sie. „Geht es dir auch gut? Du siehst blass aus.“ „Ich habe zwei Blütenblätter verloren, das ist alles. Wenn wir zu einer Vase kommen, geht es mir wieder besser – und dir auch.“ Er war davon überzeugt, dass er auch blass aussah, aber darum wollte er sich erst einmal nicht kümmern, solange sie noch in diesem Labyrinth festsaßen. Also nickte er ihr lediglich zu und erhob sich dann wieder, um mit ihr in den Ausstellungsraum zurückzukehren. Dort drückte Ib seine Hand ein wenig fester und er erwiderte diesen Druck nur allzu gern. In den Ecken saßen plötzlich überall diese Puppen. Im Gegensatz zu jenen auf dem Bild, schienen diese sie aber nicht zu beobachten. Sie waren leblos. Garry wollte Ib raten, sie zu ignorieren, aber er war sich nicht sicher, ob sie diese wirklich sah – außerdem zog sie ihn bereits mit sich, während er noch darüber nachdachte, ob er etwas sagen sollte. Sie setzte die drei Holzstücke ein und erntete dafür ein leises Geräusch, das verriet, dass die Vitrine offen war. „Es hat funktioniert“, frohlockte Garry, als sich, zu seiner Überraschung, eine unscheinbare Klappe im Glaskasten öffnete, die es ihnen erlaubte, den Schlüssel herauszunehmen. „Hoffentlich steht uns jetzt nichts mehr im Weg.“ „Ganz bestimmt nicht“, sagte Ib. „Wir kommen jetzt hier raus, ganz sicher!“ Mit diesem neu gefundenen Optimismus strebten sie beide in Richtung der Tür, ohne die Puppen weiter zu beachten oder gar die Inschriften, die erschienen, als sie an der Wand vorbeiliefen und immer noch ein Ruf danach waren, dass sie doch beide bleiben sollten. Als sie die Tür aufschlossen und hindurchgingen, hoffte Garry wieder einmal, dem Ausgang näher gekommen zu sein – und diesmal hatte er zumindest ansatzweise recht. Part III: Klagelied ------------------- Der Korridor jenseits der Tür war dunkel, farblos, was seine Hoffnung bestärkte, dass sie nicht fern vom Ausgang waren. Eine endlos erscheinende Treppe tat sich vor ihnen auf und Ib wartete nicht eine Sekunde, um dieser hinabzufolgen. Doch schon nach wenigen Stufen änderte sich etwas an dem sonst leeren Gang. Puppen, die ein Seil um den Hals geschlungen hatten, hingen an der Wand herab, starrten sie an und schienen sie mit ihren roten Augen zu verfolgen, aber Garry versuchte lieber erst gar nicht, herauszufinden, ob er sich das nicht vielleicht nur einbildete. Stattdessen hielt er sich lieber an Ib, die keinen Blick dafür übrig hatte und ihm wieder einmal zeigte, wie mutig sie war, was ihn anspornte, es ebenfalls zu sein. Sie gab ihm Hoffnung, dass sie wieder nach Hause kommen könnten. Und das konnte er gut gebrauchen, als sie am Fuß der Treppe angekommen waren. Ein lautes Geräusch erklang hinter ihnen und als sie sich beide umdrehten, erkannte Garry mit Schrecken jenes Wesen wieder, das in diesem furchterregenden Raum aus dem Rahmen gekrochen war. Das wilde Grinsen, die gebleckten Zähne, die abstehenden schwarzen Haare, all das rief ihm diesen grauenvollen Moment in Erinnerung, während dem er seinen Verstand bereits verloren geglaubt hatte, nur um ihn doch wiederzufinden. „Was tun wir jetzt?“, fragte Ib leise. Doch die Antwort wurde Garry bereits abgenommen, als das Wesen sich zu bewegen begann und langsam auf sie zukam. „Lass mich nicht allein, Garry!“, kreischte es. „Bleib hier, Ib! Spiel mit mir!“ Garry kniete sich hin. „Kletter auf meinen Rücken, Ib.“ Bislang war sie gut allein zurechtgekommen, aber nun war er davon überzeugt, dass es besser war, wenn er sie trug. Nach ihrer letzten Flucht war sie zusammengebrochen und er wollte nicht, dass es ihr noch einmal so erging. Zu seinem Glück schien sie das genauso zu sehen, denn sie gab keinerlei Widerwort von sich und kletterte stattdessen auf seinen Rücken. Sie war, zu seiner Überraschung, leichter als er erwartet hätte, aber das war umso besser. Nachdem sie sicheren Halt gefunden hatte, richtete er sich wieder auf und rannte los. Hinter sich hörte er weiter das protestierende Kreischen und das laute Keuchen der Gestalt, die sie beide einzuholen versuchte und viel zu schnell näher kam. Es kam ihm wie eine unmögliche Aufgabe vor, diesem Wesen zu entkommen und dieser Gedanke wollte ihm jede Hoffnung rauben – doch Ibs Nähe, ihr verletzlicher Körper auf seinem Rücken, sagte ihm gleichzeitig, dass er nicht aufgeben konnte. Er war der Erwachsene, sie verließ sich auf ihn und wenn er aufgab, war sie verloren. Deswegen gab es für ihn nur eine Möglichkeit. Obwohl seine Lungen schmerzhaft brannten und er fast jedes Gefühl in den Beinen verloren hatte, rannte er immer weiter, folgte dem Gang, der nicht zu enden schien und ignorierte das Kreischen hinter sich, das er durch das rauschende Blut in seinen Ohren ohnehin kaum noch hören konnte. Doch die Flucht endete abrupt, als er gegen eine plötzlich vor ihm auftauchende Tür prallte. Ib stieß einen erschrockenen Laut aus. „Garry!“ „Ich bin okay“, keuchte er, während Sterne vor seinen Augen tanzten. „Wie ist es bei dir?“ Er glaubte es zwar nicht, aber vielleicht war sie dennoch verletzt worden, ohne dass er es bemerkt hatte. Er atmete erleichtert auf, als sie ihm bestätigte, dass es ihr gutging. Aber schon im nächsten Moment wurde ihm wieder bewusst, dass dieses Wesen immer noch hinter ihnen her war. Sein verzweifeltes Rütteln an der Tür blieb jedoch unbeantwortet, sie war eindeutig verschlossen und keiner von ihnen besaß den Schlüssel. Dafür musste er nicht einmal Ib fragen, denn das Wesen heulte bereits wieder auf: „Ich habe den Schlüssel! Ihr werdet für immer hier bleiben!“ Panik strömte durch seinen ganzen Körper, während er darüber nachzudenken versuchte, was er nun tun sollte. Es gab keinen Weg zurück, die Tür vor ihnen war verschlossen und der Schlüssel befand sich in dem Wesen, das sie verfolgte und ihm Furcht einjagte, die alles überstieg, was er je zuvor gefühlt hatte. Und noch während er wieder an jenen Moment zurückdachte, an dem sein Verstand beschlossen hatte, zu zerbrechen, nur um sich danach wieder neu zusammenzufügen, kamen ihm auch zwei andere Gedanken in den Sinn. Man muss sich seinen Problemen stellen und alle Probleme lösen sich in Rauch auf. Diese zwei Sätze gaben ihm schließlich die Eingebung, die er brauchte. Er griff in die Tasche seines Mantels und zog sein Feuerzeug heraus. In derselben Bewegung klappte er den Deckel auf und versuchte, es zu entfachen. Es gab nur ein klägliches Zischen von sich, das ihn innerlich fluchen ließ. Das Feuerzeug war fast leer, wenn er sich richtig erinnerte, was in diesem Moment kein sonderlich tröstender Gedanke war. „Komm schon“, murmelte er und versuchte es gleich nochmal – und diesmal entstand tatsächlich eine Flamme. Erstmals seit Beginn der Flucht, fuhr er herum, stellte erschrocken fest, wie nah das Wesen ihnen bereits war und schleuderte das brennende Feuerzeug, ohne zu zögern, in die Richtung ihres Verfolgers. Während des kurzen Fluges schickte er ein Stoßgebet gen Himmel und alle Göttlichkeiten, die es geben mochte, dass er das Wesen treffen und entzünden würde. Wer am Ende sein Gebet erhörte – oder ob sich mal eben alle Göttlichkeiten zusammengetan hatten, um ihm zu helfen – wusste er nicht und es kümmerte ihn auch nicht weiter, aber er stieß einen begeisterten und gleichzeitig erleichterten Ruf aus, als das Feuerzeug das Wesen traf und die Flammen sofort den gesamten Körper einhüllten. Es stieß ein schmerzerfülltes, anklagendes Kreischen aus und Garry empfand ein ungemein befriedigendes Gefühl, als es vor seinen Augen zu Asche wurde, die zu Boden fiel. Das, was ihm Angst eingejagt hatte, war fort und es würde nie mehr zurückkommen. Allein dieser Gedanke reichte, um seine mentale Gesundheit noch weiter wiederherzustellen. „Ist es weg?“, fragte Ib. Er warf einen Seitenblick zu ihr und stellte fest, dass sie die Augen geschlossen hielt. „Ja, ist es.“ Garry ging wieder auf die Knie, so dass sie von seinem Rücken klettern konnte und dann nutzte er die Gelegenheit, erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Wer hätte gedacht, dass mir diese Selbsthilfetipps einmal helfen würden? Und auch noch ausgerechnet hier. Ib strich ihm über das Haar, als müsste sie ihn beruhigen, was er mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm, dann ging sie zum Aschehaufen hinüber und betrachtete diesen eingehend. Garry schloss derweil die Augen und atmete tief durch. Seine Lunge brannte noch immer, aber der Schmerz ließ bereits nach und hinterließ das angenehme Gefühl, etwas erreicht zu haben, auch wenn es nur aus der Rettung seines Lebens bestanden hatte – und dem von Ib. Kaum dachte er an sie, griff sie nach seiner Schulter und brachte ihn so dazu, die Augen wieder zu öffnen. „Es ist nicht mehr weit“, sagte sie zuversichtlich und zeigte ihm den Schlüssel, den sie aus der Asche geholt haben musste. Er stand wieder auf, damit sie die Tür aufschließen konnten – und stellte dabei fest, dass Worte darauf erschienen waren: Warum mochtest du mich nicht...? „Das sind hoffentlich die letzten“, kommentierte Garry, ohne jedes Reuegefühl. Diese Puppe wollte von ihm geliebt werden, möglicherweise war das der Wunsch aller Kunstwerke in diesem Labyrinth gewesen – und höchstwahrscheinlich war es das, was Kunst im Allgemeinen wollte. Jedes Werk trug ein Stück der Seele seines Schöpfers in sich. War es da wirklich fragwürdig, dass es auch geliebt werden wollte, so wie jeder Mensch? Aber es ist nur ein Teil dieser Welt!, verteidigte er sich innerlich. Auch eine klagende Puppe, bleibt eine Puppe – und ich will nur nach Hause. Während er noch nachdachte, drehte Ib den Schlüssel und öffnete die Tür. Eine angenehme, erhabene Stille, empfing sie, als sie eintraten und Garry sofort erkannte, dass sie sich wieder in der Lobby des Museums befanden. „Wir sind fast zurück. Irgendwo hier muss es einen Weg nach Hause geben.“ Fort von all den furchtbaren Dingen, die sie versuchten, in dieser Welt zu halten oder sie zu töten, zurück in die Sicherheit des alltäglichen Lebens, das er fortan mehr zu schätzen wissen würde. Ib nahm Garrys Hand und ging gemeinsam mit ihm die Treppe nach oben. Die kopflosen Statuen standen immer noch bewegungslos an ihrem Platz und so war es kaum vorstellbar, dass sie im Labyrinth mehreren von ihnen begegnet und sogar vor ihnen geflohen waren. Ib besaß allerdings keinen Blick für sie, sondern lief zielsicher weiter und so kamen sie zu einem großen Gemälde, auf dem zahlreiche Ausstellungsstücke zu sehen waren, fast so, als wäre dieses eine Werk eine Werbung für das gesamte Museum. „Fabrizierte Welt“, las Garry auf der Plakette. „Das muss unser Weg nach Hause sein. Wenn wir hineinspringen, kommen wir bestimmt zurück. Aber wie sollen wir in ein Bild springen?“ Während er noch überlegte, wurde er von einem Lichtblitz geblendet und als er wieder etwas sehen konnte, war der Rahmen verschwunden. Das Bild erschien ihm plötzlich plastischer, er glaubte sogar, Stimmen zu hören, sein Herz schien um einiges leichter geworden zu sein. „Sieht so aus, als könnten wir jetzt springen“, sagte er. „Wollen wir?“ Er blickte Ib an, die noch immer seine Hand hielt und ihm lächelnd zunickte. Gemeinsam holten sie Anlauf, sprangen und tauchten in das Gemälde ein. Als er wieder etwas sehen konnte, war Garry allein. Er blickte nach rechts und nach links, aber niemand war zu sehen und er kam nicht umhin, sich zu wundern, was er an diesem Ort tat oder wie er dorthin gekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, zu diesem unheimlichen Porträt gegangen zu sein – und vor allem fragte er sich, warum er sich so erschöpft fühlte. War ich so lange hier? Kopfschüttelnd ging er davon, die Treppe hinunter und betrat den Erdgeschossbereich der Ausstellung, wo er schließlich vor der Skulptur einer Rose stehenblieb. Sie anzusehen löste ein melancholisches Gefühl in seinem Inneren aus, das er sich nicht erklären konnte. Es war, als ob etwas in ihm, ihn daran zu erinnern versuchte, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte. Aber egal, wie lange er diese Skulptur ansah, ihm fiel einfach nicht ein, was es war. Während er so in Gedanken versunken vor dieser Rose stand, spürte er plötzlich, wie jemand an seinem Mantel zupfte. Er wandte den Kopf und entdeckte ein junges Mädchen mit großen roten Augen, die ihn neugierig musterten. „Was siehst du da an?“, fragte sie. „Man nennt diese Figur Verkörperung des Geistes“, erklärte er. „Und sie spricht irgendwas in meinem Inneren an. Sie macht mich... traurig.“ Er verstummte, konnte aber sehen, wie Besorgnis in ihren Augen aufflammte, weswegen er rasch noch etwas hinzufügte: „Tut mir Leid, ich sollte vielleicht lieber gehen, ich muss langsam los.“ Doch kaum hatte er einige Schritte in Richtung des Ausgangs getan, hörte er wieder die Stimme des Mädchens: „Garry...“ Er hielt überrascht inne und fuhr herum. Sein Blick ging von ihrem Gesicht zu ihrer Hand, in der sie ein Feuerzeug hielt, das er sofort als seines erkannte. „Wo hast du das her? Und woher kennst du meinen Namen?“ „Weißt du das denn nicht mehr?“, fragte sie enttäuscht. „Wir waren zusammen an diesem Ort.“ Sie hob eine Hand, um auf ein Bild zu zeigen, das ihm bislang noch gar nicht aufgefallen war. Es zeigte eine grauenvolle Kreatur mit wildem Blick und abstehendem schwarzem Haar, umgeben von grauenvollen Puppen mit blutroten Augen. Ein furchterregender Schauer fuhr ihm über den Rücken, aber trotz der plötzlichen Angst in seinem Inneren, verspürte er auch ein wenig Mitgefühl und die Wesen schienen ihm... traurig zu sein. Deswegen überraschte ihn auch der Titel des Bildes nicht, der Klagelied einer Puppe lautete. Doch in dem Moment, in dem er sich fragte, was das Mädchen ihm damit sagen wollte, kehrten bruchstückhaft Erinnerungen zu ihm zurück. Angst, Wahnsinn, Besorgnis, Hoffnung, all diese Emotionen fluteten auf ihn ein, führten ihn vor Augen, wie er gemeinsam mit einem kleinen Mädchen durch eine albtraumhafte Galerie gewandert war, wie sie beide Rosen gehalten hatten, wie das Mädchen ihn mental gestützt hatte, so dass er sogar aus dem fast schon sicheren Wahnsinn wieder erwacht war. Und zuguterletzt das Feuer, das dieses albtraumhafte Wesen schließlich zerstört hatte. „Ich habe... das Feuerzeug liegen gelassen“, sagte er atemlos. „Hast du es aufgehoben... Ib?“ Sie nickte lächelnd, er blickte sich weiter um, nur um sicherzugehen, dass er sich wirklich in der echten Galerie befand, die mit anderen Leuten gefüllt war, denn für einen kurzen Moment hatte er befürchtet, alles würde vor seinen Augen zerbrechen und ihn wieder in dieses Labyrinth zurückschicken, sobald die Freude sich in seinem Inneren auszubreiten begann. „Wir sind zurück“, sagte er und begann leise zu lachen. „Wir haben es wirklich geschafft, Ib!“ „Du erinnerst dich?“, fragte sie lächelnd, worauf er nicht nur nickte, sondern sich auch hinkniete, um sie einen kurzen Augenblick zu umarmen. „Ich bin so froh, dass wir beide es geschafft haben“, sagte er und ließ sie wieder los, ehe irgendjemand auf seltsame Gedanken kommen würde. „Ich auch.“ Sie hielt ihm immer noch das Feuerzeug entgegen, aber er schüttelte mit dem Kopf. „Behalte es erst mal. Ich habe dir Süßigkeiten versprochen, nicht wahr? Heute habe ich dafür keine Zeit, aber wenn wir uns wiedersehen, gibst du mir das Feuerzeug zurück und ich kaufe dir viele Bonbons.“ Ihr Lächeln verriet ihm, dass sie darauf gehofft hatte, ein Andenken an ihn behalten zu dürfen und auch, dass sie weiter Kontakt mit ihm halten könnte. Noch ein Punkt, den er bewundernswert an ihr fand. In ihrem Alter hätte er dieses Abenteuer sicher nur vergessen wollen und damit auch jeden, den er dadurch kennengelernt hatte. Aber sie wollte das genaue Gegenteil und das rührte ihn und bestärkte ihn darin, dass er genau dasselbe wollte. Er hörte, wie jemand nach Ib rief und freute sich darüber, dass sie wieder ihre Eltern gefunden hatte. Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich von ihm und huschte davon. Garry sah ihr hinterher, winkte, bis sie gemeinsam mit ihren Eltern aus seinem Blickfeld verschwunden war. Kaum war sie fort, fühlte er sich einerseits einsam und gleichzeitig spürte er auch, dass sie fortan miteinander verbunden waren. Sie beide hatten etwas erlebt, das sie für ein Leben lang zusammenschweißte, eine Verbindung war geschaffen worden, die sich nie auflösen würde. Dieser Gedanke beruhigte ihn zunehmend. Er warf noch einen letzten Blick auf das Klagelied der Puppe, aber diesmal kehrte die Furcht nicht wieder. Stattdessen hoffte er plötzlich sogar, dass diese Wesen eines Tages in ihrer eigenen Welt glücklich sein könnten, so wie er in der Realität. Dann wandte er sich mit einem Lächeln ab und ging leise summend davon, um endlich nach Hause zu gehen, so wie er es sich die ganze Zeit gewünscht hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)