Creepypasta Special: The Name Lumis von Sky- (Die wahre Geschichte über Sally) ================================================================================ Kapitel 1: Ein neues Heim ------------------------- Es goss in Strömen und der Donner grollte so laut, dass es Jamie durch Mark und Bein fuhr. Immer wieder sah er sich um, so als warte er darauf, dass der nächstbeste Blitz seinen Regenschirm treffen und ihm eine tödliche Ladung Volt durch den Körper jagen würde. Normalerweise würde er sich bei solch einem Unwetter nicht nach draußen wagen, besonders nicht, da seine Schuhe und Socken bereits durchnässt waren. Viel lieber saß er da bei einem guten Buch am Kamin und trank eine Tasse Tee. Aber Dathan hatte andere Pläne. Er liebte das Gewitter und besonders den Regen. Allein schon das Geräusch, wenn der Regen niederprasselte, beruhigte seine Seele und ließ ihn seine Sorgen und seinen Kummer vergessen. Für ihn war der Regen eine Befreiung von seiner Last, als würde er alles Schlechte von ihm abgewaschen werden. Das sah man auch schon daran, wie er da stand, so ganz ohne einen Regenschirm, den Mundschutz abgenommen und das Gesicht zum Himmel gerichtet. Mit geschlossenen Augen stand er da und ließ sich ins Gesicht regnen und sah aus, als würde er zu Gott beten und ihm sagen wollen „Hier bin ich!“ Und der Regen war nicht nur für seine Seele eine Wohltat. Auch wenn die Hälfte seines Gesichts aufgrund einer Säureentstellung so gut wie gar kein Gefühl mehr hatte, so spendete der Regen eine angenehme Kühlung und ließ ihn körperlichen Schmerz vergessen. Das Wasser tropfte bereits von seinen pechschwarzen Haaren und auch seine Kleidung war durchnässt. Als schließlich ein eisiger Wind blies, seufzte Jamie und berührte die Schulter seines Freundes. „Dathan, du wirst dir noch den Tod holen. Komm, lass uns gehen.“ Langsam öffnete Dathan die Augen und schaute Jamie schweigend an. „Du hast Recht, mir wird auch langsam kalt.“ Er gesellte sich schließlich zu seinem besten Freund unter dem Regenschirm und gemeinsam verließen sie den Friedhof, wo das Grab der Familie Kinsley lag. Ein Jahr war es jetzt her, seit Dathans kleine Schwester Christie, seine ältere Cousine Clarissa sowie sein Schulkamerad und Freund Koishi getötet worden waren und immer noch konnte Dathan es nicht fassen. Sie waren alle drei tot… und er war mit ihnen gestorben. Aber er konnte zurück. Er war wieder ins Leben zurückgekehrt und in der Autopsie aufgewacht, bevor sie ihn auseinander nehmen konnten. Aber Christie und die anderen waren weiterhin tot und er würde sie niemals wieder sehen. Und als er an seine kleine Schwester dachte, wie sie fröhlich gelacht und gespielt hatte… wie sie das Cthulhu-Stofftier umarmt hatte, das er für sie gemacht hatte und fröhlich „Tulu“ rief, ergriff ihn der unsagbare Schmerz aufs Neue. Es zerriss ihm das Herz, wenn er sich an ihr Gesicht und ihre Stimme erinnerte. Der Schmerz schnürte ihm Brust und Kehle zu und er brach in Tränen aus. Wie sehr wünschte er sich, sie ein letztes Mal zu sehen, sie in den Arm zu nehmen und ihr den Kopf zu streicheln. Stattdessen konnte er nur Blumen an ihr Grab legen und sich dafür hassen, dass er sie nicht retten konnte. Dathan verbarg sein zernarbtes und entstelltes Gesicht in den Händen und schluchzte. Jamie sah ihn mitfühlend an und nahm ihn in den Arm, obgleich es ihm zuwider war, selbst nass zu werden. Er kannte den Schmerz, den Dathan durchlitt und er fühlte mit ihm. Auch er hatte eine Schwester verloren und es hatte ihn gebrochen. Lydia, seine Zwillingsschwester, nahm sich das Leben, nachdem sie brutal von einigen Schulschlägern vergewaltigt wurde, die es schon seit langem auf Dathan abgesehen hatten. Sie hatten Lydia dafür verachtet, dass sie Dathan beschützte und hatten sie in den Tod getrieben. Und nun war auch er allein. Er hatte keine Verwandten mehr, keine Eltern und keine Geschwister. Genauso wie Dathan war auch er allein und alles, was ihm geblieben war, das waren zum einen das Vermögen seiner Familie und sein bester Freund bzw. seine einzige große Liebe Dathan. Die Firma und die Villa seiner Familie hatte er längst zu Geld gemacht, aber er vermied es, dieses Geld zu anderen Zwecken als für das Nötigste anzurühren. Denn dieses Geld war es, das das Schlechteste in den Menschen hervorbrachte und deswegen hasste er es. Jamie, der Dathan helfen und ihm in dieser schweren Zeit beistehen wollte, begrub seine Liebe zu ihm, um ihm nahe sein zu können. Dathan war viel zu selbstlos und rücksichtsvoll, als dass er in seiner Nähe geblieben wäre, wenn Jamie mit seiner unerwiderten Liebe zu kämpfen hätte. Natürlich ließ sich so etwas nicht von jetzt auf gleich abstellen und er liebte ihn immer noch, aber er unterdrückte diese Gefühle. Hauptsache, er konnte bei Dathan bleiben und ihn unterstützen. Auch Dathan blieb bei Jamie, weil er ihn nicht alleine lassen wollte. Sie beide gaben sich gegenseitig Halt und hatten nur noch einander als Freunde. Tragischerweise würde sich diese Situation auch nicht ändern, da sie beide nicht mit Menschen zusammenleben konnten. Jamie war aufgrund seiner psychischen Störung nicht in der Lage, eine normale Freundschaft zu anderen aufzubauen, ohne dass er gleich in seine Persönlichkeitsstörung oder in seinen Kontrollwahn verfiel. Er hatte mehrere Menschen als Valentine Killer auf dem Gewissen. Immer wieder entwickelte er eine krankhafte Zuneigung zu anderen und konnte seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten. Er nahm jedes Mal Züge eines Stalkers an und wenn er dann eine Zurückweisung erhielt, drehte er durch und brachte seine Opfer um. Was Dathan betraf, so lag es nicht daran, dass er ein gestörtes Verhältnis zu seiner Umwelt hatte. Zwar war er aufgrund jahrelangem Mobbing und anderen schlimmeren Vorfällen so vorbelastet, dass er niemandem mehr vertrauen konnte, aber er wünschte sich nach wie vor Freundschaften. Jedoch schien seine Umwelt ein Problem mit ihm zu haben. Dathan war zum einen sehr groß. Er reichte knapp an 190cm heran und besaß ein furchteinflößendes Erscheinungsbild. Seine Augen waren blutrot und waren von schwarzen Schatten umrandet, die ihm zusammen mit seinem Emolook ein äußerst furchteinflößendes Äußeres gaben, sodass sich sogar Erwachsene vor ihm fürchteten. Schlimmer wurde dies durch die Tatsache, dass er für gewöhnlich einen Mundschutz trug, um seine Entstellungen im Gesicht zu verbergen. Seine Peiniger hatten ihn mit Säure attackiert und seine untere Gesichtshälfte als auch sein Hals, seine Brust und sein linker Arm waren schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Da er vermeiden wollte, dass man sich vor ihm fürchtete, trug er einen Mundschutz, wie es die Menschen in Asien zu tun pflegten, wenn sie krank waren. Leider brachte es überhaupt nichts. So war Dathan dazu verdammt, von allen gemieden und verachtet zu werden, ohne dass er etwas Schlimmes getan hätte. Nur die wenigsten Menschen hatten keine Angst vor ihm und sie alle wurden genauso verstoßen wie er. Das war auch der Grund, warum Dathan seine Beziehung zu seiner Mitschülerin Emily beendete: Aus Angst, sie könnte genau wie er Opfer von Schikanen und schwerem Mobbing werden. Er wollte auch nicht, dass sie seine dunkle Seite zu sehen bekam und sich deshalb von ihm abwandte. Jamie reichte Dathan schließlich ein Handtuch, um sich schon mal abzutrocknen. Im Auto schaltete der gesuchte Valentine Killer die Heizung an und wartete, bis sie erst mal warm gelaufen war. Ihm wurde es ein wenig zu warm, aber Dathan war völlig ausgekühlt und empfand es als eine Wohltat, sich hier drin aufzuwärmen. Auf dem Rücksitz sitzend zog er sein tropfnasses Shirt und seine Jacke aus und enthüllte mehrere Narben, die von alten Schnittwunden und der Säureattacke herrührten. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, nahm er dankend die Jacke an, die Jamie vorsichtshalber für ihn mitgenommen hatte. Seine Lippen, die seit damals nur noch schmale, farblose Schlitze waren, zitterten und es fröstelte ihm noch. „Ich hab es dir ja gesagt“, kommentierte Jamie, als er in den Rückspiegel sah. „Du wirst dir noch den Tod holen und dann mit einer Grippe im Bett liegen. Was machst du nur für Sachen?“ Dathan antwortete nicht darauf, sondern schaute aus dem Fenster und sah in den schwarz verfärbten Himmel. Nachdem er seine Jacke angezogen hatte, legte er seinen Mundschutz an und schnallte sich an, damit Jamie losfuhr. Es donnerte laut und in der Ferne schlug ein Blitz ein. „Na klasse, hoffentlich gibt es keinen Sturm.“ „Das wird es nicht“, entgegnete Dathan mit leiser Stimme, während er aus dem Wagenfenster schaute. „Es sieht mehr nach einem einfachen Gewitter und nach etwas Platzregen aus. Aber ein Sturm… nein, das glaube ich nicht.“ „Ein Gewitter reicht mir auch schon. Ich kann Unwetter einfach nicht ausstehen. Wenn wir erst einmal zuhause sind, mach ich es mir erst einmal im Wohnzimmer gemütlich und guck mir „Pretty Woman“ an, während ich mir eine Tüte Chips gönne.“ Die Fahrt dauerte knapp eine Stunde und als sie endlich in Jamies Haus ankamen, hatte eine wahre Sintflut eingesetzt. Obwohl es nur ein paar Schritte bis zur Haustür waren, reichte es aus, um Jamie genauso nass zu machen wie Dathan. Sofort verschwand dieser in sein Zimmer, um sich umzuziehen, während Dathan sich ein heißes Bad einließ. Jamie klopfte an die Tür und rief ihm zu „Du kannst mein Badesalz gern mitbenutzen!“ Wenn Dathan ehrlich war, so war es ihm manchmal unangenehm, dass Jamie ihn so bemutterte. Er gab ihm so viel, dass Dathan sich fast erdrückt fühlte, aber er hatte auch ein schlechtes Gewissen dabei, Jamies Angebot abzuschlagen. Jamie konnte nun mal nicht anders, als ihm mit so viel Fürsorge zu überhäufen. Er tat es, weil er sich Sorgen um ihn machte und weil er es sich zum Ziel gesetzt hatte, dass sein bester Freund und seine große Liebe endlich wieder lachen konnte. Dabei hatte Jamie so viel für ihn getan. Er hatte ihm geholfen, seine Peiniger zu töten, die ihn einst entstellt hatten. Dank ihm musste er nicht auf der Straße leben, oder sich finanziellen Sorgen machen. Aber was tat er denn schon? Im Grunde lag er Jamie bloß auf der Tasche und tat nichts. Nun ja, eigentlich tat er ja schon etwas. Er wollte ja arbeiten und eines Tages ein eigenes Heim besitzen. Aber egal was er auch versuchte, niemand wollte ihn einstellen, weil alle vor seinem Aussehen Angst hatten. Egal ob er als Bürokraft, Sozialarbeiter oder als Aushilfe in einem Imbiss arbeiten wollte, überall erfuhr er Ablehnung. Es blieb ihm also gar nichts anderes übrig, als sich von Jamie aushalten zu lassen und das passte ihm gar nicht. Dazu war er einfach viel zu aufrichtig. Er konnte wirklich von Glück reden, einen Freund wie Jamie zu haben. Vorsichtig stieg Dathan ins Wasser und spürte direkt die Wärme, die ihm bis in die Poren eindrang. Auf dem kleinen Tischchen neben der Badewanne stand das Radio, wo gerade die Top 20 der Charts gespielt wurden. Allerdings hatte diese schon das Ende erreicht und so lief nicht mehr Musik sondern eine Radioreportage über die Neuerkrankungen des Sally-Syndroms. Dathan hatte schon einiges davon gehört, hielt das Ganze jedoch für etwas unglaubwürdig. Soweit er richtig gehört hatte, war ein Film die Ursache für das Syndrom, welches Panikattacken, Angstzustände, Halluzinationen und Depressionen auslöste, die schließlich zum Selbstmord des Betroffenen führten. Der Film, der dieses Syndrom verursachte, war der berühmte „Happy Sally“ Film von Fred Moore, dem verrückten Disneyzeichner. Angeblich sollten irgendwelche Szenen enthalten sein, die irgendwelche Krämpfe oder Anomalien im Gehirn auslösten und zu dieser Krankheit führten. Dathan bezweifelte, dass da wirklich ein paranormales Phänomen dahinter steckte, wie zum Beispiel der Geist irgendeines Mädchens, das vom Teufel besessen war. Er glaubte da eher, dass nur ein unnötiger Hype darum gemacht und aus einer Mücke ein Elefant gemacht wurde. Das war eben Amerika, die Brutstätte der paranoid machenden Medien. Wahrscheinlich steckte hinter diesem Syndrom ja nichts Besonderes und es war nur eine „Begleiterscheinung“ und nicht mehr. Dathan, der an diesem Abend keine Lust hatte, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, wechselte die Frequenz und hörte sich ein Radiohörspiel an. Als er aber das Gefühl hatte, dass das Wasser langsam kalt wurde, stieg er heraus und wickelte sich schließlich in seinen Bademantel. Allmählich begannen die Spiegel zu beschlagen und so öffnete er das Fenster und ließ das Wasser ab. Schließlich stellte er sich vor dem Waschbecken hin und starrte mit seinen roten Augen, die so vielen Menschen Angst einjagten, sein Spiegelbild an. Sein Gesicht sah nicht schön aus, es erinnerte teilweise eher an das Gesicht von Freddy Krueger aus dem Remake, aber diese Tatsache konnte er ja verbergen. Es waren mehr die Augen und sein angeborener finsterer Blick, die sein ganzes Umfeld verschreckten. Emily selbst hatte mal gesagt, dass er oft aussah, als wollte er anderen an die Gurgel gehen. Schuld an allen waren die Schatten, die seine Augen umgaben. Egal wie sehr er auch versuchte, diese zu kaschieren, es wollte nichts bringen und oft genug spielte er mit dem Gedanken, sich im Gesicht operieren zu lassen. Jamie hatte ihm angeboten, die Operation zur Entfernung seiner Narben zu bezahlen, aber würde es wirklich etwas bringen? Nein, sie alle hatten doch immer vor ihm Angst gehabt. Schon bevor sie ihn entstellten, hatten die Kinder und Erwachsenen sich vor ihm gefürchtet. Dabei hatte er selbst nie einen Grund dafür geliefert. Dathan liebte Kinder, er engagierte sich im sozialen Bereich, indem er in der Suppenküche des Obdachlosenheims aushalf und er half alten Leuten. Er grüßte die Nachbarn stets freundlich und wenn einer von ihnen etwas brauchte, lieh er es gerne. Und wenn eine Frau viele Einkäufe zu schleppen hatte, ging er ihr gerne zur Hand. Aber die Reaktionen blieben allesamt gleich: Sie schreckten vor ihm zurück und hielten ihn für ein Monster. Und es kostete ihn unendlich viel Mühe und Aufopferung, um zu zeigen, dass er niemandem etwas Böses wollte. Inzwischen hatten ihn die Nachbarn akzeptiert, was aber auch Jamies leidenschaftlichem Engagement zu verdanken war, da dieser ihnen eine gehörige Moralpredigt gehalten und ihnen die Leviten gelesen hatte. So hatte dieser tatsächlich den Nachbarn Wickers, der stets mit einem Gewehr auf der Veranda saß, direkt ins Gesicht gesagt „Sie sind ein Dreckskerl, wenn Sie einen so aufrichtigen und liebevollen Menschen so mies behandeln, nur weil er mit einem Aussehen gestraft ist, für das er im Grunde gar nichts kann.“ Und dabei hatte der alte Wickers die ganze Zeit mit seinem Gewehr auf Jamie gezielt und ihn angebrüllt, er solle von seinem Grund und Boden verschwinden. Inzwischen, es war ja ein Jahr ins Land gezogen, hatte sich die Nachbarschaft an diesen unheimlichen jungen Mann gewöhnt. Zwar begegneten sie ihm nach wie vor mit Vorsicht, aber Mrs. Landon, die junge zweifache Mutter, war bereits von Dathans guter Person überzeugt und ließ ihn sogar auf ihre Kinder aufpassen, wenn sie mit ihrem Mann unterwegs war. Und die beiden Kinder Lilly und Colin hatten keine Angst vor Dathan. Grund für diesen Vertrauensbeweis war auch Mitgefühl für die schweren Schicksalsschläge, die Dathan erlitten hatte. Bei einer Tasse Kaffee im Garten erzählte Jamie vom tragischen Tode seiner Familie und seiner kleinen Schwester, die er mehr als jeden anderen Menschen auf dieser Welt geliebt hatte. Er erzählte auch von dem unfassbaren Akt des Hasses, der Dathan zuteil geworden war und der mit seiner jetzigen Entstellung geendet hatte. Und Mrs. Landon hatte diese Geschichte so zu Tränen gerührt, dass sie sich unsagbar schuldig fühlte, dass sie sich vor diesem armen Menschen gefürchtet hatte. Natürlich versprach sie Jamie, Dathan nicht auf diese Sache anzusprechen, da dies ihn noch zu sehr schmerzte. In Wahrheit aber wollte Jamie nicht, dass sein bester Freund herausfand, dass er diese tragische Geschichte benutzte, um gegen die Voreingenommenheit gegen Dathan anzukämpfen. Dathan war viel zu bescheiden und viel zu verschlossen, um sich jemals einem anderen so zu öffnen. Inzwischen wusste die ganze Nachbarschaft von diesen Schicksalsschlägen und natürlich tratschte man. Man traute sich aber nicht, Dathan darauf anzusprechen. Nicht etwa, weil sie sich vor ihm fürchteten, sondern aus Rücksichtnahme auf seine Gefühle. Und das war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Zumindest war Jamie dieser Meinung. Was er aber nicht ahnte war, dass Dathan schon so eine Ahnung hatte, was es mit dem Sinneswandel der Nachbarn auf sich hatte. Aber er sprach Jamie nicht darauf an. Er wusste, dass sein bester Freund es nur gut gemeint hatte und wenn es wirklich half, dann akzeptierte er es. Schließlich, als Dathan lange genug sein unheimliches Spiegelbild betrachtet hatte, öffnete er das kleine Schränkchen, nahm eine Pille von dem Antidepressivum, welches ihm der Arzt verschrieben hatte und behandelte seine Narben mit Salbe. Zwar brachte dies nicht wirklich viel, um sie verblassen zu lassen, da sie schon zu alt waren, aber es tat seiner geschundenen Haut gut. Außerdem hatte er besonders an den Mundwinkeln das Problem, dass dort die Haut einriss oder nicht elastisch genug war. Deshalb behandelte er sie täglich mit Salbe und es half auch. Schließlich föhnte er seine Haare und ging in sein Zimmer. Es war spät, deshalb zog er sich eher gemütliche Hauskleidung an und machte sich dann auf den Weg ins Wohnzimmer. Dieses war ungemein groß und der zentrale Raum. Von dort aus gelangte man über eine Wendeltreppe hoch ins obere Stockwerk, wo Jamie sein Zimmer bezog und wo auch ein Gästezimmer war, welches zurzeit als Abstellraum für Jamies Perücken und Frauenkleider diente. Statt Wänden hatte das Wohnzimmer große Fenster und eine Tür, die direkt auf die Terrasse führte, wo man auch einen Swimming Pool vorfand, in welchem man seine Bahnen ziehen konnte. Dieser war aber zurzeit mit einer Plane abgedeckt. Ansonsten gab es einen großen Garten mit einem Kirschbaum, den besonders Jamie liebte, da dieser für sein Leben gerne Kirschen aß. Der Garten war mit einer großen und dichten Hecke abgegrenzt, durch welche noch ein Zaun führte, um ganz sicher zu gehen. Die Küche befand sich nicht in einem separaten Raum, sondern befand sich in einem etwas versteckten Bereich, wo Dathan regelmäßig kochte, um sich nützlich zu machen. Es hatte Jamie zunächst gestört, dass die Küche keine Trennwand hatte, da er Essensgeruch in der Wohnung nicht mochte, aber die Glaswände und die großen Fenster als auch die modern eingerichtete Küche hatten ihn für alles entschädigt. Natürlich gab es auch einen Keller, aber dieser wurde nur als Lagerraum genutzt. In der Mitte des großen Wohnbereiches standen die schwarzen Ledersofas um einen Plasmafernseher herum, der an einer Wandhalterung befestigt war und eine solche Größe besaß, dass man sich wie in einem Heimkino fühlte. Das Haus besaß eine eigene Solaranlage und hatte sehr viel Geld gekostet, gut und gerne 650.000$, da sie sogar eine Sauna besaß. Aber da Jamie die Firma seiner Eltern als auch ihr Haus verkauft hatte und als Alleinerbe ihr Vermögen erhielt, konnte er sich diese Kleinigkeit leisten. Hauptsache, er und Dathan fühlten sich wohl. Jamie hatte auf dem Tischchen vor ihnen eine Schüssel Chips als auch Cola bereitgestellt und sah mit Spannung den Film. Er hatte so ungefähr die Stelle erreicht, wo Julia Roberts in ihrer Rolle als Prostituierte gerade dabei war, sich komplett neu einzukleiden. Sie sahen sich gemeinsam den Film an und schwiegen. Gemeinsam schmunzelten sie über die witzigen Momente und freuten sich, als Julia Roberts am Ende ihren Richard Gere bekam. Aber selbst der Film konnte die Tatsache nicht verschleiern, dass Dathan vor genau einem Jahr alles verlor, war ihm lieb war. Kapitel 2: Ein Brief vom Notar ------------------------------ Als Dathan aufwachte und in die Küche ging, lag Jamie noch auf der Couch. Er hatte ein Kissen an sich gedrückt, auf welches er schnarchend sabberte und schlafend sah er so süß aus, dass selbst Dathan schmunzeln musste. Vorsichtig versuchte er, den Hausherrn zu wecken, aber dieser schlief so tief und fest, dass neben ihm ein Heavy Metal Konzert stattfinden konnte, ohne dass er wach wurde. Hauptsächlich lag das an den Schlafmitteln, die Jamie nahm. Da er wohl nicht so schnell aufwachen würde, kochte Dathan erst einmal Kaffee und schaltete den Fernseher ein, um sich die morgendlichen Wiederholungen der Soaps zu anzugucken. Da aber nichts Interessantes lief, wechselte er zum Musikkanal und holte schon mal die Zeitung. Zuerst, bevor er überhaupt rausging, lugte er vorsichtig durch den Türspalt um sicherzugehen, dass da niemand draußen war, der ihn sehen konnte. Er wollte nämlich vermeiden, dass jemand ihn ohne Mundschutz sah. Soweit so gut, es war niemand zu sehen. Schnell öffnete er die Tür und eilte zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen, doch leider war er nicht schnell genug, denn da kam Mr. Mitchell vorbei, um sich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Dathan entwich das Blut aus dem Kopf, als sich ihre Blicke trafen und er war so erstarrt, dass er nicht schnell genug reagieren konnte, um sein Gesicht zu verstecken. Er rechnete mit allem. Dass Mr. Mitchell ihn anstarrte oder sich vor ihm erschreckte. Ja er rechnete sogar damit, dass sein Nachbar ihn dumm anmachen und ihn wegen seinem Aussehen beleidigen würde. Und tatsächlich blieb Mr. Mitchell kurz stehen und starrte Dathan ein wenig erschrocken an. Aber dann setzte er sein freundlichstes Lächeln auf und grüßte ihn „Guten Morgen Dathan, schöner Tag heute, oder?“ Aber Dathan war nicht in der Lage zu antworten. Noch immer war er vor Angst erstarrt und realisierte gar nicht, dass Mr. Mitchell sich gar nicht abweisend ihm gegenüber verhielt. Zwar erschreckte ihn diese Entstellung, aber er versuchte, nicht das Gefühl zu vermitteln, er würde Dathan deswegen verachten. Zögernd hob Dathan die Hand, um Mr. Mitchell grüßend zu winken. Warum nur grüßte Mr. Mitchell ihn, obwohl doch die meisten Menschen bei seinem Aussehen sofort das Weite suchten oder ihn wie einen Aussätzigen behandelten? Dathan begriff es einfach nicht und fassungslos sah er seinem Nachbarn hinterher, der wieder seiner Wege ging und gut gelaunt ein Liedchen summte. Eine ganze Weile blieb er stehen, dann ging er mit der Zeitung wieder rein. Noch immer war er leichenblass im Gesicht und das entging auch nicht Jamie, der gerade eben aufgewacht war. „Hey Dathan, was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ „Ich war draußen, um die Zeitung zu holen. Und… und Mr. Mitchell…“ „Hat er dich etwa wegen deinem Aussehen blöd angemacht?“ Sofort war Jamie hellwach, als er das hörte und schon sprang er auf. Seinem Gesicht konnte er ablesen, dass er Mr. Mitchell an die Gurgel springen würde, sollte dieser Dathan gekränkt haben. Aber schon beruhigte ihn Dathan, indem er erklärte „Er hat mich angesehen und mir einfach gegrüßt, als wäre nichts gewesen.“ Normalerweise hätte jeder normale Mensch „Na und? Wo ist das Problem?“ gefragt, aber Jamie wusste es besser. Er stellte diese Frage nicht, sondern legte seinem Freund aufmunternd ein Arm um die Schultern und sprach ihm gut zu. Dathan war so geschockt über die Reaktion von Mr. Mitchell, weil er es nicht anders kannte. Er war es so gewohnt, dass er überall Ablehnung erfuhr, dass er sehr sensibel auf sein Umfeld reagierte. Inzwischen hatte er eine regelrechte Angst vor Menschen entwickelt, dass er umso erschrockener und verängstigter reagierte, wenn seine Mitmenschen ihm freundlich und mitfühlend begegneten. „Ich verstehe das nicht“, murmelte Dathan und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das einfach nicht. Wie kann das sein? Was hat das zu bedeuten?“ „Jetzt setz dich erst einmal. Ich mach uns erst einmal Frühstück.“ Das Frühstück bestand aus gebratenem Speck, für jeden zwei Spiegeleier und dazu Toastbrot. Dazu gab es ein Obstmüsli mit Milch. Dathan setzte sich an den Tisch, doch er kam nicht zum Essen, da ihm diese Begegnung noch zu schaffen machte. „Ich verstehe das nicht“, wiederholte er und sah Jamie verwirrt an. „Warum hat er mir gegrüßt?“ „Erinnerst du dich noch an den Tag, als du in der Selbsthilfegruppe warst?“ fragte Jamie mit halb vollem Munde, da er nun selbst Hunger bekam und sein Müsli zu essen begann. „Währenddessen hab ich eine Nachbarschaftsversammlung einberufen. Ich dachte es wäre besser, den Leuten zu verstehen zu geben, dass du kein Freak bist. Auch wenn du das von dir behauptest. Ich habe ihnen den Kopf gewaschen und darum zeigen sie endlich mehr Verständnis und Rücksicht. Dathan, du brauchst keine Angst mehr zu haben, dass dich die ganze Welt wie ein Monster behandelt. Es gibt auch Menschen, die dich so akzeptieren, wie du bist. Und sollte einer der Nachbarn dich anders behandeln, dann werde ich das nicht auf sich beruhen lassen. Dann werde ich ihnen schon zeigen, wo der Hammer hängt.“ Das glaubte Dathan aufs Wort. Jamie würde sogar einen Löwen mit bloßen Händen an die Gurgel gehen, wenn es sein müsste. Und als er begriff, wie sehr sich Jamie für ihn bei den Nachbarn eingesetzt hatte, fühlte er sich schon ein wenig beschämt. „Du tust so viel für mich. Ich weiß gar nicht wie…“ „Ich möchte, dass du eines Tages wieder lachen kannst und das ist das Einzige, was ich mir wünsche. Ich will, dass du glücklich wirst, auch wenn es vielleicht noch nicht vorstellbar für dich ist. Und jetzt iss, sonst wirst du noch dünner, als du ohnehin schon bist.“ Nach dem Frühstück begann Jamie damit, das Haus zu putzen, während Dathan einen Termin bei seinem Psychotherapeuten hatte. Dabei trug er Kopfhörer, die nun klassische Musik zu spielen begannen. Darunter waren Mozart, Bach, Händel und sogar Scott Joplin. Als schließlich die Arie der Königin der Nacht gespielt wurde, drehte er die Musik so laut, dass er gar nicht das Telefon hörte. Stattdessen sang er lauthals mit, auch wenn er im Grunde rein gar nichts von dem Text verstand und eigentlich nur nach Gehör mitsang, was er gerade so heraushören konnte. Schließlich klingelte es an der Tür und Mrs. Landon stand vor der Tür. Als er sie sah, nahm er die Kopfhörer ab und sah sie erstaunt an. „Guten Tag Mrs. Landon, kann ich Ihnen helfen?“ „Entschuldige Jamie, aber kann ich mit Dathan sprechen?“ „Sorry, aber der ist gerade bei seinem Therapeuten. Soll ich ihm etwas ausrichten?“ „Nein, nein! Es ist nur so, dass ein Brief für ihn bei mir im Briefkasten gelandet ist und den wollte ich ihm gerne geben. Sag mal, wie geht es ihm? Ich hab gehört, dass gestern der Todestag seiner kleinen Schwester war.“ „Nun, er hat das Ganze noch nicht überwunden, aber er macht inzwischen gute Fortschritte. Ich bin Ihnen und den anderen auch sehr dankbar, dass Sie ihn so gut in der Nachbarschaft aufgenommen haben.“ „Das ist doch selbstverständlich. Ihr könnt auch gerne mal zum Kaffeetrinken vorbeischauen.“ „Auf das Angebot kommen wir sicher noch mal zurück. Danke Mrs. Landon.“ Damit verabschiedete sich die 27-jährige und ging wieder zurück. Neugierig sah sich Jamie den Absender an und stellte fest, dass der Absender ein gewisser Notar namens James Blake war und beim zweiten Adressat handelte es sich um einen Harrison L. Kinsley. Dathan hatte nie erzählt, dass er noch einen Großvater oder anderen alten Verwandten hatte. Wenn er ihn fragte, so sagte dieser stets, dass er keine nächsten Verwandten mehr habe. Ob er gar nichts von diesem Harrison nichts wusste oder ob da ein angespanntes Verhältnis zwischen ihnen bestand? Jamie war schon fast versucht, den Brief zu öffnen, aber er ließ es, denn er hatte Dathan versprochen, ihn weder zu kontrollieren, noch ihm nachzuspionieren. Und dieses Versprechen würde er auch halten, denn ihm war diese Freundschaft wichtig, sehr wichtig sogar. Also legte Jamie den Brief auf den kleinen Schuhschrank im Eingangsbereich, sodass Dathan diesen sofort bemerken würde. Schließlich setzte er wieder seine Kopfhörer auf und stellte fest, dass die Arie längst verstummt war. Stattdessen begann nun „Oltremare“ von Ludovico Einaudi zu spielen. Summend ging er wieder ins Wohnzimmer zurück und wollte gerade die Kissen ausschütteln, da sah er kurz einen Schatten am Fenster. Schnell drehte er den Kopf in diese Richtung und hätte schwören können, für einen Moment jemanden am Fenster stehen und ihn beobachten zu sehen, aber da war nichts. Wahrscheinlich hatte er sich das bloß nur eingebildet. Nachdem er die Haushaltspflichten erledigt hatte, wollte er zum Baumarkt fahren und einen neuen Duschkopf kaufen, da der alte kaputt gegangen war. Außerdem hatte er einen zu starken Strahl gehabt, welcher Dathan sehr unangenehm gewesen war. Jamie träumte von einem Duschkopf mit Regenfunktion. Und es durfte auch mal etwas Luxuriöses sein, was sie für alles Leid und alle Enttäuschungen im Leben entschädigen sollte. Man lebte schließlich nur ein Mal und Jamie legte großen Wert auf ein gemütliches und perfektes Heim. Er ging ins Bad und schraubte das alte Ding ab. An den Düsen hatte sich die Oberfläche leicht verfärbt. Dabei hatte er ihn doch erst letztens ordentlich gesäubert. Na, jetzt ging er sowieso einen neuen kaufen, da konnte es ihm herzlich egal sein, wie dreckig der kaputte war. Fröhlich pfiff Jamie ein Liedchen und betrachtete sich im Spiegel, um seine Frisur noch mal zu kontrollieren. Dabei fiel ihm auf, dass er demnächst den blonden Ansatz nachfärben musste. Außerdem mussten die Spitzen nachgeschnitten werden…. Als Jamie seine Frisur im Spiegel überprüfte, nahm sein Unterbewusstsein etwas im Spiegel wahr, dass er erst gar nicht realisierte. Etwas stand da plötzlich etwas weiter hinter ihm und starrte ihn durch den Spiegel an. Und dann sah er endlich die Gestalt, die da mitten im Bad stand und ihn mit schwarzen Augen, die keine waren sondern dafür pechschwarze leere Höhlen, fuhr er erschrocken zusammen. Er drehte sich um, sah da eine kleine schwarzweiße Gestalt, die ihn angrinste und geriet ins Stolpern. Dabei rutschte er auf dem Badezimmerteppich aus, versuchte vergebens, sich am Handtuchhalter festzuhalten und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Waschbecken auf. Der Aufprall war stark genug, dass es ihm das Bewusstsein raubte und er für fast zwei Stunden regungslos liegen blieb. Dathan ahnte von all dem nichts, als er von seinem Gespräch mit Dr. Schwarz nach Hause kam und den Brief auf dem Schrank im Eingangsbereich fand. Er rief nach Jamie und als er keine Antwort erhielt, suchte er ihn schließlich. Im Bad wurde er fündig und fand seinen besten Freund vor dem Waschbecken liegen. Er blutete leicht am Hinterkopf und war nicht ansprechbar. Dathan befürchtete schon das Allerschlimmste, aber er atmete erleichtert auf, als Jamie die Augen öffnete und langsam aufstand. „Jamie, was ist passiert? Bist du gestürzt?“ „Ich hab da jemanden im Spiegel gesehen. Da stand jemand hinter mir und dabei hab ich mich so erschrocken, dass ich auf dem Teppich ausrutschte und dann mit dem Hinterkopf gegen das Waschbecken geknallt bin. Scheiße, tut das weh.“ „Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“ „Nein lass nur, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Hilf mir mal hoch.“ Etwas wankend kam Jamie wieder auf die Beine und ging in die Küche, wo er sich einen Eisbeutel auf die verletzte Stelle drückte. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen, vielleicht eine kleine Gehirnerschütterung, aber mit Sicherheit nichts Ernstes. Auch als Dathan sich die Verletzung ansah, stellte er erleichtert fest, dass es tatsächlich nichts sonderlich war, weshalb er seinen besten Freund ins Krankenhaus bringen musste. Es sah nicht danach aus, als müsse die Wunde unbedingt genäht werden. „Was genau hast du für eine Gestalt gesehen?“ „So genau weiß ich das auch nicht“, murmelte Jamie, als er eine Aspirintablette in sein Glas Wasser warf. „Das alles ging ziemlich schnell. Es war schwarzweiß und hatte keine Augen, sondern nur leere schwarze Höhlen.“ „Hast du vielleicht Eyeless Jack gesehen?“ scherzte Dathan und kassierte dafür ein sehr sarkastisches Lachen von seinem etwas beleidigten Freund. „Nein, Eyeless Jack war es nicht. Es hatte langes schwarzes Haar und sah irgendwie menschlich aus und dann wiederum auch nicht. Ich hab es auch nicht so ganz genau gesehen und auch nur für weniger als zwei oder drei Sekunden.“ Eine schwarzweiße Gestalt mit langem schwarzen Haar und schwarzen Löchern statt Augen? Das klang schon ziemlich bizarr und zuerst musste Dathan an dieses Sally-Syndrom denken, welches sich im letzten Jahr massiv verbreitet hatte. Aber um dieses Syndrom zu kriegen, hätte sich Jamie den Film ansehen müssen. „Eine Frage, hast du „Happy Sally“ gesehen?“ „Nein, überhaupt nicht. Und ich hab auch nicht vorm Spiegel gestanden und drei Mal ihren Namen gesagt, damit sie rausgekrochen kommt, wie diese blöde Kuh aus "The Ring". Ich hab nur davon gehört, warum fragst du?“ „Zuerst hatte ich gedacht, dass du unter dem Syndrom leiden könntest. Oder hat sich dein eigenes Krankheitsbild verschlimmert?“ „So ein Quatsch. Ich nehme regelmäßig meine Pillen und ich leide auch nicht an Paranoia. Und schizophren bin ich auch noch nicht. Vielleicht hab ich mir einfach bloß etwas eingebildet, sicher war da überhaupt nichts.“ Womöglich hatte Jamie Recht und da war gar nichts gewesen. Sicherlich steckte dahinter gar nichts, doch Dathan beschloss, die Sache im Auge zu behalten. Da Jamie Ruhe brauchte, wurde die Fahrt zum Baumarkt verschoben und Dathan begann, das Essen zu kochen. Heute wollten sie allerdings nur eine Kleinigkeit zu sich nehmen und so gab es einen frischen Salat mit Putenstreifen und Pinienkernen. Dathan erzählte von seiner Therapiesitzung, welche neuen Erkenntnisse er gewonnen und was er sich zum Ziel gemacht hatte. Jamie hörte ihm trotz der fürchterlichen Kopfschmerzen aufmerksam zu und lobte seine Fortschritte. Schließlich aber kehrte die Neugier wieder zurück und er erkundigte sich nach dem Brief. Diesen hatte Dathan in der Aufregung beinahe vergessen und holte ihn her. Prüfend sah er den Absender an und schien nicht überrascht, als er unter anderem „Notar“ las. Daraufhin erkundigte sich sein bester Freund, was es mit diesem Schreiben wohl auf sich haben könnte und die Erklärung erwies sich als recht einfach. „Mein Großvater väterlicherseits muss wohl verstorben sein. Er war schon ziemlich alt und lebte in einem Pflegeheim.“ „Wie hieß er denn?“ „Harrison Lumis Kinsley.“ „Du hast deinen zweiten Namen von deinem Großvater?“ „Nein, nicht direkt. Der Name wird schon seit Ewigkeiten weitergegeben. Frag mich nicht warum. Ich war sowieso ziemlich irritiert wegen diesem Namen, weil ich immer „Lewis“ statt „Lumis“ verstanden hatte. Soweit ich weiß, leitet er sich von „Lumen“, das lateinische Wort für „Licht“ ab. Ein ziemlich komischer Name, wenn du mich fragst. Ich hatte sowieso nie wirklich verstanden, warum mich meine Eltern Dathan genannt haben und nicht Nathan.“ „Gewöhnliche Namen zeugen von gewöhnlichen Menschen. Deshalb geben diese Hollywood Promis ihren Kindern ja auch so bescheuerte Namen wie Harper Seven. Ich finde deinen Namen viel origineller als Nathan. Außerdem hieß der Autor von "Penpal" auch Dathan und ich finde die Geschichten echt unheimlich spannend.“ Dathan blieb nichts anderes übrig als zu schmunzeln. Er öffnete den Briefumschlag und holte das Schreiben heraus, welches ihm verriet, dass sein Großvater Harrison Lumis Kinsley im Hospiz liege und Lungenkrebs im Endstadium habe. Die Ärzte gaben ihm nur noch zwei Monate und es wäre sein größtes Anliegen, Dathan noch vor seinem Tod zu sprechen. Es gäbe noch einige familiäre Angelegenheiten zu klären, aber auch äußerst wichtige Punkte bezüglich seines Erbes. Dathan zeigte keinerlei Gefühlsregungen, während er dieses Schreiben vorlas und als er zu Ende gelesen hatte, legte er das Schreiben auf den Tisch, neben dem aufgerissenen Umschlag. Eine Zeit lang herrschte Schweigen, dann schließlich fragte Jamie „Was wirst du tun?“ Diese Frage stellte sich Dathan auch und er war sich seiner Antwort noch nicht so ganz sicher. Immerhin: Was wollte sein Großvater ihm denn bitteschön vererben? Das Hausboot, welches verbrannt war, hatte er schon letztes Jahr von seinen Eltern vererbt bekommen und sein Großvater war auch nicht vermögend. Das letzte bisschen hatte er für teure Therapien ausgegeben, die ihm im Grunde gar nichts gebracht hatten. Und er verspürte auch nicht die geringste Lust, sich um den bevorstehenden Tod dieses alten Mannes zu sorgen, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Die Frage um die Beerdigung und der anderen Dinge waren ihm zuwider und er würde diese Last auch nicht auf sich nehmen. Es war schon schlimm genug, dass er sich um die Beerdigung seiner Cousine und seiner kleinen Schwester kümmern musste. So etwas würde er so schnell nicht mehr durchmachen! Verwandtschaft hin oder her! Aber er wollte diesen alten Mann, der genauso seine Familie verloren hatte, nicht einfach so abservieren, wenn dieser Krebs im Endstadium hatte und fürchterliche Schmerzen leiden musste. Wenn er in der gleichen Lage wäre, dann würde er sich auch wünschen, sich wenigstens von den letzten Anverwandten zu verabschieden. Also antwortete er knapp „Ich werde ihn besuchen.“ „Glaubst du, du schaffst das?“ „Ich weiß es nicht….“ Da Jamie sehr wohl wusste, wie sehr Dathan noch unter dem Verlust seiner Familie litt, war er umso besorgter, dass alles wieder hochkommen würde, wenn er seinen krebskranken Großvater besuchte. Er war sich nicht sicher, ob sein vom Leben gezeichneter Freund schon bereit war, sich wieder auf den Tod einzulassen. So setzte er sich auf, nahm seine Hand und sah ihm tief in diese roten Augen, in denen eine Höllenglut zu lodern schien. „Dann komm ich mit dir, falls dir das zu viel wird.“ „Danke Jamie, ich werde wohl jede Unterstützung brauchen.“ Dathan lehnte sich zurück und schaute auf seine Hände, die er gefaltet hatte. Jamie selbst legte sich wieder hin und presste den Eisbeutel auf die verletzte Stelle. Schließlich erzählte Dathan, wie es dazu kam, dass er den Kontakt zum Großvater verlor. Dies geschah kurz nach der Säureattacke. Harrison hatte sich fürchterlich mit seinem Sohn gestritten und ihm vorgeworfen, dass er die Gefahr ignoriert und Dathan nicht vor den anderen geschützt hätte. Daraufhin hatte er damit gedroht, den Eltern das Sorgerecht entziehen zu lassen und sich selbst um den Jungen zu kümmern. Sie wüssten sowieso nicht, wie man mit einem Kind wie ihn umzugehen hatte. Der Streit eskalierte darin, dass Harrison das Jugendamt informierte, allerdings war sein Bemühen vergebens geblieben und sein Sohn Brian Lumis hatte den Kontakt abgebrochen. Dathan hatte seinen Großvater seitdem nicht mehr gesehen und irgendwann war dieser auch in Vergessenheit geraten. „Im Grunde hatte er Recht gehabt. Meine Eltern hätten das Ganze verhindern können, aber sie haben die Sache nicht ernst genug genommen und das hat Großvater ihnen niemals verziehen.“ „Und was glaubst du, was er von dir will?“ „Keine Ahnung, vielleicht diesen jahrelangen Streit vor mir erklären und sich selbst zu rechtfertigen, um mit gutem Gewissen abtreten zu können. Aber warten wir es ab.“ Kapitel 3: Jamie erkrankt ------------------------- Es gewitterte schon wieder, als Dathan am nächsten Tag aufstand und Kaffee kochte. Draußen goss es wie aus Kübeln und ein kräftiger Wind wehte durch die Bäume. Aber dieses Gewitter war nicht das Eigentliche, was ihm nachdenklich stimmte, sondern Jamie. Zwar hatte dieser es vor ihm zu verschleiern versucht, aber Dathans wachsamen Augen, die so viele Menschen erschreckten, hatten trotzdem einige verdächtige Dinge bemerkt. Dieser Sturz im Badezimmer war nicht das Einzige gewesen, was Jamie widerfahren war. Am Abend nämlich hatte dieser mehrmals auf sein Handy gesehen und zum einen Teil gereizt und zum anderen Teil nervös reagiert. Das kleine Mobiltelefon hatte nicht aufgehört zu vibrieren und es gingen unzählige Nachrichten ein, die ihn immer unruhiger stimmten. Und in der Nacht war Dathan aufgewacht, als er Schritte im Haus hörte. Diese Schritte waren so leise und vorsichtig gesetzt worden, dass er zunächst dachte, es wäre ein Einbrecher, woraufhin er mit einem Baseballschläger bewaffnet in den Wohnbereich ging. Es war stockfinster gewesen, aber dann hatte ihn ein Aufschrei alarmiert und er hatte das Licht angemacht. Wen er da vorgefunden hatte, war kein Einbrecher gewesen, sondern Jamie. Dieser war nach hinten gestolpert und kauerte auf dem Boden, kroch von den großen Fenstern zurück und sein Gesicht war vor Angst verzerrt. Er sah aus, als hätte er einen Geist auf der anderen Seite des Fensters gesehen. Doch dann, als er Dathan bemerkt hatte, rappelte er sich schnell wieder auf und erklärte, dass er nicht schlafen konnte und eine streunende Katze im Garten ihn erschreckt hatte. Sofort war er wieder in sein Zimmer im oberen Stockwerk verschwunden und hatte sich eingeschlossen. Noch nie hatte sich Jamie in seinem Zimmer eingeschlossen und das bereitete Dathan ernsthaft Sorgen. Irgendetwas stimmte da nicht, aber sein bester Freund und Wohltäter wehrte immer wieder ab und spielte alles herunter. Am folgenden Morgen sah Jamie alles andere als erholt aus. Sein Haar war fürchterlich zerzaust und er wirkte blass und völlig übermüdet, so als hätte er die ganze Nacht nicht schlafen können. Er schob diese Tatsache auf seine Kopfschmerzen und beteuerte immer wieder, es ginge ihm gut. Das war eine Lüge, denn es ging ihm alles andere als gut. Auch in den darauf folgenden vier Tagen gab sein Handy keine Ruhe und er reagierte auf diese unzähligen Nachrichten immer beunruhigter und schon fast ängstlich. Er konnte sich nicht konzentrieren und verursachte immer wieder Missgeschicke. Mal ließ er einen Teller fallen, dann versalzte er am Mittag die Suppe und stieß aus Versehen den Putzeimer im Badezimmer um. Dathan fragte immer wieder nach und versuchte seinen Freund davon zu überzeugen, endlich mal Klartext zu reden, aber Jamie blieb hartnäckig. Er wollte Dathan nicht mit seinen Problemen belasten, Freundschaft hin oder her. Schließlich sah sich der von Narben Verunstaltete regelrecht dazu gezwungen, ihm nachzuspionieren. Da er nicht an das Handy herankam, durchsuchte er Jamies Laptop und loggte sich schließlich in seinem E-Mail Account ein. Das Passwort war schon gespeichert worden und so brauchte er erst gar nicht zu rätseln. Im Spam-Ordner befanden sich insgesamt 200 Mails, die allesamt keinen Betreff hatten und von fragwürdigen Namen stammten. Diese las er sich aber nicht durch, sondern öffnete die letzte Seite, die Jamie zuletzt besucht hatte. Es war eine Informationsseite, deren Inhalt Dathans Befürchtungen bestätigte: Jamie hatte sich in den vier Tagen über die genauen Symptome und den Krankheitsverlauf des Sally-Syndroms informiert. Zwar hatte er Dathans Verdacht vom Vortag als lächerlich abgetan, aber dann war er selbst in ernste Zweifel geraten und hatte still und heimlich Informationen eingeholt, um sich selbst ein Bild zu machen. Dathan las sich nun selbst durch, was Betroffene über das Syndrom schilderten. Es fing an mit Massen von E-Mails und SMS', die meist „Sally ist hier“ oder „Sally will spielen“ lauteten und stets mit einem Foto versehen waren, welches die Sally aus dem unheilvollen Zeichentrickfilm zeigte. Zusätzlich litten die Betroffenen unter Halluzinationen und fühlten sich von Sally verfolgt. Als Dathan das las, musste er an die unzähligen Nachrichten denken, die Jamie seit vier Tagen erhielt. Das beunruhigte ihn noch mehr und schließlich las er sich die weiteren Symptome durch: Schwere Depressionen, Verfolgungswahn, Angstzustände, Panikattacken, Suizidgedanken… Suizid…. Das letzte Wort brannte sich tief in sein Hirn und erfüllte ihn nun mit Angst. Er hatte genug über dieses Syndrom gehört um zu wissen, dass es keine Heilungschancen gab und alle Betroffenen entweder Suizid begingen oder den Verstand verloren. Dathan eilte daraufhin zu Jamie, der im Garten gerade Hortensien einpflanzte und stellte ihn deswegen zur Rede. Doch statt, dass Jamie die ganze Sache zugab, erklärte er nur, er habe sich über das Syndrom informiert, weil es ihn einfach interessierte. „Dathan, wenn du tatsächlich die Informationsseite gelesen hättest, dann wüsstest du, dass man den Film gucken muss, um krank zu werden. Ich aber habe dieses Teufelswerk nie angesehen. Also kann ich gar nicht an dem Syndrom leiden.“ Und als Zeichen dafür, dass sich das Thema für ihn erledigt hatte, wandte sich Jamie wieder der Gartenarbeit zu. Dathan seufzte und schüttelte den Kopf. Jamie würde ihm nie die Wahrheit sagen und still alles mit sich selbst ausmachen, um seinen besten Freund nicht zu beunruhigen. Mit ernstem Blick sah er seinen Freund aus Kindertagen an und sagte mit ruhiger, aber fester Stimme „Wenn es aber ernst wird, dann sag es mir.“ „Ja, ja“, murmelte er abweisend. „Ich hab’s kapiert. Wann wolltest du eigentlich deinen Großvater besuchen gehen?“ „Heute um 15 Uhr. Es ist ja nur eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von hier entfernt. Bist du sicher, dass du noch mitkommen willst?“ „Heute schon? Leider hab ich um 16 Uhr ein Termin bei Dr. Worthsmith.“ Dathan hob ein wenig erstaunt und zugleich irritiert die Augenbrauen. „Ich dachte, du wärst bei Dr. Nolton in Behandlung.“ „Dr. Nolton hat mir leider nicht so gut geholfen und Dr. Worthsmith ist auch auf dem Gebiet der Neuropsychologie tätig. Er hat zudem mehr Erfahrung mit Traumataopfer.“ Schon wieder eine Lüge, oder zumindest nur die halbe Wahrheit. Dr. Worthsmith behandelte Patienten, die am Sally-Syndrom litten, das wusste Dathan von einer Radiosendung her, denn in einem Interview hatte eben dieser ein Interview gegeben. Wieder eine Bestätigung seines schrecklichen Verdachtes. Und er begriff nicht, warum Jamie ihm nicht einfach die Wahrheit sagte. Aber eigentlich hatte sein Freund auch nicht ganz Unrecht: Wie konnte er am Syndrom leiden, wenn er den Film nie gesehen hatte? Das war völlig unmöglich. Es sei denn, das Syndrom konnte sich jetzt auch ohne Fred Moores „Happy Sally“ verbreiten. Wenn dem so war, dann würde das noch böse enden. Und dass Jamie sich umgehend in Therapie begab, war durchaus vernünftig, aber leider wirkungslos. Selbst in geschlossenen Anstalten begingen die Betroffenen allesamt Selbstmord und eine Therapie blieb erfolglos. Aber wie konnte er denn helfen? Er wusste es nicht. Dathan spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete und die Tränen sich in seinen Augen sammelten. Jamie, der sah wie sein Freund litt, legte seine Arbeit nieder und versuchte zu lächeln. „Noch steht nicht fest, ob es wirklich das ist, was du befürchtest. Und außerdem sind nicht alle an diesem Syndrom gestorben. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen, das verspreche ich dir.“ Jamie stand auf und klopfte Dathan auf die Schulter. „Wir beide haben so viel in den letzten Jahren durchgestanden, dass ich mich von so einem kleinen Biest doch nicht verrückt machen lasse. Mach dir mal keine Sorgen, ich schaffe das schon.“ Doch im Geiste dachte Jamie bereits darüber nach, ein Testament zu verfassen, sollte es wirklich besagtes Syndrom sein und sollte er dem Druck irgendwann nicht mehr standhalten können. Wenigstens sollte Dathan versorgt sein, damit er nicht mit leeren Händen da stünde, wenn es mit ihm zu Ende gehen würde. Mit einem sorgenvollen Herzen fuhr Dathan in Richtung des St. Vincent Hospiz, wo sein Großvater lebte. Harrison Lumis Kinsley war 74-jährig, mager und ausgezehrt. Sein Haar war vollständig weiß und lag etwas wirr, seine Augen sahen trübe aus und hatten jeglichen Glanz verloren. Trotzdem war ein gewisses Leuchten in ihnen nicht zu übersehen, als Dathan das Zimmer betrat und sich zu ihm ans Bett setzte. Harrison war an eine Sauerstoffzufuhr angeschlossen, da ihm das Atmen selbst sehr schwer fiel und er bald wohl künstlich beatmet werden musste. Sein Bewusstsein war ein wenig durch das Morphium getrübt, trotzdem erkannte er seinen Enkel wieder, obwohl dieser sein halbes Gesicht wie sonst immer verbarg. Als sie aber unter sich waren, nahm Dathan den Mundschutz ab, sodass sein Großvater die Narben sah. Aber er übersah sie einfach, dazu freute er sich einfach zu sehr über das Wiedersehen. „Gut siehst du aus mein Junge“, brachte er mit heiserer und rasselnder Stimme hervor. „Und groß bist du geworden. Sehr groß sogar. Ganz wie dein Vater. Das Aussehen hast du aber von deinem Urgroßvater.“ Der alte Mann war so überglücklich, dass er sogar ein paar Tränen vergoss. Er musste in den letzten Jahren ziemlich einsam gewesen sein, nachdem seine Frau Maude einer Hirnembolie erlag. Dathan war froh, dass er diesen Weg auf sich genommen hatte, da er einem sterbenden alten Mann wenigstens eine letzte Freude machen konnte. „Mein Junge“, sprach Harrison gedehnt. „Es tut mir wirklich Leid, dass du mich in diesem Zustand sehen musst und ich wünschte, ich hätte mich schon viel früher bei dir melden können. Aber leider wollte es meine Gesundheit einfach nicht. Mehrere Chemotherapien habe ich über mich ergehen lassen, einen Hirntumor haben sie letztes Jahr bereits entfernt und jetzt wird mir meine Leidenschaft für Zigarren zum Verhängnis. Das Leben kann manchmal grausam sein. Ich konnte nicht einmal zur Beerdigung meiner Enkelinnen.“ „Schon gut, ich verstehe das.“ Ein Hirntumor auch noch. Der alte Harrison hatte wirklich ein schweres Kreuz zu tragen. „Ich war selbst erstaunt, ein Schreiben von deinem Notar zu erhalten.“ „Ich hätte dir ja selbst gern geschrieben, aber inzwischen kann ich nicht mal mehr einen Stift länger als fünf Minuten halten. Diese verdammten Chemotherapien haben mich im Grunde mehr kaputt gemacht als der Krebs. Ironischerweise ist mein Haar das einzige, was die Chemo nicht eingefordert hat.“ Ein bitteres Lächeln zog sich über die trockenen, aufgesprungenen Lippen des alten Mannes. „Aber du kannst beruhigt sein, meine Nichte wird sich um meine Angelegenheiten kümmern, wenn ich abberufen werde. Ich habe eine Lebensversicherung abgeschlossen, die die Bestattungskosten vollständig decken wird. Ich möchte dir nicht auch das noch zumuten, nach all dem, was du durchmachen musstest.“ „Und was für familiäre Angelegenheiten hast du dann mit mir zu besprechen?“ fragte Dathan irritiert, denn eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sein Großvater ihn bitten würde, sich um diese Angelegenheiten zu kümmern. Wollte er also doch über den Familienstreit sprechen? „Dathan, ich habe eigentlich nichts Materielles zu vererben. Mein Haus ist baufällig und wird abgerissen und die ganzen Möbel werden der Wohlfahrt und der Heilsarmee gestiftet. Es gibt aber etwas, das ich dir zu vererben verpflichtet bin. Dies hätten eigentlich deine Eltern tun sollen, wenn du 18 Jahre alt bist, aber sie leben ja inzwischen nicht mehr.“ Dathan rückte ein wenig näher, um ihn besser verstehen zu können, da der alte Mann recht leise sprach und somit nicht leicht zu verstehen war. „Dathan, der Name Lumis wird schon seit knapp zweihundert Jahren an jedes männliche Familienmitglied weitervererbt. Kannst du dir vorstellen warum?“ Der 18-jährige zuckte nur mit den Achseln, denn er konnte sich keinen triftigen Grund für diese Namensvererbung erklären. Harrison atmete, so gut er konnte, tief durch und sammelte für seinen folgenden Bericht all seine Kräfte, denn er würde sie noch brauchen. „Der Name hängt mit einer sehr wichtigen Aufgabe zusammen, die an jedes Familienmitglied der Kinsley-Söhne weitervererbt wird. Und da die meisten von uns nicht mehr leben, liegt es nun an dir, diese Aufgabe zu erfüllen. Glaub mir, ich würde dir das gerne ersparen, aber da du dich von allen anderen unterscheidest, glaube ich, dass du der Einzige bist, der sie erfüllen kann.“ „Was für eine Aufgabe?“ Wieder atmete der alte Mann tief durch, schloss seine Augen und schwieg für einige Augenblicke, bevor er weitererzählte. „Unser Vorfahre Lumis Kinsley hat von 1800 bis 1886 in einer Stadt namens Backwater gelebt. Der Name sagt dir vielleicht etwas, es existierte mal eine Oper über die dort stattgefundene Tragödie. Nur mit dem Unterschied, dass Backwater irgendwo in den Südstaaten der USA lag und nicht in England. Lumis war der Sohn von Teresa Kinsley und William Bordon, der nach der Heirat Teresas Familiennamen annahm, obwohl dies damals alles andere als üblich war. Er hatte zwei Schwestern namens Christie und Sally-Ann. Teresa war Lehrerin in der hiesigen Grundschule und William arbeitete mit Teresas Bruder Marcus auf der Farm „Shady Oaks“ und die Familie lebte auch dort. Im Juli 1812 ereignete sich dann schließlich die Tragödie von Backwater, bei welcher die gesamte Familie starb und nur der damals 12-jährige Lumis überlebte.“ „Dann wird der Name weiterverebt, um an die Tragödie zu erinnern?“ „Nein, lass mich bitte ausreden. Du musst nämlich wissen, dass damals in der Familie jemandem genauso ein hartes Schicksal widerfuhr wie dir. Dieser Jemand verfügte auch über diese Kraft wie du und war schließlich für die Tragödie verantwortlich. Und ironischerweise war es das gleiche Motiv: Rache. Die Tragödie ereignete sich nämlich kurz nach dem Tode der Familie. Im Grunde genommen war genau der Tod dieser Familie der Auslöser für die Zerstörung der Stadt.“ Harrison unterbrach sich kurz, da er Schwierigkeiten mit der Atmung hatte und ihn diese Erzählung sehr anstrengte. Er entschuldigte sich und bat um Nachsicht. Dathan hatte vollstes Verständnis und gab ihm alle Zeit der Welt, die er brauchte. Harrison bat ihn schließlich, in der Schublade der Kommode neben dem Bett nachzusehen. Darin müsste ein altes Buch liegen. Tatsächlich fand Dathan ein ziemlich abgenutztes Buch, welches die Familienchronik der Kinsleys beinhaltete. Er selbst war erstaunt, dass es solch ein Buch in der Familie gab. Sein Großvater trug ihm auf, sich mal die Fotos und Bilder anzusehen. Beim Durchblättern entdeckte Dathan das Bild seines Urgroßvaters, mit dem er tatsächlich erhebliche Ähnlichkeiten hatte. Derselbe finstere Blick, das unheimliche Erscheinungsbild und diese stechenden Augen. „Man sieht es zwar nicht auf den Schwarzweißfotos, aber auch dein Urgroßvater hatte rote Augen. Er hatte mit denselben Problemen zu kämpfen wie du und wurde von seinen Mitmenschen gemieden. Sie hatten Angst vor ihm und nur seine Familie hielt zu ihm.“ „Und war er auch begabt wie ich?“ „Ja und er hat diese Fähigkeit genauso eingesetzt, wie alle anderen Kinsleys, die damit zur Welt kommen: Um Rache an seinen Peinigern zu üben. Es ist ein elender Teufelskreis und je weiter die Geschichte zurückgeht, desto schlimmer wird es auch. Soweit ich weiß, wurde der erste Kinsley mit dieser Begabung tagelang gefoltert und schließlich enthauptet.“ „Und woher kommt diese Begabung, Menschen durch bloßen Willen zu töten und selbst nach dem Tode wieder zurückkehren zu können?“ Das konnte nicht einmal Harrison sagen. Er erklärte, dass er sehr viel nachgeforscht habe, allerdings konnte er nie die die Antwort finden. Vielleicht sei es eine Mutation, oder vielleicht einfach nur eine vererbbare paranormale Fähigkeit, die sich nicht erklären ließ. Mit Sicherheit gäbe es noch mehr solcher Menschen auf dieser Welt. Zwar nicht viele, aber immerhin ein paar. Und die Kinsleys hatten in ihrer lange zurückreichenden Geschichte einige Begabte gehabt. „Deshalb wollte ich dich auch zu mir holen, weil ich wusste, was man Leuten wie euch alles antut und welchem Hass ihr ausgesetzt seid. Aber dein Vater wollte einfach nicht hören, weil er nicht daran glaubte.“ „Konnte er nicht mit Urgroßvater reden?“ „Nein, dieser war gestorben, als ich zwanzig Jahre alt wurde.“ Dathan entging nicht, dass sein Großvater bezüglich des Todes dieses Urgroßvaters wohl etwas zu verbergen hatte, bzw. nicht gerne die Wahrheit aussprach. Deshalb kam er wieder auf die Begabung seiner Familienmitglieder zurück. „Im Grunde besitzt jeder Mensch diese Fähigkeit, aber sie ist so schwach, dass sie meist nicht anwendbar ist. Zumindest konnten einige Menschen, die einen Herzstillstand erlitten, wieder ins Leben zurückkehren. Viele sagen, es wäre die Medizin, aber es ist Tatsache, dass man es selbst schaffen muss und einige haben diese Kraft. In Australien zum Beispiel hatte es ein Baby gegeben, das kurz nach seiner Geburt einfach gestorben war und ganz ohne fremde Hilfe ins Leben zurückgeschafft hatte, weil es leben wollte. Aber manchmal werden Menschen geboren, die ein so großes Potential haben, dass die Menschen dies spüren und automatisch Angst und Verachtung empfinden. Das liegt nicht an der Person selbst, sondern ganz einfach daran, weil der Tod schon immer die Urangst der Menschen darstellte. Die Menschen wittern es regelrecht wie Tiere, dass diese Menschen mit dem Tod in Verbindung stehen. Und das macht ihnen so große Angst, auch wenn sie es selbst gar nicht wissen.“ „Also ist diese Angst unterbewusst?“ „Genau. Und interessanterweise ähneln sich alle diese Begabten oder Nekromanten in ihrem Charakter: Sie sind aufrichtig, liebevoll, sensibel und selbstlos. Und dann irgendwann wird ein Punkt erreicht, indem sie sich völlig der Außenwelt verschließen und in Hass verfallen. Ab diesem Zeitpunkt beginnen sie damit, ihre Fähigkeit zu destruktiven Zwecken einzusetzen, so wie du deine Rache genommen hast. Aber du hast dich weitaus tapferer gehalten, als deine Vorfahren. Du unterscheidest noch zwischen jenen, die dir geschadet haben und denen, die dich akzeptieren. Manche waren nicht einmal mehr dazu in der Lage und griffen sogar ihre eigenen Familien an. Es ist traurig, aber die Herzen dieser Menschen sind vollkommen vergiftet vom Hass.“ Harrison nahm das Buch und schlug eine Seite auf. „Thomas Lumis Kinsley tötete seine Frau und seine vier Kinder, nachdem ein Nachbar ihn niederschoss. Die ganze Nachbarschaft wurde ausgelöscht und schließlich war es sein Bruder, der ihn schließlich mit einem Kopfschuss niederstreckte. Cecilia Kinsley brachte ihre eigenen Eltern, ihre Klasse und ihre eigenen Freunde um, nachdem sie aus dem Fenster gestoßen wurde und bei dem Aufprall starb. Du, mein Junge, bist der Erste in dieser langen, blutigen Familiengeschichte, der niemals die Hand gegen Unschuldige erhob. Und deswegen glaube ich, dass du der Einzige bist, der fähig ist, das Erbe anzutreten.“ „Was für ein Erbe, Großvater? Wovon sprichst du?“ „Jetzt entspann dich mal und hör gut zu. Um zu verstehen, was genau dieses Erbe betrifft, musst du die ganze Geschichte hören. Aber sei gewarnt, sie ist lang und sehr traurig.“ Kapitel 4: Das Mädchen mit den roten Augen ------------------------------------------ Am 30. Oktober 1800 kam in der kleinen, ländlich gelegenen Stadt Backwater die kleine Sally-Ann Kinsley zur Welt und ihre Geburt war schon das Omen für ein bevorstehendes Unheil gewesen. Die Mutter, Elizabeth Kinsley, starb unter fürchterlichen Schmerzen während dieser Geburt und so musste das arme Kind mittels Kaiserschnitt aus dem Mutterleib der Toten zur Welt gebracht werden. Es war die wohl schrecklichste Szene, die ihr Mann Joseph-Clark jemals gesehen hatte. Er und seine Frau, die so sehr auf die Geburt ihres dritten Kindes hingefiebert hatten, waren doch so in Vorfreude gewesen und nun hatte sich diese Geburt als unsagbar schmerzhaft und qualvoll herausgestellt. Noch nie in ihrem Leben hatte Elizabeth solche Qualen durchleiden müssen und während der Geburt hatte sie immer wieder das Bewusstsein verloren. Während sie da lag, ahnte sie bereits, dass sie dies nicht überleben würde und tatsächlich schied sie dahin, noch bevor der Kopf des Kindes das Licht der Welt erblickt hatte. Selbst nach der Geburt stand Joseph-Clark fassungslos da und starrte auf seine tote Frau, deren Gesicht vor Schmerz völlig ausgezehrt und weiß war. Und nachdem der Schock über den Tod seiner über alles geliebten Frau überwunden war, da begann er das Kind zu hassen. Er hasste es schon allein von dem Augenblick an, als die ersten Regungen dieses kleinen Wesens seiner Frau diese Höllenqualen bereitet und sie in den Tod getrieben hatten. Sein Hass auf dieses kleine Mädchen war so unsagbar groß, dass er sich weigerte, es auch nur ein Mal anzusehen, geschweige denn, es anzufassen. Er fürchtete sonst, er könnte es eigenhändig erwürgen und sich als christlicher Mann vor Gott versündigen. Ob es verhungerte oder anderweitig zugrunde ging, war ihm mit einem Schlage egal geworden und er vernachlässigte es dermaßen, dass Sally-Ann unter den Umständen gestorben wäre. Die ersten zwei Geburten hatte Elizabeth unbeschadet überstanden und ausgerechnet ihre letzte Geburt musste sie so dahinraffen. Dieses Kind war in den Augen des eigenen Vaters ein Parasit und allein das war schon unendlich traurig. Zum Glück traf es sich, dass die älteste Tochter Teresa Kinsley, die seit knapp zwei Jahren mit dem nun 24-jährigen Farmarbeiter William Bordon verheiratet war, gerade ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte. Ein gesunder Junge mit leuchtend blauen Augen, den sie auf den Namen Lumis taufen lassen würde. Da sie wusste, dass ihre jüngste Schwester sonst sterben würde, adoptierte sie mit der Erlaubnis ihres Mannes Sally-Ann und zog sie wie ihr eigenes Kind groß. Sie, William und ihr 17-jähriger Bruder Marcus hassten das Kind nicht für den Tod der Mutter. Nein, sie liebten die kleine Sally-Ann und waren entschlossen, sie vor dem verbitterten Vater zu schützen. Joseph-Clark selbst verfiel nach dem Ableben von Elizabeth dem Alkohol und war nicht mehr imstande, die Farm zu leiten. Darum übernahmen Marcus und William gemeinsam die Farmleitung, während Teresa sich allein auf die Erziehung der Kinder konzentrieren sollte, bevor sie wieder als Lehrerin arbeitete. Sie hegte und pflegte die kleine Sally-Ann mit all der Liebe, die eine Mutter ihrem Kind zuteil kommen lassen konnte. Aber was ihren Vater betraf, so machte sie sich doch so ihre Sorgen. Eines Abends, als sie gerade in der Stube saß und mit Näharbeiten beschäftigt war und ihr Mann Pfeife rauchend im Sessel saß und die Zeitung las, sagte sie „Vaters Verhalten macht mir Sorgen. Mir scheint, er trinkt inzwischen in äußerst ungesunden Maßen.“ William sah von seiner Zeitung auf und legte seine Stirn in Falten, wie er es oft tat, wenn er nachdachte. „Das ist wahr“, murmelte er und rauchte weiter. „Erst letztens sah ich meinen Herrn Schwiegervater im Wirtshaus sitzen und einen Kurzen nach dem anderen trinkend. Aber was soll ich tun? Seit das Kind auf der Welt ist, geht es nicht gut mit ihm und spricht man ihn auf seine Trinkerei an, schon verliert er die Contenance und wird ausfallend. Ich fürchte, es wird noch ein Unglück mit ihm geben. Wie fasst es denn dein Bruder auf?“ „Er konzentriert sich auf seine Arbeit, es ist ja auch viel zu tun auf der Farm. Aber ich kenne ihn zu gut. Es geht ihm sehr nahe, besonders Mutters Tod hat ihn schwer getroffen. Mir will aber nicht aufgehen, was genau Vater dazu veranlasst hat, einen solchen Hass auf die Kleine zu entwickeln. Ich meine, er sollte doch gerade deswegen das Kind so lieben, weil Mutter in ihrer höchsten Pflicht gestorben ist. Stattdessen vernachlässigt er sie und hat nichts als Hass und Verachtung für sie übrig. Das arme Kind.“ William nickte ernst und widmete sich wieder seiner Zeitung. „Im betrunkenen Zustand ist dein Vater unberechenbar, wir müssen also Acht geben.“ Als Teresa das hörte, warf sie ihre Näharbeit beiseite und erhob sich ruckartig von ihrem Stuhl. „Glaubst du etwa, er könnte Sally etwas antun?“ „Das will ich damit nicht direkt sagen, aber betrunkene Menschen neigen oft dazu, Dinge im Affekt zu tun und wenn er sie sieht, könnte er wieder die Contenance verliert. Ich möchte dir keine Angst einjagen, aber du weißt, wie dein Vater im betrunkenen Zustand sein kann. Kurzum ich halte es für das Beste, Sally von ihm fernzuhalten, um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.“ Dabei ergriff William die Hand seiner Frau und nickte ihr aufmunternd zu. „Sei unbesorgt, dein Bruder ist auch noch da und wir werden das Kind zu beschützen wissen.“ Doch bevor Teresa ihrerseits etwas sagen konnte, da ertönte ein lauter Schrei aus der Kinderstube und die junge Mutter stand sogleich auf, um nach dem Rechten zu sehen. Sie rechnete damit, dass Lumis, Christie oder Sally aufgewacht waren und ahnte nichts Böses. Doch wie sich herausstellen sollte, war Teresas Vater ins Zimmer eingedrungen und begann damit, die kleine Sally-Ann zu würgen. Teresa roch seine Fahne bis zur Tür und stürzte herbei, um das Kind vor dem eigenen Vater zu retten. Er schlug ihr direkt ins Gesicht und ihr Aufschrei sorgte dafür, dass William und Marcus herbeieilten. Sie kamen noch rechtzeitig, bevor ein Unglück geschah und zerrten den völlig betrunkenen Vater vom Säugling weg. Da er ausfallend und gewalttätig wurde, sperrte man ihn schließlich in die Scheune, wo er sich ausnüchtern sollte. Teresa kam mit einem blauen Auge und einer geschwollenen Wange davon, jedoch konnte sie nichts in der Welt davon abhalten, in dieser Nacht bei den Kindern zu bleiben und aufzupassen. William hatte vollstes Verständnis und richtete ihr ein Nachtlager ein während Marcus sich darum kümmerte, die Scheune gut zu verriegeln, damit der Vater sie nicht verlassen konnte. Normalerweise hätte er so etwas niemals gewagt, aber ihm schwante, dass dies nicht der letzte Versuch des Vaters sein würde, sein jüngstes Kind zu töten. Und diese Befürchtung sollte sich traurigerweise bewahrheiten, denn es traf sich eines Tages, dass Teresa sich um die kleine Christie kümmern musste, die an den Windpocken erkrankt war und darunter fürchterlich litt. Joseph-Clark war wieder betrunken gewesen, als er ein Kissen auf das Gesicht der kleinen Sally-Ann presste, mit der Absicht, sie so zu ersticken. Marcus konnte dies gerade noch verhindern und es kam zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Diese endete schließlich damit, dass der Trunkenbold rücklings die Treppe hinunterfiel und sich dabei das Genick brach. Die Polizei ließ den Sohn laufen, da dieser in Notwehr gehandelt und das Kind vor dem Tode beschützt hatte. Fassungslos standen die drei vor dem Grabe der Eltern und waren erschrocken über dieses Ende. Wie konnte es nur so weit kommen, dass ihr eigener Vater, der sonst so liebevoll und gottesfürchtig gewesen war, sich so gehen ließ und einem unschuldigen Kind dermaßen nach dem Leben trachtete? Teresa vergoss stille Tränen und presste die kleine Sally-Ann fest an sich, während sie den Sarg ins Loch herabließen. Das Baby hingegen war völlig still und schlief. Lumis lag im Kinderwagen und sah mit seinen großen, blauen Augen neugierig umher, während er zwischendurch glucksende Laute ausstieß. Inzwischen hatten die beiden Säuglinge, die inzwischen drei Monate alt waren, einen hübschen Haaransatz. Lumis hatte einen von aschblonder Farbe, Sallys Haar jedoch war so pechschwarz wie die Nacht. Und ihre Augen, die so groß und unschuldig dreinzuschauen pflegten, waren von einem leuchtenden Rubinrot. Noch nie hatten William, Teresa oder ihr Bruder Marcus so etwas gesehen und sie waren sich nicht sicher, ob dies eigentlich normal bei einem Baby sei. Darum suchten sie den Arzt in Backwater auf, der ebenfalls nie zuvor solch eine Augenfarbe gesehen habe. Er erklärte jedoch, dass sie unbesorgt sein konnten. Das Kind sei in seiner Sehkraft nicht eingeschränkt, jedoch gestattete er sich die Bemerkung, dass diese Augen etwas Unheimliches und äußerst Unnatürliches an sich hätten. Und wie sich herausstellte, war der Arzt Dr. Brown nicht der Einzige, der so dachte. Wenn Teresa mit dem Kinderwagen spazieren ging, wo Sally mit einem fröhlichen Lachen und Quietschen die Vögel am Himmel beobachtete, beäugten die Bewohner der Stadt das Kind mit Misstrauen und zaghafter Abweisung. Mrs. Grover, die alte Dame aus Backwater, die gerne tratschte, richtete ihr Monokel und bemerkte, dass das Kind unheimlich sei. Selbst der Pastor hatte nur wenig freundliche Worte für die kleine Sally übrig. Im Gegenteil sogar! Kaum blickte er in die roten Augen dieses Kindes, in welchen ein Höllenfeuer zu lodern schien, bekreuzigte er sich hastig und murmelte nur „Jesus, Maria und Josef“, bevor er davoneilte und dabei völlig vergaß, Teresa zu grüßen. Es verbreitete sich sehr schnell in der Stadt das Gerücht, mit dem Kinde stimme etwas nicht. Welches normale Kind hätte denn bitteschön rote Augen? Teresa, die sehr sensibel auf solches Gerede reagierte, wandte sich daraufhin an William und erzählte ihm davon. Dieser aber versuchte, sie zu beruhigen. „Das Getratsche wird irgendwann aufhören, du wirst sehen. Die Kleine entwickelt sich doch prächtig. Sie ist gesund und lebensfroh. Du solltest nicht so viel auf das Geschwätz der Leute geben, meine liebe Teresa.“ So blieb der jungen Mutter nichts anderes übrig, als auf die Worte ihres Mannes zu vertrauen. Doch selbst dies sollte sich nicht bewahrheiten. Je älter das Mädchen wurde, desto mehr wuchs der Unmut der Leute, die allesamt der Meinung waren, das Kind wäre unheimlich. Sally selbst entwickelte sich prächtig. Sie hatte recht früh die Masern und die Windpocken, sie überlebte eine schwere Grippe im Alter von vier Jahren und einen gefährlichen Sturz von einem hohen Baum, auf den sie geklettert war. Sie lernte ungewöhnlich früh zu sprechen, wobei ihr das Laufen lernen etwas schwer gefallen war. Sie war ein neugieriges und munteres Geschöpf und spielte gerne mit der zwei Jahre älteren Christie. Was die Familienkonstellation betraf, so hatten Marcus, Teresa und William beschlossen, Sally nichts über den Tod der leiblichen Mutter und den Mordversuchen des verbitterten Vaters zu sagen und auch niemals darüber zu sprechen. Wie sollte sie denn damit umgehen und diese Tatsache verkraften? Nein, es war stillschweigend beschlossen worden, dass Teresa und William zu ihren Eltern erklärt wurden und Marcus den treu sorgenden Onkel mimen sollte. Sie adoptierten Sally im guten Glauben daran, das Richtige zu tun, als ihr eigenes Kind. Und somit lernte Sally-Ann Christie und Lumis als ihre Geschwister kennen und wuchs in dem Glauben auf, es wäre niemals anders gewesen. Lumis wuchs wunderbar heran und war lebensfroh und munter, Christie hingegen war ein eher stilles und ernstes Kind. Sie zeigte weniger Interesse an den kindlichen Spielen der Geschwister, sondern saß lieber still in ihrem Zimmer und las Bücher. Recht häufig las sie die Bibel und es zeigte sich, dass sie einen sehr gefestigten und unerschütterlichen Glauben hatte. Zudem neigte sie auch immer dazu, niemals die Stimme zu erheben, selbst wenn sie eine Frage stellte, sodass ihre Frage gar nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung klang. Christie, die als Erste die Schule besuchte, war ein vorbildliches Kind und lernte schnell und geduldig. Aber was ihr Sozialverhalten anbelangte, so war sie ein wenig kühl und introvertiert. Sie hatte kaum Freunde, nur eine gemeinsame Klassenkameradin, mit der sie sich gut verstand. Lumis und Sally hingegen gingen noch nicht zur Schule. Teresa aber konnte es sich nicht nehmen lassen, ihnen auf spielerische Art und Weise schon mal die erste Hälfte des ABC beizubringen oder schon mal kleine Rechenaufgaben zu stellen. Lumis hatte wenig Sinn für diese kleinen Examen, Sally hingegen fand schnell Gefallen daran, diese kleinen Aufgaben zu lösen und ließ sich auch von ihrer sehr ernsten Schwester helfen. Mit Geduld erklärte sie ihr, das zwei und zwei nicht fünf ergaben und dass eins und eins genau zwei ergaben. Sally lernte sehr schnell und ließ sich gerne von ihrer Schwester oder ihrer Adoptivmutter etwas vorlesen. Am liebsten hörte sie die Geschichte über Hiob, dem so viel Leid zugemutet wurde, und der doch letzten Endes für seinen aufrechten Glauben belohnt wurde. Allerdings neigte Sally oft dazu, unangenehme Fragen zu stellen, die sie manchmal in Schwierigkeiten brachten. In der Sonntagsschule nämlich stellte sie Fragen wie „Warum geht Gott mit dem Teufel eine Wette ein, wenn er sich seiner doch so sicher ist?“ und den Bogen überspannte sie schließlich, als sie der Ordensschwester die Frage stellte „Wie kann denn Kain eine Frau nehmen, wenn er, seine Eltern und sein toter Bruder die einzigen Menschen waren?“ Berechtigte Fragen, aber leider war zu der Zeit die Welt so religiös geprägt, dass solche Fragen als absolutes Tabu galten und Sally erhielt dafür ein paar ordentliche Schläge als Bestrafung. Sie bereute diese Fragen jedoch keine Sekunde lang, denn sie war sich sicher, nichts Falsches getan zu haben. Aber dies war leider nicht das Einzige, was Sally erheblich Schwierigkeiten bereitete, Anschluss in der Sonntagsschule zu finden. Sie war fünfjährig, ihr schwarzes Haar war lang und lockig und ihre roten Augen leuchteten wie zwei Diamanten. Sie war ein süßes und braves Kind, kein Zweifel, aber ihr entging nicht, dass sich die Menschen um sie herum merkwürdig verhielten. Die Erwachsenen mieden sie oder starrten sie misstrauisch an, die Kinder hänselten sie und bewarfen sie auf dem Nachhauseweg manchmal mit Steinen. Aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Schließlich besuchte eines Tages die Ordensschwester die Adoptiveltern der kleinen Sally und sprach mit ihnen ein ernstes Wort. „Es verhält sich so, dass das Kind durch seine unangebrachten Fragen zum Evangelium für große Missstimmung sorgt und sich die anderen nicht konzentrieren können.“ „Bitte entschuldigen Sie Schwester“, sagte Teresa schließlich, welche gerade einen abgerissenen Knopf annähte. „Aber was genau hat sie denn Unangebrachtes getan? Verhält sie sich auffällig und stört sie den Unterricht?“ „Nein, aber es ist leider so, dass allein schon durch ihre bloße Anwesenheit die Kinder streitlustig und aggressiv werden. Das Kind selbst ist wohl erzogen, keine Frage! Aber leider kann ich nicht anders, als sie aus der Sonntagsschule auszuschließen.“ Und da legte Teresa die Arbeit beiseite, stand auf und baute sich zu ihrer ganzen erhabenen Größe auf. Wenn sie wütend wurde, hatte sie die Eigenart, eine Faust in die Seite zu stemmen und den Zeigefinger zu erheben. Eine Gewohnheit, die auf ihre Lehrerlaufbahn zurückzuführen war. „Schwester Mary John, ich bin eine Christin wie Sie. Ich respektiere Ihre Autorität als Dienerin Gottes wie jeder andere sonst aber ich verbitte mir, Sally-Ann aus der Sonntagsschule zu verweisen, wo sie sich außer ein paar falsch gestellten Fragen nichts zu Schulden kommen lassen hat. Nein, dagegen protestiere ich energisch und ich werde diese Frechheit gewiss nicht auf mir sitzen lassen.“ Und Schwester Mary John, ein wenig eingeschüchtert durch die harschen Worte der Lehrerin, sank ein wenig in sich zusammen. „Vom Kirchenausschluss war nie die Rede, aber…“ „Da sehe ich aber keinerlei Unterschied“, unterbrach Teresa sie in einem lauten Ton. „Indem Sie ihr die Sonntagsschule verwehren, nehmen Sie sich die Freiheit, sie vom Kommunionsunterricht auszuschließen und das hat zur Folge, dass Sie ihr damit auch die heilige Kommunion verwehren. Und ich glaube nicht, dass Sie dazu berechtigt sind, Schwester. Sally wird weiterhin die Sonntagsschule besuchen und ich lasse nicht zu, dass sie zu Unrecht ausgrenzt wird. Wenn das Kind sich einer schweren Tat schuldig macht, dann können wir noch mal darüber gerne reden. Aber dass das Mädchen aus persönlichen Gründen ausgegrenzt wird, grenzt an eine unfassbare Frechheit und Provokation, die ich nicht einfach so hinnehmen werde.“ Schwester Mary John, die zwanzig Jahre älter war als Teresa Kinsley, hatte in ihrem Leben noch nie so eine aufgebrachte Person gesehen. Und für gewöhnlich ließ sie sich auch so schnell nicht verunsichern oder einschüchtern, aber Teresa hatte sie mit ihrem Kampfgeist völlig überrumpelt. Schließlich kam Marcus herein, der von der lauten Stimme seiner Schwester aus seinem Mittagsschlaf geweckt wurde. „Teresa, was ist denn los? Was schreist du denn so? Du wirst noch Lumis aufwecken.“ Mit knappen Worten erzählte Teresa von dieser Unverschämtheit und redete sich nur noch weiter in Rage, sodass Marcus sie beruhigen musste. Er hörte sich aufmerksam an, was seine Schwester erzählte und nickte bedächtig. Schließlich wandte er sich an die Ordensschwester und versuchte, zwischen den beiden Fronten zu vermitteln. „Als Familienoberhaupt muss ich meiner Schwester Recht geben: Es kann doch nicht sein, dass das Kind aus der Gruppe ausgeschlossen wird, obwohl es sich nichts dergleichen zu Schulden kommen ließ. Ich bitte Sie darum in aller Christlichkeit, es noch mal mit ihr zu versuchen.“ Schwester Mary John seufzte und gab ihr Einverständnis. Aber es sollte nicht lange gut gehen mit der kleinen Sally-Ann Kinsley. Kaum zwei Monate waren vergangen, da traf sie ein großer Stein am Kopf, der von dem jungen Farmersohn Robert geworfen wurde und sie schwer verletzte. Bewusstlos und mit blutendem Kopf war sie daraufhin auf der Straße zusammengebrochen und musste einen wahren Steinhagel über sich ergehen lassen. Keiner der Erwachsenen griff ein, bis schließlich einer der Knechte von der Farm „Shady Oaks“ einschritt und das blutende Mädchen in die Klinik brachte. Von da an wurde Sally zuhause unterrichtet, bis sie alt genug war, um in die Schule zu gehen. Bis dahin vergingen zwei Jahre und sowohl William, als auch Marcus und Teresa hofften, dass sich die Unruhe und die Feindseligkeit der Leute gegen Sally bis dahin legen würden. Doch je älter Sally wurde, desto schwieriger wurde es für sie, mit ihrem Umfeld in Kontakt zu treten. Wenn sie ihre Eltern in die Stadt begleitete, wichen die Leute ihr aus, man verweigerte ihr den Zutritt in die Geschäfte und die Kinder riefen ihr Schimpfnamen hinterher, oder bewarfen sie mit Steinen. Teresa und William konnten sich diese Feindseligkeit nicht erklären, denn niemand konnte ein schlechtes Betragen von Sallys Seite nennen. Sie benahm sich vorbildlich, war hilfsbereit und freundlich. Brav hielt sie sich an das, was man ihr sagte und sie stellte auch keinen Unsinn an. Doch es gab etwas an ihr, das den Leuten Angst einjagte und ihren Hass gegen das Kind schürte. Sie konnte es nicht beeinflussen, weder sie noch ihre Familie konnten sich dies erklären. Aber dann, als Sally von ihrem ersten Schultag nach Hause kam, sah sie so fürchterlich elend und verweint aus, dass es Teresa fast das Herz brach. Laut weinend eilte Sally auf sie zu und vergrub ihr von Tränen gerötetes Gesicht in den Schoß ihrer Adoptivmutter. „Mum, ich kann es nicht mehr. Ich will nicht mehr leben….“ Kapitel 5: Jamie am Rande des Wahnsinns --------------------------------------- Jamie wollte es nicht vor Dathan zugeben, aber seine Nerven lagen blank. Seit dem Eintreffen dieses verdammten Schreibens, welches Mrs. Landon ihm überreicht hatte, fühlte er sich auf Schritt und Tritt verfolgt. Meist sah er nichts, aber dieses verdammte Gefühl, beobachtet zu werden, blieb trotzdem. Und dann diese unheimliche Gestalt, die er nachts am Fenster stehen sah, wie sie ihn anstarrte…. Sie sah aus wie dieses Mädchen aus dem Film „Happy Sally“. Aber dabei hatte er den Film niemals gesehen. Er wusste nur aus Erzählungen her, wie sie aussah, und doch verfolgte sie ihn jetzt. Manchmal hörte er des Nachts ein leises Gekicher und Gelächter und manchmal ertönte es direkt neben oder hinter ihm, sodass er einfach keine Ruhe fand. Die Beruhigungstabletten, die er von seinem Arzt verschrieben bekommen hatte, brachten gar nichts, sie verschlimmerten nur seine Angst. Der Neuropsychologe, den er besucht hatte, bot ihm an, ihn in eine geschlossene Anstalt einzuweisen, um ihn vor sich selbst zu schützen. Dies hatte Jamie jedoch abgelehnt gehabt, da er solche Einrichtungen zutiefst verabscheute und vor Dathan nicht den Eindruck erwecken wollte, es stünde schlimm um ihn. Doch es ließ sich nicht lange verbergen, das wusste er selbst. Zwar war er entschlossen, nicht kampflos aufzugeben, aber er wollte nicht würdelos abtreten, wenn es wirklich so kommen sollte. Aber er musste auch Vorbereitungen treffen, sollte er nicht mehr lange durchhalten. Darum besuchte er seinen Nachbarn Mr. Reynolds, der seines Zeichens Notar war. Mr. Reynolds würde sicher einen Termin dazwischenschieben können, allein schon aus nachbarschaftlicher Freundschaft. Der alte Notar stand knapp drei Jahre vor seinem wohl verdienten Ruhestand. Er freute sich auf seinen Lebensabend, ging aber trotzdem mit Fleiß und Freude seiner Arbeit nach und war ein sympathischer und redseliger Mann. Ganz anders als diese steifen Anzüge, die einen Paragraphen nach dem anderen hinunterbeteten und völlig kühl und unbeteiligt ihrer Pflicht nachgingen. Wer bei ihm einen Termin hatte, bekam eine Tasse Tee oder einen Kaffee und dazu etwas Gebäck gereicht. Alles wurde in angenehmer Atmosphäre besprochen und man hatte somit gar nicht den Eindruck, dass man bei einem Notar war. Als Jamie das Büro von Mr. Reynolds betrat, war dieser gerade dabei, ein paar Dokumente in den Aktenschrank zu sortieren und war erstaunt über den Besuch des 18-jährigen. „Jamie, was führt dich denn hierher?“ „Tagchen Mr. Reynolds. Ihre Sekretärin sagte, Sie hätten jetzt im Moment keinen Termin, deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie mir etwas Zeit entbehren könnten. Es gibt da einige Dinge zu regeln…“ „Einige Dinge? Geht es um den Vertrag des Grundstücks oder um etwas anderes? Aber setz dich doch erst mal, du möchtest doch sicher eine Tasse Tee und etwas schottisches Gebäck.“ Jamie, der etwas bedrückt war, lehnte das Angebot dankend ab und wartete, bis sich der alte Notar in seinen Lederstuhl setzte und seine Brille zurechtrückte. „Ich war vorhin bei einem Neuropsychologen und der hat mir bestätigt, dass ich am Sally-Syndrom erkrankt bin. Ich weiß nicht, ob Ihnen dieser Begriff etwas sagt, aber dieses Syndrom verursacht eine enorme psychische Belastung, die schließlich dazu führt, dass Betroffene Selbstmord begehen. Und da ich nicht weiß, ob und wie lange ich dem Ganzen standhalten kann, möchte ich die wichtigsten Dinge regeln und schon mal ein Testament aufsetzen.“ „Aber Jamie, du bist doch gerade erst erwachsen geworden, da brauchst du doch an solche Dinge noch nicht zu denken.“ Aber der alte Mr. Reynolds erkannte, dass Jamie ganz ernst und gefasst war. Er steigerte sich nicht in irgendeine Wahnidee rein oder übertrieb maßlos. Ihm war anzusehen, dass er sich die ganze Sache sehr ernst überlegt hatte und zu dem Schluss gekommen war, für den schlimmsten Fall vorzusorgen. Darum hielt Mr. Reynolds ihn nicht auf und seufzte. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meiner jahrelangen Laufbahn als Notar einmal einen Jungen haben werde, der bereits sein Testament machen will, weil er den Tod schon vor Augen hat. So traurig das auch ist…. Wenn du dir sicher bist, dann können wir das Ganze jetzt gleich schon mal vorbereiten. Hast du schon gut überlegt, wer als Erbe in Betracht kommt?“ „Meine Familie ist tot und andere Verwandte habe ich nicht mehr“, erklärte Jamie bekümmert. „Der einzige Mensch, der mir nahe steht, ist mein bester Freund aus Kindertagen: Dathan Lumis Kinsley. Er hat, wie auch ich, keine Familie mehr und er hat es sehr schwer im Leben gehabt, schwerer noch als ich. Wenn ich schon bald nicht mehr da bin, dann möchte ich wenigstens sicher sein, dass er sich in finanzieller Hinsicht keine Sorgen machen muss und ein Dach über den Kopf hat. Ich möchte ihn deshalb zum Alleinerben ernennen. Nach meinem Tode soll er das Haus bekommen mit allem, was darin ist, sowie meinen ganzen Besitz und mein gesamtes Vermögen. Es steht ihm frei, mit seinem Erbe zu tun und zu lassen, was er will. Er kann das Haus verkaufen, oder darin wohnen. Das Gleiche gilt für den zu vererbenden Besitz. Ich habe zudem eine Lebensversicherung abgeschlossen, mit der im Falle meines Todes sämtliche Bestattungskosten gedeckt werden. Ich habe auch schon jemanden gefunden, der sich um diese unangenehme Angelegenheit kümmert. So etwas kann ich Dathan nicht antun, wo er doch erst letztes Jahr seine kleine Schwester zu Grabe getragen hat. Das wäre einfach zu schlimm für ihn.“ „Ja, davon hattest du erzählt. Furchtbar, wirklich eine schlimme Sache. Und gibt es keine Heilungschancen?“ „Nein, leider nicht. Medikamente verschlimmern das alles nur und jegliche Therapien helfen auch nicht. Ich kann eigentlich nur noch auf ein Wunder hoffen. Die ehemaligen Kollegen von Fred Moore, der diesen verfluchten Film gedreht hatten, haben es auch 60 Jahre lang durchgestanden. Meine einzige Chance ist meine eigene Willenskraft. Aber ob diese stark genug ist, kann ich nicht sagen. Deshalb denke ich, dass ein Testament nicht ganz verkehrt ist.“ Mr. Reynolds nickte bedächtig und begann aufzuschreiben. Jamie legte genau fest, was alles nach seinem Tode geschehen sollte und machte das mit solch einer Professionalität, dass es selbst den alten Notar erstaunte. Doch mitten im Satz unterbrach Jamie schließlich und wurde leichenblass. Mit angsterfüllten Augen sah sich hastig im Raum um. Dann aber blieb sein Blick am Fenster haften und seine Hände krallten sich fest in die Stuhllehnen. Mr. Reynolds folgte Jamies Augen, doch er sah rein gar nichts. „Jamie, ist alles in Ordnung mit dir? Was hast du?“ Doch Jamie reagierte gar nicht auf Mr. Reynolds Worte. Er starrte entsetzt auf das kleine Mädchen auf der anderen Seite des Fensters, welches keine Augen mehr besaß. Sie lachte und grinste Jamie manisch an, dann legte sie eine Hand auf die Scheibe. Das Glas begann rissig zu werden, dann zersprang es explosionsartig und Splitter flogen durch den Raum. Jamie hob sofort die Arme, um seine Augen zu schützen und stolperte weiter nach hinten. Das Mädchen… Sally… trat durch das zersprungene Fenster und lief durch die Scherben. Sie lachte und um sie herum begann alles im Raum zu zittern. „Hast du Angst?“ fragte sie, während sie unerbittlich näher kam. Jamie, der den ersten Schrecken überwunden hatte, ergriff einen Brieföffner und richtete ihn auf die unheimliche Erscheinung. „Du bist gar nicht echt, das ist alles nur eine Halluzination! Das passiert hier alles gar nicht!!!“ „Bist du dir da auch wirklich so sicher?“ Das Gelächter hallte in allen vier Wänden wider und verwandelte sich in ein ohrenbetäubendes Chaos. Jamie presste seine Hände auf die Ohren, was aber gar nichts brachte. Selbst in seinem Kopf hallte dieses schreckliche Lachen wider und würde ihn früher oder später noch verrückt machen. Aber es war nicht echt. Das alles war nur eine Halluzination. „Du bist nur eine Illusion, mehr nicht! Und jetzt lass mich endlich in Ruhe und verschwinde, du Monster.“ Das Gelächter verstummte augenblicklich und das augenlose Mädchen sah Jamie schweigend an. Dann aber verzerrte sich ihr Gesicht zu einer hasserfüllte Fratze und sie ballte ihre schneeweißen Hände zu Fäusten. Der Computer auf dem Schreibtisch explodierte und die anderen Fenster zersprangen, genauso wie die Tassen auf dem Tisch. Bücher flogen aus den Regalen und die Schubladen wurden aufgerissen. Überall flog Papier durch die Luft und Jamie taumelte rückwärts zur Tür, um sich in Sicherheit zu bringen. Diese aber knallte laut zu und ließ sich nicht öffnen. Als er den Kopf wieder hob, stand das Mädchen direkt vor ihm. Die Scherben, die auf dem Boden gelegen hatten, schwebten um sie herum und die scharfen Spitzen waren direkt auf Jamie gerichtet. „Jetzt werde ich dir mal zeigen, wozu ein Monster alles fähig ist.“ Mr. Reynolds sah entsetzt, wie Jamie sich schreiend auf dem Boden wälzte und offensichtlich fürchterliche Schmerzen litt. Jeder Versuch, ihn anzusprechen oder ins reale Geschehen zurückzuholen, scheiterte. Jamies Halluzinationen hatten sein Bewusstsein vollständig getrübt, sodass er diese Halluzinationen für die Realität hielt. Schließlich kam die Sekretärin herbeigeeilt, die durch die lauten Schreie alarmiert wurde und sah entsetzt, wie sich Jamie auf dem Boden wand. „Chef, was ist mit ihm? Was ist passiert?“ „Rufen Sie sofort einen Krankenwagen, schnell!“ Fassungslos sah der alte Mann auf den schreienden Jugendlichen und wusste nicht, was er tun sollte. Noch nie hatte er so etwas erlebt und wenn, dann waren Drogen Schuld gewesen. Aber der Junge nahm keine Drogen, er war krank und was auch immer er sich da in seinem Kopf einbildete, es musste entsetzlich sein. Als Jamie schließlich sogar damit begann, an seinen Augen zu kratzen, als wolle er sie herausreißen, griff er schließlich ein und hielt den Jungen fest. Er musste verhindern, dass er sich selbst noch etwas antat. Die verstörte Sekretärin griff schließlich zum Telefon und schilderte den Fall. Auf Anweisung ihres Chefs fügte sie noch hinzu, dass der Tobende am Sally-Syndrom litt und deswegen Halluzinationen hatte. Mr. Reynolds hielt bis zum Eintreffen des Notarztes Jamie fest, um ihn daran zu hindern, sich selbst noch zu verletzen. Schließlich wurde Jamie mit Medikamenten ruhig gestellt und ins Krankenhaus gebracht. Als er dort nach ca. vier Stunden wieder bei Bewusstsein war, wurde er in die psychiatrische Klinik im Nachbarort gebracht. Bevor er verlegt wurde, rief er mit schwacher Stimme Mr. Reynolds an und bestellte ihn her, um das Testament zu unterschreiben und beglaubigen zu lassen. Als der alte Notar ihn sah, wie er völlig verweint und zitternd vor Angst da lag, war er entsetzt. „Sie müssen mir etwas versprechen“, sagte er schließlich mit schwacher Stimme. „Erzählen Sie Dathan nichts davon. Wenn er Sie fragt, sagen Sie ihm, dass ich mich hier nur näher untersuchen lasse, um ganz sicherzugehen. Das müssen Sie mir versprechen!“ Mr. Reynolds versprach es ihm, wollte aber wissen, was Jamie denn so aus der Fassung gebracht hatte. Jamie sah ihn mit Tränen in den Augen an und atmete schwer. „Haben Sie schon mal geträumt, zu sterben und trotzdem weiterzuleben? Ich habe es am eigenen Leib erfahren… und es ist schlimmer als alles, was ich je erlebt habe…. Wenn das so weitergeht, halte ich das nicht mehr lange durch.“ Da Jamie am Syndrom erkrankt war und somit eine unmittelbare Gefahr für sich selbst darstellte, wurden seine Hände ans Bett gefesselt. Jamie versuchte, sich mit aller Macht zu befreien und legte massiven Protest ein. Er bekam einen Wutanfall und unter Aufbietung seiner ganzen Kraft schaffte er es schließlich, sich zu befreien und die Fesseln abzulegen. Als ihn daraufhin zwei Pfleger mit einer Injektion betäuben und wieder ans Bett fesseln wollten, schlug Jamie sie nieder und schaffte schließlich doch noch die Flucht aus der Klinik. Als er endlich wieder draußen war, beruhigte sich sein Gemüt wieder und er beschloss, auf den schnellsten Weg wieder nach Hause zu gehen. Er würde ganz sicher nicht in einer Anstalt sterben, so weit würde er es nicht kommen lassen. Und so einfach würde dieses kleine Miststück ihn nicht klein kriegen. Zu Fuß eilte Jamie die Straße entlang, bis er schließlich die Stadt erreichte. Inzwischen war es dunkel geworden und er fragte sich, ob Dathan vielleicht schon zurück war. Inzwischen war er ja den halben Tag weg und er bezweifelte wirklich, dass Dathan noch bei seinem Großvater war. Inzwischen hatte er sich auch wieder beruhigt und wollte einfach nur seine Ruhe haben, das war alles. Schnell holte er den Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete die Tür. Doch kaum hatte er die Tür einen Spalt breit geöffnet, da hörte er aus dem Inneren des Hauses Schreie. Aber es war nicht Dathan… ein Mädchen schrie um Hilfe. Sofort stürzte Jamie ins Haus und sah sich um. Die Schreie kamen aus seinem Zimmer. Wer zum Teufel war da bloß? Er eilte die Wendeltreppe hoch, riss die Tür zu seinem Zimmer auf und bekam den wohl schlimmsten Alptraum zu sehen, den er jemals durchleben musste. Auf seinem Bett lag ein Mädchen, das von zwei Jungs festgehalten wurde, während sich ein anderer an ihr verging. Einige standen um die vier herum und filmten diese entsetzliche Szene mit Handys und Kameras. Und es war nicht irgendein Mädchen, das da gerade vergewaltigt wurde. Es war… Lydia. Seine Schwester Lydia. Jamies ganzer Körper erstarrte und er konnte nicht glauben was er da sah. Die angsterfüllten und verweinten Augen seiner Schwester sahen ihn an und mit gebrochener Stimme rief sie „Jamie, bitte hilf mir! Hilfe! Nein!!!“ Ohne Zweifel, es war dieselbe Szene wie vor vier Jahren. Nur dass sie sich hier wiederholte. Jamie wollte eingreifen, wollte seine Schwester retten, aber er konnte sich nicht bewegen. Er war völlig erstarrt. Und während er sich nicht rühren konnte, musste er hilflos mit ansehen, wie seine Schwester vergewaltigt wurde. „Das ist nicht wahr… das kann gar nicht sein. Lydia ist tot. Sie ist tot! Sie hat sich doch umgebracht, ich habe es selbst gesehen.“ Und als Jamie klar wurde, dass dies hier unmöglich real sein konnte, wurde ihm auch klar, dass er gar nicht wach war. Das alles hier war nicht echt, sondern eine Halluzination. Aber wann hatte er zu halluzinieren begonnen? War er noch in Mr. Reynolds Büro oder war er schon in der Klapsmühle? War der Besuch bei Mr. Reynolds überhaupt echt gewesen und war sein Einzug mit Dathan wirklich passiert? Hatte er seine Eltern und seine Peiniger tatsächlich getötet oder war auch dies nie passiert? Was war Realität und was Illusion? Jamie begann an seinem eigenen Verstand zu zweifeln. Als er sich endlich wieder bewegen konnte, verbarg er sein Gesicht in den Händen und sank schluchzend in die Knie. Wie aus dem Nichts tauchte Sally plötzlich vor ihm auf und lachte. Während Lydia auf dem Bett schrie und weinte, begann Sally zu sprechen. Und was sie sprach, war kaum in Worten wiederzugeben. Worte reinster Blasphemie und puren Wahnsinns, die einen Mann um den Verstand bringen konnten. Nach und nach lösten sich die Jugendlichen, die am Bettrand standen auf, und machten weiteren Sally-Duplikaten Platz. Und sie alle gaben das Gleiche wieder, wie die erste Sally: Worte reinster Obszönität, Gotteslästerung und unfassbarem Schrecken und Wahnsinn. „Bitte hör auf“, flehte er und begann zu weinen. „Bitte hör endlich auf damit!!!“ „Du weißt, was du tun musst“, sprach Sallys Stimme und plötzlich war die Szene verschwunden. Das Haus um ihn herum hatte sich aufgelöst und um ihn herum war alles schwarz. Und dann befand er sich wieder in Mr. Reynolds Büro. „Du weißt, was du tun musst, um aus dieser Illusion zu erwachen, die nichts anderes als ein Wachtraum ist. Es gibt nur einen Weg, um aus einem Traum aufzuwachen.“ Und damit wanderte Jamies Blick zum Schreibtisch, wo der Brieföffner lag. Er war scharf genug, damit er sich die Halsschlagader durchstoßen konnte. Doch er zögerte. War es wirklich die richtige Entscheidung, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, wenn er den schnellen Ausweg wählte? Würde er dann wirklich aus diesem Alptraum aufwachen? Nein, das konnte er nicht tun. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Er durfte Dathan nicht im Stich lassen, er durfte sich nicht einfach so geschlagen geben. „Du kannst mich mal du kleine Rotzgöre“, dachte er und gab sich selbst eine Ohrfeige, um wieder seine Gedanken zu ordnen. Was dachte er sich dabei, sein ganzes Leben anzuzweifeln und sich der Wahnidee herzugeben, dies alles wäre nur ein Traum, eine Halluzination? So etwas Bescheuertes. Er musste sich endlich zusammenreißen. „Jamie, ist alles in Ordnung mit dir?“ fragte der Notar besorgt und sah ihn mit seinen staubgrauen Augen an. „Es ist alles in Ordnung, ich… ich war gerade abgelenkt.“ „Ist es deine Krankheit?“ „Ja. Manchmal kann ich schon gar nicht mehr unterscheiden, ob das, was um mich herum geschieht, noch real ist oder nicht. Also, wo waren wir gerade stehen geblieben?“ „Wir waren dabei, dein Testament zu formulieren. Wenn du willst, kannst du es dir vorher noch mal durchlesen.“ Jamie nahm das Dokument entgegen und las es sich durch. Ob er in diesem Moment tatsächlich im Büro von Mr. Reynolds saß und sein Testament durchlas oder in der Klapsmühle war? Er wollte sich lieber nicht mit diesen Zweifeln auseinandersetzen, sonst würde er noch wirklich verrückt werden. Sally hatte es offenbar darauf abgesehen, ihn mit genau solchen Gedanken in den Selbstmord zu treiben. „Oh Mann Mädel, die Idee ist spätestens seit Inception nicht mehr neu“, dachte er und setzte ein wenig spöttisches Lächeln auf. Als Jamie sich das Dokument durchgelesen hatte, nickte er und war zufrieden mit dem Inhalt. Schließlich wurde das Testament sachgemäß noch mal am Computer geschrieben und ausgedruckt. Im Anschluss setzte Jamie seine Unterschrift und Mr. Reynolds fertigte schließlich eine Kopie an. Sowohl das Original als auch die Kopie beglaubigte er, damit sie rechtskräftig waren. „Die Kopie musst du bei deinen Dokumenten aufbewahren, das Original behalte ich hier. Falls noch irgendetwas ist, dann kannst du mich gerne besuchen kommen.“ „Danke Mr. Reynolds, ich weiß Ihre Hilfsbereitschaft sehr zu schätzen. Wie viel kostet mich der Spaß?“ „Das errechnet sich normalerweise aus dem Vermögenswert, aber ich kann dir einen Freundschaftspreis machen.“ „Das ist nett, aber ich möchte, dass alles seine Richtigkeit hat.“ Jamie holte einen Scheck heraus und schrieb dem alternden Notar eine fünfstellige Zahl auf, die ihn sprachlos machte. Jamie konnte diese Summe entbehren, er konnte allein schon von den Zinsen leben, die die Bank für sein Vermögen auszahlte. „Betrachten Sie den Rest als Dankeschön. Gönnen Sie sich einen schönen Urlaub oder sparen Sie es für Ihre Rente auf. Man lebt nur ein Mal, da sollte man es in vollen Zügen auskosten.“ Der alte Mann war vollkommen sprachlos und glaubte erst an einen Scherz, weil Jamie ihm gut und gerne 20.000 Dollar als Honorar zahlen wollte. Das war vier Mal so viel, wie er eigentlich von einem vermögenden Kunden verlangt hätte. Und von Jamie, der gerade erst volljährig war, hätte er nicht einmal zweihundert verlangt. Mr. Reynolds hatte ja schon immer so seine Vorurteile gegen diese Millionäre gehabt, die in Saus und Braus lebten, auf andere herabsahen und den Wert des Geldes nicht zu schätzen wussten. Jamie aber hatte nie mit seinem Reichtum angegeben, im Gegenteil. Es war ihm höchst zuwider, davon zu sprechen, weil er lieber wie ein ganz normaler Mensch leben wollte. Und wenn er mit Geld um sich warf, dann nur, damit er seinen Mitmenschen etwas Gutes tun konnte. Im Grunde besaß dieser junge Mensch ein wirklich gutes Herz, auch wenn er in seiner Vergangenheit einige Fehler gemacht hatte…. Kapitel 6: Sallys Herzenswunsch ------------------------------- Sally-Ann hörte nicht auf zu weinen, als sie von ihrem ersten Schultag zurückgekehrt war und selbst die tröstenden und aufmunternden Worte Teresas konnten sie nicht beruhigen. Sie war nicht einmal imstande, zu erzählen, was passiert war. William fragte deswegen Christie, die inzwischen acht Jahre alt war. Christie war in den letzten zwei Jahren noch ernster und kühler geworden. Und nach wie vor hatte sie die Angewohnheit, niemals ihre Stimme zu erheben, sodass selbst eine Frage wie eine Bemerkung klang. „Heute mussten wir in Gruppen arbeiten und niemand wollte mit Sally zusammenarbeiten. Schließlich war sie genötigt, allein zu arbeiten und daraufhin hat die Lehrerin sie vom Unterricht ausgeschlossen.“ Da Backwater eine sehr kleine Stadt war, wurden die Kinder aus den verschiedensten Altersklassen gemeinsam unterrichtet. Dies war besonders für die Lehrer nicht immer einfach, da jeder Schüler anders unterrichtet werden musste. Folglich gingen Christie, Sally und Lumis in eine Klasse. „Und warum hast du ihr als ihre ältere Schwester nicht geholfen?“ „Ich wollte ja, aber die Lehrerin hat mich schließlich verwarnt, weil ich den Unterricht stören würde. Und Lumis hat sich nicht getraut, weil sie alle in der Überzahl waren.“ „Das ist ja wohl nicht zu fassen, was denkt sich diese Lehrerin Miss Norris eigentlich dabei? Unfassbar das Ganze, das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.“ Christie seufzte und schaute den Vater mit ihren smaragdgrünen Augen an. „Nach der Gruppenarbeit wurde Sally von den Mädchen schikaniert und musste einige Beleidigungen und Demütigungen über sich ergehen lassen. Die Lehrerin hat diese Situation stillschweigend hingenommen. Ich will ja keine falschen Anschuldigungen machen, aber mir scheint, als würde Miss Norris die Klasse sogar unterstützen.“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Wenn die Jungs Sally an den Haaren ziehen, sie bespucken oder treten, da sieht Miss Norris immer weg und tut so, als hätte sie nicht gesehen. Und wenn sich Sally wehrt, bekommt sie zur Strafe Schläge und hat sogar eine Strafarbeit bekommen, weil sie geweint hat.“ Auch wenn Christies Gesichtsausdruck unbeweglich und kühl war, so konnte man doch die ernste Besorgnis in ihren Augen sehen. Mit einem Seufzen sah sie zur Seite und murmelte dann „Bitte entschuldige, dass ich nicht eingegriffen habe. Ich hätte Sally helfen sollen.“ William, immer noch entsetzt über das Fehlverhalten der Lehrerin, schüttelte den Kopf. „Schon gut, du hast nichts Falsches getan. Ich werde noch mal mit der Lehrerin reden.“ Ratlos durchwanderte William das Haus und verstand nicht, warum die ganze Stadt so feindselig auf das Kind reagiere. Sally-Ann war doch ein herzallerliebstes Kind. Sie war gut erzogen, sie war getauft und gläubig. Bis jetzt konnte niemand wirklich etwas Schlechtes über sie sagen und doch schien die ganze Stadt sie zu hassen. Aber warum? Was hatten sie nur gegen das Mädchen? Sogar die Lehrerin weigerte sich, dem Kind zu helfen und das war ein Zustand, der so nicht akzeptabel war. Er beschloss, auch noch mit seinem Sohn zu reden. Obwohl er keinen Grund hatte, die Worte seiner Tochter auch nur im Geringsten anzuzweifeln, so wollte er auch noch mal seine Version hören. Lumis saß draußen auf der Schaukel, die an dem Aste eines Baumes befestigt war. Er sah traurig aus und starrte in den bewölkten Himmel. Als er seinen Vater nahen sah, hörte er auf zu schaukeln und wollte schon aufstehen, aber William wies ihn mit einer Geste an, sitzen zu bleiben. „Mein Sohn, wie war der erste Schultag?“ „Gut…“ murmelte Lumis schüchtern, aber man sah ihm an, dass dem nicht so war und im Grunde gar nichts gut war. „Deine Schwester Christie erzählte mir etwas von einem Vorfall in der Schule. Sag schon, was ist passiert?“ Doch das war nicht ganz so einfach, denn da senkte Lumis den Kopf und vergoss eine kleine Träne. Normalerweise hätte William ihm gesagt, er solle nicht weinen, weil er ein Mann war, aber da er bereits von Christie gehört hatte, was passiert war, sah er darüber hinweg. „Nun komm, jetzt wein doch nicht gleich. War es denn so schlimm?“ „Sie waren alle so gemein“, sagte Lumis leise und versuchte, sich selbst zusammenzureißen. „Sally ist weinend aus dem Klassenzimmer geflüchtet, weil sie sie so geärgert haben. Die ganze Klasse war so gemein zu ihr und Miss Norris hat sie dann auch noch bestraft.“ „Wofür hat sie Sally bestraft?“ „Weil sie weggelaufen ist. Sally hat die ganze Zeit geweint und Christie wollte ihr helfen und sie trösten. Aber Miss Norris hat gesagt, dass Christie ebenfalls bestraft wird, wenn sie weiter den Unterricht stört.“ „Hat Christie den Unterricht gestört?“ „Nein, aber weil Sally sich gewehrt hat, hat sie Ärger bekommen.“ Diese Geschichte stimmte fast komplett mit der von Christie überein. William konnte es nicht fassen. Ihm wollte einfach nicht in den Kopf, warum sich eine ganze Klasse gegen ein Kind stellte, das gerade erst seinen ersten Schultag und somit nichts getan hatte. Schließlich fragte William „Sei ehrlich mein Sohn, hat Sally etwas getan, was die anderen provoziert haben könnte? Sag die Wahrheit!“ „Nein Dad. Sie hat gar nichts getan. Die anderen waren es, die haben angefangen!“ Das war alles, was er hören wollte. Er ging ins Haus und holte dort seine Jacke. Er wollte der Lehrerin einen Besuch abstatten. Miss Norris war eine Lehrerin von 30 Jahren, aschblond und sehr blass. Sie war eine äußerst strenge Person und hatte einen sehr unsympathischen Charakter. Die Kinder konnten sie nicht leiden und gaben ihr hinter ihrem Rücken böse Spitznamen. Sie trauten sich jedoch nicht, es ihr direkt zu sagen, denn sie wussten, dass Miss Norris sie sehr hart bestrafen würde. Es kam oft vor, dass in kleinen Städten wie Backwater manche Schüler bevorzugt behandelt wurden, das hatte William selbst miterlebt, aber es ging nicht an, dass die Lehrer solch massive Schikanen unterstützten. So etwas ging wirklich zu weit und William wollte, dass aus der kleinen Sally-Ann etwas Vernünftiges wurde und auch wenn sie nicht seine Tochter sondern streng genommen seine jüngste Schwägerin war, so war er als ihr Vormund und Adoptivvater für sie verantwortlich. Und für sie würde er genauso einschreiten wie für seine eigenen Kinder. Genau diese Charakterstärke zeichnete ihn aus und das war auch einer der Gründe, warum Marcus ihm seine jüngste Schwester anvertraut hatte. Nach einer halben Stunde Fußmarsch hatte William Kinsley das Haus der Lehrerin erreicht und traf sie auch an. Miss Norris, die ihr aschblondes Haar zu einem Knoten zusammengebunden hatte und ein graues Kleid mit ein paar eingestickten Blumenmustern trug, sah ihn hochnäsig an. Die Iris ihrer Augen war unnatürlich hell, sodass es den Anschein hatte, als würde sie leuchten. „Ja bitte?“ fragte sie in einem strengen und dominanten Ton, der verriet, dass diese Person keinen Spaß verstand. William nahm der Höflichkeit halber seinen Hut ab und nickte ihr zur Begrüßung zu. „Entschuldigen Sie die Störung, Miss Norris aber mein Name ist William Kinsley. Ich bin der Vormund der kleinen Sally. Sie und meine beiden Kinder gehen in Ihre Klasse. Es ist so, dass mir einiges zugetragen wurde, was den heutigen Schultag betrifft und deshalb wollte ich Sie noch mal sprechen.“ „Das trifft sich gut“, sagte die Lehrerin mit einer hochnäsigen und leicht herablassenden Stimme, die den Farmer immer unangenehmer wurde. „Wo sie schon mal hier sind, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich mich weigere, dieses Kind noch einen Tag länger zu unterrichten.“ „Und weshalb?“ „Sie sorgt durch ihre bloße Anwesenheit für große Unruhen in der Klasse, sie streitet und prügelt sich mit ihren Mitschülern, sie verlässt ohne Erlaubnis das Klassenzimmer und sie weint so laut, dass sie den ganzen Unterricht stört. Sie hindert die anderen Kindern am Lernen und deshalb kann und will ich dieses Balg nicht länger unterrichten.“ Genau die gleiche Situation wie in der Sonntagsschule, dachte William und ballte die Hände zu Fäusten. „Das ist mitnichten kein Grund, das Mädchen vom Unterricht auszuschließen. Sally-Ann will ja lernen und es ist bei Gott Ihre Pflicht, den Kindern was Anständiges beizubringen und sie nicht dazu ermuntern, gemeinsam auf ein wehrloses 6-jähriges Mädchen loszugehen.“ Nun hatte William endgültig die Contenance verloren und wurde nun so richtig wütend. Die Hochnäsigkeit dieser Person war einfach unfassbar und dass sie sich auch noch Sally dafür bestrafte, dass sie zur Zielscheibe des Hasses wurde, war für ihn zu viel. Miss Norris’ Miene verfinsterte sich. „Was erlauben Sie sich, in solch einen Ton mit mir zu reden und solch haltlose Anschuldigungen laut werden zu lassen?“ „Weil ich diese Unverschämtheit so nicht hinnehmen werde. Sie haben nicht die Befugnis, das Mädchen ohne triftige Gründe vom Unterricht ausschließen zu lassen. Wollen Sie etwa, dass das Kind dumm bleibt für seinen Lebtag? Wollen Sie etwa Ihre Schützlinge dahin erziehen, dass es richtig ist, gegen Schwache und Unschuldige Gewalt anzuwenden? Wenn das Ihre Methode ist, die Kinder zu unterrichten, werde ich mich beschweren!“ Der Streit ging noch einige Zeit weiter und tatsächlich reichte William Beschwerde ein. Daraufhin durfte Sally wieder zur Schule, doch sie ging mit großen Magenschmerzen dorthin und hatte furchtbare Angst davor, wieder so einen Alptraum zu durchleben. Leider sollten sich ihre Befürchtungen bewahrheiten, denn obwohl Miss Norris den Schülern einschärfte, diese Schikanen zu unterlassen, so nutzten sie die Momente, wo die Lehrerin ganz offensichtlich abgelenkt war. Sie schubsten Sally herum, stellten ihr ein Bein oder schütteten einen Behälter mit Insekten über ihren Kopf aus. Und als sie zu schreien anfing, da sie große Angst hatte, ließ Miss Norris ihr einen Verweis zuteil werden und Sally musste den Nachmittag nachsitzen. Als dann Miss Norris während der Pause den Raum verließ, hielten zwei Jungen Sally-Ann fest, während Ronald, ein rothaariger Junge von 10 Jahren, ein Messer hervorholte, welches er zum Schnitzen benutzte. In dem Augenblick regte sich in der kühlen und beherrschten Christie etwas. Sie stand auf, mit der Bibel in der rechten Hand und ging direkt auf Ronald zu. Zuerst gab sie ihm eine Ohrfeige und als er dann sie mit dem Messer angreifen wollte, erhob sie das Buch und schlug es ihm direkt ins Gesicht. Seine Nase begann daraufhin zu bluten und bevor er sich versah, hatte Christie ihm das Messer abgenommen und es aus dem Fenster geworfen. Das war der Moment, in dem die letzte Hemmung fiel. Es kam zu einer fürchterlichen Auseinandersetzung, in der sowohl Sally, als auch Christie und Lumis in die Mangel genommen wurden und schließlich, als Miss Norris zurückkehrte, wurde dem Ganzen ein Ende gemacht. Sally-Ann, Lumis, Christie und Ronald mussten nachsitzen und bekamen noch eine Strafarbeit. Und es sollte noch nicht alles sein. Als nämlich Sally eines Tages allein von der Schule nach Hause ging, lauerten ihr einige ältere Mitschüler auf und warfen sie in den Brunnen. Zwei Stunden lang schrie sie um Hilfe, während sie versuchte, den Kopf an der Oberfläche zu halten. Die Menschen, die den Brunnen passierten, überhörten die Hilfeschreie des kleinen Mädchens. Es war schließlich dem Knecht Ulysses Jack, der auf der Farm der Kinsleys arbeitete, zu verdanken, dass Sally vor dem sicheren Tode gerettet wurde. Zusammen mit der Magd Irma holte er das völlig erschöpfte Kind aus dem Brunnen und brachte sie zum Doktor. Von da an wurde Sally zu ihrem eigenen Schutz zuhause von Teresa unterrichtet und durfte das Farmgelände ohne Begleitung nicht mehr verlassen. Sally-Ann lag eine Woche lang schwer krank im Bett und die meiste Zeit saß Christie an ihrem Bett und las ihr etwas vor, während Lumis ihre Hand hielt und sie liebevoll tröstete. „Wenn du wieder gesund bist, gehen wir wieder zusammen spielen.“ Doch Sally weinte nur und sagte „Nein.“ Nun unterbrach Christie ihre Geschichte und sah die Kranke mit ihrem ernsten und kühlen Gesicht an. „Ihr solltet euch nicht mit mir in der Stadt blicken lassen. Ich will nicht, dass sie euch genauso behandeln wie mich.“ „Das ist mir aber egal“, rief Lumis und hielt die Hand seiner Adoptivschwester noch fester. „Ich werde nicht zulassen, dass sie dir noch mal so etwas antun! Ich werde dich beschützen und auf dich aufpassen.“ Christie ihrerseits sagte nichts und es war auch unmöglich, genau zu erkennen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Auf dem ersten Augenblick sah es aus, als würden sie die Erlebnisse ihrer Adoptivschwester völlig kalt lassen, aber das täuschte. In Wahrheit war sie verzweifelt und wünschte sich nichts Sehnlicheres, als ihrer Schwester helfen zu können. Christie wusste von dem Geheimnis ihrer Eltern, nämlich dass Sally nicht ihre Schwester, sondern ihre Tante war. Sie hatte zufällig mitgehört, wie Teresa mit Marcus darüber gesprochen hatte, dass Sallys leiblicher Vater sie töten wollte. Aber sie hatte dieses Geheimnis nicht ausgeplaudert. Sally hatte genug Probleme und brauchte nicht auch noch zu erfahren, dass sie ihre leibliche Mutter getötet hatte und der eigene Vater sie daraufhin im betrunkenen Zustand umbringen wollte. Diese Wahrheit wollte sie mit ins Grab nehmen. Christie betrachtete Sally mit ihren matten, smaragdgrünen Augen und wandte sich dann schweigend ihrem Buch wieder zu. Sie fragte sich genauso wie ihre Eltern, warum ausgerechnet ihr das alles widerfuhr. Warum wurde ausgerechnet Sally-Ann Kinsley so grausam behandelt? Christie hatte die Leute aufmerksam beobachtet. Es waren alles hochanständige Leute, die zwar nicht die perfekten Christen, aber dennoch keine bösen Menschen waren. Ihr und Lumis begegneten sie freundlich und gutmütig, ebenso wie allen anderen Kindern. Aber kaum näherte sich Sally, da wurden sie ganz still und schienen das Weite zu suchen. Manchmal sahen sie Sally-Ann gar nicht erst und spürten trotzdem, dass sie kam. Es war so, als würde das Mädchen mit den blutroten Augen etwas ausstrahlen, das anderen Menschen Angst einjagte. So etwas gab es ja bei Tieren. Wenn sie eine Bedrohung spürten, reagierten sie aggressiv und abweisend. Angriff war dann ihre Art der Verteidigung. Irgendetwas an Sally-Ann jagte den Menschen Angst ein und offenbar waren sie sich dessen nicht einmal bewusst, denn keiner konnte sich seine Feindseligkeit gegen sie erklären. Als ob es nicht der Verstand, sondern der Instinkt wäre. Aber was an Sally machte ihnen Angst? Ihre Augen? Christie fand es schon immer merkwürdig, dass sie solch seltsame Augen hatte, denn sie hatte noch nie einen Menschen mit roten Augen gesehen. Dabei war ihre grünfarbene Iris sehr selten, denn die meisten Menschen tendierten zwischen braun, blau und grau. Es war auch kein modergrün, das mehr ins braun tendierte, sondern eine einzigartige, schön strahlende grüne Farbe wie bei einem frisch erblühten Blatt. Normalerweise gab Christie nicht viel auf ihr Aussehen. Sie interessierte sich nicht für hübsche Sonntagskleider und schöne Schuhe, ihr brünettes Haar war relativ kurz und gerade geschnitten, aber ihre grünen Augen waren definitiv das Schönste an ihr. Die Augen…. Hieß es denn nicht „Die Augen sind die Spiegel der Seele“? Was bedeuteten dann die roten Augen? Sie verrieten, dass etwas an Sally nicht normal war, dass sie anders war als die anderen. Und was noch? Normalerweise wurden rote oder gelbe Augen mit dem Teufel gleich gesetzt. Aber war Sally-Ann Kinsley wirklich eine Teufelsausgeburt oder war sie von einem Dämon besessen? Nein, völliger Unfug. Wenn sie vom Teufel besessen wäre, dann würde sie Dinge durch bloße Gedankenkraft bewegen können, in einer völlig unbekannten und nie gesprochenen Sprache sprechen und ein fauliger Gestank würde von ihr ausgehen. Nein, sie war nicht vom Teufel besessen. Es war etwas, das man nicht sehen oder verstehen konnte. Etwas, wovor die Menschen instinktiv Angst verspürten. Sally erholte sich nur sehr langsam und selbst nach ihrer Genesung war sie körperlich geschwächt. Sie bedurfte der aufopferungsvollen Pflege ihrer Adoptivmutter und jeden Tag kam Christie nach der Schule zu ihr, um ihr etwas vorzulesen, während Lumis sie tröstete. Als sie endlich kräftig genug war, um das Haus zu verlassen und in der Scheune zusammen mit Lumis zu spielen, kletterte sie auf das Scheunendach, stellte sich dorthin, wo auch der Wetterhahn aufgerichtet war und sah hinunter. Es ging ziemlich tief nach unten und den Sturz würde sie sicher nicht überleben. Wieder kam der kleinen Sally der Gedanke, freiwillig dieses Leben zu verkürzen, welches sowieso nicht viel Positives bringen würde. Sie stellte sich ganz gerade hin und sah in die Ferne, auf den Horizont und in den Himmel. Und in diesem Moment wichen die Gedanken an Selbstmord. Stattdessen machte sich ein neuer Gedanke in ihrem Köpfchen breit und erfüllte sie nach Wochen und Monaten des Kummers mit Hoffnung. „Wenn ich mich in einen Vogel verwandeln könnte, dann würde ich weit weg fliegen. Und dann würde ich vielleicht einen Ort finden, an dem ich glücklich mit anderen zusammenleben kann.“ Von da an stieg Sally oft aufs Scheunendach, um sich der Fantasie hinzugeben, ihr würden Flügel wachsen und sie könnte Backwater hinter sich lassen. Zwei Jahre zogen ins Land und Sally, die zuhause unterrichtet wurde, verließ nur selten die Farm, aus Angst, wieder Zielscheibe des Hasses zu werden. Meistens spielte sie mit Lumis am Fluss oder im Wald, baute mit ihm zusammen einen kleinen Verschlag und lebte sehr glücklich in dieser Zeit. Da ihre Familie sie nicht fürchtete oder hasste, sondern sie so liebte, wie sie war, klammerte Sally sich immer mehr an sie. Schließlich kümmerte sie sich gar nicht mehr darum, Freunde zu finden. Für sie reichte ihre Familie vollkommen aus und so wurde die Farm ihre eigene, heile kleine Welt, in der ihr nichts Negatives widerfuhr. Eines Tages, es geschah an einem kalten Herbsttag, da ging sie mit Christie und Lumis in den Wald, um dort Pilze und Nüsse zu sammeln. Christie hatte ein Buch dabei, in dem genau niedergeschrieben und aufgezeichnet war, welche Pilze essbar oder giftig waren. Was Sally aber außer Pilzen noch fand, war ein junger Greifvogel, ein junger Weißkopfadler. Er hatte offenbar einen Sturzflug erlitten und sich dabei einen Flügel gebrochen. Sally brachte ihn schließlich nach Hause und umsorgte ihn liebevoll. Schon immer konnte Sally gut mit Tieren umgehen, diese reagierten nicht so feindselig wie ihre Mitmenschen. Den ganzen Winter über pflegte Sally den Adler, der schließlich sogar zahm wurde und ihr ab und zu eine tote Maus brachte. Sie nannte ihn „Angus“ und obwohl er gesund war und eigentlich in die Freiheit entlassen wurde, blieb er bei ihr und wurde zu ihrem persönlichen Beschützer. Wenn Sally sich mal alleine in den Wald begab oder zusammen mit Lumis in die Stadt ging, um dort etwas abzugeben oder zu holen, kreiste Angus am Himmel und griff jeden an, der es wagte, seine Retterin anzugreifen. Fast drei Jahre waren Angus und Sally unzertrennlich. Dies änderte sich jedoch, als einer der Bewohner bei Sallys Erscheinen sein Gewehr nahm und in den Himmel schoss. Kaum war der Schuss verhallt, segelte Angus hinunter und schlug auf dem Boden auf. Der Schuss hatte ihn tödlich getroffen. Dies war der bislang schlimmste Moment in Sallys jungem Leben. Kapitel 7: Der Alptraum von Shallow Graves ------------------------------------------ Mit dem Tod ihres geliebten Angus entwickelte Sally eine ungesunde Apathie und Teilnahmslosigkeit. Sie lachte nicht mehr, sie magerte ab und wurde blass. Weder Lumis noch ihre Familie konnte sie aufmuntern und die Lage entwickelte sich leider nicht zum Besseren. Inzwischen war nicht nur Sally Opfer der Schikanen, sondern auch ihre Familie wurde allmählich zur Zielscheibe. Lumis wurde herumgeschubst und gehänselt, weil er eine Hexe als Schwester habe, Christies Bücher wurden zerrissen und man schubste sie in eine Dreckpfütze. Selbst William, Marcus und Teresa bekamen den Unmut der Bewohner von Backwater zu spüren, der sich mit den Jahren immer nur verschlimmerte, je älter Sally wurde. Händler verweigerten ihnen den Kauf von Saatgut und anderen Waren, keiner wollte ihr Gemüse, die Eier und die Milch kaufen. Die Farm verbuchte immer mehr Verluste und man begann schon, die hart verdienten Ersparnisse zu verzehren. Man versuchte, vor den Kindern diese Tatsache geheim zu halten, aber Christie und Sally-Ann merkten schnell, was eigentlich geschah. Christie beschloss ihrerseits, sich einen Job zu suchen, um so ihre Familie zu unterstützen. Lumis seinerseits verbrachte seine Freizeit damit, auf der Farm auszuhelfen und was war mit Sally? Als sie hörte, dass ihretwegen die Farm bald vor dem Ruin stand, drohte ihre heile Welt zusammenzustürzen wie ein Kartenhaus. Ihr wurde klar, dass sie, solange sie noch da war, ihre Familie ebenfalls leiden musste, nur weil sie auf der Welt war. Vielleicht war es besser, dass sie nicht mehr da war. Dann würde sie niemandem mehr Probleme machen. Außer ihrer Familie gab es doch sowieso niemanden, der sie haben wollte. Alle wollten doch, dass sie verschwand. Todunglücklich und von Schuldgefühlen zerfressen, vertraute sie sich ihrer inzwischen 13-jährigen „Schwester“ Christie an, die genauso wie vor drei Jahren still, ernst und kühl war und deren Augen immer noch im schönsten Grün leuchteten. „Vielleicht wäre es für alle besser, ich wäre tot…“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, gab Christie ihr eine Ohrfeige und sagte „An so etwas darfst du niemals denken, hörst du?“ Und dann, als Sally wieder zu weinen begann, umarmte Christie sie und streichelte ihr sanft den Kopf. „Du hast doch uns, Schwesterchen. Und solange hast du auch einen Grund zum Leben. Komm, jetzt sei nicht mehr so traurig. Versuch zur Abwechslung mal zu lachen, lach einfach deine Sorgen weg, dann geht es dir besser. Wenn du das Gefühl hast, dass du ganz alleine bist, denk immer daran, dass der Herr dich immer lieben wird.“ Doch Sally war weiterhin sehr unglücklich und wusste nicht, was sie tun sollte. „Wenn ich nicht hier wäre, dann hätten Mum und Dad und Onkel Marcus diese ganzen Sorgen nicht. Was soll ich denn machen, Schwesterherz?“ „Mach dir mal keine Gedanken, wir schaffen das schon gemeinsam. Onkel Marcus hat schon in Erwägung gezogen, die Ernte an Nachbarstädte zu verkaufen. Du bleibst bei uns auf der Farm, Lumis wird eines Tages die Farmleitung übernehmen und ich werde Lehrerin.“ Und zum ersten Mal sah Sally Christie lächeln. Sanft streichelte sie ihr die Wange und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich wünsche mir für dich, dass du eines Tages wieder lachen kannst.“ Und das hatte sie so rührend gesagt, dass Sally lächeln musste. „Danke Christie, vielen Dank.“ Schließlich nahte der Herbst und das war die Zeit, um die Ernte einzubringen. Christie, die sich auf ihre Bücher konzentrieren musste und viel zu lernen hatte, fiel aus und so nutzte Sally die Gelegenheit, um sich nützlich zu machen. Und sie ging mit solch einem Eifer zur Arbeit, dass sie endlich wieder strahlte. Früh morgens half sie der Magd, die Kühe zu melken, sie sammelte die Eier ein und kümmerte sich um die Verpflegung der Knechte, die auf dem Feld arbeiteten und das Korn ernteten. Diese Arbeit war zu anstrengend für ein kleines Mädchen, deshalb schickte man sie zu den Gemüsefeldern, wo Kohl, Rüben und noch mehr angebaut wurde. Auch wenn die Farm sehr groß war, bewältigten die sechs Knechte, vier Mägde und die Familie Kinsley ganz allein die Ernte. Es kostete viel, Saisonarbeiter einzustellen und das Geld brauchten sie, um durch den harten Winter zu kommen. Zur Erntezeit kamen auch die anderen Verwandten aus den umliegenden Städten, um zu helfen. Es gab ja auch viel zu tun. Das Korn musste gemahlen werden, man musste sicher gehen, dass alles trocken gelagert war, damit nichts verdarb und alles musste genau notiert werden. Als Christie ihren freien Tag hatte, schrieb sie auf, wie viele Säcke Korn eingelagert waren, wie viel Gemüse die Ernte einbrachte und rechnete zusammen mit ihrer Mutter aus, was sie selbst für den Rest des Jahres benötigen würden und wie viel verkauft werden sollte. Sally genoss die Zeit und erlebte seit langem endlich eine unbeschwerte und glückliche Zeit. Die schönste Zeit war immer noch die Ernte. Niemand beleidigte oder schlug sie, keiner jagte sie fort und hasste sie. Nichts vermochte Sallys heitere Stimmung zu trüben. Zumindest, bis zu jenem Abend in der Stube, als Teresas Tante mit ihr zusammen die Wolle spann und dabei zufällig auf Sallys leibliche Eltern zu sprechen kam. Beide wussten nicht, dass Sally sich in der Nähe der Tür auf dem Flur aufhielt und dort mit ihrer Puppe spielte. „Ich hab gehört, was mit deinem Vater passiert ist“, sagte Tante Audrey in ihrem typischen Ton, wenn sie mal wieder tratschte. „Er soll angeblich versucht haben, deine kleine Schwester Sally zu erwürgen. Weiß das Kind eigentlich davon?“ „Schweig still Tante und sprich nicht davon“, mahnte Teresa mit leiser Stimme. „Wir haben beschlossen, darüber zu schweigen. Das Kind hat genug in den letzten Jahren durchmachen müssen, wir sind für sie ihre Eltern und so soll es bleiben.“ „Aber die Leute… was sagen die Leute?“ „Das kümmert mich nicht im Geringsten. Wichtig ist, dass Sally-Ann sowohl Vater als auch Mutter hat.“ „Das ist ja schon ganz vernünftig, aber mir scheint, als stimme etwas mit dem Kind nicht. Ich meine, diese roten Augen sind doch mehr als seltsam. Mir läuft jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich die Kleine sehe… sie ist irgendwie unheimlich.“ In diesem Moment, als Tante Audrey dies sagte, ließ Sally die Puppe fallen und die Tränen kamen in Sturzbächen. Tante Audrey hatte auch Angst vor ihr und Teresa, die sie all die Jahre für ihre Mutter gehalten hatte, war gar nicht ihre Mutter, sondern ihre Schwester? All die Jahre wurde sie belogen? Ihr eigener Vater hatte sie umzubringen versucht und das hatten Teresa und William ihr einfach verschwiegen? Sally hielt es nicht mehr aus. Sie lief weinend davon und verließ die Farm in Richtung Wald. Sie rannte einfach drauf los und selbst, als sie tief im Wald war, blieb sie nicht stehen. Kopflos lief sie einfach weiter, bis ihre Kräfte es nicht weiter zuließen und sie erschöpft auf die Knie fiel. Ihre Lungen schmerzten, ihr war schwindelig und sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Inzwischen hatte sie aufgehört zu weinen, doch besser ging es ihr nicht. Um sie herum war nichts weiter als Feld. Riesige Weizenfelder erstreckten sich vor ihr und ein eisiger Wind wehte. Sally, die stundenlang gelaufen und deshalb völlig verschwitzt war, fror nun am ganzen Körper. Sie war völlig ausgekühlt und es wurde langsam dunkel. Für die Nacht würde sie eine Unterkunft brauchen, nachts konnte sie unmöglich wieder nach Hause. Sie wusste ja nicht, wo sie war und in der Dunkelheit würde sie auch nicht zurückfinden. Vielleicht hatte sie ja Glück und sie konnte irgendwo in einer Scheune übernachten. Ihre Füße schmerzten und jeder weitere Gang bereitete ihr Schmerzen. Doch sie spürte sie nicht, denn der Schmerz in ihrem Herzen war größer. Ihre kleine, heile Welt war zerbrochen und jetzt war nur noch ein großer Scherbenhaufen übrig geblieben. Der Gedanke daran, dass ihre Eltern sie liebten, hatte ihr stets Halt und Hoffnung gegeben, aber nun hatte sie erfahren, dass ihr eigener Vater sie umbringen wollte und Teresa und Marcus in Wahrheit ihre Geschwister waren. Als Sally-Ann sich wieder dieser Tatsache bewusst wurde, begann sie wieder zu weinen. Ziellos irrte sie umher, bis sie eine Stunde später die ersten Häuser einer Stadt sah. Der Name des Ortes lautete Shallow Graves und er sah ziemlich heruntergekommen und ärmlich aus. Die Straßen waren schmutzig, die Leute ebenso und über der Stadt hing ein leicht fauliger Geruch. Die Menschen machten einen zwielichtigen Eindruck, beäugten einander argwöhnisch und Sally verspürte Angst vor dieser Stadt. Die finsteren Straßen, die zwielichtigen Gestalten in den Gassen machten ihr Angst und sie traute sich nicht, nach einer Unterkunft zu fragen. Schließlich aber traf sie einen Landstreicher mit einer Gitarre, dem ein Bein und ein paar Zähne fehlten. Die restlichen waren krumm und schief gewachsen und von einem ungesunden gelb überzogen. Er sah auch nicht gerade vertrauenswürdig aus, aber er bot ihr seine Hilfe an. „De Straß runter stehn n paar olle Hüdden, de is des Aamenhus. Ick tu dort au wohn!“ Das Armenhaus, von dem der Landstreicher erzählte, war eine heruntergekommene Bruchbude, in der es fürchterlich stank und wo die Menschen hausten wie die Ratten. Sally durfte dort Unterkunft beziehen, wurde aber sehr feindselig und abweisend behandelt, aber das kümmerte sie inzwischen auch nicht mehr so wirklich. Sie war es inzwischen schon so gewohnt, dass es sie nicht mehr so verletzte. Mit leerem Magen wickelte sie sich in eine dreckige, stinkende, löchrige Decke und schlief auf dem harten, kalten Boden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt wie jetzt. Am nächsten Tag musste Sally sich dringend etwas Essbares suchen. Da sie kein Geld hatte und es im Armenhaus außer Schnaps nichts gab, ging sie in der Stadt betteln. Leider hatte sie keinen großen Erfolg, denn wie auch schon in Backwater hatten die Menschen Angst vor ihr. Lediglich der einbeinige Landstreicher, der sich ihr als Fergus vorstellte, nahm sich der kleinen Ausreißerin an und teilte sein Brot mit ihr. Er erzählte ihr, dass er von Europa in einem Schiff hergekommen sei, in der Hoffnung, hier ein besseres Leben zu finden. Und was war dann passiert? Das Schiff geriet in Seenot, wurde manövrierunfähig und auf der Irrfahrt starb fast die Hälfte der Passagiere. Und die Überlebenden waren gezwungen gewesen, ein absolutes Tabu zu brechen und Kannibalismus zu begehen, um unterwegs nicht zu verhungern. Als selbst auch die letzte Nahrungsquelle aufgebraucht war, wurde diese Höllenfahrt zum Alptraum. Er war der einzige Überlebende und hatte weder Geld noch Arbeit. „Hätt ick dat frühä wusst, ick wär liebä zuhus jebliebn. Und jetz mött ick gern wissen: Wat tut so ein klen Mädel denn hier?“ „Meine Familie hat mich jahrelang belogen. In Wahrheit sind meine Mum und mein Dad gar nicht meine Eltern, sondern meine Schwester und mein Schwager und meine angeblichen Geschwister Nichte und Neffe.“ „Und warum hams dir belogen?“ „Meine Mutter starb bei meiner Geburt und deshalb wollte mein Vater mich umbringen.“ „Dann versteh ick net, warum du abgehun bis. Ganz offensichlick hams jelogen, um dir zu beschüddsen.“ „Meinen Sie wirklich, Mr. Fergus?“ „Vetru mir. Ick hab genug Erfahrung.“ Damit nahm der Landstreicher einen kräftigen Zug aus einer Schnapsflasche. Danach begann er ein Lied auf seiner Gitarre zu spielen und sang Lieder aus seiner Heimat. „Wenn ick net schon so alt und n Krübbel wär, dann wär ick schon längst uffm Schiff nach Hus.“ Sally hielt sich die ganze Zeit an Fergus, dem sie als Einzigen in der Stadt vertraute. Die Stadt Shallow Graves war ganz anders als Backwater. Sie war arm, sehr arm sogar und die Leute verhielten sich seltsam. Sally beschlich das Gefühl, dass ihr Eintreffen irgendetwas in Bewegung gesetzt hatte, aber sie wusste nicht was. Zumindest noch nicht. Der Landstreicher Fergus erzählte ihr in seinem sehr schwer zu verstehenden Akzent, dass Shallow Graves unter der Fuchtel eines ziemlich finsteren Pfarrers sei, der zum größten Teil sehr seltsame Predigten hielt. Fergus hatte schon so seine Ahnung, dass diese Kirche nicht zu den üblichen protestantischen oder katholischen gehörte, sondern in Richtung Sekte ging. „Aarm Leut globen an olles. Für Geld würden’s sogar die Hexenjach wieda einführn. Pass bloß uff Klene, de Pfaff is kein guter Kerl. Den soll de Deifel hol’n.“ Der Pfarrer von Shallow Graves, den Fergus mit Verachtung den „Geierpfaffen“ nannte, sah tatsächlich wie ein Geier aus, was aber hauptsächlich an der langen Hakennase lag. Der Hals war ungewöhnlich lang und dünn, er lief meist gebückt, was ihm etwas Linkisches verlieh. Sally hatte Angst vor ihm und auch Fergus ließ kein gutes Haar an ihm. Er schwöre bei seinem verbliebenen Bein, dass Pater Matthew nichts Gutes im Schilde führte und die missliche Lage der Bewohner zu seinem Vorteil ausnutzte. „De Pfaffen sind allsamt ein verruchtes G’sindel.“ Als der Tag sich dem Ende zuneigte, kehrten Sally und Fergus wieder ins Armenhaus zurück. Ihre Füße taten vom Vortag noch weh und sie hatte Blasen an den Fußsohlen, weshalb sie nicht direkt nach Hause zurückkehren konnte. Wohl oder übel musste sie warten, bis sie wieder vernünftig laufen konnte. Und solange würde sie bei Fergus bleiben. Auch wenn der alte Europäer ziemlich verwahrlost und nicht sehr vertrauenswürdig aussah, so war er der Einzige in Shallow Graves, der ihr helfen wollte. Trotzdem wollte sie nicht länger als nötig in dieser Stadt bleiben, dazu riet ihr auch Fergus. „Seit de hier bis, is inner Stadt ne janz selsame Luft. De Leude ham net Jutes vor! Pass bloß uff klene Sal.“ Um zu zeigen, wie es mit dem Pfarrer bestellt war, schlichen sich Sally und Fergus zur Kapelle, die auf einem kleinen Hügel stand. Sie war genauso heruntergekommen wie die ganze Stadt und da die Wände teilweise löchrig waren, konnte man prima hindurchsehen. Fergus setzte sich auf ein altes Fass, da er mit seinen Krücken nicht lange stehen konnte. Sally stellte sich auf ein anderes Fass und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch das Fenster zu sehen. Sie sah den Pfarrer mit der langen Geiernase auf der Kanzel und welcher zu der versammelten Gemeinde sprach. Ganz Shallow Graves war anwesend und alle lauschten andächtig der Predigt. Der Pfarrer begann mit donnernder Stimme vom bevorstehenden Ende und vom jüngsten Gericht zu sprechen. „Der Grund für unsere Armut ist das lasterhafte Leben in Shallow Graves. Gottes Zorn ist über uns gekommen und wenn wir die Sünde nicht bekämpfen, so werden wir alle ins Fegefeuer geschleudert! Wir sind verdammt, liebe Gemeinde. Und der Teufel ist direkt unter uns. Er hat den Schatten des Todes in unsere Stadt gebracht und wenn wir den Teufel nicht aus unserer Stadt vertreiben, dann, meine Kinder, wird dies unser aller Ende sein!“ Sally lief ein Schauer über den Rücken und sie bekam Angst. Warum sprach der Pfarrer solch schreckliche Dinge? Auch Fergus sah besorgt aus. „Mir hams dir g’sagt. De Pfaff is verrückt! Predischt die janze Zeit vom Deifel. Scheint so, als würd er dick für’n Deifel halt’n. Du sollst besser geh’n klene Sal. Hier isses net sicha.“ Sally sah Fergus erschrocken an, als sie hörte, dass die Bewohner in Shallow Graves sie für den Teufel hielten. So etwas war ihr noch nie passiert und sie konnte nicht glauben, dass es inzwischen so schlimm geworden war, dass man sie für den Leibhaftigen hielt. „Aber ich weiß doch nicht, wo ich hin soll.“ „Da kann ick dir au net helf’n. Aba wenn de net gehst, wird’s noch brenzleck.“ Vorsichtig stieg Sally vom Fass runter, dieses begann jedoch zu wackeln und sie fiel herunter. Das Fass rollte den Abhang hinunter und prallte schließlich gegen den Brunnen, wo es laut zerschellte. Durch den Lärm aufgeschreckt kamen einige Leute aus der Kapelle heraus und Fergus wies Sally an, sich sofort zu verstecken. Schnell kletterte sie in das Fass, wo Fergus drauf gesessen hatte er und schloss es. Dann setzte er sich drauf und begann auf seiner Gitarre zu spielen und zu singen. „Was soll der Lärm Fergus? Und warum bist du nicht in der Kirche?“ „Det Fass heb ick us Verseh'n umstoßen und uff mener G’tarr zu spiel’n is mene Art, den Herrn zu lobn.“ Mit misstrauischen Blicken beäugten die Bauern Fergus, der unbeirrt weiterspielte. Schließlich gingen sie wieder hinein, um weiter der Predigt zu lauschen. Fergus stieg vom Fass runter und öffnete es, damit Sally wieder heraus konnte. „Des war mehr als knopp. Ich schlach vor, wir versteggen uns und waaten bis zur Nacht. Denn könn wa fliehn.“ „Aber… Mr. Fergus…“ „Ick lass dir net allene geh’n. Du bis noch zu kleen.“ Sally war erleichtert, dass Fergus sie auf ihrem Weg begleiten wollte und umarmte ihn. Dabei störte sie gar nicht, dass er schmutzig war und stank. Schließlich gingen sie zum Armenhaus zurück, wo sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammensuchten. Bis zur Dämmerung bettelte Fergus für Nahrung und konnte schließlich etwas Brot als Proviant erbeuten. Währenddessen ahnten sie gar nicht, dass die Bewohner von Shallow Graves am Nachmittag eine zweite Versammlung abhielten und einen schrecklichen Entschluss fassten. Als die Dunkelheit anbrach, hatte Sally eine Fackel gebastelt, in dem sie Stofffetzen um einen dicken Ast wickelte und die Spitze mit etwas Schnaps tränkte. Dann zündete sie das an und schon hatte sie Licht. Fergus war begeistert. „Du bis ziemleck jut, klene Sal.“ „Auf unserer Farm haben wir so etwas mal gemacht, wenn wir keine vernünftige Fackel mehr hatten.“ Sie schlichen durch die Gassen und machten sich auf den Weg zum Ende der Stadt, allerdings kamen sie wegen Fergus nicht sehr schnell voran. Dieser war nicht mehr der Jüngste und es kostete ihn einige Kraft, mit den Krücken zu laufen. In der Stadt war es mit einem Male plötzlich still geworden und die Luft schien wie elektrisiert zu sein. Manchmal bedeutete dies, dass ein Sturm oder ein Gewitter kam. Ja, es war so, als ob ein Sturm über Shallow Graves hereinbrechen würde. Sally sah auf ihre Arme und stellte fest, dass sie eine Gänsehaut hatte. Irgendwie schien sie zu spüren, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. „Mr. Fergus, wir sollten uns besser beeilen.“ „Det gloob ick uch“, pflichtete er bei und versuchte schneller vorwärts zu kommen. Aber dann sahen sie eine Gruppe Leute auf sich zukommen, die den Weg versperrten. Sie sahen sich um und beschlossen, schnell durch die Seitengasse zu gehen, um so den Leuten auszuweichen. Aber auch von dort kamen Bewohner von Shallow Graves. Sie kamen von allen Seiten und begannen langsam, die beiden einzukreisen. Manche von ihnen hatten Fackeln dabei, andere wiederum hatten sich mit Steinen, Heugabeln und anderen Geräten bewaffnet und in ihren Augen war ein mörderisches Funkeln zu sehen. Sally hielt die Fackel fest wie eine Waffe und zitterte vor Angst. Warum kreisten die Leute sie ein? Was wollten sie von ihr? Schließlich öffnete sich in der Menschenmenge ein kleiner Durchgang und der Pfarrer mit der Geiernase kam mit langsamen und würdevollen Schritt näher, als würde er die letzte Predigt für zwei Sträflinge am Galgen halten. Seine Augen sahen Sally mit Hass und Verachtung an und dann erhob er seine Stimme und rief zur Gemeinde „Wir müssen die Sünde aus der Stadt vertreiben. Und um das Unheil abzuwenden, müssen wir zuallererst den Teufel vertreiben!“ Ein lautes Geschrei erhob sich und die Leute erhoben ihre Waffen. Sally ahnte Schlimmes und hielt die Fackel zur Verteidigung von sich. „Vertilgt die Saat des Teufels von der Erde!“ rief der Pfarrer und zeigte mit seinem knochigen Finger auf Sally und Fergus. In dem Moment stürzte sich die ganze Stadt auf die beiden. Sally schlug verzweifelt mit ihrer Fackel um sich und versuchte den Schlägen und Hieben auszuweichen. Sie schrie verzweifelt um Hilfe, aber niemand würde kommen, um ihr zu helfen. Schließlich sah sie für einen Moment etwas im Schein der Fackeln aufblitzen und etwas sauste auf Fergus herab. Sally drehte sich um, um ihn zu warnen, doch es war zu spät. Eine Blutfontäne schoss aus dem Kopf und der Stirn, als die scharfe Klinge der Axt sich durch seinen Schädel bahnte und das Blut Sally ins Gesicht spritzte. Sie erstarrte augenblicklich, sah mit Entsetzen den grausigen Anblick von Fergus dem Landstreicher und wie seine toten Augen vor Entsetzen geweitet waren. Laut schrie sie auf, als sie das viele Blut sein Gesicht hinunterfließen sah, wie es sich auf dem Boden zu einer Pfütze sammelte und langsam versickerte. Alles in ihrem Kopf schaltete sich aus. Sie spürte die Schläge nicht mehr, die auf sie niederprasselten, sie hörte auch nicht mehr das Geschrei der Leute und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Tränen rannen ihre Wangen hinunter und vermischten sich mit Blut. Ihre Augen sahen nichts mehr, nur noch den entsetzlich zugerichteten Leichnam des Mannes, der ihr helfen wollte und dafür sterben musste. Sally schrie und sah in die Gesichter der Leute, die wie von Wahnsinn befallen mit Genuss und Freude auf sie und den toten Fergus eindroschen. Und im letzten Moment, bevor ein schwerer Stein sie tödlich am Kopf traf, ging ihr ein Gedanke durch den Kopf, der alles für immer verändern sollte: „Wenn ich schon nicht glücklich sein darf, dann auch kein anderer von euch!“ Um Sally herum war es schwarz und vollkommen finster. Sie hörte, sah und spürte auch nichts. Ihre Sinne waren tot, sie konnte nicht einmal sagen, ob sie gerade in die Tiefe fiel oder nicht. Es war kalt und dunkel und Verzweiflung überkam sie. Tief in ihrem Inneren spürte sie, wie das Leben aus ihr wich und sie langsam auf die andere, ihr völlig unbekannte Seite gezogen wurde. Aber sie wollte noch nicht gehen. So wollte sie es nicht enden lassen. Nicht so! Sollte sie einen völlig ungerechten Tod sterben, während all die Menschen, die sie so schrecklich behandelt haben, ein glückliches Leben führen durften? Nein, das war nicht gerecht. Wenn es einen Gott gab, dann würde dieser es nicht zulassen, dass sie so aus dem Leben schied. War dies wirklich das Ende? Sollte ihr Leben mit gerade mal 11 Jahren so enden, nach all dem, was sie still schweigend ertragen hatte? War ihr kein anderes Schicksal vergönnt, wo sie doch nie etwas Schlechtes getan hatte? „Nein“, rief sie und obwohl ihre Sinne völlig tot waren, so hörte sie ihre eigene Stimme laut und deutlich. „Ich will nicht, dass es so endet. Nicht jetzt!“ Plötzlich, wie eine geisterhafte Erscheinung, tauchte direkt vor ihr etwas auf… sie selbst. Ihr eigenes Spiegelbild, nur hatte dieses keine roten sondern pechschwarze Augen. „Willst du zurück?“ fragte ihr anderes Ich mit derselben Stimme, die allein in ihrem Kopf hörbar war. Sally schluchzte und nickte. „Diese Menschen haben gar kein Recht darauf, glücklich zu sein, wenn sie mich so behandeln. Ich will, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen. Egal wie… aber… das kann ich wohl nicht mehr. Jetzt, da ich tot bin.“ Ihr anderes Ich sah sie prüfend an, blieb einfach stehen und hatte etwas Seltsames an sich, das nicht von dieser Welt kam. Als wäre es nicht real. „Es gibt einen Weg“, sagte es schließlich. „Denn du hast die Kraft dazu. Was genau willst du?“ „Ich will, dass die Menschen an ihrem eigenen Wahnsinn zugrunde gehen. An demselben Wahnsinn, durch den ich sterben musste!!!“ Ein neues Gefühl machte sich in Sally breit. Etwas, das sie zuvor nicht gespürt hatte. Etwas, das ihr das Gefühl gab, da lebe irgendwas tatsächlich noch in ihr: Hass, abgrundtiefer und brennender Hass. All ihre Traurigkeit und die Verzweiflung der letzten Jahre verwandelten sich in einen mörderischen Hass, den sie auf die ganze Welt loszulassen bereit war. Sie wollte Rache nehmen an ihren Peinigern. Sie sollten alle bezahlen für das, was sie ihr und ihrer Familie angetan hatten. Und dafür würde sie alles hergeben. Ihr anderes Ich jedoch hielt sie zurück. „Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, dann gibt es kein Zurück mehr. Willst du es wirklich tun?“ „Ja. Ich will, dass sie für all das bezahlen, was sie mir und meiner Familie angetan haben. Sie sollen alle dafür büßen.“ „Dann weißt du, was du tun musst…“ „Was?“ „Du musst aufwachen…“ „Aber wie?“ „Du weißt wie. Du hast es schon gewusst, bevor du geboren wurdest… versuch dich zu erinnern…“ Langsam begann ihr anderes Ich sich aufzulösen. Es verschwand in der Dunkelheit, die Stimme entfernte sich immer weiter. Sally war wieder alleine…. Wie sollte sie zurückkehren? Woran sollte sie sich denn erinnern? „Ich will zurück“, sagte sie sich selbst und schloss die Augen. „Ich will zurück….“ Und während sie diese Worte sprach, da erwachte etwas in ihr. Irgendetwas, wovon sie bislang noch nicht gewusst hatte. Ein Gefühl, irgendein Instinkt. Ein Instinkt, der sich erst jetzt regte, da ihr Entschluss feststand, wieder zurückzukehren, egal was es auch kosten möge. Instinktiv wusste sie, wie sie zurückkehren könnte. Sie spürte es einfach. Und als sie diesem Gefühl folgte, da spürte sie, dass ihre Brust schmerzte. Aber warum schmerzte sie? Ja genau, sie atmete nicht. Sie musste atmen. Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht, sie schaffte es nicht. Aber wenn sie nicht endlich zu atmen anfing, dann würde sie wieder zurückgezerrt werden und ihre Chance verpassen. Sally nahm ihre ganze Kraft zusammen und mit all ihrer Willenskraft, zu der sie fähig war, spannte sie ihre Muskeln an und zwang sich selbst dazu, tief einzuatmen. Und als sie die erlösende Luft tief einzog, spürte sie, wie langsam das Leben in ihrem Körper zurückkehrte. Und während sie den rettenden Atemzug machte, öffnete sie die Augen. Der Schmerz in ihrem Körper kehrte zurück und was sie sah, waren die mordlüsternden Augen jener Menschen, die sie getötet hatten. Der Himmel war pechschwarz und selbst die Sterne wollten in dieser unheilvollen Nacht nicht leuchten. Und als sie in die Gesichter dieser Menschen sah, da erinnerte sie sich an ihre Gedanken, ihren Hass, den sie auf der anderen Seite verspürt hatte. Ja, sie hatte sie alle umbringen wollen. Sie, die sie und Fergus ermordet hatten. Die Menschen, die bis gerade eben noch auf sie eingeprügelt hatten, erstarrten augenblicklich vor Angst. Sie alle waren sich sicher gewesen, dass sie tot war. Ja, sie war tot gewesen! Und noch etwas versetzte sie alle in Angst und Schrecken: Eine dunkle und mörderische Aura ging von dem kleinen, blutüberströmten Mädchen aus, in dessen Augen ein infernalisches Höllenfeuer loderte. Augenblicklich kehrte Stille ein, jeder blieb in seiner Bewegung stehen und alle Augen waren auf sie gerichtet. Torkelnd kam Sally wieder auf die Beine und keuchte. Die Schmerzen in ihrem Körper waren ungeheuer und sie befürchtete, gleich wieder ohnmächtig zu werden. Besonders ihr linkes Bein schmerzte, weshalb sie zu humpeln begann. Nach Hause… sie wollte nach Hause zu ihrer Familie. Sie wollte einfach nur zu ihrer Familie zurück. Die Menschen, die einen Kreis um sie gebildet hatten, wichen ihr aus, manche begannen zu schreien und einige Kinder weinten. Sally setzte langsam ein Bein vor das andere und nach ein paar unbeholfenen Schritten gelang es ihr, wieder die volle Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen. Diese mörderische Wut in ihr war gewichen, die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit war größer und ihr war es egal, was aus diesen Menschen wurde. Wenn sie sie nur gehen ließen, dann könnte sie endlich zur Farm zurück. Dann aber traf sie ein Stein am Hinterkopf und sie stürzte nach vorne, blieb aber bei Bewusstsein. Sie wandte den Kopf nach hinten und versuchte zu erkennen, wer den Stein geworfen habe. Es war der Pfarrer. In seinen Augen war Angst, aber auch Hass und Verachtung zu sehen. Er wollte das letzte bisschen Lebenskraft aus ihr herausprügeln lassen und er würde auch nicht zögern. Wieder deutete der Geierpfarrer mit seinem knochigen Finger auf sie und rief „Tötet die Hexe!!!“ Und nachdem der Schreck gewichen war, da stimmten die Menschen in lautes Geschrei ein und jubelten. Manche riefen „Verbrennt die Hexe“, während andere „Tötet das Monster, tötet es!!!“ brüllten. Diese Menschen würden nicht eher aufhören, bis es endgültig mit ihr vorbei war. Warum nur lassen sie mich nicht einfach gehen, fragte sich Sally und ihre Finger gruben sich in den dreckigen Boden. Warum hören sie nicht endlich auf damit und lassen mich in Ruhe? Ich will doch nur nach Hause zu meiner Familie. Wieder spürte sie den Stich in der Brust und die Verzweiflung überkam sie. Tränen rannen ihre Wangen hinunter und vermischten sich mit ihrem Blut und dem von Fergus. Gibt es denn keinen Platz für mich in dieser Welt? Bin ich wirklich verdammt dazu, nirgendwo glücklich zu werden? Nein, das kann ich so nicht akzeptieren. Wenn es für mich in dieser Welt keinen Platz gibt, dann werde ich mir einen eigenen schaffen, ganz egal wen ich dafür töten muss. Und mit diesem Gedanken entflammte wieder der gleiche Wunsch, wie sie ihn ihrem anderen Ich auf der anderen Seite geäußert hatte. „Ich will, dass ihr an dem gleichen Wahnsinn sterbt, durch den ich sterben musste!“ Dieser Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest und der Zorn begann durch ihren ganzen Körper zu strömen wie Gift und brannte in ihren Adern, in ihrem Innersten. Und als er dann ihr Herz erfasst hatte, da verwandelte sich dieses blutige Gesicht in eine hasserfüllte Fratze. Und dann, als der Zorn sie zu ertränken drohte, da brach es aus ihr heraus. Sie explodierte in diesem Moment und schrie mit all ihrem Hass und Zorn heraus „Ich will, dass ihr alle verreckt!!!“ Und als dies aus ihr herausbrach, da veränderte sich etwas schlagartig in den Menschen um sie herum. Ihr Blick veränderte sich, sie erstarrten und sahen einander an. Eine Frau in der Menge begann zu schreien und ein Kind weinte. Und dann brach das Chaos aus. Die Menschen griffen wieder zu ihren Waffen und begannen, sich gegenseitig anzugreifen. Ein Mann, offensichtlich ein Schlachter, stieß sich sein eigenes Messer in den Hals, während er wie verrückt lachte. Eine Frau erschlug ihr Kind mit einem Stein und manche wurden von Raserei befallen und griffen mit Zähnen und Fingernägeln an. Überall bot sich ein grausamer Anblick der Zerstörung, überall floss Blut und die Nacht war erfüllt von Geschrei. Manche liefen schreiend davon oder kauerten weinend auf dem Boden, wurden dann von den wahnsinnig gewordenen Bewohnern brutal massakriert, einige fielen übereinander her wie Raubtiere und schrieen wie die Furien. Blut, überall war Blut und die Luft war erfüllt von Geschrei. Es war ein Anblick wie aus der Hölle. Inmitten dieser Hölle stand Sally, die auf ihre blutverschmierten Hände sah und dann den Blick auf die verrückt gewordene Menschenmasse wandern ließ. Sie brauchte eine Weile um zu begreifen, dass die Menschen genau das taten, was sie sich gewünscht hatte. Sie hatte sie dazu gebracht, an ihrem Wahnsinn zugrunde zu gehen. Sally hatte das Massaker durch bloße Willenskraft ausgelöst… und es war so einfach gewesen. Das Entsetzen in ihren Augen über den grausamen Anblick verblasste, ein Grinsen zog sich über ihr Gesicht und dann begann sie zu lachen. Sie lachte über die Erkenntnis, dass sie in der Lage war, eine ganze Stadt ins Unheil zu stürzen, wenn ihr danach war und sie lachte über die Ironie. Jahrelang hatten die Menschen sie gehasst und zu töten versucht und jetzt fielen sie übereinander her wie Geisteskranke. Ein blutverschmierter Mann, der bis vor kurzem noch einer Frau den Hals umgedreht und ihr ein Messer in die Brust gestoßen hatte, stürmte laut schreiend auf Sally zu, die ihn so bedrohlich mit ihren roten Augen ansah, dass er schrie und die Flucht ergriff. Einige Menschen, die nicht Opfer dieses Wahnsinns wurden, versuchten zu fliehen, aber Sally schnitt ihnen den Fluchtweg ab. Sie stellte sich ihnen einfach in den Weg und die Fliehenden hatten zu große Angst vor ihr, um an ihr vorbeizulaufen. Ihre Angst vor Sally wurde zu ihrem Verhängnis. Ein Mädchen, das gerade mal in Sallys Alter war, ergriff ein Messer auf dem Boden und rammte es sich immer wieder schreiend in den Kopf, ein Junge von ca. 17 Jahren schlug mit einem riesigen Hammer den Schädel eines stämmigen Mannes ein und wiederholte dies so lange, bis vom Kopf nichts mehr als eine undefinierbare Masse übrig blieb. Und dann, mit einem lauten Donnergrollen brach der Regen herein. Es goss in Strömen und binnen weniger Sekunden war Sally nass bis auf die Knochen. Sie lachte immer noch und beobachtete, wie der Regen die Straßen überschwemmte und die Stadt in ein Meer aus Blut verwandelte. Selbst die Wolken am Himmel nahmen ein tiefdunkles Rot an und die Luft war schwer vom metallischen Geruch des Blutes. Der Regen selbst dauerte nicht allzu lange an und durch die Hand irgendeines Bewohners wurden die Kapelle und die umliegenden Häuser in Brand gesetzt. Und obwohl es gerade eben noch geregnet hatte, breitete sich das Feuer rasend schnell aus. Nun war es wirklich ein Bild wie aus der Hölle. Sally sah sich dieses grausame und brutale Szenario bis zum Ende an, bis auch der letzte Bewohner von Shallow Graves tot war. Es war laut, sehr laut… und dann wurde es plötzlich still. Sally-Ann Kinsley wunderte sich, dass es plötzlich so still war und deshalb ging sie in der ganzen Stadt nachsehen. Vielleicht versteckte sich irgendjemand in einem der Häuser. Nein, Unsinn, die Häuser brannten alle lichterloh, selbst die Kapelle. Dass sie kein Geschrei mehr hörte, konnte nur bedeuten, dass es vorbei war. Sie alle waren tot. Vorsichtig stieg sie über die zum Teil brutal zugerichteten Leichen, watete durch die riesigen Blutpfützen und sah sich das Ausmaß dieses Wahnsinns an. Manche Leichen waren regelrecht in Stücke gerissen, als hätte ein wildes Tier sie zerfetzt. Viele hatten unzählige Biss-, Kratz- und Stichwunden und es gab auch ein paar Brandopfer. Schließlich fand sie die Leiche des Pfarrers. Sein Schädel war von einem großen Stein eingeschlagen worden und man hatte ihm einen provisorischen Holzspeer in die Brust gerammt. Mit ausgestreckten Armen lag er da und erinnerte ein wenig an den gekreuzigten Jesus. Spöttisch verzog sie die Miene zu einem Lächeln und trat auf die große Nase, die dem Pfarrer zu Lebzeiten etwas Geierhaftes verliehen hatte. Sally durchstreifte die ganze Stadt und überall bot sich ihr das gleiche Bild: Brennende Häuser, Straßen und Gassen voller Blut und Leichen, die zum Teil zerstückelt waren. Und als Sally-Ann dies sah, da konnte sie nicht anders und begann ein Lied zu summen, wobei sie über beide Ohren grinste. Schließlich ließ sie die brennende Stadt hinter sich, fühlte die Kälte um sie herum und merkte auch, wie erschöpft sie eigentlich war. Kapitel 8: Ein waghalsiger Plan ------------------------------- Die Nacht ging zu Ende und als die Sonne aufging, da regte sich auf der Farm „Shady Oaks“ etwas und binnen weniger Minuten geriet alles in Aufruhr. Grund dafür war eine blutüberströmte kleine Gestalt, die sich offensichtlich mit allerletzter Kraft auf das Farmgelände schleppen konnte, bevor sie einfach zusammenbrach und liegen blieb. Es war Sally, die fast drei Tage lang vermisst wurde und schwer verletzt und körperlich erschöpft wieder auftauchte. Christie und Lumis, die am frühen Morgen in den Hühnerstall gehen wollten, um die Eier zu sammeln, hatten Sally zuerst gesehen. Christie, die sonst so kühl, distanziert und beherrscht war, schrie entsetzt auf, als sie Sally in diesem Zustand sah und schickte Lumis los, um den Eltern Bescheid zu geben. Lumis rannte los und weckte die ganze Farm auf, während Christie sich neben Sally kniete und sie in ihre Schürze einwickelte. Alle Versuche, von ihr eine Reaktion zu erhalten, scheiterten. Schließlich kamen Marcus, William und Teresa herbeigeeilt, die das bewusstlose Mädchen schnell ins Haus brachten. Teresa und Christie wuschen das Blut von ihrem Körper, Marcus ging in die Stadt um den Arzt zu holen. Dieser kam auch sofort, doch kaum hatte er das Farmgelände erreicht, da bekam er es mit der Angst zu tun und lief davon. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als Sally selbst zu verarzten. Diese hatte vor allem am Hinterkopf schwere Verletzungen und es war für die Familie ein Wunder, dass sie dies überhaupt überlebt hatte. Die nächsten drei Tage wachte Sally nicht auf und während dieser ganzen Zeit wich Lumis nicht von ihrem Bett. Und die ganze Zeit hielt er ihre Hand fest. Schließlich, zum Ende des dritten Tages wachte Sally endlich auf, hatte allerdings kaum Erinnerungen an das, was geschehen war. Sie war auch noch ziemlich geschwächt und konnte sich nicht einmal aufsetzen. Als sie schließlich mit Teresa alleine war, sah sie sie traurig mit ihren rubinroten Augen an. „Es tut mir Leid, dass ich weggelaufen bin.“ „Ach mein Schatz, warum hast du das überhaupt getan? Hat dich irgendjemand schlecht behandelt? Dann hättest du doch zu uns kommen können.“ „Nein. Ich hab nur zufällig mitgehört, was Tante Audrey dir gesagt hat. Das mit meinem richtigen Dad.“ Teresa zuckte zusammen und sah Sally mit einem erschrockenen und zugleich schuldbewussten Blick an. Das war also der Grund gewesen, warum Sally Hals über Kopf weggerannt war. Sie hatte erfahren, dass ihr leiblicher Vater sie töten wollte und sie von ihren älteren Geschwistern adoptiert wurde. „Sally, wir haben dich doch nicht aus böser Absicht belogen. Wir wollten nicht, dass du das erfährst. William und ich lieben dich genauso wie Lumis und Christie und auch Marcus liebt dich. Wir sind immerhin eine Familie.“ „Können wir dann vielleicht…“ Sally traute sich nicht, den Satz zu Ende zu sprechen, sodass Teresa ihr ermunternd zunickte. Schließlich nahm Sally-Ann all ihren Mut zusammen und sagte „Können wir vielleicht das so beibehalten? Ich meine, kann ich dich immer noch Mum nennen?“ „Aber natürlich mein Schatz“, rief Teresa erleichtert und nahm Sally in den Arm. Sie war so unendlich froh, dass die Familie endlich wieder vollzählig und dass die Familienharmonie wiederhergestellt war. Liebevoll gab Teresa ihrer Adoptivtochter einen Kuss auf die Stirn und strich ihr sanft durch das Haar. „Sag schon, wer hat dir das angetan? Was ist passiert?“ „Ich weiß nicht“, murmelte Sally und wich Teresas Blick aus. „Ich kann mich nur noch erinnern, dass eine große Horde Menschen auf mich eingeprügelt hat. Und dann wurde es ganz dunkel und plötzlich war ich hier. Mehr weiß ich nicht, ehrlich.“ Es stimmte, dass Sally-Ann sich an gewisse Sachen nicht mehr erinnern konnte, so zum Beispiel an ihre Zeit auf der anderen Seite und auch an gewisse Bruchstücke während ihrer Zerstörung der Stadt. Auch konnte sie sich nicht mehr an den Weg zurück nach Hause erinnern. Sie selbst wunderte sich, dass sie es den weiten Weg zurückgeschafft hatte, ohne sich zu verlaufen, oder zusammenzubrechen. Und das, obwohl sie schwer verletzt war. Müde legte sich Sally wieder in die Kissen und schlief ein. Teresa verließ das Zimmer und ging in die Küche, wo Christie bereits der Magd half, einen Eintopf zu kochen. „Wie geht es ihr?“ fragte Christie in ihrer typischen Art, ohne die Miene zu verziehen und ohne die Stimme zu erheben. „Sie ist noch sehr geschwächt und wird die nächsten Tage im Bett liegen bleiben. Geh du nur in den Stall zu Onkel Marcus. Er soll für morgen ein Huhn schlachten.“ „Ja, Mutter!“ Christie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und eilte in Richtung Stall. Marcus war gerade dabei, dem Schmied dabei zu helfen, die Hufeisen anzubringen, da das Pferd sehr unruhig war. Es musste beruhigt werden, damit es nicht auskeilte und dem Schmied den Kopf zerschmetterte. Darum kam Christie auch vorsichtig näher, damit „Benjamin“ sich nicht erschreckte und durchdrehte. „Onkel Marcus“, sagte sie vorsichtig und klopfte dem inzwischen 28-jährigen Farmbesitzer auf die Schulter, damit dieser sie auch bemerkte. Marcus sah etwas müde aus und hatte sich seit längerem nicht mehr rasiert. „Ja was gibt es?“ „Mutter schickt mich. Sie lässt ausrichten, dass für morgen ein Huhn geschlachtet werden soll.“ „Okay, dann wird’s gemacht. Sag mal, wie geht es Sally?“ „Es geht ihr etwas besser, aber sie kann sich immer noch nicht erinnern, was geschehen ist.“ „Vielleicht ist es ja auch besser so. Manchmal vergessen wir aus gutem Grund bestimmte Dinge. Wenn ich mir so überlege, wie die Kleine ausgesehen hat, wird mir ganz anders. Ich bin zwar kein Arzt, sondern nur ein Farmer, aber diese Verletzungen waren wirklich schlimm. Ein normaler Mensch würde das nicht so einfach überleben.“ Christie zog sich schweigend zurück und dachte ernsthaft über die Worte ihres Onkels nach. Ein normaler Mensch wäre an diesen Verletzungen gestorben. Sally war kein normales Kind, das sah selbst ein Blinder und sie fragte sich, was wohl passiert war. Das viele Blut war nicht nur ihr eigenes gewesen. Es war auch fremdes Blut, dessen war sich Christie sicher. Sie war ein äußerst intelligentes Mädchen und konnte sich sogar ungefähr vorstellen, was sich zugetragen hatte: Die Leute hatten Angst vor Sally gehabt und sie daraufhin angegriffen und diese war daraufhin geflüchtet und nach Hause zurückgekehrt. Christie war während der Zeit, in der Sally wie vom Erdboden verschluckt war, nicht untätig geblieben und hatte die Familienchroniken sehr genau studiert. Und was sie dort erfahren hatte, vertraute sie ihrem Vater an. In den Chroniken stand geschrieben, dass es schon öfter Familienmitglieder gab, die genau das gleiche Schicksal durchlitten hatten wie Sally. Sie kamen mit schwarzen Haaren und roten Augen zur Welt und die Menschen hatten Angst vor ihnen. Als Christie dies ihrem Vater erzählte, schüttelte dieser nachdenklich den Kopf und fuhr sich über seinen Bart. „Wenn dieses Phänomen schon mal aufgetreten ist, fragt sich allerdings, was genau an ihnen denn so furchteinflößend war.“ Daraufhin hatte Christie die Chroniken weiterstudiert, allerdings nicht sehr viel in Erfahrung bringen können. Engere Familienangehörige verhielten sich offenbar völlig normal und nur entfernte Verwandte, die nicht der direkten Linie entstammten, betrachteten diese Rotäugigen als entartet und abnormal. Christie durchblätterte die Seiten, in denen die entarteten Familienmitglieder ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben hatten. Die meisten waren in einem sehr jungen Alter gestorben und wurden alle durch ihr Umfeld ermordet. Mehrere entartete Kinsleytöchter wurden als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, einer wurde zu Tode gesteinigt und andere wiederum erlagen den schweren Misshandlungen ihres Umfeldes. Offenbar war Sally ebenfalls eine entartete Kinsley und das bedeutete, dass man sie vor den anderen isolieren musste, um sie zu schützen. Die Tür wurde plötzlich aufgeknallt und Lumis kam fröhlich grinsend herein. In seinen Händen hielt er eine dicke Kröte, die er Christie stolz präsentierte. Diese sprang sofort von ihrem Stuhl auf, als sie das Ding sah. „Guck mal Christie, was ich gefunden habe! Das ist die fetteste Kröte, die ich je gesehen habe.“ „Das glaub ich dir sofort und jetzt schaff dieses Monster aus unserem Zimmer, oder ich rufe Vater!“ „Ja, ja! Ich lass sie ja raus.“ Und damit öffnete Lumis das Fenster und ließ die Kröte ins Freie. „Was liest du da eigentlich schon wieder?“ „Die Familienchronik. Wie es aussieht, gab es noch mehr aus unserer Familie, die genau wie Sally entartet waren und rote Augen besaßen.“ Als Lumis das hörte, da schwand sein Grinsen und neugierig setzte er sich zu seiner älteren Schwester an den Tisch. „Und was genau heißt das?“ „Sie wurden alle genau wie Sally behandelt und…“ Christie sprach den Satz nicht zu Ende, denn sie war sich nicht sicher, ob sie ihrem jüngeren Bruder wirklich von dieser Wahrheit erzählen musste. Dann aber besann sie sich und erklärte „Alle entarteten Kinsleys starben recht früh und das meist durch die Menschen, die sie gehasst haben.“ Nun wich auch das letzte bisschen gute Laune aus Lumis und erschrocken starrte er die wie immer ausdruckslose und kühle Christie an. „Dann… dann werden sie Sally umbringen?“ „Wenn sie wieder mit den Leuten aus Backwater in Kontakt kommt, vielleicht.“ „Dann müssen wir Mum und Dad davon erzählen!“ „Jetzt beruhige dich, Lumis. Noch ist Sally sicher und solange sie die Farm nicht verlässt, wird es auch so bleiben.“ Aber Lumis war nicht mehr zu halten, er rannte los und ließ sich von niemandem aufhalten. Allein der Gedanke, dass Sally etwas passieren könnte, ließ bei ihm jede Sicherung durchbrennen. Mit Christie hatte er sich ja nie so ganz gut verstanden, da er sie viel zu ruhig und distanziert fand und Christie empfand ihn als viel zu unruhig, laut und anstrengend. Sie waren wirklich verschieden wie Tag und Nacht und Sally stellte sozusagen das Glied dar, das beide Seiten miteinander verband. Lumis verbrachte viel Zeit mit Sally und liebte sie als seine Schwester über alles. Sie beide hatten ein besonders inniges Verhältnis und er wusste als Einziger auf der Farm nicht, dass Sally in Wahrheit gar nicht seine Schwester war. Lumis stürzte in die Küche, wo seine Mutter gerade mit der Magd das Essen kochte. Sein Vater saß am Tisch und las die Zeitung. „Dad“, rief Lumis und eilte auf ihn zu, da stolperte er jedoch über eine leicht hervorstehende Diele und fiel vornüber zu Boden. William sah nur kurz von seiner Zeitung auf und rief „Mein Sohn, du solltest weniger rennen und dafür umso mehr auf den Weg vor dir achten.“ Flink wie ein Äffchen kam Lumis wieder auf die Beine und klopfte sich den Staub von der Kleidung. „Dad, es ist wegen Sally.“ „Was ist mit ihr?“ „Christie hat in Erfahrung gebracht, dass sie nicht die Einzige ist und dass alle anderen Entarteten aus unserer Familie getötet worden sind.“ William legte die Zeitung beiseite und schwieg eine Weile nachdenklich. Wenn die Familienchronik dies tatsächlich besagte, so wäre es äußerst gefährlich für Sally, wenn sie die Farm verlassen würde. Also war von Seiten der beiden Familienoberhäupter beschlossen worden, dass Sally ab sofort die Farm nicht mehr verlassen dürfe und man sie zu ihrem eigenen Schutz von den Bewohnern Backwaters fernhalten sollte. Sally selbst nahm diese Entscheidung eher resigniert hin und sagte nichts dazu. Das arme Kind brauchte gut zwei Monate, bis es sich endlich von all diesen Verletzungen erholt hatte und in dieser Zeit feierte sie schließlich auch ihren 12. Geburtstag. Es war eine kleine Feier im engsten Kreise der Familie, in welchem jeder ihr ein Geschenk machte. Lumis hatte ihr eine neue Schleife für ihr Haar geschenkt, eine schön gepunktete, die Sally von nun an jeden Tag trug. Christie und die Mutter hatten für sie ein Kleid genäht, eines mit einem wunderhübschen Punktmuster. Marcus schenkte ihr hübsche Rüschenbänder, die sie an den Handgelenken trug und zuletzt bekam sie ein Buch mit Märchen und Geschichten geschenkt. Sally war so überwältigt, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen und im Großen und Ganzen feierten sie ein schönes Fest. Auch Heiligabend verbrachten sie im engsten Familienkreise und Sally, die es bei Gott nicht leicht im Leben gehabt hatte, wurde am meisten beschenkt. Da sie die Farm selbst nicht verlassen konnte, schenkte sie ihrer Familie selbst gemachte Basteleien und zur Feier des Tages gab es eine Menge gutes Essen, süße Kuchen und Kekse und so ausgelassen wie an jenem Abend hatte die Familie Kinsley noch nie gefeiert. Sally verlebte ein sehr glückliches halbes Jahr auf der Farm und konnte den Sommer kaum erwarten, wo sie endlich wieder mit Lumis zusammen kleine Boote im Fluss schwimmen lassen oder zusammen mit Christie Äpfel pflücken konnte. Zu Ostern wurden auf der Farm bunte Eier versteckt, welche die Kinder suchen konnten und in der Zeit, wo die anderen zur Schule gingen, wurde Sally von ihrer Mutter unterrichtet. Im Juli allerdings spitzte sich die Lage dramatisch zu. Sally und Lumis bekamen nichts mit, aber in der Stadt kursierten unheimliche Gerüchte. Einige behaupteten, dass Sally für die Verwüstung von Shallow Graves verantwortlich sei und alle Bewohner auf dem Gewissen habe. Angeblich hätte sie sogar Kannibalismus begangen und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Marcus und William versuchten mit Vernunft dagegenzuhalten und fragten, wie es denn ein kleines Kind schaffen sollte, so eine Zerstörung anzurichten. Es bräuchte schon eine Armee schwer bewaffneter Männer, um so etwas zu schaffen. Aber die Leute hörten nicht zu. Sie alle waren sich einig, dass Sally ein kaltblütiges und grausames Monster sei. Schließlich forderte Mrs. Grover, dieselbe, die gerne in Backwater tratschte, die Auslieferung der kleinen Sally, um sie für ihr Teufelswerk zu bestrafen. Marcus reagierte empört und weigerte sich, dies auch nur im Entferntesten in Betracht zu ziehen. „Dieses Kind ist die Ausgeburt des Teufels. Und man muss die Saat von der Erde vertilgen, bevor sie Wurzeln schlägt und sich weiter ausbreitet.“ Das waren ihre Worte. Schließlich wandte sich William an den Pastor und fragte ihn zu seiner Meinung. Dieser war, wie sich herausstellte, derselben Meinung wie der Rest von Backwater: In seinen Augen war Sally eine Teufelsausgeburt, die eine ernsthafte Gefahr für alle anderen darstellte und deshalb unbedingt getötet werden sollte. Marcus schlug wütend mit der Faust auf den Tisch und verlor beinahe die Beherrschung, als er das hörte. „Wie könnt ihr nur so etwas sagen? Sally ist ein Kind und sie hat niemandem etwas getan.“ „Und was war mit den Leuten in Shadow Graves? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sally auch Backwater vernichten wird. Seht es doch ein, das Kind ist kein Mensch und es wird uns alle in großes Unheil stürzen. Entweder wir alle oder das Kind.“ Doch William und Marcus weigerten sich vehement, Sally auszuliefern und empört verließen sie die Ratsversammlung. Da damit zu rechnen war, dass die Bewohner von Backwater die Sache selbst in die Hand nehmen würden, mussten sie sich auf den schlimmsten Fall vorbereiten. Also besorgten sie sich Gewehre und wiesen die Knechte und Mägde an, niemanden zur Farm zu lassen. Auch Lumis bekam eines und ihm wurde die Aufgabe übertragen, seine Schwestern zu beschützen. „Die Lage wird immer komplizierter“, murmelte Marcus und fuhr sich über seinen Bart. „Wenn wir Sally hierbehalten, wird es für uns alle gefährlich werden. Und wenn wir sie fortschicken, ist das ihr Todesurteil. Was sollen wir tun?“ William zündete sich seine Pfeife an und begann zu rauchen. Dies tat er stets, wenn ihm ein besonders schweres Problem auf den Schultern lastete und er keine zufrieden stellende Antwort hatte. Er setzte sich schließlich auf eine kleine Steinmauer direkt unter einen Obstbaum. „Tja, was soll ich sagen? Du hast ja Recht Marcus und darin liegt das Problem: Egal wie wir uns entscheiden, es wird nicht gut ausgehen. Die einzig vernünftige Alternative wäre, die Farm aufzugeben und fortzuziehen. Aber dies würde unseren finanziellen Ruin bedeuten und außer der Farm haben wir nichts. Dessen bist du dir ja auch bewusst. Es ging sowieso finanziell schlecht wegen dem Geschwätz der Leute und ihrer Abneigung gegen Sally-Ann. Nein, die Farm aufzugeben ist ausgeschlossen.“ „Sally-Ann auszuliefern ist ebenso ausgeschlossen.“ „Wägen wir mal in aller Nüchternheit und Objektivität die Möglichkeiten aus.“ Als William das sagte, beschlich Marcus ein ungutes Gefühl, aber er war bereit, sich die Vorschläge seines Schwagers anzuhören. „Wenn wir das Kind auf der Farm verstecken, werden die Leute sie früher oder später holen, wenn nötig mit Gewalt. Wir haben zwar Gewehre, aber es wird sehr unschön enden. Außerdem bringen wir nicht nur Teresa, sondern auch Christie und Lumis in Gefahr. Wenn wir Sally-Ann woanders unterbringen könnten, außerhalb der Stadt, dann würde sie keine Zukunft haben. Entweder wird sie den Tod finden oder in einem Armenhaus leben müssen. Aber so wären wir nicht länger in Gefahr.“ „Ich glaube nicht richtig verstanden zu haben. Du ziehst allen Ernstes in Betracht, der Forderung der Leute nachzugeben?“ rief Marcus aufgebracht und packte William am Kragen. „Los, gib es doch zu! Du hast wirklich ernsthaft vor, Sally dem Tod zu überlassen?“ Nun stand William auf und stieß Marcus von sich. „Ich denke dabei an meine Familie.“ „Sally ist ebenso deine Familie. Du hast sie als deine Tochter aufgezogen. Sie ist dein Kind, auch wenn nicht dein leibliches.“ „Das ist es eben“, entgegnete William und klopfte mit einem ernsten Blick seine Pfeife aus. Die Lust zum Rauchen war ihm endgültig vergangen. „Ich habe das Kind aufgenommen und es großgezogen, obwohl es nicht mein eigenes ist. Aber im Gegensatz zu dir habe ich eigene Nachkommen, die ich beschützen muss. Mir fällt diese Entscheidung auch nicht sonderlich einfach, aber manchmal muss man sich für das kleinere Übel entscheiden, auch wenn es grausam klingt.“ Marcus ballte die Hand zur Faust und schlug William ins Gesicht. Dieser fiel durch die Wucht nach hinten und landete auf der Straße. Wieder zerrte Marcus ihn hoch und hielt die Faust schlagbereit. „Sag es ihr direkt ins Gesicht. Sag ihr, dass jetzt auch ihr zweiter Vater vorhat, sie sterben zu lassen!“ William versuchte sich zu befreien, doch Marcus schlug ihm wieder ins Gesicht und stieß ihn erneut zu Boden. „Ich werde nicht zulassen, dass Sally getötet wird und solltest du es wagen, sie hinter meinem Rücken auszuliefern oder fortzujagen, dann wirst du mich erst recht kennenlernen, Will. Merke dir meine Worte!“ Marcus kehrte allein zur Farm zurück und beredete sich dort mit seiner Schwester Teresa, die ebenfalls sehr geschockt über den Beschluss ihres Mannes war und Marcus versprach, ihm ins Gewissen zu reden. Christie, die das alles mit anhörte, da sie im Sessel ihres Vaters saß und ein Buch las, schaute abwechselnd zu ihrer Mutter und ihrem Onkel. Schließlich klappte sie ihr Buch zu und fragte „Und was wäre, wenn man den Mittelweg gehen würde?“ Beide wandten sich zu Christie, die sie bislang gar nicht bemerkt hatten und die wie immer einen kühlen und nichts sagenden Gesichtsausdruck hatte. „Was meinst du damit, Christie?“ „Ich will damit sagen, dass es eine weitere Möglichkeit gibt. Eine, die eigentlich funktionieren dürfte.“ „Und die wäre?“ „Jemand geht mit Sally fort und bleibt einige Tage mit ihr versteckt. Die restlichen Familienmitglieder verbreiten die Nachricht, Sally wäre dann von Unbekannten umgebracht worden. Schließlich, wenn sich die Lage in Backwater beruhigt hat, wird sie wieder heimlich auf die Farm gebracht.“ Ohne eine Antwort oder Reaktion von ihren Mutter abzuwarten, wandte sich Christie wieder ihrer Lektüre zu und las weiter. Teresa und Marcus waren von diesem Vorschlag begeistert. Warum war ihnen das nicht eingefallen? Diese Idee war doch wirklich hervorragend. Wenn Sally in Begleitung von jemandem wegging und heimlich wieder auf die Farm zurückkehrte, wenn sich die Nachricht über ihren Tod verbreitet hatte, dann sollte dies doch eigentlich funktionieren. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Sally die Farm nicht mehr verließ und auch von niemandem gesehen wurde. Aber da „Shady Oaks“ sehr abgelegen war und sich für gewöhnlich niemand dem Grundstück näherte, so würde dies kein sonderliches Problem darstellen. Man musste allerdings auch dafür sorgen, dass die Mägde und Knechte darüber Stillschweigen bewahrten. Schließlich wurden alle, die auf der Farm lebten, zur Besprechung zusammengerufen. Auch Sally und Lumis mussten teilnehmen. Man klärte alle über die Situation und Christies Plan auf. Was William zuvor für sich selbst beschlossen hatte, wurde verschwiegen und keiner verlor auch nur ein Wort darüber. Die Mägde und Knechte, die Sally bereits seit ihrer Geburt kannten, waren auch einverstanden und schworen bei Gott, Stillschweigen zu wahren. Nur galt es nun zu überlegen, wer mit Sally weggehen sollte. Fakt war, dass es jemand sein musste, der sie im Notfall beschützen konnte. Christie konnte nicht mitgehen, ebenso wenig Teresa. Lumis war noch zu jung und so bot schließlich Marcus an, dass er mit ihr weggehen würde. „William, du wirst dich in meiner Abwesenheit um die Farm und um deine Familie kümmern.“ Es war beschlossen, dass Sally und Marcus gleich am nächsten Tag mit dem Karren wegfahren würden. Für neugierige Augen würde es aussehen, als würde Marcus Waren in die nächste Stadt bringen, um sie zu verkaufen. Tatsächlich würden sie sich auf der alten, heruntergekommenen Farm von Marcus Tante einquartieren und auf der Reise versteckte sich Sally in einem der Weizensäcke. Zumindest so lange, bis sie Backwater hinter sich gelassen hatten. Stellte sich allerdings die Frage, wie man Sallys Tod glaubhaft machen sollte. Für diesen Fall hatte der Knecht Ulysses Jack (selbiger, der Sally einst aus dem Brunnen rettete), eine Idee: „Wir könnten doch sagen, dass die Kleine von einem wilden Tier getötet wurde, als sie im Wald gespielt hat. Dazu brauchen wir nur ein zerrissenes Kleid und genügend Tierblut.“ Kapitel 9: Die wahre Tragödie von Backwater ------------------------------------------- Den ganzen Tag und die Nacht über waren alle auf der Farm schwer beschäftigt, denn es gab viele Vorbereitungen zu treffen. Marcus bereitete zusammen mit Teresa alles für die Abreise vor, während die Mägde und Knechte den vermeintlichen Tod der kleinen Sally vortäuschen sollten. Um es überzeugend zu gestalten, wurde eines von Sallys Kleidern dem Hund „Sammy“ vorgeworfen, der es daraufhin zerriss, da er oft diese Gewohnheit an den Tag legte und sie nie abtrainieren konnte. Überall waren Biss- und Kratzspuren zu sehen und es sah überzeugend nach einer Wolfsattacke aus. Schließlich wurde das Blut, das William von einem geschlachteten Hahn entnahm, auf die Kleidung verteilt. Schließlich schnitt man von Sallys Haar ein wenig ab und würde dies zusammen mit dem Kleid auf den Boden legen. Sally selbst war furchtbar aufgeregt und konnte kaum schlafen. Die ganze Nacht lag sie wach und lief umher, während sie überlegte, was sie denn alles mitnehmen sollte. Christie musste sie immer wieder beruhigen und hatte es sowieso schwer, da Lumis genauso aufgekratzt war. Als endlich der Morgen anbrach, war alles in Aufbruchstimmung. Marcus bereitete zusammen mit dem Knecht Ulysses Jack den Karren vor und Teresa brauchte noch eine Weile, um sich von Sally zu verabschieden. Sie konnte kaum ihre Tränen zurückhalten und küsste sie immer wieder. „Pass nur gut auf dich auf, Sally und komm wohlbehalten wieder.“ Schließlich musste sie sich von Lumis und Christie verabschieden. Lumis umarmte Sally stürmisch und schenkte ihr seine kleine Zinnsoldatenfigur, die sein wertvollster Schatz war. Das wusste Sally und deshalb war sie vollkommen sprachlos, als er die kleine Figur in ihre Hand drückte. „Lumis… das ist doch…“ „Die krieg ich wieder, wenn du wieder zurück bist. Solange soll das dein Glücksbringer sein.“ Die 12-jährige war so gerührt, dass sie ihn gar nicht mehr loslassen wollte. Der Abschied von Christie hingegen fiel ein wenig kühler aus, aber das war Sally längst von ihr gewohnt und sie erwartete auch keinen tränenreichen Abschied von ihr. Christie wusste ja, dass Sally bald zurückkommen würde und währenddessen gut bei Marcus aufgehoben war. Es würde alles gut gehen, da war sie sich ganz sicher, trotzdem umarmte sie Sally sehr fest und wünschte ihr alles Gute. Schließlich verabschiedeten sich auch die Knechte und Mägde, allerdings fehlte da eine: Irma, die beleibte Magd, die immerzu am Herd stand und kochte. Ob sie noch schlief oder schon bei der Arbeit im Stall war? Sie musste immerhin noch die Kühe melken. Na, das war auch nicht so schlimm. Sally ging zum Karren, wo bereits Benjamin, das schnellste Pferd von Backwater vorgespannt war und kroch in den Weizensack. Dieser hatte ein kleines Loch, durch das sie ein klein wenig sehen konnte, wenn auch nicht allzu viel. Auf dem Karren waren noch mehr Säcke geladen und ihrer war sehr gut unter den anderen versteckt. Marcus setzte sich vorne hin, ließ die Peitsche knallen und damit ging die Reise los. Benjamin trottete über den Hof, schüttelte seine Mähne und gab ein leises Schnauben von sich. Marcus, der seinerseits gut gelaunt war, pfiff ein Lied vor sich hin und war selbst guter Dinge. Trotzdem hatte er für den Notfall ein Gewehr mitgenommen, welches er sich auf den Rücken geschultert hatte. Holpernd ging es nun über die steinige Straße in Richtung der Brücke, die über den Fluss führte. Eine Gruppe von Leuten mit Gewehren stand auf der Brücke und schien offenbar auf dem Weg zur Jagd zu sein. Marcus winkte ihnen zu. „Hey Leute, wohin des Weges? Ein paar Füchse und Karnickel jagen?“ „Keine Füchse und Karnickel, dafür aber eine gefährliche Bestie“, antwortete Smith der Krämer der Stadt und stellte sich Marcus in den Weg. „Wir wollen, dass du uns Sally-Ann übergibst und das am besten widerstandslos, sonst müssen wir dich ebenfalls töten.“ Marcus schien sich nicht viel dabei zu denken, denn keiner der Leute konnte wissen, dass Sally sich auf dem Karren versteckte. Stattdessen sagte er in einem gespielt gereizten Ton „Die Kleine ist am Fluss oder im Wald spielen gegangen. Ich hab sie seit heute Morgen nicht gesehen und bin auf dem Weg nach Withersdale, um den Weizen zu verkaufen.“ „Lüg uns nicht an Marcus“, rief der Schmied Parson und trat näher an den Karren heran. „Wir wissen, dass du sie auf deinem Karren versteckt hast. Irma die Magd hat es uns gesagt. Also los, rück sie raus oder wir werden auch dich erschießen.“ Sally sah durch das kleine Loch, wie Marcus die Peitsche ergriff und sie nach jedem schlug, der es wagte, sich dem Karren zu nähern. Er selbst rief „Sally, lauf weg!!!“ und schnappte dann sein Gewehr. Schnell befreite sich Sally aus dem Sack und kletterte vom Karren hinunter. Sie rannte, so schnell sie konnte, in Richtung der Bäume, wo sie glaubte, sicherer zu sein. Hinter ihr ertönten mehrere Gewehrschüsse und dann, als sie sich umdrehte, sah sie es: Marcus’ Kopf explodierte förmlich, als eine Kugel seinen Schädel traf. Er war sofort tot und fiel vom Kutschbock herunter. Entsetzt schrie Sally auf und rannte in Richtung Farm. Dicht am ihren Kopf flogen Gewehrkugeln vorbei und so begann sie im Zickzack zu rennen, um somit ein viel schwierigeres Ziel zu bieten und besser ausweichen zu können. Sie schrie aus vollem Halse und das Geschrei alarmierte die Farmbewohner. Augenblicklich kamen die Knechte mit den Gewehren heraus und positionierten sich hinter mehreren Kisten und als Sally rechtzeitig ausgewichen war, erwiderten sie das Feuer und zwei Männer fielen getroffen zu Boden. Sally kämpfte mit den Tränen, während sie rannte und sie fiel direkt Teresa in die Arme. Schluchzend rief sie immer wieder „Mommy… Mommy!!!“ Schnell verschwanden sie ins Haus, wo Christie und Lumis ihnen entgegen kamen. An Sallys Verhalten konnten sie erahnen, was passiert war und entsetzt sah Lumis sie an. „Dann ist Onkel Marcus…“ Sally brachte keine Antwort hervor, sie nickte heftig und vergrub schluchzend ihr Gesicht in den Händen. „Irma hat alles gesagt. Sie hatten bereits auf uns gewartet und wir… und wir…“ „Schon gut, sprich nicht weiter“, versuchte Teresa sie zu beruhigen, auch wenn sie selbst kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. „Jetzt müssen wir versuchen, uns etwas anderes einfallen zu lassen.“ Das Knallen der Gewehrschüsse nahm kein Ende und schließlich kam William hinzu, der von Marcus’ Tod erfuhr und ebenfalls entsetzt darüber war, wie gefährlich die Situation eigentlich war. Er hatte zwar damit gerechnet, dass die Bewohner gewalttätig werden würden, aber nicht, dass sie gleich zu morden beginnen würden. „Sally muss von hier verschwinden, sonst werden wir alle sterben.“ „William!“ rief Teresa entsetzt und hielt Sally fest an sich gepresst. „Ich werde sie nicht in den Tod schicken, das kannst du von mir nicht…“ „Du als meine Frau hast mir zu gehorchen. Ich bin das Familienoberhaupt und ich treffe hier die Entscheidungen.“ Erschrocken über diese plötzliche Strenge ihres Mannes zuckte Teresa merklich zusammen und sie wurde ein wenig kleiner. Lumis aber stellte sich seinem Vater entgegen und rief „Sally gehört zu uns und deshalb werden wir sie auch nicht im Stich lassen. Sie ist genauso wie Christie meine Schwester und ich werde sie beschützen.“ „Sie ist nicht mal deine Schwester und auch nicht mein Kind. Sie ist doch bloß die Schwester deiner Mutter und deines Onkels.“ „Und wenn schon. Für mich ist sie genauso meine Schwester wie Christie.“ Diese plötzliche Wahrheit hatte Lumis zu Beginn ein wenig irritiert, aber seine Gefühle beeinträchtigte dies ja nicht und so war er nach wie vor entschlossen, Sally mit aller Macht zu beschützen. Er wusste ja, dass sie sonst niemanden außer ihrer Familie hatte. Sie würde sterben, wenn sie alleine wäre und das würde er niemals zulassen. Sein Vater gab ihm eine Ohrfeige. „Willst du etwa genauso sterben wie dein Onkel? Mein Sohn, ich hätte mehr Grips von dir erwartet. Mach den Weg frei, das Kind verlässt augenblicklich das Haus.“ William stieß Lumis beiseite, der sich daraufhin die Beine seines Vaters schnappte und sich daran festhielt, um ihn am Laufen zu hindern. Dieser jedoch riss sich los und packte Sally grob am Arm, woraufhin er sie zur Tür hinauszerrte. „Nein lass mich los! Ich will nicht! Nein!“ schrie sie und versuchte sich aus Williams Griff zu befreien, doch es wollte ihr nicht gelingen. Als sie hinaustraten, sahen sie bereits, dass eine große Meute die Farm umstellt hatte und mit Fackeln, Gewehren, Mistgabeln und anderen Geräten näher kam. Sally wurde ganz blass, als sie erkannte, was für ein Déjà-vu sich hier gerade abspielte. Es war die gleiche Szene wie in Shallow Graves. Nur dass es keine religiöse Gemeinde war, aufgehetzt von einem verrückten Pfarrer. Es waren Leute, die sie schon von klein auf kannte, alles bekannte Gesichter von Menschen, die sie nun töten wollten. Als Sally dies erkannte, hörte sie auf, Widerstand zu leisten und ließ sich von William mitzerren. Wenn sie sich freiwillig ergab, dann würde doch ihre Familie verschont werden… oder etwa nicht? Allein der Gedanke daran, dass Christie, Lumis oder Teresa etwas passieren könnte, brach ihr das Herz. Doch dann stürmte Teresa aus dem Haus, mit dem Gewehr von Lumis in der Hand und schrie so laut, wie sie noch nie zuvor geschrieen hatte. Sie attackierte direkt William und versuchte, Sally zu retten. „Du wirst mein Kind nicht ausliefern“, rief sie und schlug mit dem Gewehr auf ihn ein. Doch er fing den Schlag ab und es entstand ein heftiger Kampf. Schließlich aber gelang es Teresa, William von Sally wegzustoßen und dann richtete sie die Waffe auf die Meute, die nun bereit zum Angriff war. „Ich töte jeden von euch, der es wagt, dieses Kind auch nur anzufassen“, schrie sie und legte den Finger um den Abzug. Teresa war völlig aufgebracht und wild entschlossen, ihre Familie zu beschützen. Dann aber löste sich ein Schuss. Eher ungewollt löste Teresa einen Schuss aus, der den Bürgermeister direkt in die Brust traf. Das war der Moment, in dem die Leute durchdrehten und mit wildem Kriegsgeschrei auf sie zugerannt kamen. Teresa feuerte noch einen zweiten Schuss ab, dann hatte sie keine Kugeln mehr. Sie wies Sally an, die Farm über den Obstgarten zusammen mit Christie und Lumis zu verlassen. Das Gewehr behielt sie in der Hand und benutzte es wie eine Keule. Jedem der ihr zu nahe kam, schlug sie auf den Kopf, doch dann traf sie der Axthieb von Mr. Rayleigh dem Farmbesitzer und dann verdrehte sich ihr Kopf in eine sehr bizarre Lage. Sally stand wie angewurzelt an der Tür zum Farmhaus und sah entsetzt, wie Teresas Kopf vom Hals hinunterfiel und durchs Gras rollte. Aus ihrem Hals schoss eine Blutfontäne, dann fiel ihr enthaupteter Körper zu Boden. Fassungslos starrte sie auf die Leiche jener Frau, die sie all die Jahre wie eine Mutter aufgezogen hatte und die sie bis zu ihrem letzten Atemzug beschützt hatte. Sie war jetzt tot…. Fassungslos schlug sich Sally die Hand vor dem Mund und weinte. Sie wäre in die Knie gesunken, doch in dem Moment kam Christie und zerrte sie ins Haus. Sofort, als Sally drin war, verrammelte sie die Tür und eilte mit ihr und Lumis durch die Küche in Richtung Hinterausgang, wo es in den Stall und von dort aus in die Scheune ging. Doch als sie die Hintertür aufmachten, schlug ihnen schwarzer, stinkender Qualm entgegen. „Was ist das?“ keuchte Lumis und bedeckte Mund und Nase. Christie und Sally taten es ihm gleich. „Sie haben das Stroh angezündet, um uns den Fluchtweg abzuschneiden. Sie wollen uns durch die Vordertür rausjagen.“ „Und was sollen wir jetzt machen?“ „Wir müssen da durch. Das Feuer kann sich noch nicht so stark ausgebreitet haben. Die rechnen gewiss nicht damit, dass wir da durchgehen.“ „Aber Christie, das ist doch gefährlich.“ „Wenn wir noch länger warten, ist es gefährlich. Kommt schon!“ Christie wies Lumis an, mit Sally zusammen vorzugehen, da sie beide schneller waren. Sie rannten durch den Stall direkt in die Scheune, die bereits komplett in Flammen stand. Die Pferde waren bereits geflüchtet und auch die Hühner und Tauben verließen auf dem schnellsten Weg die Scheune. Vor lauter Rauch konnte man unmöglich etwas sehen und Sally und Lumis begannen bereits zu husten. „Bleibt nicht stehen, lauft weiter!“ rief Christie und stieß die beiden vorwärts. Doch den Ausgang zu finden, schien so gut wie unmöglich zu sein. Sie hatten bereits viel Rauch eingeatmet und ihre Augen begannen zu tränen. Oben im Gebälk begann es gefährlich zu knirschen und als Christie nach oben schaute, sah sie, dass das Dach gleich herunterkrachen würde. „Lauft!“ schrie sie und das mit solcher Angst und Panik, dass Sally und Lumis alarmiert ihr Tempo erhöhten. „Das Dach stürzt gleich herunter. Schnell!“ Es krachte lauter und dann brach einer der riesigen Balken ab. Christie erkannte, dass dieser Sally und Lumis erschlagen würde, wenn sie nicht sofort aus der Gefahrenzone verschwinden würden. Aber selbst wenn sie sie rechtzeitig warnte, würden sie vor lauter Angst nicht in der Lage sein, vernünftig zu agieren. Christie realisierte, dass sie nur eine Möglichkeit hatte, ihre Geschwister zu retten. Sie mobilisierte all ihre Kräfte und warf sich auf Sally und Lumis. In dem Moment schlug der Stützbalken auf ihren Rücken und begrub die 14-jährige unter sich. Sally und Lumis fielen durch Christies Stoß nach vorne und verloren fast das Gleichgewicht. Lumis drehte sich um und sah, wie der schwere, riesige Stützbalken auf seiner älteren Schwester lag. „Christie!“ schrie er und eilte zu ihr, versuchte den Balken zu bewegen, aber selbst dafür brauchte man sechs Erwachsene, um ihn zu bewegen. Selbst mit Sally zusammen bewegte er sich keinen Millimeter. Also ergriffen sie Christies Hände, um sie so herauszuziehen, doch in dem Moment erbrach Christie einen enormen Blutschwall auf dem Boden und dann mit einem Ruck war sie draußen. Aber… was von ihr unter den Balken hervorgezogen wurde, war nur ihre obere Hälfte. Ihre untere lag immer noch darunter. Der heruntergefallene Stützbalken hatte ihren Körper zerquetscht und daraufhin entzweit. Sally und Lumis schrieen laut auf, als sie sahen, dass Christies untere Hälfte fehlte und stattdessen immer mehr Blut aus ihrem zerstörten Körper strömte. Sie selbst erbrach immer mehr Blut und dann wurde ihr Blick leer, ihre Muskeln schlaff. Der Schock und die lebensgefährlichen Verletzungen hatten sie umgebracht. Sally stand völlig unter Schock und kniete sich neben Christie hin. Sie weinte laut, umarmte ihren toten Körper fest und rief immer wieder ihren Namen. Lumis hörte es erneut knacken und krachen und sah hinauf. Gleich würde der Rest des Daches herunterstürzen und sie beide unter sich begraben. „Sally, wir müssen hier raus! Schnell!“ „Nein, wir müssen Christie helfen, sie ist verletzt… wir können sie doch nicht zurücklassen.“ „Sally, sie ist tot und das werden wir auch gleich sein. Ich lasse dich hier nicht sterben.“ Gewaltsam zerrte Lumis sie von Christie weg und schließlich schafften beide es rechtzeitig aus der Scheune, bevor sie komplett zusammenbrach und nur noch ein Haufen brennendes Holz war. Beide fielen ins Gras und schnappten nach Luft. Sally lag vornüber auf dem Boden und weinte, während Lumis auf die brennenden Gebäude sah, die einst sein Zuhause waren. Alles war zerstört. Sein Zuhause gab es nicht mehr… seine Familie war auch tot. Jetzt gab es nur noch ihn und Sally. „Christie… Mum… Dad… Onkel Marcus…“ Seine Brust schnürte sich zusammen, als er realisierte, dass er niemanden von ihnen jemals wieder sehen würde. Sie alle wurden von jenen umgebracht, die sie schon seit Ewigkeiten kannten. Freunde, Geschäftspartner, alte Schulkameraden. Sie alle hatten einfach so ohne Reue unschuldige Menschen umgebracht, nur weil sie ein unschuldiges kleines Mädchen beschützen wollten. In Lumis kochte die Wut und er konnte nicht begreifen, wie man so grausam sein konnte. Was war nur in diese Menschen gefahren? Aber dann meldete sich auch die Stimme der Vernunft in ihm. Sie mussten schnell von hier verschwinden, bevor noch die Leute aus Backwater hierher kamen und ihnen den Fluchtweg abschnitten. Seine Familie hatte ihr Leben gegeben, indem sie Sally beschützt haben und jetzt lag es an ihm, dass sie nicht umsonst gestorben waren. „Sally, komm steh auf! Wir müssen schnell weg hier.“ „Sie sollen dafür bezahlen, was sie getan haben. Ich wünschte, sie würden alle krepieren…“ Sallys Stimme war gebrochen, sie bekam vor lauter Schluchzen kaum ein Wort heraus und Lumis verstand nicht, was sie sagte. Stattdessen versuchte er, sie hochzuzerren und mit ihr in Richtung Wald zu flüchten. Überall auf dem Boden lagen die Leichen der erschossenen Knechte, eine Magd war erschlagen worden, die anderen hatten die Flucht ergriffen. Lumis schnappte sich eines der Gewehre und die Munition, dann zerrte er Sally hinter sich her und rannte los. Der schnellste Weg zum Wald führte nach rechts über den Acker. Wenn sie Glück hatten, waren sie über alle Berge, bevor die anderen sie fanden. Doch schon von weitem sahen sie die Gruppe von Leuten, die auf sie zugeeilt kamen. Gewehre hatte von ihnen niemand, aber dafür Knüppel, Mistgabeln und andere Werkzeuge. Lumis richtete das Gewehr auf den Pfarrer und sein Blick sagte mehr als deutlich, dass er sofort schießen würde. „Haut ab oder ich schieße euch alle über den Haufen! Wagt es auch nur und ich bringe euch alle um!!!“ „Wir wollen dir nichts tun, aber übergib uns diese Teufelsausgeburt hinter dir, dann werden wir dein Leben verschonen.“ „Niemals!“ Lumis lud durch und er hielt das Gewehr schussbereit. Es war gefährlich, sich ihm jetzt zu nähern, also blieben die Leute vor ihnen stehen. „Ihr habt unsere Familie getötet und unser Zuhause zerstört. Mit welchem Recht tut ihr das? Wir haben euch nie etwas getan! Ihr hattet kein Recht, das zu tun.“ Lumis Gesicht war vor Wut verzerrt und seine Hände zitterten. Tränen rannen seine glühenden Wangen hinunter und er umklammerte das Gewehr fester. „Die wahren Teufel seid ihr und nicht Sally! Ihr seid die Monster und ich werde nicht zulassen, dass ihr mir auch noch Sally nehmt. Eher töte ich jeden Einzelnen von euch!!!“ Lumis war völlig durcheinander und überfordert mit der Situation. Mit einem Schlage hatte er alles verloren und Leute, die er seit seiner Geburt gut kannte, hatten seine Familie umgebracht und sein Zuhause zerstört. Und jetzt hielt er ein geladenes Gewehr in der Hand und musste sich selbst und Sally vor eben jenen Leuten beschützen. Das war für einen 12-jährigen zu viel. Schließlich aber überrumpelten die Menschen sie von hinten und ergriffen Sally. Diese schrie und wehrte sich nach Leibeskräften. Sie biss zu und trat um sich, während sich mehrere Männer auf Lumis stürzten und versuchten, ihm das Gewehr zu entreißen. „Lumis, hilf mir! Hilfe!“ schrie Sally in Panik und wurde von mehreren Händen festgehalten. Doch Lumis versuchte mit aller Macht, das Gewehr zurückzuholen und bei dem Kampf löste sich ein Schuss, der Lumis schließlich traf. Der 12-jährige erstarrte in der Bewegung und fiel zu Boden. Er regte sich nicht mehr. Und das war der Moment, in dem Sally endgültig Amok lief. All ihr Zorn und Hass flammte in dem Moment wieder auf und entsetzt ließen die Leute von ihr ab, als sie diese mörderische Aura spürten, die dieses Mädchen umgab. Sally fiel zu Boden, stand jedoch wieder auf und schaute die Mörder ihrer Familie mit einem infernalischen Höllenfeuer in ihren Augen an. „Dafür werdet ihr bezahlen“, brachte sie hervor und ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte genug. Sie wollte nicht eine Sekunde länger die Grausamkeiten ihrer Umwelt ertragen und immer nur schikaniert und herumgeschubst werden. Nie wieder wollte sie solch eine Ungerechtigkeit dulden. „Eine Welt, die nichts als Elend, Schmerz und Grausamkeit bereithält, kann meinetwegen aufhören zu existieren!“ Nun wollte sich Sally nicht mehr zurückhalten. Niemand sollte am Leben bleiben, sie sollten alle verschwinden. Die ganze Stadt sollte verschwinden. Sally beschloss, ihre ganze Kraft zu entfesseln, ohne Rücksicht auf Verluste und ihre eigene Gesundheit. Ihr war es egal, ob diese mörderische Kraft, die in ihr ruhte, ihren Körper zerstören würde oder nicht. Sie wollte ihnen allen den wahren Schrecken zeigen. Die Bewohner von Backwater wichen vor ihr zurück, manche ließen vor Angst ihre Waffen fallen und die ersten rannten schreiend davon. Doch kaum hatten sie sich ein paar Schritte von Sally entfernt, da passierte etwas mit ihren Köpfen. Sie explodierten regelrecht und Blut, Hirnmasse und Knochensplitter schossen durch die Luft. Einem alten Mann zerfetzte irgendetwas die Brust und riss ein riesiges Loch in seinen Torso. In dem Moment brach allgemeine Panik aus. Die Menschen rannten um ihr Leben und versuchten zu fliehen, aber dazu ließ es Sally nicht kommen. Das Feuer breitete sich augenblicklich weiter aus und ging auf die Karren und Fässer und den Zaun über. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus, bis nur noch ein kleiner Durchweg übrig blieb. Sally beobachtete mit Genugtuung, wie die Menschen sich in ihrer Panik gegenseitig zu Tode trampelten. Die meisten flüchteten in Richtung Stadt, manche versuchten über die Brücke zu flüchten. Das würde ihnen nicht gelingen. Niemand würde ihrer grausamen Rache entkommen. Eine Stimme in ihrem Kopf meldete sich. „Wenn du nicht rechtzeitig aufhörst, wird es dich töten. Dein Körper kann diese Kraft nicht aushalten, es wird ihn zerstören!“ „Das ist mir egal. Ich will, dass sie alle krepieren. Jeder Einzelne von ihnen, egal ob Mann, Frau oder Kind.“ Das Feuer der Farm begann sich durch das Gras weiter auszubreiten und wie lodernde Schlangen wanden sich die Flammen bis sie die Brücke erreichten und diese in Brand setzten. Weitere Feuerschlangen erreichten derweil die Stadt und fraßen sich in die Häuser. In kürzester Zeit stand ganz Backwater in Flammen, doch dies sollte erst der Anfang des Alptraums sein. Denn Sally hatte ihnen lediglich den Fluchtweg abgeschnitten, allerdings würden die Leute nicht so einfach von selbst sterben. „Und so soll der Alptraum von Shallow Graves wieder aufleben!“ In Backwater herrschte binnen kürzester Zeit der absolute Ausnahmezustand. Häuser und Bäume standen in Flammen, das Feuer breitete sich rasend schnell aus und alle Versuche, es zu löschen, scheiterten. Die Menschen versuchten ihre wenigen Habseligkeiten zu retten, manche verloren den Verstand und begingen Selbstmord. Wiederum nutzten andere ihre Waffen, um damit zuzuschlagen. Es herrschte ein ähnliches Bild wie in Shallow Graves, nur in einem viel größeren Ausmaß. Sally brauchte es nicht einmal selbst zu sehen, sie wusste auch so, was dort drüben in der Stadt passierte. Sie selbst ging in Richtung der Brücke, die inzwischen eingestürzt war und dann in Richtung Stadt. Eigentlich war es ihr egal, was die Leute gerade machten. Ob sie sich das Leben nahmen oder sich gegenseitig massakrierten. Sie wollte nur eine Person finden, nämlich die, der sie das ganze Unheil zu verdanken hatte: Irma die beleibte Magd. Diese befand sich gerade in der Nähe des Stadttores und versteckte sich hinter einem Baum. Sally wusste genau, wer sich wo befand und wer gerade ihrem Wahnsinn zum Opfer gefallen, wer tot und wer auf der Flucht war. In dem Moment, wo sie die letzten Ketten gesprengt hatte, da waren Sinne in ihr erwacht, über die sie bislang nicht Bescheid gewusst hatte. Zielstrebig ging sie an den Menschen vorbei, die schrieen und weinten, sich selbst töteten oder ihre Freunde und Familien angriffen. Schließlich hatte sie den Baum erreicht, wo sich Irma versteckt hatte. Diese spürte ihrerseits, dass Sally da war. Sie wusste es einfach, als würde irgendeine Stimme in ihrem Kopf mit ohrenbetäubender Lautstärke rufen „Sally! Sally!“ Doch ihr Körper war wie vor Angst gelähmt, sie konnte sich nicht bewegen und somit auch nicht flüchten. Schließlich stand Sally direkt vor ihr und sah sie eiskalt und herablassend an. Ihre Augen leuchteten wie die eines Dämons und schließlich erfasste die eiskalte Todesaura auch Irma. Noch nie in ihrem Leben hatte die Magd solch eine Todesangst verspürt wie jetzt. „Sieh es dir gut an Irma, das ist dein Werk. Hättest du die Klappe gehalten, dann hätte es nicht so kommen müssen. Dann hätte meine Familie nicht sterben müssen.“ „Das ist allein deine Schuld du Monster. Wärst du niemals geboren worden, wären wir alle glücklich und zufrieden. Du Ausgeburt des Teufels sollst zurück in die Hölle wo du hingehörst.“ Sally reagierte gar nicht mal wütend über diese Kränkung, sie lächelte verächtlich, dann machte sie eine Bewegung mit der Hand und sagte „Das werden wir ja sehen.“ Ein hässliches Knacken ertönte und nach und nach begann sich Irmas Körper immer weiter zu verdrehen. Ihre Knochen brachen, bohrten sich durch ihre Haut und laut schrie die Magd auf. Als sich ihre Füße in eine bizarre, beinahe physisch unmögliche Position verdrehten, fiel sie auf den Rücken und schrie vor Schmerzen, während nach und nach jeder einzelne Knochen in ihrem Körper brach wie Glas. Sally trat ihr schließlich auf den Bauch, dann zwei Male ins Gesicht und sagte kalt „Viel Spaß beim Sterben, das kann noch eine Weile dauern. Ich habe noch viel zu tun, bevor es mit meinem Körper zu Ende geht.“ Lumis wachte aus seiner Ohnmacht wieder auf und konnte nicht glauben, dass er tatsächlich noch lebte. Vorsichtig tastete er seine linke Seite ab, wo ihn der Schuss erwischt hatte. Nur ein Streifschuss. Zwar blutete es, aber offenbar war die Wunde nicht sonderlich tief. So ein Glück…. Doch seine Erleichterung hielt nicht lange an, denn schon erinnerte er sich wieder an Sally. Ohne nicht lange nachzudenken stand er auf und eilte in Richtung Stadt. Doch auf dem Weg dorthin sah er die unzähligen Leichen auf dem Boden liegen. Es musste sich etwas Schreckliches zugetragen haben, während er bewusstlos gewesen war. Die Farm war nur noch ein verkohlter, schwarzer Trümmerhaufen, genauso wie Backwater selbst. Von den Häusern war nichts mehr übrig geblieben und überall lagen zerfetzte und brutal zugerichtete Leichen. Er hörte von irgendwo her Schreie und sah die Lehrerin Miss Norris, die gerade mit einem Messer auf Bill, einem ihrer Schüler einstach und dabei weinte und schrie. Mr. Tabot, der Schuhmacher der Stadt, kauerte wimmernd in einer Ecke, stach mit einer Glasscherbe auf seinen Arm ein und flehte um Vergebung. Lumis eilte zu ihm. „Mr. Tabot, was ist passiert? Was ist mit Ihnen?“ „Es tut mir Leid… es tut mir Leid. Bitte hör auf, mach dass es aufhört! Ich will das nicht.“ „Was tut Ihnen Leid? Sagen Sie schon, Mr. Tabot!“ „Sally…“ „Was ist mit Sally? Wo ist sie? Ist sie noch am Leben?“ Als Lumis ihren Namen nannte, begann Mr. Tabot laut zu schreien, dann stach er sich weiter mit dem Glassplitter und weinte. Erschrocken wich Lumis vor ihm zurück und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Warum benahmen sich die Leute so merkwürdig, warum war die Stadt abgebrannt und wieso waren so viele Menschen tot? Er verstand die Welt nicht mehr und begann den Rest der Stadt abzusuchen. Dann schließlich hörte er laute Schreie vom großen Platz aus und eilte dorthin. Dort sah er Sally, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und die sich den linken Arm hielt, der schlaff hinunterhing. Sie zog ein Bein nach und humpelte auf eine kleine Gruppe von Männern zu, die vor Schmerz aufschrieen, als ihre Körper sich auf eine bizarre Art und Weise verdrehten und jeder ihrer Knochen brach wie dünne Zweige. Schreiend vor Schmerz brachen sie zusammen und flehten um Gnade. Einigen explodierte plötzlich der Kopf und Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse flog umher. Gastanks explodierten und richteten eine unvorstellbare Verwüstung an. Lumis konnte es nicht fassen und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. War das alles wirklich Sally gewesen? Hatte sie wirklich die Stadt zerstört und all die Leute umgebracht, um Rache zu nehmen? Sally konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Sie würgte eine Unmenge von Blut hervor und schien furchtbare Schmerzen zu haben. Außerdem schnappte sie mit größter Mühe nach Luft, als könne sie nicht einmal mehr atmen. Lumis lief zu ihr und rief „Sally, Sally hör auf damit! Es reicht!“ Doch sie ging einfach weiter, sie hörte ihn gar nicht. Ihr Blick war leer, als würde sie nichts mehr sehen. Allein ihr Hass und ihre Rachsucht hielten sie noch auf den Beinen, sie schien nicht mal mehr bei Bewusstsein zu sein. Und obwohl es unübersehbar war, dass sie es nicht mehr lange machen würde, ging sie einfach weiter und brachte mit schwacher Stimme hervor „Ich will noch nicht sterben. Nicht bevor ich auch den letzten Menschen auf dieser Welt getötet habe. Sie sollen alle sterben. Sie sollen alle krepieren. Jeder einzelne von ihnen…“ Lumis hielt sie an den Schultern fest und versuchte, sie wachzurütteln. Er sah in ihre leeren, dunkelroten Augen, die jeglichen Glanz verloren hatten und blutunterlaufen waren. Aus ihren Augen flossen kleine Blutrinnsale, als würde sie weinen. Sie gab ein leises, qualvolles Stöhnen von sich und Lumis brach es das Herz, sie so zu sehen. „Sally, bitte hör endlich auf damit. Es ist doch vorbei! Du brauchst das nicht tun, bitte komm zu dir!“ Aber sie hörte ihn nicht. Ihr Blick ging durch ihn hindurch und sie reagierte gar nicht auf seine Worte. Ihre Sinne waren tot und nur ein Wunder hielt sie noch auf den Beinen. Doch es war unbestreitbar, dass selbst ihr starker Wille nicht mehr ausreichen würde. Sally lag bereits im Sterben. Mit letzter Kraft schleppte sie sich noch einen Schritt weiter, dann gaben ihre Beine nach und sie fiel nach vorne. Lumis fing sie auf und legte sie vorsichtig auf den Boden. Nun kamen ihm endgültig die Tränen und weinend nahm er Sally in den Arm und schluchzte laut. „Bitte geh nicht… bitte lass mich nicht alleine Sally…“ Und während sie dahinschied, da erinnerte er sich an die unzähligen schönen Momente, die sie gemeinsam verbracht hatten. Wie sie im Sommer am Fluss gespielt, oder sich im Winter mit Schneebällen beworfen hatten. Wie sie mit Stöcken gegeneinander gekämpft hatten wie zwei Ritter, oder des Nachts Glühwürmchen sammelten, oder Christies Geschichten lauschten, die sie aus ihrem Buch vorlas. Er erinnerte sich, wie Sally auf den Apfelbaum kletterte und gemeinsam mit ihm lernte. Sie waren beide ein Herz und eine Seele, und das würde jetzt für immer vorbei sein. Jetzt war alles zerbrochen. Ihre heile Welt existierte nicht mehr und die so gutherzige und liebevolle Sally war zu einem hasserfüllten Dämon geworden. Sie hatte diese entsetzliche Zerstörung angerichtet, um sich für das jahrelange Martyrium und den Tod ihrer geliebten Familie zu rächen. Zu lange hatte sie in der Hölle gelebt, und jetzt war sie selbst die Hölle geworden. Doch das wirklich Traurige war, dass sie in dem Glauben sterben würde, sie wäre ganz alleine und dass sie niemanden mehr auf dieser Welt hätte, der sie noch liebt. Fest hielt Lumis sie im Arm und vergoss still seine Tränen, während langsam das Leben aus ihr wich. Und dann, mit einem letzten Seufzer, starb Sally schließlich. Kapitel 10: Sallys Macht wächst ------------------------------- „Kurz nachdem Sally starb, ereigneten sich mehrere unerklärte Explosionen in der Stadt und Lumis konnte noch rechtzeitig fliehen. Es blieben nicht einmal Leichen zurück. Lumis selbst wuchs schließlich bei seiner Großtante Audrey auf, heiratete und hatte schließlich fünf Kinder. Von da an wurde sein Name und die Geschichte von Sally von Generation zu Generation weitergereicht.“ Nun legte Harrison eine etwas längere Pause ein, da die Geschichte ihn sehr angestrengt und er Mühe mit der Atmung hatte. Er hustete ein paar Male und sagte schließlich „Sally war die mächtigste Nekromantin und ihre Kraft war unvorstellbar groß. Wäre sie kein 12-jähriges Mädchen, sondern eine erwachsene Frau gewesen, dann hätte sie nicht nur Backwater sondern noch viele weitere Städte zerstört und tausende von Menschen getötet. Diese Macht, die sie entfesselt hat, war einfach zu viel für ihren Körper gewesen, es hat sie von innen her zerfressen wie ein Krebsgeschwür. Und als Resultat ist Sally schließlich gestorben.“ Dathan saß schweigend neben ihn und hatte erschüttert über diese unendlich traurige Geschichte den Kopf gesenkt. „Dann ist Sally-Ann also in dem Glauben gestorben, Lumis wäre tot und dann ist sie auch dieselbe Sally wie aus dem Film?“ Harrison brauchte eine Weile, bis er wieder genug Kraft hatte, um weiterzusprechen. Die Erzählung hatte ihn sehr angestrengt und er war sichtlich erschöpft. „Ja, aber die Sally, die jetzt die Welt terrorisiert, hat nicht mehr viel mit dem armen Mädchen gemeinsam, das vor gut zweihundert Jahren gelebt hat. Weißt du, sie hatte eine unfassbare Macht, mit der sie einfach so eine ganze Stadt ausradieren konnte. Aber das kann einen „Entarteten“ auch nicht davon abhalten, ins Jenseits überzugehen. Für gewöhnlich wird er dann wiedergeboren und damit verliert er all seine Erinnerungen an sein früheres Leben. Aber Sallys Zorn war viel zu stark. Ihre Seele wurde zwar in einem neuen Körper wiedergeboren, aber ihr Geist spaltete sich von der Seele ab.“ „Ein Geist?“ „Es ist kein Geist in dem Sinne. Es sind ihre Erinnerungen, ihre Gefühle, die sich zu etwas manifestiert haben, das mit purer negativer Energie zu vergleichen ist. Sie besitzt keinen festen Körper und existiert trotzdem. Das ist auch der Grund, warum sie keine Augen hat. Unsere Augen sind die Spiegel der Seele und da der ruhelose Teil von Sally keine Seele mehr hat, besitzt sie auch keine Augen. Und nun hat sie wieder genug Kraft gesammelt, um einen weiteren Rachefeldzug zu starten. Sie wird erst aufhören, bis der letzte Mensch auf Erden tot ist.“ „Gibt es denn keine Möglichkeit, sie aufzuhalten? Mein Freund Jamie ist bereits vom Sally-Syndrom befallen und wenn niemand sie aufhält, dann wird er sterben, genauso wie viele andere Menschen auch!“ „Eben darum bist du hier, mein Junge.“ Harrisons rasselnder Atem wurde schwerer und schließlich ergriff seine knochige Hand die von Dathan und drückte sie fest. „Es gibt eine Möglichkeit, Sally von ihrem Rachefeldzug abzubringen und ihr zu helfen: Ihr Geist muss wieder mit ihrer Seele eins werden, damit sie endlich ihre Ruhe findet. Von sich aus wird sie es aber niemals machen, weil ihr Hass einfach zu stark ist. Ihre negative Kraft übersteigt alles andere bislang da gewesene. Deshalb muss eine positive Kraft entgegenwirken. Du, mein Junge, bist der Einzige, der zu ihr durchdringen kann. Du kennst ihren Schmerz, weil du in der gleichen Lage warst. Aber dein Herz ist nicht von Hass und Rache zerfressen, das beweist allein die Tatsache, dass du niemals einem Unschuldigen etwas antun könntest. Du hast ein gutes Herz, genau wie Sally eines zu Lebzeiten hatte. Ich bin mir sicher, dass du zu ihr durchdringen und ihren Zorn besänftigen kannst. Sie muss erfahren, dass sie noch eine Familie hat und dass diese bis heute noch auf sie wartet. Sally mag zwar schreckliche Dinge getan haben, aber sie ist ein Kind mit einem gebrochenen Herzen. Sie hat die Menschen, die sie über alles geliebt hat, sterben sehen und das alles nur ihretwegen. Obwohl sie bis heute an ihrem Plan festgehalten hat, alle Menschen zu töten, sehnt sie sich doch nach Liebe und Zuwendung. Ich weiß, ich verlange viel von dir Dathan, aber ich bin nicht mehr in der Lage, es selbst zu tun.“ Dathan nickte und sah seinem Großvater in die trüben und verkrusteten Augen. „Wie kann ich Sally am besten aufhalten? Was muss ich tun?“ „Du musst die wiedergeborene Sally finden. Wenn mich nicht alles täuscht, wird sie äußerlich ihrem alten Ich sehr ähnlich sein und im schlimmsten Falle sogar als Nekromantin wiedergeboren werden. Du musst sie finden und dann wird der Geist der verstorbenen Sally mit Sicherheit versuchen, ihre eigene Reinkarnation zu töten.“ „Warum das denn?“ „Um zu verhindern, dass sie Ruhe findet. In diesem Zustand würde sie jeden angreifen, der ihr im Grunde nur helfen will. Sie kann längst nicht mehr unterscheiden, wer ihr helfen oder schaden will. Du musst aufpassen, das wird nicht ganz ungefährlich.“ „Und was hat es mit dem Film auf sich? Warum hat sie solch einen umständlichen Weg gewählt?“ Harrison begann kräftig zu husten, wobei sich zeigte, dass er deutlich Schmerzen hatte. Er rang für eine Weile nach Luft, so als drohe er zu ersticken, doch dann fing er sich wieder. „Weil pure Energie verfliegt, wenn sie nicht irgendwo eingespeichert wird. Sallys Geist konnte nicht weiter als eigenständige Form existieren, wenn sie nicht einen Wirt oder ein Medium auswählt. Ich weiß nicht, warum sie diesen Film ausgesucht hat. Wahrscheinlich weil sie wusste, dass im 21. Jahrhundert die Menschen abhängig von Internet und Fernsehen sind. Es ist die perfekte Art, sich schnell auf der ganzen Welt zu verbreiten, sie musste nur auf eine passende Gelegenheit warten.“ „Aber Jamie hat das Sally-Syndrom, ohne dass er jemals den Film gesehen hat. Das macht doch keinen Sinn!“ Als Harrison das hörte, wurde er mit einem Schlage sehr ernst. Das war kein gutes Zeichen. „Das bedeutet, dass Sally inzwischen so stark geworden ist, dass sie bald nicht mehr auf den Film angewiesen ist, um Menschen zu töten. Das ist gar nicht gut. Wenn dem so ist, muss ihr jetzt erst recht Einhalt geboten werden.“ „Und wer hat sich diese Story ausgedacht, dass Sally ihre Familie abgeschlachtet hat?“ „Irgendein Spinner, der den Mythos weiter schüren wollte. Genauso wie diese Tonbandaufnahmen aus dem Institut nachträglich gefälscht wurden.“ „Und wer hat die DVD mit dem Film ins Institut geschickt?“ „Das weiß ich nicht. Offenbar hatte noch jemand gewusst gehabt, dass du dort bist. Ich vermute, dass Sally hinter dem Namen Lil_BlackwhiteGirl steckt und ihren Film auf diese Weise verbreitet. Aber sicherlich gibt es noch andere, die diesen Namen angenommen haben und sich als Sally ausgeben.“ Dathan, der nun langsam ein wenig unruhig wurde, stand von seinem Stuhl auf und begann langsam, auf und ab zu laufen. „Um das mal zusammenzufassen“, sagte er schließlich und machte dabei gestikulierende Bewegungen mit den Händen. „Sally ist eine Vorfahrin von mir, die ihre Familie verloren hat und für die Backwater Tragödie verantwortlich ist, die angeblich nie stattfand. Sie ist inzwischen wiedergeboren worden, ihr Geist läuft Amok und will die ganze Menschheit ausradieren. Und meine einzige Chance, sie zu stoppen ist es, ihr ins Gewissen zu reden und sie zu bequatschen, wieder mit der Seele zu verschmelzen. Und wenn ich auch nur einen Fehler mache, dann wird sie meinen Verstand in Wohlgefallen auflösen und mich genauso umbringen wie zig hundert Menschen zuvor. Und da sie, ich zitiere dich mal, wie reine Energie ist, sind sämtliche Waffen gegen sie wirkungslos. Hab ich soweit alles richtig?“ „Sie wird dir nichts tun können“, sagte Harrison beschwichtigend, wobei seine heisere Stimme nicht mal im Entferntesten die von Dathan übertönen konnte. „Auch wenn sie nicht weiß, dass ihr zur selben Familie gehört, kann sie dich gar nicht mit ihrer Kraft töten, weil ein unterbewusster Teil von ihr diese Verbindung zu dir spürt.“ „Na wunderbar, das beruhigt mich wirklich ungemein. Dafür wird Jamie sterben, wenn die Sache schief läuft und dann bin ich für seinen Tod und den von hunderten von Menschen verantwortlich.“ Harrison wollte etwas erwidern, aber er verstand, was Dathan damit sagen wollte. Er hatte arge Selbstzweifel. Immerhin konnte er nicht mal seine kleine Schwester retten, wie sollte er da jemand anderes retten? Im Grunde genommen konnte er seine Fähigkeit nur einsetzen, um Menschen zu töten und nicht dazu, welche zu retten. Dathan hatte Angst zu versagen und alle zu enttäuschen. Und genau diese Angst hätte Harrison ihm gerne erspart. „Wenn du es nicht versuchst, dann wird Jamie so oder so sterben. Ich weiß, dass du Angst hast und ich wünschte mir, ich könnte dir irgendwie helfen. Aber… ich bin alt und schwach, ich werde sehr bald sterben. Das Einzige, was ich dir noch mitgeben kann, ist das hier.“ Damit holte Harrison eine keine Figur heraus, die aussah wie ein kleiner Zinnsoldat. Sie sah ziemlich mitgenommen aus, war aber noch gut als Zinnsoldat erkennbar. „Das hier gehörte einst unserem Vorfahren Lumis. Ich bin mir sicher, dass dies mehr bewirken wird, als eine Waffe. Trag das immer bei dir!“ Dathan steckte die kleine Figur ein und verabschiedete sich schließlich von seinem todkranken Großvater, der noch einmal von Herzen bedauerte, seinem Enkel diese schwere Last aufzubürden. Mit einem Gefühl, als würde die ganze Welt auf seinem Rücken lasten, kehrte der Nekromant nach Hause zurück und fühlte sich mit einem Male kotzübel. Also kurbelte er das Wagenfenster runter, um sich die frische Nachtluft ins Gesicht wehen zu lassen. Fast fünf Stunden hatte sein Großvater geredet gehabt, doch irgendwie hatte Dathan das Gefühl, als wäre die Zeit viel zu schnell vergangen. Die Geschichte mit Sally bedrückte ihn wirklich und am liebsten hätte er geheult. Das arme Mädchen musste so schrecklich einsam und verzweifelt gewesen sein, wie würde es ihr jetzt nach zweihundert Jahren Einsamkeit wohl gehen? Und was war mit Jamie? Ging es ihm gut? Wie lange würde er noch diesen Terror durchstehen, oder kam bereits jede Hilfe zu spät? Dathan hoffte inständig, dass es ihm gut ging und er sich noch nicht das Leben genommen hatte. Als Dathan endlich zuhause war, war es bereits kurz vor neun und im Haus brannte noch Licht. Jamie war also noch wach. Nachdem der Wagen in die Garage gefahren wurde, kramte Dathan seinen Schlüssel hervor und öffnete die Haustür. „Jamie, ich bin zurück!“ rief er, aber es kam keine Antwort. Das beunruhigte Dathan und so ging er in den Wohnbereich, wo er dann eine unheimliche Entdeckung machte. Die Wände waren mit einem schwarzen Stift bekritzelt und immer war es der eine Satz: „The hell is in our mind“. Wirklich überall war dieser Satz geschrieben worden, die ganzen Wände voll und Dathan wurde klar, dass Jamies Zustand sich dramatisch verschlimmert haben musste. „Jamie!!!“ rief er und eilte die Wendeltreppe hinauf zum Zimmer seines besten Freundes. Dieser kauerte in einer Ecke und hatte seinen Kopf unter den Armen versteckt, wie es Menschen für gewöhnlich bei Erdbeben taten. „Jamie, was ist los? Wie geht es dir?“ Doch Jamie reagierte gar nicht auf Dathans Worte. Er schien zu viel Angst zu haben, oder er schien durch seine Halluzinationen Schwierigkeiten zu haben, unterscheiden zu können, was real war und was nicht. Vorsichtig nahm Dathan seine Hand, doch da fuhr Jamie heftig zusammen. Er schrie laut auf und schlug um sich, doch Dathan hielt ihn fest und versuchte, ihn zu beruhigen. „Jamie, beruhige dich. Ich bin es doch!“ Als Jamie das hörte, sah er endlich, wen er da vor sich hatte und noch nie war er so erleichtert. „Dathan, du bist es wirklich….“ „Na klar bin ich es. Aber sag schon, wie geht es dir?“ Es war zwecklos, etwas von heiler Welt vorzulügen. Die Wände im Haus und der Zustand, in dem sein bester Freund ihn vorgefunden hatte, waren einfach nicht zu leugnen. Außerdem hatte er nicht mehr die Kraft, noch weiterhin stark zu bleiben, denn Sallys Terror war zum blanken Alptraum geworden. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe, Dathan. Ich kann nicht mehr. Wenn ich nicht dich hätte, hätte ich mir schon längst die Kugel gegeben.“ Dathan brachte ihn ins Wohnzimmer und machte ihm einen Baldriantee und gab ihm ein paar Beruhigungsmittel. In knappen Worten erzählte Dathan von seinem Gespräch mit Harrison und dass es eine Möglichkeit gäbe, Sally aufzuhalten. „Wir müssen Sallys Wiedergeburt finden und diese vor ihrer rachsüchtigen Hälfte beschützen.“ „Das müsste doch irgendwie zu schaffen sein. Fangen wir gleich morgen früh damit an, okay?“ „Das wollte ich auch gerade vorschlagen. Nimm erst mal deine Medikamente, ich bleib noch eine Weile auf. Ich muss mir noch die ganze Sache durch den Kopf gehen lassen.“ „Ich glaub nicht, dass ich jetzt noch schlafen will nach all der ganzen Scheiße.“ „Du musst aber, sonst bist du morgen völlig fertig. Du brauchst keine Angst zu haben. Sally kann dir körperlich nichts anhaben und mit den Schlafmitteln träumst du doch sowieso nicht.“ Jamie sah aus, als würde er jeden Moment völlig erschöpft zusammenbrechen. In Dathans Abwesenheit schien er auch ziemlich geweint zu haben. Der Ärmste musste wirklich die Hölle durchmachen. „Glaubst du, wir finden sie überhaupt?“ „Wir müssen es einfach versuchen. Ich geh heute schon mal die Adressen mit den verschiedenen Waisenhäusern durch. Großvater hat mir den Tipp gegeben, dass unsere neue Sally der alten sehr ähnlich sieht. Wir brauchen also nur zu fragen, ob es ein Mädchen gibt, das der Zeichentrickhorrorfigur Sally sehr ähnlich sieht. Leg du dich erst mal schlafen.“ Da Jamie nicht alleine sein wollte, beschloss er, auf der Couch zu schlafen und nahm schließlich seine Schlaftabletten ein. Knapp eine halbe Stunde später schlief er tief und fest und Dathan setzte sich an seinen Laptop und begann sich sämtliche Adressen von Waisenhäusern der Umgebung herauszusuchen. Es waren zum Glück nicht sehr viele, aber im schlimmsten Falle musste Dathan damit rechnen, alle Staaten der USA abzusuchen. Das konnte noch sehr lange dauern und außerdem noch ziemlich anstrengend werden. Bis drei Uhr morgens blieb er wach, dann schlief er schließlich mitten in der Suche ein. Um halb elf Uhr wachte Dathan schließlich auf und fühlte sich gerädert und hundeelend. Jamie schlief immer noch und hatte ein Kissen an sich gepresst und schnarchte leise. Er sah wirklich friedlich und erholt aus und Dathan beschloss, ihn erst einmal schlafen zu lassen. Jamie brauchte die Ruhe und solange er schlief, konnte Sally ihn nicht terrorisieren. Mit einer Tasse Kaffee setzte er sich auf die Couch und kramte die aufgeschriebenen Nummern und Adressen hervor und begann nach und nach die Waisenhäuser in der Umgebung abzutelefonieren. Es brauchte einiges Geschick und vor allem Redegewandtheit, um Informationen zu erhalten. Dabei musste er ein wenig seine Stimme verstellen, da seine sehr tief und rau klang und diese allein schon manche Menschen abschreckte. In kürzester Zeit hatte er alle Adressen durch und nichts herausgefunden, also begann er nach Artikeln zu suchen, die vielleicht von einem Mädchen berichten könnten, das Sally sehr ähnlich sah. Wenn sie wie er begabt war, dann wäre sie viel leichter zu finden, aber wenn Dathan ehrlich war, wünschte er sich es lieber nicht. Nachdem, was er von seinem Großvater erfahren hatte, wurden alle Begabten (entartet klang zu hart für ihn) Opfer von jahrelanger Misshandlung und starben allesamt unglücklich und voller Hass gegen andere. Ihnen wurde einfach kein glückliches Leben zuteil und lieber wollte sich Dathan doppelte Arbeit machen, wenn er wenigstens wüsste, dass Sally in ihrem neuen Leben nicht so gestraft war. Die Worte seines Großvaters beschäftigten ihn nach wie vor und er ließ sie sich erneut durch den Kopf gehen. Alle Menschen kommen mit der Kraft zur Welt, den Tod zu beeinflussen. Aber nur die wenigsten können sie anwenden, indem sie wieder ins Leben zurückkehren, wenn sie sterben. Und manche sind so mächtig, dass sie wie von einer dunklen Aura umgeben sind. Sie sind sogar in der Lage, den Tod anderer Menschen zu beeinflussen. Die Menschen um sie herum spüren das. Sie haben instinktiv Angst vor diesen Begabten, weil der Tod die Urangst der Menschen darstellt. Ihre Feindseligkeit ist wie eine Schutzreaktion, wie bei Tieren. Wenn sie sich bedroht fühlen, reagieren sie aggressiv und feindselig. Das hat nichts mit Bosheit zu tun, sie wissen selbst nicht, warum sie solch eine Angst vor diesen Begabten haben. Sollte das etwa bedeuten, dass Toby und die anderen, die ihn damals mit Säure entstellt hatten, gar nichts dafür konnten, dass sie so feindselig auf Dathan reagiert hatten? Lag es ganz einfach daran, dass seine verborgene Kraft sie dazu getrieben hatte? Sollte das etwa auch auf seine alte Klasse zutreffen, die seine Schwester, seinen Freund Koishi und seine Cousine getötet hatten und hatte er sie völlig zu Unrecht getötet? Nein, auch wenn sich der ganze Hass immer gegen ihn gerichtet hatte, so hatte niemand das Recht, seine Freunde und seine Familie anzugreifen. Seine Schwester war gerade mal vier Jahre alt gewesen und sie… Dathan zuckte zusammen, als ihm wieder das Bild seiner kleinen Schwester vor Augen schwebte. Du meine Güte, sie hatte auch rote Augen. Sie war auch wie ich begabt. Als Dathan diese Erkenntnis kam, krampfte sich sein Magen zusammen. Seine kleine Schwester… war genau wie er ein geborener Außenseiter. Und sie war gestorben, bevor sie ebenso ein Opfer des Hasses werden konnte wie er. Das Leben konnte wirklich unsagbar grausam sein. Schließlich machte Dathan Frühstück fertig und nachdem er sich noch eine Tasse Kaffee eingeschüttet hatte, begann er nach weiteren Waisenhäusern zu suchen, dieses Mal aber ausschließlich in den Südstaaten, wo Sally mit ihrer Familie vor zweihundert Jahren gelebt hatte. Schließlich begann er mit einer Internetsuchaktion. Er gab in die Suchmaschine „Sally“, „Mädchen“, „Waisenhaus“ und „rote Augen“ ein. Das Ergebnis war, dass unzählige Artikel über das Sally-Phänomen erschienen, aber keine, die von einem kleinen Waisenkind handelte, dass ihr ähnlich sehe. Drei Stunden durchsuchte er die einzelnen Seiten, begann sogar in Foren zu suchen. Schließlich fragte er auf Seiten nach, ob jemand ein Mädchen kenne, welches genau wie Sally aussah und kehrte dann wieder zur Suchaktion per Telefon zurück. Jamie wachte gegen 13 Uhr auf und schlurfte ins Bad. Er wirkte ziemlich müde, aber zumindest hatte er sich von dem Psychoterror ein wenig erholen können. Als er wieder zurückkam und Dathan sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte, lächelte er müde und bemerkte sarkastisch, er könne Bäume ausreißen. „Hast du schon etwas herausfinden können?“ „Leider nein, ich hab bereits 50 verschiedene Waisenhäuser abtelefoniert und auch schon eine Internetsuche gestartet, aber leider bis jetzt kein Erfolg. Ich werde mich mehr auf die Südstaaten konzentrieren, wo Sally vor zweihundert Jahren gelebt hat.“ „Machen wir es doch so: Ich nehme mir den Osten vor und du den Westen. So teilen wir uns die Arbeit. Wir haben ja zum Glück zwei Telefone.“ Jamie ging in die Küche, machte sich Cornflakes zum Essen und kam zurück ins Wohnzimmer. Bevor er allerdings mit der Suche beginnen wollte, schaltete er den Fernseher ein, um die Nachrichten zu sehen. Dort wurde soeben die Mitteilung gemacht, dass sich am gestrigen Tag in South Rickfields dreißig Menschen das Leben genommen hätten, indem sie von verschiedenen Dächern sprangen. Bizarr daran war, dass sie lauthals gelacht hatten, als sie sprangen. Und das waren nicht die einzigen Suizidfälle. In den USA haben sich schätzungsweise 311 weitere Menschen auf diese Weise umgebracht und sie hatten allesamt am Sally-Syndrom gelitten, ohne dass sie jemals den Film gesehen hätten. Der Reporter berichtete, dass alle Selbstmörder die gleichen Symptome gezeigt hätten, doch dann sei ihre Stimmung urplötzlich umgeschlagen. Sie seien völlig euphorisch gewesen und das auch in einem Maße, das fast an Wahnsinn grenze. Als Jamie das hörte, rutschte ihm merklich das Herz in die Hose und sofort schaltete er den Fernseher wieder aus. „Scheiße“, murmelte er und biss sich auf die Unterlippe. „Das sieht nicht gut aus, das sieht gar nicht gut aus.“ „Dann hatte Großvater Recht. Sally braucht den Film jetzt gar nicht mehr, um die Menschen zu töten. Wir müssen uns beeilen, sonst wird es noch eine weitere Backwater Tragödie geben. Nur dieses Mal in einem unvorstellbaren Ausmaß.“ Kapitel 11: Samuel Leens ------------------------ Sie verbrachten den ganzen Tag damit, sämtliche Waisenhäuser abzufragen, aber allem Anschein nach hatte niemand ein Mädchen dort, welches Sally sehr ähnlich sah. „Vielleicht lebt sie ja gar nicht im Waisenhaus, sondern hat bereits eine Familie.“ „Dann wird es unmöglich, sie zu finden“, seufzte Jamie und ließ demotiviert den Kopf hängen. Auch Dathan verlor immer mehr den Mut, dass sie unter 311 Millionen Menschen ein kleines Mädchen finden konnten. Das war noch schwieriger als die berühmte Nadel im Heuhaufen. Doch er wollte keine Möglichkeit ungenutzt lassen. So schnell wollte er auch nicht aufgeben. Jamie brauchte schnellstens Hilfe, sonst würde er bald sterben und noch viele andere Menschen. „Komm schon, wir müssen es einfach weiter versuchen!“ Schließlich rief Jamie ein paar sehr einflussreiche Leute an, die er aus dem Adressbuch seines Vaters kannte und die alles Nötige veranlassen sollten, das Mädchen zu finden. Gegen Nachmittag verschlechterte sich Jamies Zustand wieder und selbst Beruhigungsmittel schlugen nicht an. Er verlor die Nerven als er glaubte, Sally in einem Spiegel zu sehen, wo sie ihn mörderisch angrinste und lachte. Daraufhin schrie Jamie und hatte einen Anfall, sodass Dathan alle Hände voll zu tun hatte, ihn zu beruhigen. Schließlich, als Jamie sogar zu randalieren und um sich zu schlagen begann, blieb Dathan nichts anderes übrig, als ihn zu fesseln und in seinem Zimmer einzuschließen. Dort ließ er ihn, bis er sich endlich wieder eingekriegt hatte. Das geschah erst vier Stunden später, als es nämlich schon zehn Uhr abends war. Erschöpft lag Jamie auf der Couch und starrte mit trüben Augen die Decke an. „Ich hätte nie gedacht, dass ein kleines Mädchen derartig bösartig sein kann.“ „Sie ist nicht bösartig“, sagte Dathan und reichte ihm einen Kamillentee zur Beruhigung. „Weder sie noch irgendjemand anderes kann etwas dafür, dass sie so geworden ist.“ „Toll, das hilft mir aber auch nicht viel weiter. Du klingst genau wie diese Pitbullhalter, die immer nur sagen „Der will doch nur spielen“, bis sie feststellen, dass das Vieh einem Kind den Arm abgebissen hat.“ Jamie war deutlich gereizt und auffallend nervös. Zwar versuchte er, sich zusammenzureißen, doch nervlich war er bereits am Ende. Dathan konnte nicht länger nur nach Sally suchen. Es stand weder fest, dass sie Waise war, noch dass die Familie hatte, geschweige denn, dass sie überhaupt lebte. Schließlich griff Dathan zum Hörer und rief die Pflegerin seines Großvaters an. Diese ging schließlich mit dem Telefon ins Zimmer von Harrison und reichte ihm den Hörer. Der alte Mann klang heute ein klein wenig gesünder als das letzte Mal. „Dathan, was gibt es denn? Hast du Schwierigkeiten?“ „Ich hab alles versucht, aber ich kann Sally unmöglich finden. Bitte, es muss doch eine andere Möglichkeit geben, sie aufzuhalten. Uns läuft die Zeit davon und ich kann unmöglich ganz Amerika nach einem Kind absuchen. Was ist, wenn sie schon bereits tot ist?“ Harrison hörte, dass Dathan ziemlich in Bedrängnis war und er nicht mehr weiter wusste. Nach einer kurzen Pause, in der nur sein laut rasselnder Atem zu hören war, sagte er „Wenn dem so ist, dann ruf meinen Notar an. Dieser hat die Nummer eines Spezialisten, der sich mit solchen Dingen besser auskennt als ich.“ „Ein Medium oder einen Exorzisten?“ „Nein, es ist einer von der N.E.S.P.R, der Gesellschaft Neuenglands für übernatürliche Forschung. Vielleicht können die dir besser zur Hand gehen. Warte mal, ich gebe dir die Nummer.“ Damit nannte Harrison langsam und deutlich die Nummer seines Notars und wünschte ihm viel Glück. Der Notar schließlich gab Dathan die Telefonnummer eines Dämonologen, doch wie sich herausstellte, war er nicht erreichbar. Er ging nicht ans Telefon und der nächste Spezialist lebte mindestens 200 Kilometer weiter weg. Also blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis er erreichbar war. An die Wirkung eines Mediums oder eines Exorzisten glaubte Dathan sowieso nicht. Er hatte eigentlich nie an Übernatürliches geglaubt. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo er wieder ins Leben zurückgekehrt war. Aber trotzdem war er der Meinung, dass Exorzisten oder spirituelle Medien im Grunde nur Betrüger waren. Soweit er richtig informiert war, wurde die N.E.S.P.R. von Ed und Lorraine Warren gegründet, die selbst einige paranormale Phänomene, wie etwa die besessene Puppe Annabelle oder das Haus von Amityville untersucht hatten. Und professionelle Dämonologen oder Parapsychologen, die mehr mit Wissenschaft und klarem Verstand an die Sache herangingen, erschienen ihm viel vertrauenswürdiger als Priester, die sich nur auf Gebete und Weihwasser konzentrierten oder irgendwelche Jahrmarktsmedien, die nur auf Geld aus waren. Den ganzen Tag versuchte Dathan, den Dämonologen zu erreichen, während Jamie sich weiterhin auf seine Suche im Internet konzentrierte. Er aß kaum etwas, er war außerdem blass geworden und hatte dunkle Augenringe. Schließlich jedoch, ganz unerwartet, begann das Telefon zu klingeln und als Jamie abnahm, reagierte dieser sehr überrascht. Dann schließlich sagte er „Ja, wollen Sie ihn sprechen? Okay.“ Damit gab er Dathan das Telefon. „Ein gewisser Samuel Leens will dich sprechen.“ Da Dathan überhaupt nichts mit diesem Namen anfangen konnte, meldete er sich zögerlich mit seinem Namen und fragte, worum es ginge. „Soweit ich richtig informiert bin, sind Sie auf der Suche nach Sally, richtig?“ „Ja, warum fragen Sie?“ „Ich bin Dämonologe und untersuche paranormale Phänomene. Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit dem Fall Sally und habe bereits einige interessante Details in Erfahrung bringen können. Können wir einen Termin vereinbaren für ein näheres Gespräch?“ „Wann könnten Sie denn kommen?“ „Jederzeit.“ „Gut, dann können Sie gerne heute noch vorbeikommen.“ „In Ordnung, dann bin ich in einer halben Stunde hier.“ Damit war das Gespräch beendet und überrascht sahen sich Dathan und Jamie an. Das war ja ein merkwürdiger Zufall gewesen. Zuerst versuchten sie die ganze Zeit, diesen Dämonologen anzurufen, dann rief er plötzlich von selbst an und schien nicht mal zu wissen, dass Dathan versucht hatte, ihn zu erreichen. Na was soll’s. Hauptsache, er konnte ihnen helfen. „Wenigstens haben wir jetzt einen kleinen Lichtblick. Noch ist nicht alle Hoffnung verloren.“ Und allein schon die Tatsache, dass dieser Spezialist bereits mit dem Thema Sally vertraut war, klang auch viel versprechend. Während der halben Stunde Wartezeit machten Dathan und Jamie ein wenig Ordnung und bereiteten schon mal eine Kanne Kaffee vor. Schließlich klingelte es an der Haustür und als Jamie öffnete, begrüßte ihn ein ziemlich groß gewachsener junger Mann von ca. 28 Jahren, mit aschblondem Haar und hellbraunen Augen. Er wirkte ein wenig kühl und sein Lächeln hatte etwas sehr Ernstes und gleichzeitig Verschlagenes. Man konnte fast meinen, er wäre ein Vertreter oder Bankier, würde er nicht eine einfache Jeans im Streetstyle, einen weißrot gestreiften Pullover und eine kurzärmelige schwarze Jacke mit Fellkapuze tragen. In seiner linken Hand trug er einen großen, schwarzen Koffer, der wie ein Reisekoffer aussah. Er schüttelte beiden die Hand, als er das Haus betrat, wobei er aber Jamie besonders beäugte. „Sie sind Jamie, richtig? Soweit ich richtig informiert bin, leiden Sie am Sally-Syndrom.“ „Äh… ja…“ „Wie lange schon?“ „Schätzungsweise sechs Tage.“ Dathan reichte er zur Begrüßung ebenfalls die Hand und zeigte nicht den leisesten Anflug von Misstrauen oder Furcht. Stattdessen machte er einen sehr ernsten und zudem auch seriösen Eindruck. Er setzte sich auf die Couch und stellte seinen Koffer beiseite. Dankend nahm er eine Tasse Kaffee an, den er mit vier Löffeln Zucker süßte und dann trank. Dathan begann schließlich die Konversation, indem er fragte, woher Samuel denn von seiner Suche nach Sally wusste. Die Frage war schnell beantwortet: Er war auf Dathans Suchanfragen in den Foren gestoßen und hatte daraus geschlossen, dass dieser sich ebenfalls mit dem Thema Sally beschäftigte und bestimmte Ziele verfolgte. Dabei hatte er auch von Jamies Erkrankung gelesen und daraufhin sofort Kontakt aufgenommen. „Sie werden es kaum glauben Mr. Leens, aber wir hatten bereits versucht gehabt, Sie telefonisch zu erreichen.“ „Ich war mit Nachforschungen beschäftigt und deshalb nicht im Büro. Aber ich schlage vor, wir reden uns mit Vornamen an. Das hilft ungemein, das Vertrauensverhältnis zu stärken und das ist ein wichtiger Bestandteil für eine Geistvertreibung. Nennen Sie mich also ruhig Sam. Gut, da das schon mal geklärt ist, möchte ich gerne wissen, weshalb Sie nach einem Mädchen suchen, dass dieser Sally ähnlich sieht.“ Dathan begann daraufhin so kurz wie möglich die Geschichte von seiner Vorfahrin zu erzählen und was es mit dem Erbe seiner Familie auf sich hatte. Er schilderte die Theorie seines Großvaters, dass man Sally nur aufhalten könne, indem ihr Geist wieder mit ihrer Seele verschmelze. Dabei betonte er besonders das Problem, dass die wiedergeborene Sally so gut wie unmöglich aufzufinden sei. Deshalb hoffte er von einem Spezialisten für Paranormale Phänomene Hilfe und vielleicht noch andere Alternativen, wie man das Unheil stoppen könne. Während er sprach, hörte Samuel ihm aufmerksam zu, musterte ihn dabei und schien dabei sehr an Dathans Ausstrahlung interessiert zu sein. Dieser kam sich ein wenig merkwürdig dabei vor, denn er spürte, dass dieser Dämonologe da mehr in ihn zu sehen schien als andere Menschen. So als ob er wüsste, dass er ein Nekromant war und dass er nun zum ersten Mal einen zu Gesicht bekam und ihn nun begutachtete wie ein Tier im Zoo. Und dass er auch noch so fasziniert von Dathans Erscheinung zu sein schien, wirkte irgendwie befremdlich. Schließlich, als Dathan mit seinem Bericht beendet hatte, bat Samuel ihn, den Mundschutz abzulegen, den er sich kurz vor seinem Eintreffen angelegt hatte. Es gäbe nichts, was er unbedingt vor ihn verstecken müsse und ihn interessiere auch gar nicht das Aussehen anderer Leute. Nach anfänglichem Zögern nahm Dathan den Mundschutz ab und entblößte damit sein entstelltes Gesicht. Sam übersah die Narben mit solchem Desinteresse, als sähe Dathan wie ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch aus und er verhielt sich auch nicht anders ihm gegenüber als zu Jamie. Dies sprach ebenso für seine Professionalität, auch wenn er noch recht jung war. Schließlich öffnete er seinen Koffer und holte ein Gerät hervor, welches wie ein E-Meter aussah, das die Mitglieder von Scientology benutzten. Das erweckte nicht gerade Vertrauen in Dathan und Jamie und verwirrt sahen sie den Dämonologen an. Dieser begann das Gerät an Kabeln anzuschließen und es einzustellen. „Um vorwegzunehmen, ich bin kein Dämonologe in dem Sinne, dass ich mich mit der Hölle beschäftige. Eigentlich konzentriere ich mich mehr auf die Forschung spiritueller Energie und die Nekromantie. Beides hängt in einem sehr engen Verhältnis miteinander zusammen und die Lehren erinnern ein klein wenig an das, was man in der Scientology Sekte zu hören bekommt. Wir Menschen haben eine Energie, die keinen körperlichen Ursprung hat. Sie ist spirituell, man kann sie auch die Energie der Seele nennen. Sie ist das, was uns am Leben erhält und auch einen Großteil unserer Mentalität ausmacht. Sie kann in positive und negative Energie getrennt werden. Die positive repräsentiert das Leben und diese kann man als Lebensenergie bezeichnen. Sie ist das, was unserem Körper zum Leben bringt und uns erhält. Im Laufe der Jahre kann diese jedoch abnehmen, sei es durch körperliche Beschwerden oder durch Umwelteinflüsse, die unser Gefühlsleben beeinträchtigen. Die negative Energie repräsentiert den Tod und den Zerfall. Jedes Lebewesen kommt mit einer ausgeglichenen Energie zur Welt und kann diese auch nicht beeinflussen. Es ist auch nicht möglich, mit nur einem Energiepol zur Welt zu kommen. Selbst Gott könnte theoretisch nicht ohne diese beiden Pole existieren, denn da er das Leben beeinflusst, muss er auch den Tod beeinflussen können. Ohne das eine kann das andere nicht existieren, das ist das erste und höchste Gesetz. Allerdings gibt es einige Menschen, die einen überdurchschnittlich hohen Energielevel haben und dadurch auch anders von ihrer Umwelt wahrgenommen werden. Sie nennen es Ausstrahlung. Menschen mit starker positiver Energie erfahren sehr schnell Zuneigung, Liebe und Vertrauen von ihren Mitmenschen. Sie können Menschen ihren Lebenswillen zurückgeben oder Hoffnung schenken. Viele dieser Menschen wurden von der Kirche zu Heiligen ernannt oder sind auf andere Art und Weise berühmt geworden. Wir sehen zu ihnen auf und vertrauen ihnen blind, obwohl wir uns den Grund nicht erklären können. Weil wir uns instinktiv an das Leben klammern, fühlen wir uns von diesen Menschen angezogen. Das ist aber auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt aber auch solche, die mit einer überdurchschnittlich starken negativen Energie zur Welt kommen. Diese erfahren das komplette Gegenteil von denen, die sich durch eine starke positive Energie auszeichnen. Sie erfahren nichts als Verachtung, Ablehnung und Ausgrenzung. Das liegt daran, dass jedes Lebewesen den Tod fürchtet. Wenige, die gegen diese Urangst immun sind oder deren Liebe zu diesen Menschen stärker ist, die spüren diese Energie nicht. Meist sind es enge Verwandte oder Freunde von Kindertagen her. Jene Menschen, deren Energielevel die Norm übersteigt, können sogar Macht auf das Leben und den Tod ausüben. Menschen mit positiver Energie nutzen diese zu Lebzeiten völlig unbewusst, meist indem sie anderen ihren Lebenswillen zurückgeben und ihnen Kraft geben. Die mit der negativen Energie können meist gar nicht auf ihre Macht zurückgreifen, wenn sie sich nicht darüber bewusst sind. Sie können erst über sie verfügen, wenn sie die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits erreicht haben. Von da an können sie ihre Macht dazu einsetzen, um Menschen zu töten. Das ist eine äußerst gefährliche Gabe und diese Menschen nennen wir Totenflüsterer oder Nekromanten.“ Das mit der Ausstrahlung und der Urangst wusste Dathan bereits von seinem Großvater her. Dass es aber auch Menschen mit einer vollkommen gegensätzlichen Ausstrahlung gab, war ihm bislang neu. „Wie kommt es, dass diese Menschen eine solch starke Energie haben?“ „Da die Seele wiedergeboren werden kann“, erklärte Samuel, der inzwischen das Gerät betriebsbereit hatte „nimmt sie alle Energie aus ihrem letzten Leben mit und es kann sein, dass all die Gefühle und Erinnerungen diese Energie noch stärken. Diese Energie nennen Parapsychologen und Dämonologen Geister. Es sind keine Seelen, sondern die Energie, die sich von dieser Seele gelöst hat und die zu stark war, um einfach zu verfliegen. Folglich also müssen Nekromanten in ihrem Leben erheblich viel negative Energie gesammelt haben, oder aber ihre positive Energie ist gewichen. Das kann sehr schnell passieren. Mit diesem Gerät hier messe ich die Energie eines Menschen, also wirklich so ungefähr wie bei diesen Messungen bei Scientology. Dadurch kann ich feststellen, wie stark das Energiepotential ist. Der Level eines normalen Menschen liegt bei +5 bis -5 und die Überdurchschnittlichen erreichen ca. +100 bis -100.“ Also zwanzig Mal mehr. Das war wirklich enorm. Zur Demonstration ergriff Samuel die beiden Elektroden und sofort schlug der Zeiger aus. Er zeigte +1,2 an. Er lag also im Normbereich. Schließlich bat er Jamie, es mal auszuprobieren. Als er jedoch die Elektroden in die Hände nahm, zeigten diese -19,2 an. Das beunruhigte ihn schon, aber Samuel beruhigte ihn. „Da Sie momentan unter dem Sally-Syndrom leiden, ist es völlig normal, dass sich Ihr Negativlevel erhöht hat. Dathan, möchten Sie es mal austesten?“ Nun nahm Dathan die beiden Elektroden und sofort schoss der Zeiger nach unten und zeigte -69,4 an. Als er diese Zahl sah, senkte er schon fast beschämt den Kopf, denn er hätte nicht gedacht, dass seine negative Energie so stark sei. Das sei für einen Überdurchschnittlichen jedoch relativ wenig, erklärte Samuel schließlich. „Normalerweise liegt der Schnitt bei 85 bis 95. Ihr recht niedriger Wert kann sich durch Ihre positive Einstellung erklären.“ „Stimmt. Dathan wäre niemals so grausam, um jemals einem Menschen etwas anzutun, der ihm nie etwas getan hat. Er besitzt ein wirklich großes Herz!“ „Das besitzen fast alle Überdurchschnittlichen. Sie alle weisen nicht nur eine starke spirituelle, sondern auch eine ebenso starke emotionale Energie vor. Zu Lebzeiten haben fast alle Nekromanten einen Wert von -40 bis -55, jedoch sinkt diese nach ihrem Tode rapide auf bis zu -100. Sie entwickeln einen unsagbar großen Hass und werden verbittert, rachsüchtig und zornig. Offenbar ist es Ihnen gelungen, Ihre positive Kraft zu bewahren. Das ist selbst für einen Überdurchschnittlichen absolut selten.“ „Und wie hoch könnte man den von Sally schätzen?“ Auf diese Frage musste Samuel sich erst einmal eine Antwort überlegen. Er begann ernsthaft zu grübeln und legte dabei sein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen. „Wenn ich ehrlich sein soll“, sagte er schließlich nach einigem Nachdenken „so hatte ich ihren Energiewert bislang bei -120 geschätzt. Aber wo Sie mir ihre Geschichte erzählt haben und die Zerstörung, die sie angerichtet hat, fürchte ich, dass er bei -400 und -455 liegt. Und das ist der Wert nach ihrem Tode in Shallow Graves.“ Diese unglaubliche Zahl erschreckte Dathan und Jamie und es war unfassbar, wie der Dämonologe dabei noch so ruhig bleiben konnte. „Ich vermute, dass vor ihrer Ermordung dieser Wert gerade mal ein Viertel betrug. Damit würde ihr Negativlevel alles übersteigen, was ich jemals bisher erlebt habe.“ Und das sagte er so kühl und sachlich, als wäre da nichts Großartiges dabei. Der Kerl musste echt Nerven haben. „Und wie kann man einen Geist bekämpfen?“ „Zuerst muss man sein Energiezentrum finden. Geister können ihre eigene Energie dadurch verstärken, indem sie von der ihrer Opfer zehren. Deshalb sind sie so oft darauf aus, ihnen Angst einzujagen. Trotzdem müssen sie sich an ein Objekt binden, da sie sich sonst früher oder später auflösen würden. Es können alle möglichen Gegenstände sein: Masken, Figuren, Stofftiere oder Puppen. Letzteres ist besonders beliebt, es kam auch schon vor, dass Fotoapparate, Radios oder Fernseher befallen wurden. Diese werden auch immer beliebter. Sallys Geist hat sich an den Film geheftet und schickt diesen an ihre Opfer. Auch wenn sie inzwischen ohne den Film töten kann, so ruht noch alle Energie im Film. Glücklicherweise konnte ich ihn sicherstellen, bevor er noch in falsche Hände geraten konnte.“ Damit holte Samuel eine kleine Box mit einem Zahlenschloss aus dem Koffer. Als er diese öffnete und eine DVD herausholte, lasen sie alle „Happy Sally“. Die DVD sah völlig normal und unscheinbar aus. Ganz harmlos, wie eine normale DVD. Doch kaum geriet sie auch nur in die Nähe des Zählers, schoss der Zeiger urplötzlich in den negativen Bereich und unterbot den Mindestwert von -200. „Ed und Lorraine Warren hatten mich ausgebildet, zusammen mit meinen Kollegen ihre Forschungen weiterzuführen. Von Ed habe ich gelernt, dass man am Besten solchen bösen Geistern entgegenwirkt, indem man sie mit positiver Kraft bekämpft. Also meist mit einem Exorzismus. Leider sind jedoch manche Objekte von solch mächtigen Geistern besessen, dass oftmals ein einziger Exorzismus nicht ausreicht. Die besessene Puppe Annabelle zum Beispiel hatte selbst nach einem Exorzismus eine unglaublich große Energie übrig, dass man sie zur Sicherheit wegschließen musste. Folglich brauchen wir eine viel stärkere positive Energie als die eines Exorzismus.“ „Und das wäre?“ „Die mächtigste Energie, die es überhaupt gibt: Die Liebe.“ Kapitel 12: Sally greift an --------------------------- „Die Liebe kann die zugleich wunderbarste, als auch die grausamste aller Waffen sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie echt oder gespielt ist. Sie ist so stark, dass sie Menschen aus der Dunkelheit retten, oder in den Abgrund stürzen kann. Liebe kann sowohl Seelenheil, als auch Schmerz und zugleich produktiv, als auch destruktiv sein. Und am Mächtigsten ist die Liebe eines Kindes zu seiner Familie. Sie ist bedingungslos und völlig frei von Bedingungen und Hintergedanken. Auch wenn Sally momentan eine gefährlich starke negative Energie aufweist und sie jeden Menschen auf dieser Welt töten will, kann die Liebe sie augenblicklich in positive umwandeln und sie läutern. Vor allem, da sie ein Kind ist, dürfte es nicht unmöglich sein, weil sie ganz anders gestrickt ist als ein Erwachsener. Sie sehnt sich nach der Liebe einer Familie und wenn dieser Herzenswunsch erfüllt wird, dann wird ihr Geist augenblicklich verschwinden und höchstwahrscheinlich erlangt sie dann auch wieder ihre normale Gestalt zurück.“ Samuel packte sein Messgerät wieder ein, ließ aber die DVD draußen. Er legte nun eine Pause ein, um sich ein wenig am Gebäck zu bedienen, welches Dathan bereitgestellt hatte. Während er die ganze Zeit geredet hatte, hatte er nicht einen Moment etwas von seiner Seriosität eingebüßt, obwohl das, was er sagte, im ersten Moment völlig unglaubwürdig und hirnrissig klang. Aber Dathan und Jamie zweifelten nicht ein einziges Wort von dem an, was er sagte. Das, was er sagte, deckte sich genau mit dem, was Harrison erzählt hatte und allein schon seine ernste Art überzeugte einfach. Man sah ihm deutlich an, dass er seine Fälle stets ernst nahm und mit der gleichen Professionalität heranging, wie ein normaler Mensch an seine Arbeit. „Für Sallys Läuterung brauchen wir nicht zwingend ihre Reinkarnation, ich werde aber trotzdem die Augen offen halten. Fürs Erste würde ich vorschlagen, dass wir Schritt für Schritt an das Problem herangehen. Wir würden sonst Gefahr laufen, dass Sally sich bedroht fühlt und uns angreift. Das könnte sogar lebensgefährlich für uns werden.“ „Und was genau sollen wir tun?“ „Sally das Gefühl geben, dass sie durchaus hier toleriert wird. Sie sollten mit einfachen Dingen anfangen: Decken Sie zum Beispiel den Tisch für eine dritte Person, oder richten Sie eine Art kleinen Altar ein. Indem Sie Sally zeigen, dass Sie ihre Gegenwart nicht fürchten, sondern sogar begrüßen, wird ihr Terror wahrscheinlich fürs Erste abebben.“ „Sollte man so etwas bei Geisteraustreibung nicht eigentlich lassen?“ fragte Dathan, der sich eigentlich etwas völlig anderes vorgestellt hatte. Er hatte eigentlich an so etwas wie eine Geisteraustreibung oder an einen Exorzismus gedacht. Dass er jetzt aber Sally die Erlaubnis erteilen sollte, hier herumzuspuken, widersprach doch eigentlich alledem, was er über Geisteraustreibungen gehört hatte. Sam erklärte jedoch, dass sie es mit dem Geist eines verletzten kleinen Mädchens zu tun hatten und Sally äußerst sensibel war. Würde man sie gewaltsam austreiben, würde das nur ihren Hass weiter schüren und das genaue Gegenteil bewirken. „Dathan, Sie haben mir erzählt, dass Sally den Tod ihrer Familie mit ansehen musste und sie selbst ihr Leben lang ausgegrenzt und misshandelt wurde. Solche Erlebnisse brennen sich sehr tief in unser Innerstes und genau daraus entsteht auch all der Hass in Sally. Diese schweren Traumata sind die Quelle ihrer Energie und sie gewaltsam durch einen Exorzismus auszutreiben, würde sie nur noch mehr verletzen. Normalerweise würde ich tatsächlich nicht dazu raten, einen böswilligen Geist im Haus derart Willkommen zu heißen, weil das gefährlich werden kann, aber Sally ist durchaus kein böser Geist, soweit ich das beurteilen kann. Falls es jedoch Probleme geben sollte, können Sie mich jederzeit unter meiner Privatnummer erreichen.“ Damit ließ Samuel seine Karte da und erstellte eine Liste mit Dingen, die sie die nächsten drei Tage tun sollten. „Falls während dieser Zeit nichts Beunruhigendes passieren sollte, werden wir in die nächste Phase eintreten. Wichtig ist aber, dass Sie während dieser Zeit nicht negativ über Sally sprechen oder ihr das Gefühl geben, sie wäre nicht erwünscht. Das könnte sie unnötig provozieren und im schlimmsten Falle würde Sally sogar zum Angriff übergehen.“ Irgendwie hatte dieser Dämonologe oder Geisterforscher etwas von einem Psychologen, wie den Hausbesitzern erschien. Auf Jamies Frage hin, woher er denn so viel über die Gedanken und Gefühle eines Kindes Bescheid wüsste, erklärte Samuel, dass Parapsychologie sich mit der Seelenkunde beschäftigt und man dafür durchaus auch Kenntnisse im Bereich der Psychologie haben müsse. Außerdem waren die meisten Geister, die nicht böswilliger Natur waren, größtenteils Kinder. „Um einen Geist auszutreiben, muss man sich mit ihm vertraut machen und Analysen durchführen: Welches Ziel verfolgt dieser Geist, was hat er getan um sein Ziel zu erreichen und welche Charakteristiken hat er? Das sind die wichtigsten Fragen und sich allein auf eine Austreibung zu konzentrieren, kann sehr schnell nach hinten losgehen. Deshalb ist es äußerst wichtig, psychologisch an das Thema heranzugehen und sich darauf einzulassen.“ „Und weshalb interessieren Sie sich so für Sally?“ „Nicht nur ich sondern die ganze N.E.S.P.R. begeistert sich für diesen Fall. Wir studieren schon seit einiger Zeit die Nekromanten und Sally ist der perfekte Beweis dafür, dass unsere Studien und Erkenntnisse durchaus belegbar sind. Aber ich habe auch persönliche Gründe: Meine Mutter wurde vorige Woche vom Sally-Syndrom befallen und hat sich daraufhin in eine geschlossene Anstalt einweisen lassen. Außerdem sind einige meiner Kollegen ums Leben gekommen, als sie versucht hatten, Sally gewaltsam auszutreiben.“ „Oh, das tut mir sehr Leid“, sagte Dathan und hatte schon zugleich ein schlechtes Gewissen, überhaupt nachgefragt zu haben. Aber Samuel war guter Dinge, dass sie bei gemeinsamer Zusammenarbeit etwas bewirken konnten. Schließlich erkundigte sich der entstellte Nekromant aus reiner Neugier, ob ein Begabter mit roten Augen zur Welt kam. Diese Frage verwirrte den Dämonologen etwas, aber dann merkte er schon, was Dathan eigentlich damit sagen wollte. Er konnte ihn beruhigen. „Ich habe schon mit einigen Nekromanten zu tun gehabt und keiner von ihnen hatte rote Augen. Ich vermute, dass es sich dabei um eine Art vererbbare Genmutation handelt. Haben mehrere aus Ihrer Familie rote Augen gehabt?“ „Ja. Ich, meine verstorbene kleine Schwester, mein Urgroßvater, Sally und wahrscheinlich noch einige andere. Mein Großvater dachte, dass meine Fähigkeiten und meine Augenfarbe miteinander zusammenhängen würden.“ „Nein, da kann ich Sie beruhigen. Die Augenfarbe hat rein gar nichts damit zu tun. Es scheint mir eher Zufall zu sein, dass die Nekromanten in Ihrer Familie rote Augen haben.“ Das hieße ja, dass seine kleine Schwester vielleicht doch keine Begabte, sondern ein ganz normales Mädchen gewesen war. Erleichtert darüber atmete Dathan auf. Wenigstens hatte die kleine Christie nicht als Außenseiterin sterben müssen, auch wenn das nur ein sehr kleiner Trost war. „Und mit wie vielen Nekromanten haben Sie zusammengearbeitet?“ „Mit insgesamt 22. Allerdings nicht allein in Amerika, sondern auch in Europa und Asien. Wie gesagt, solche Begabten sind sehr selten. Dass es allein in Ihrer Familie so viele Nekromanten gab, grenzt an ein Wunder, denn dieses unglaublich hohe Energiepotential kann nicht vererbt werden. Es tritt eher zufällig auf. Ihre Familie ist sozusagen einzigartig.“ „Ehrlich gesagt, würde ich lieber darauf verzichten“, gab Dathan zu und bediente sich nun selbst am Gebäck. Seit diese DVD zu Tage gefördert worden war, spürte Dathan, wie seine eigene Stimmung schlagartig in den Keller sank und er spürte regelrecht diese negative Aura, die von diesem kleinen Objekt ausging. Sally musste unglaublich stark sein. Schließlich wurde er von Samuel aus seinen Gedanken gerissen. „Wenn Sie wollen Dathan, kann ich Ihnen die Telefonnummer einer speziellen Hilfegruppe geben, in der Sie nicht alleine mit Ihrem Problem sind.“ „Es gibt eine Selbsthilfegruppe für Leute wie mich?“ „Lorraine hat sie ins Leben gerufen. Sie ist nicht groß und auch nicht für die Öffentlichkeit bekannt oder zugänglich. Die N.E.S.P.R. vermittelt die neuen Mitglieder und bietet auch Seminare an.“ „Klingt wirklich interessant.“ Samuel holte einen Zettel und einen Stift hervor und schrieb Dathan die Adresse und den Ansprechpartner auf. Dann, als er auf die Uhr sah, verabschiedete er sich von beiden und schärfte ihnen noch mal ein, ihn sofort anzurufen, falls es gefährlich werden sollte, egal wie spät es auch wäre! Dathan und Jamie brachten ihn bis zur Tür und sahen, wie er ein einen etwas mitgenommenen staubgrauen Wagen einstieg, der bereits ein paar Beulen hatte. Viel konnte dieser Mensch nicht verdienen, wenn er solch ein Auto fuhr. Ein dreister Abzocker war er also nicht. Schweigend beobachteten sie, wie er davonfuhr und gingen wieder rein. Dathan legte seinen Mundschutz an und wollte zu Mrs. Landon gehen, um über Nacht auf ihre Kinder aufzupassen, da sie mit ihrem Mann eine romantische Nacht in einem Hotel gebucht hatte. Jamie würde sich selbst schon mal an die Arbeit machen, die Dinge auf Samuels Liste abzuarbeiten. Er selbst zweifelte noch daran, ob das alles auch wirklich so half, wie dieser Parapsychologe versichert hatte. Aber was hatte er denn schon für eine Wahl? Wenn die einzige Möglichkeit darin bestand, Sally hier ein Zuhause zu schaffen und somit ihren Zorn zu besänftigen, musste er dem Dämonologen vertrauen. Tatsächlich hatte er für einen kurzen Moment mit dem Gedanken gespielt, einen Priester hierherzuholen, aber nach Samuels Einwänden sofort wieder von dieser Idee abgelassen. Trotzdem fühlte er sich ziemlich unwohl dabei, diese DVD im Haus zu haben, welche das Zentrum von Sallys Kraft war. Als Erstes begann er eine Art kleinen, provisorischen Altar vorzubereiten. Dazu suchte er sich einen Platz auf einem Regal aus, legte die DVD dort hin und druckte sich am Computer das Bild von Sally aus, welches er in den hunderten Spam-Mails erhalten hatte. Dann stellte er das Foto auf das Regal und zündete ein paar Kerzen an. „Tut mir wirklich Leid, dass ich dich Monster genannt habe. Hätte ich gewusst, was dir passiert ist, dann hätte ich es nicht gesagt. Weißt du, wir alle haben unser Kreuz zu tragen. Ich wurde von meinen Eltern im Stich gelassen und hab gesehen, wie meine Schwester vergewaltigt wurde und sie daraufhin Selbstmord beging. Dathan wurde im Gesicht entstellt und hatte genauso zu leiden wie du.“ Ein bisschen kam sich Jamie dämlich dabei vor, mit einer nicht vorhandenen Person zu reden als sei er völlig verrückt, aber auch das gehörte zu den Dingen, die sie die nächsten Tage tun sollten. Außerdem musste er daran denken, dass es sich um ein Kind handelte. Und ein bisschen einfühlsames Reden schadete ja nicht. „Dann wollen wir mal gucken, was so in der Glotze läuft…“ Jamie setzte sich auf die Couch und begann durch die Kanäle zu zappen. Überall lief nur Müll, wie sonst eigentlich immer. Entweder nur diese üblichen CIS- oder CSI-Serien, die ihm schon zum Halse raushingen. Wenn doch wenigstens Criminal Intent mit Vincent D’Onofrio laufen würde, aber nein! Es musste ja ausgerechnet Schlaftablette Goldblum sein. Schließlich schaltete Jamie MTV ein, wo nun Comedy Central lief und fand sich damit ab, dass er sich wohl langweilen würde. Womöglich war es besser, sich doch lieber einen Film anzusehen. Also stand er auf und ging das DVD Regal durch. Vielleicht sollte er sich nach langer Zeit endlich mal wieder einen Disneyklassiker antun. Mal sehen… ja genau: Die Schöne und das Biest. Sein absoluter Lieblingsfilm. Er legte den Film in den DVD Player und ging in Richtung Sofa zurück, da bemerkte er etwas Seltsames: An der Wand gegenüber, wo ein großes Bild von ihm und Dathan hing, war ein Sprung im Glas des Bilderrahmens. Und er war sich hundertprozentig sicher, dass das Glas heil gewesen war. „Was zum…“ Jamie ging sich das näher ansehen und entdeckte, dass das Glas genau an der Stelle gesprungen war, wo er auf dem Bild zu sehen war. Genau über seinem Gesicht. Ihm wurde mulmig zumute, als er das sah und er fragte sich, ob Sally etwas damit zu tun haben könnte. War sie etwa sauer auf ihn? Wollte sie ihm etwa mitteilen, dass sie ihn umbringen wollte? Langsam wich er von dem Bild zurück und in dem Moment fiel der Strom aus. Da es bereits Abend war, wurde es mit einem Male dunkel und sofort eilte Jamie zum Schrank im Flurbereich, wo er eine Taschenlampe aufbewahrte. Dabei hörte er lautes Geraschel. Zum Glück funktionierte wenigstens die Taschenlampe. Er ging in Richtung Keller, wo die Sicherungen waren. Höchstwahrscheinlich waren sie rausgesprungen, auch wenn er bezweifelte, dass dies aus purem Zufall geschah. Nein, Sally steckte dahinter. Sie begnügte sich offenbar nicht mehr damit, ihn mit Halluzinationen in den Wahnsinn zu treiben. Jetzt machte sie ernst. Aber warum attackierte sie ihn? Laut Samuel sollte sich die Lage doch entspannen! Er musste sich geirrt haben. Vielleicht sollte er besser ihn anrufen, bevor er sich um die Sicherungen kümmerte. Also griff er in seine Hosentasche und holte sein Handy hervor. Dieses war aber funktionsunfähig, er konnte weder eine Nachricht verschicken, noch überhaupt anrufen. Anscheinend wollte Sally nicht, dass er Hilfe holte. Verdammt, hätte er doch lieber einen Priester oder so geholt und nicht irgendeinen Dämonologen, der einen auf Kindertherapeut machte. Plötzlich hörte Jamie hinter sich wieder ein leises Knacken und er drehte sich um. Der Schein der Taschenlampe fiel direkt auf eine kleine, schwarzweiße Gestalt, die ihn hämisch und boshaft angrinste. Sie hatte keine Augen, dafür aber lockiges schwarzes Haar. Es war Sally. „Wa… was?“ Jamie wich einige Schritte zurück und konnte nicht fassen, dass sie wieder da war. Und sie sah noch furchterregender aus, als in seinen Halluzinationen. „Du wirst sterben, du Bastard“, sagte sie mit einer grollenden, dämonischen Stimme und kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, zersprangen sämtliche Fensterscheiben. Dieses Mal war es ganz sicher keine Illusion, das wusste er genau. Sally hatte sich endgültig manifestiert, um ihn zu töten. „Warum tust du das? Warum, Sally?“ „Niemand von euch hat es verdient, am Leben zu bleiben. Weder du, noch dieser hässliche Kerl, der bei dir lebt. Ihr werdet alle krepieren und du bist der Nächste.“ Sally schoss auf Jamie zu, der sofort die Arme hob, um sein Gesicht zu schützen. Dabei wurden tiefe Kratzwunden in seine Arme gerissen. Dann versetzte ihn ein kräftiger Stoß nach hinten und er prallte gegen die Wand. „Nein Sally, du musst das nicht tun! Bitte hör mir zu, es ist…“ „Halt die Klappe. Es interessiert mich nicht, was du oder irgend so ein dahergelaufener Geisterfutzi zu sagen habt. Solange ihr lebt, werde ich niemals aufhören.“ „Sally, es tut mir Leid, wie ich dich genannt habe. Wir wollen dir doch nur helfen, sonst nichts.“ „Alles Lügen! Du bist doch auch nicht anders als die, die mich und meine Familie getötet haben. Ich brauche keine Hilfe, von niemandem!!!“ Es hatte keinen Sinn. Mit Sally war einfach nicht zu reden. Es blieb ihm also nur noch eines übrig: Das Haus so schnell wie möglich zu verlassen und dann Samuel anzurufen. Nur mit Mühe kam Jamie wieder auf die Beine und eilte zur Haustür. Diese knallte aber vor seiner Nase zu und wurde abgeschlossen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als über die Terrasse zu flüchten. In seiner Not griff er eine Vase auf einer Kommode und warf sie in Sallys Richtung. Da diese aber keinen physischen Körper besaß, ging es einfach durch sie hindurch. Also eilte er in Richtung der gläsernen Terrassentür, sie sowieso kaputt war. Unter seinen Schuhsohlen knackten die Glassplitter und er sah schon die Hecke, die sein letztes Hindernis sein würde. Jamie rannte schneller und erreichte dann den Pool, der mit einer Plane zugedeckt war. Schon glaubte er sich halbwegs in Sicherheit, da durchzuckte ein entsetzlicher Schmerz seinen Körper, als sich etwas Langes und Scharfes tief in seinen Rücken bohrte. In dem Moment verlor Jamie das Gleichgewicht und stürzte in den Pool. Die Plane wickelte sich sekundenschnell um seinen Körper und nahm ihm seine Bewegungsfreiheit. Nur mit größter Mühe konnte er sich an der Wasseroberfläche halten. Während er verzweifelt versuchte, den Kopf über Wasser zu halten, rief er um Hilfe. Irgendjemand musste ihn doch hören… Plötzlich ergriff etwas sein Bein und zerrte ihn gewaltsam nach unten. Jamie versuchte, sich aus der Plane freizukämpfen und wieder aus dem Wasser herauszukommen, aber inzwischen hatte er sich darin verwickelt wie in einem Kokon. Und zwei schmächtige und doch starke Kinderarme zerrten ihn auf den Grund des Pools, um ihn zu ertränken. Es waren die Polizeisirenen, die Dathan alarmierten und ihn erkennen ließen, dass da etwas passiert sein musste. Umso besorgter war er, als auch noch der Notarzt vor dem Haus hielt. Da die beiden Landonkinder schliefen, eilte er sofort zu Jamies Haus um nachzusehen, was passiert war. Gerade kamen die Sanitäter zum Rettungswagen und hatten Jamie auf einer Trage bei sich, den sie künstlich beatmen mussten. „Hey!“ rief Dathan und eilte zu den Rettungssanitätern hin. „Was ist passiert? Wie geht es ihm?“ „Wir müssen ihn sofort ins Krankenhaus bringen. Er hat viel Blut verloren und hatte bereits einen Herzstillstand. Sind Sie ein Verwandter?“ „Nein, sein Mitbewohner. Jamie hat keine Familie mehr. Bitte sagen Sie mir, ob er durchkommen wird.“ „Sein Zustand ist momentan stabil, er muss aber sofort behandelt werden.“ Tausend Fragen schossen Dathan durch den Kopf, während er hilflos mit ansehen musste, wie sein bester Freund schwer verletzt weggebracht wurde. Die Polizei war auch bereits vor Ort und erzählte, dass jemand Jamie mit einem Messer mehrere Stichverletzungen zugefügt und ihn dann in den Pool gestoßen hätte. Es sei aber noch nicht sicher, ob er von einem Einbrecher angefallen wurde, oder ob jemand mit gezielten Mordabsichten ins Haus eingedrungen sei. Ersteres bezweifelte Dathan jedoch sehr. Er wusste, dass Jamie sich niemals dermaßen einfach so überrumpeln ließ. Immerhin hatte dieser all seine Peiniger und seine eigenen Eltern getötet. Wer immer das auch getan hatte, er wollte ihn umbringen. Und dazu fiel ihm nur eine Person ein: Sally. Da Dathan nicht so einfach die Kinder allein lassen konnte, auf die er aufpassen sollte, rief er zuerst Samuel an und berichtete ihm von diesem Vorfall. Dieser klang ernsthaft besorgt und verstand selbst zunächst nicht, warum Sally so urplötzlich aggressiv geworden war und jetzt sogar schon eigenhändig versuchte, Jamie zu töten. „Dathan, beruhigen Sie sich erst einmal, ich bin so schnell es geht hier.“ Und Samuel kam in einem Höllentempo mit dem Auto angerast. Er wirkte völlig abgehetzt und man sah ihm an, dass er sich bemüht hatte, schnellstmöglich hier zu sein. Er konnte die Polizisten überreden, sich im Haus umzusehen und sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Er sah das kaputte Glas und den zersprungenen Bilderrahmen an der Wand. Doch es war selbst für ihn unbegreiflich, dass eine negative Präsenz so schnell zum Frontalangriff überging. Dies dauerte normalerweise Wochen, da es die meisten auf psychische Folter abgesehen hatten. Doch Sally hingegen war völlig durchgedreht, als sie mit Jamie alleine war. „Ich fürchte, dass Jamie Sally in der Vergangenheit ungewollt provoziert, oder sogar beleidigt hat. Anders kann ich mir die Sache nicht erklären. Können Sie sich vielleicht an eine Situation erinnern, in der Jamie Sally beleidigt haben könnte?“ „Er… er hat sie ein Mal im Affekt Monster genannt, aber das war es auch schon.“ „Warum haben Sie mir das nicht direkt gesagt?!“ rief Samuel lauthals und erschrocken zuckte Dathan zusammen. Der Dämonologe war sichtlich verärgert darüber. „Hätten Sie mich im Vorfeld darüber informiert, dann hätte ich die Sache anders angehen können.“ „Aber woher sollte ich das wissen?“ „Ich hatte ausdrücklich gesagt gehabt, dass Sally äußerst gefährlich sein kann, wenn sie provoziert wird. Spätestens da hätten Sie oder Jamie mich informieren müssen. Jetzt haben wir den Salat: Jetzt ist Sally richtig sauer und wird jetzt nichts unversucht lassen, Sie beide auf dem schnellsten Weg zu töten!“ Kapitel 13: Die Konfrontation ----------------------------- Jamie hatte Glück im Unglück gehabt. Obwohl die Messerstiche tief waren, hatten sie weder sein Nervensystem verletzt, noch waren lebenswichtige Organe getroffen worden. Trotzdem hatte er viel Blut verloren und er wäre beinahe im Pool ertrunken, hätte ihn nicht jemand herausgezogen. Inzwischen hatte sich sein Zustand stabilisiert und die Stichwunden waren genäht worden. Es hatte sich herausgestellt, dass die Tatwaffe ein Küchenmesser war. Doch Jamie schwebte anderweitig in Lebensgefahr: Sally trachtete ihm nun mehr denn je nach dem Leben und nun war Sam bemüht, die eskalierte Situation so weit es ging zu retten. „Ich habe Kontakt zur Zentrale aufgenommen. Jemand wird von der N.E.S.P.R. geschickt, der ein Auge auf Jamie werfen soll, solange wir Sally nicht gestoppt haben.“ Dathan sah vollkommen niedergeschlagen aus und hatte die ganze Zeit nichts gesagt. Er gab sich die Schuld dafür, dass Jamie verletzt wurde und beinahe gestorben wäre. Im Grunde trug er auch Schuld. Denn hätten er oder sein bester Freund gesagt, dass zweiter von beiden Sally durch unbedachte Beleidigungen provoziert hatte, dann wäre die Situation nicht dermaßen eskaliert. Inzwischen hatte sich Samuel wieder beruhigt und überlegte sich bereits einen neuen Schlachtplan. Dathan hingegen schien jede Hoffnung fahren zu lassen. „Jetzt ist alles vorbei, oder?“ „So ein Unsinn, noch ist gar nichts vorbei. Man muss sich nur zu helfen wissen.“ Samuel holte sich erst einmal einen Kaffee, Dathan wollte nichts trinken, weil er vor anderen Leuten seinen Mundschutz nicht abnehmen wollte. Sie gingen nach draußen um frische Luft zu schnappen und sich zu besprechen. „Es gibt immer eine Möglichkeit, negative Geister auszutreiben, da müssen Sie sich keine Sorgen machen, Dathan. Einige davon sind aber leider keine Dauerlösung: Wir könnten die DVD zerstören, das Haus von den negativen Energien reinigen lassen und dann wäre Sally fort. Die nächste Möglichkeit wäre, Sally direkt zu konfrontieren. Das ist allerdings sehr gefährlich und ich würde lieber etwas anderes versuchen.“ „Und was?“ „Ich werde versuchen, mit Sally in Kontakt zu treten und zwar alleine. Vielleicht findet sich ja ein Weg, wie sie sich wieder beruhigt. Bis dahin will ich erst einmal Schadensbegrenzung vornehmen und möglichst niemanden dabei haben. Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, werden noch mehr Menschen sterben. Dathan, ich habe noch einiges zu erledigen. Sie bleiben besser dem Haus fürs Erste fern, sonst könnte Sally auch Sie attackieren. Nehmen Sie sich besser für diese Nacht ein Hotel. Es ist besser für Sie.“ Irgendwie wirkte Samuel mit einem Male ganz anders. Dathan hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Was hatte der Dämonologe denn vor? Wollte er es auf einen Zweitkampf mit Sally hinauslaufen lassen? „Dathan, Sie müssen mir versprechen, keinen Alleingang zu unternehmen und sich an das zu halten, was ich sage.“ Und als Dathan ihm versicherte, dass er sich daran halten werde, ging Samuel zu seinem Wagen und fuhr davon. Er hatte sehr wichtige Vorbereitungen zu treffen und musste danach auf dem schnellsten Weg zu Jamies und Dathans Haus. Diese Unvorsichtigkeit, die den Jungen fast umgebracht hätte, ging auch auf seine Kappe. Er hätte dieses Risiko niemals verantworten dürfen und nun musste er es wieder geradebiegen. Ed und Lorraine hatten ihm immer wieder eingeschärft, alle unnötigen Risiken zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass den Betroffenen nichts passierte. Und beinahe hätte er einen Menschen durch seine Unvorsichtigkeit getötet. Das durfte ihm nicht noch mal passieren. Er hatte Sally leider unterschätzt. Zwar war ihm klar gewesen, dass sie ziemlich gefährlich war, aber nach Dathans Bericht hatte er sie als verzweifelt und verletzt eingeschätzt. Als ein Kind eben, das Zuwendung brauchte. Aber stattdessen hatte Sally umso grausamer und brutaler reagiert, als man einen Versuch gemacht hatte, einen Schritt auf sie zuzugehen. Sallys Hass musste so stark sein, dass es ihre eigene Persönlichkeit völlig zerfressen hatte. Offenbar existierte nur noch das kaltblütige und grausame Monster, das die ganze Menschheit ausrotten wollte. Wenn dem so war, dann musste er zu der unangenehmeren Methode greifen und Sally gewaltsam austreiben. Eigentlich wollte er es ja lieber vermeiden, weil sie ein armes Kind war, das ziemlich schlimme Dinge erleben musste, aber sie ließ ihm keine andere Wahl. Wie sagte Lorraine einst? „Wenn ein Geist den letzten Rest seiner Menschlichkeit verliert, dann ist er auch nicht mehr menschlich. Dann darf man auch keinerlei Gnade mehr zeigen.“ Bis jetzt hatte es Samuel noch nie mit solch einem Geist zu tun gehabt. Die meisten besaßen noch ihre Menschlichkeit und der winzige Rest waren rein unmenschliche Präsenzen, die nie etwas Menschliches besessen hatten. Das machte es ihm einfach, aber er hatte den Moment immer gefürchtet, in welchem er einen Geist gegenübertreten würde, der seine Menschlichkeit verloren hatte. Vor allem, wenn es ein kleines Mädchen war. Samuel fuhr direkt zum Haus, parkte aber etwas weiter weg und holte seinen Koffer hervor, den er auf dem Rücksitz verstaut hatte. Als Erstes würde er die DVD verbrennen und Sally aus dem Objekt austreiben und sie somit zwingen, sich aus ihrem Versteck herauszuwagen. Dann würde er einen Exorzismus durchführen. Er hatte schon öfter einen solchen Exorzismus durchgeführt, allerdings nur in Begleitung seines Vaters, der selbst ein Priester war. Aber dieser war tot. Er hatte sich mit einem viel zu mächtigen Geist angelegt und wurde für diese Dummheit bestraft. Wahrscheinlich würde er dieses Schicksal auch erleiden. Doch als er der N.E.S.P.R. beigetreten war, hatte er den Schwur geleistet, alles in seiner Macht stehende zu tun, um den Geistern ihren Frieden zuzuführen und den Menschen zu helfen, die von ihnen gequält wurden. Diese Aufgabe hatte er stets mit Gewissenhaftigkeit ausgeführt und als dann auch noch Sally auftauchte, wurde es immer komplizierter. Sein Vater hatte versucht, sie zu exorzieren, jedoch hatte Sally solch schwere Geschütze aufgefahren, dass er wahnsinnig wurde. Die Horrorbilder, die sie ihm gezeigt hatte, waren zu viel für ihn. Sein Herz hielt den Stress nicht mehr aus und hörte einfach auf zu schlagen. Zu dem Zeitpunkt war Samuels Mutter bereits am Syndrom erkrankt. Zwei seiner Kollegen waren auch schon tot. Seit Sally in Erscheinung getreten war, hatte er pausenlos ihre Fähigkeiten und ihre Vorgehensweise studiert und war auf alles vorbereitet. Er war auch bereit, im schlimmsten Falle dem Tod ins Gesicht zu sehen und zu sterben. Seine Kollegen und sein Vater hatten das gleiche Risiko auf sich genommen und er konnte nicht zulassen, dass Sally noch mehr Angst und Schrecken verbreitete. Als er seine Ausrüstung überprüft hatte, schloss er seinen Koffer und stieg aus dem Wagen aus. Schon als er die andere Straßenseite betrat, spürte er die ungeheure negative Kraft, die von dem Haus ausging. Sie war so ungeheuer stark geworden, dass es Samuel einen Schauer über den Rücken jagte. Diese unglaublich starke Aura war beinahe sichtbar und sie war voller Hass und Bosheit. Sie war schon fast dämonischer Natur. Dies bestätigte Samuels schlimmste Befürchtungen: Sallys Hass war so groß, dass sie zu einem Dämon wurde, wenn sie nicht schnell exorziert wurde. Es war seine oberste Pflicht, das Mädchen zu retten. Er musste sie von ihrem Hass befreien und sie wieder zu dem machen, was sie einst war. Wenn ihm das gelänge, würde er unzählige Menschen retten, nicht nur seine Mutter. Dieser Gedanke machte ihn fest entschlossen, diesen Plan durchzuziehen. Aber warum nur begann dann seine Hand so zu zittern? Samuel hätte nicht gedacht, dass er nach all den Jahren als Dämonologe immer noch Angst hatte wie ein blutiger Anfänger. Vielleicht, weil er noch nie solch einen gefährlichen Gegner vor sich hatte. Und ein Teil von ihm wusste, dass er höchstwahrscheinlich mit seinem Leben bezahlen würde. Auch wenn er auf den Tod vorbereitet war, hatte er trotzdem Angst. Naja, das war ja auch ganz natürlich. Die Menschen fürchteten sich schon seit Urzeiten vor dem Tod. Vor Dathan hatte er nicht so eine Angst verspürt. Vielleicht, weil sein Energielevel für einen Überdurchschnittlichen zu niedrig war? Oder war es sein Wesen, das seine Todesaura überschattete? Der Ärmste musste sich schreckliche Vorwürfe wegen Jamie machen und würde sicher keine ruhige Nacht mehr finden. Samuel hatte schon mehrere Überdurchschnittliche wie ihn getroffen und er hatte ein besonders schweres Kreuz zu tragen. Er war körperlich genauso vernarbt wie seelisch. Er hätte ihm nicht an den Kopf werfen sollen, dass er Mitschuld hatte. Aber zumindest wusste Samuel, dass er das nicht mitansehen musste. Wenn es ihm gelänge, Sally ihren Hass zu nehmen, könnte er sie vielleicht dazu bringen, mit dem Wahnsinn aufzuhören. Mit dem Koffer in der Hand ging er zur Haustür, die mit einem Polizeisiegel versehen war. Er riss es auf und betrat das Haus. Kaum hatte er die Tür geöffnet, da strömte die negative Kraft auf ihn wie eine tosende Ozeanwelle, die ihn umhüllte und dann unter sich begrub. Es riss ihn beinahe von den Füßen und raubte ihm fast den Atem. Sally hatte ihre ganze Energie gebündelt und würde sich auf den nächsten Angriff vorbereiten. Die Tür knallte von selbst hinter ihm zu und es war stockduster. Das Licht ging nicht, aber dafür hatte er selbst eine Taschenlampe dabei. Nachdem er diese angeschaltet hatte, ging er zielstrebig zum Regal hin, wo die DVD lag. Von ihr ging eine Kraft aus, die jede Skala sprengte. Warum nur hatte Sally ihre ganze Energie auf dieses Objekt konzentriert? Wollte sie etwa ausgetrieben werden, weil sie sich von selbst nicht lösen konnte? Aber warum würde sie das denn wollen? Bevor er die DVD anfasste, holte er das Weihwasser aus seinem Koffer und bespritzte die Disk damit. Doch selbst als er ein kurzes Gebet sprach, wurde die Kraft nicht eine Sekunde schwächer. Er begann nun aus dem Kopf ein paar Bibelstellen zu zitieren, während er die DVD vorsichtig in die Hand nahm, sie in eine kleine Schüssel auf den Tisch legte und dann etwas Papier hineinlegte. Schließlich übergoss er das alles mit ein wenig Alkohol (er hatte oft einen Flachmann dabei) und zündete es im Anschluss mit einem Streichholz an. Sofort fing das alkoholgetränkte Papier Feuer und auch die DVD wurde zerstört. Aber seltsamerweise hörte er weder ein wütendes Zischen, noch ein Schreien, wie das sonst so üblich war. Stattdessen hörte er ein leises Kichern. Hatte Sally darauf etwa gewartet? War er in ihre Falle getappt? Plötzlich hörte er ein boshaftes Gelächter hinter sich und drehte sich daraufhin um. Der Schein der Taschenlampe fiel auf Sally, die ihn diabolisch angrinste und von einer mächtigen dunklen Aura umgeben war. Sie hatte keine Augen und obwohl sie wie ein Mädchen aussah, erkannte er jedoch, dass es nur ein Trugbild war. Das war nur eine Art Projektion, das erkannte er schon daran, dass sie genau wie die Schwarzweiß-Sally aus dem Film aussah. Sie schien gar nicht verärgert über Samuels Werk zu sein, eher amüsiert. „Soll das etwa eine Exorzistennummer sein? Willst du mich austreiben wie einen Dämon? Nur zu, versuch es doch.“ „Du scheinst sehr selbstbewusst zu sein. Erstaunlich, dass du dich mir einfach so zeigst aber da das kein richtiger Körper ist, hast du sowieso nichts zu befürchten, oder?“ „Für jemanden, der gleich stirbt, bist du entweder ziemlich mutig, oder ganz schön dämlich. Du kommst hierher und zerstörst meinen Film, nachdem ich die lila Transe so zugerichtet habe. Hast du es so dringend nötig, zu krepieren?“ Es war pure Bosheit, die da aus dem Inneren dieser verletzten Seele sprach. Samuel spürte, dass Sallys menschliche Seite völlig von Hass und Schmerz verschluckt worden war. Sie war nicht mehr in der Lage, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Das würde alles andere als schön enden, das ahnte Samuel bereits. „Ich werde nicht so einfach sterben“, sagte er entschlossen und legte den Koffer ab. „Nicht bevor ich dich vor dir selbst gerettet habe.“ Sally brach in schallendes Gelächter aus und kugelte sich vor Lachen, als hätte der Dämonologe den besten Witz aller Zeiten erzählt. „Mich retten? Vor mir selbst? Pah, ich brauche keine Hilfe, von niemandem! Ich komme wunderbar alleine zurecht und in dieser Form fühle ich mich pudelwohl. Ich kann tun und lassen was ich will. Ich bin nicht mehr an einen sterblichen und schwachen Körper gebunden, der meine Fähigkeiten einschränkt. Ich kann nicht sterben oder verwundet werden und ich kann Menschen allein durch meinen bloßen Willen töten. Was Besseres könnte ich mir gar nicht vorstellen.“ Sally genoss offenbar ihren jetzigen Zustand und hatte ihr altes Ich fast vollkommen vergessen. Samuels Hand wanderte in seine Hosentasche, wo er einen Rosenkranz aufbewahrte. Den Rosenkranz seines Vaters. „Sally, erinnerst du dich noch an deine Familie? Sie hat dich aufrichtig geliebt und sich für dich geopfert, damit du lebst. Erinnerst du dich denn nicht?“ „Ich erinnere mich sehr wohl. Nämlich daran, dass sie grausam sterben mussten. Sie alle sind tot und ich bin alleine. Mir ist es egal, ich brauche niemanden mehr.“ „Du irrst dich Sally, du hast eine Familie und sie liebt dich bis heute noch.“ „LÜGNER!!!“ schrie sie und mehrere Scheiben und Vasen zersprangen. Etwas in Sally reagierte plötzlich. Es war nicht mehr der Hass, der aus ihr sprach, sondern das verletzte kleine Mädchen. Samuel atmete erleichtert auf. Sie war also doch noch da, Sally besaß immer noch eine menschliche Seite. Sie war also nicht zu einem hasserfüllten Dämon geworden. „Egal ob du dir von mir helfen lassen willst oder nicht, ich werde nicht zulassen, dass du dich noch unglücklicher machst.“ Und seine entschlossenen Worte trafen Sally doch merklich. Sie wich ein paar Schritte zurück und konnte nicht glauben, was sie da hörte. Mit einem Male sah sie verwirrt und erschrocken aus. Nun wirkte sie wirklich wie ein kleines Kind. Samuel hingegen ging entschlossen auf sie zu. „Ich werde dich von deinem Hass befreien, selbst wenn ich dabei draufgehen sollte. Ich werde deinen Zorn an mich ketten!“ Und damit griff er nach ihrem Arm. Sally, die inzwischen so stark geworden war und in diesen unbedachten Moment greifbar wurde, spürte zum ersten Mal nach zweihundert Jahren die körperliche Berührung durch einen anderen Menschen. Und das erschreckte sie so sehr, dass sie zu schreien begann. Dann stieß sie ihn von sich und ließ mehrere Sachen durch den Raum fliegen. Ein Messer verfehlte ihn nur knapp, ein anderes streifte seinen Arm. „Komm mir nicht zu nahe, du Bastard! Wag es nie wieder, mich anzufassen.“ Eine Kommode schoss auf Samuel zu und riss ihn von den Füßen. Er wurde in Richtung Küche geschleudert und stieß mit dem Rücken gegen den Kühlschrank. „Ich brauche niemanden von euch! Ihr könnt meinetwegen alle verrecken. Ich hasse euch, ich hasse euch allesamt!!!“ Sally war vollkommen instabil. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden mit ihr, aber zumindest war ihre menschliche Seite noch durchaus präsent. Das war ein gutes Zeichen. Allein ihre Familie zu erwähnen hatte gezeigt, dass sie nach zweihundert Jahren immer noch ein verletztes kleines Mädchen war. Doch die Gefahr war trotzdem noch nicht vorüber. Es galt immer noch äußerste Vorsicht. Er hatte es immerhin mit einem Nekromanten der Stufe 5 zu tun und diese waren im allerschlimmsten Fall dazu in der Lage, die ganze Welt aus den Angeln zu heben, wenn sie wollten. Ed Warren war bei der Bekämpfung eines solchen Nekromanten gestorben und die Chance, eine solche Konfrontation zu überleben, lag bei traurigen 13%. Irgendwie ist es eine ziemliche Ironie, dass mich genau der gleiche Nekromant tötet, der auch meinen Vater und meine Kollegen auf dem Gewissen hat, dachte Samuel und stand wieder auf. Sally, die völlig durcheinander und immer noch äußerst aggressiv war, attackierte Samuel erneut, der sich allmählich von dem Angriff erholte. Dieses Mal schleuderte sie die Küchenmesser in seine Richtung, er sprang zur Seite und rollte sich auf dem Boden ab. Kaum stand er wieder auf, schleuderte Sally das Küchenbesteck auf ihn. Sofort ging der Dämonologe in Deckung und machte sich bereit für den Gegenangriff. Die DVD war verbrannt, aber die verkohlten Überreste hatten immer noch Sallys ganze negative Energie gespeichert. Er musste dafür sorgen, dass diese negative Kraft auf etwas anderes übertragen wurde, wo sie keinen Schaden anrichten konnte. Dieses Mal würde es aber kein Objekt sein… er wollte Sallys negative Kraft auf sich selbst übertragen. Wenn es die einzige Option war, dann würde er dieses Risiko auf sich nehmen, wenn er damit so vielen Menschen helfen konnte. Als Sally sah, was er da vorhatte, griff sie erneut an, dieses Mal aber richtig. „Finger weg von dem Film“, rief sie und schleuderte einen Schrank gegen Samuel. „Hör auf damit! Hör endlich auf damit!!“ „Wenn du dir nicht freiwillig helfen lässt, muss ich dich notfalls dazu zwingen. Ich lasse nicht zu, dass du zu einem Monster wirst!“ Kapitel 14: Die Liebe einer Familie ----------------------------------- Dathan hatte noch eine Weile an Jamies Bett gesessen und nachgedacht. Dabei betrachtete er immer wieder die kleine Zinnsoldatenfigur, die sein Großvater ihm gegeben hatte. Was sollte er tun? Sollte er wirklich die Füße still halten und Samuel einfach so machen lassen? Aber wenn er sich Sally alleine stellte, dann würde er sich in höchste Lebensgefahr begeben. Dathans Blick wanderte zu Elis Michael, der Kollegin von Samuel, die nun Jamies Schutz übernahm. „Sagen Sie, kann man Sally tatsächlich noch aufhalten?“ „Ich weiß es nicht. Aber wenn Samuel sagt, dass er es schaffen kann, dann wird er es auch schaffen.“ Aber er hatte trotzdem seine Zweifel. Nur seinetwegen wäre Jamie beinahe gestorben, seinetwegen gab sich Samuel in Gefahr. Wie konnte er das nur verantworten? Dieses Erbe war verdammt schwer zu tragen und insgeheim wünschte sich Dathan, er hätte die Wahrheit niemals erfahren. Wie sehr wünschte er sich doch, dass Sally nichts weiter als bloß ein Mythos war. Eine urbane Legende, die sich übers Internet verbreitete und immer beliebter wurde. Aber dem war nicht so. Sally war real und sie war seine Verwandte. Es lag an ihm, sie aufzuhalten. Andernfalls würden unzählige unschuldige Menschen sterben. Warum nur musste es ausgerechnet ihn treffen? Warum wurde er mit diesen Fähigkeiten geboren, die wie ein Fluch für ihn waren und warum nur war ihm selbst jetzt kein besseres Schicksal beschert? Wie kam es nur dazu, dass es solche Menschen gab und warum musste er ausgerechnet zu der gestraften Sorte gehören? Mit welchem Recht? Mit welcher Begründung? Samuel hatte ihm gesagt gehabt, dass, wenn ein Nekromant erneut sterbe, seine Seele höchstwahrscheinlich in einem neuen Körper wiedergeboren wurde. Dies geschah meist einzig und allein aus dem unerfüllten Herzenswunsch, ein normales und glückliches Leben führen zu können. Würde er also auch wiedergeboren werden und alles aus seinem alten Leben vergessen? Würde er dann endlich als normaler Junge aufwachsen und eines Tages Erzieher werden? Samuel hatte ihm bei einem Gespräch erklärt, dass ein Mensch stirbt, wenn sein altes Ich und sein altes Leben vollständig ausgelöscht sind. Die Menschen fürchten den Tod, weil sie Angst davor haben, all das zu verlieren, was sie zu Lebzeiten besessen hatten. Wenn sie sterben, verlieren sie ihre Erinnerungen und all das, was sie zu Lebzeiten ausgemacht hat. Sie werden zu einem leeren, weißen Papier, das neu beschriftet werden würde. Die Menschen klammerten sich zu sehr an ihr altes Leben, weshalb sie den Tod auch ablehnten. Hingegen begrüßten ihn jene Menschen, die krank, schwach, mental gebrochen oder vom Leben gezeichnet waren. Wenn er also wiedergeboren wurde, würde er sich nicht mehr an Christie und Jamie erinnern… er würde einfach alles vergessen. Allein der Gedanke daran schmerzte ihn. Das half ihm auch zu verstehen, warum die Menschen den Tod fürchteten. Warum sie ihn fürchteten. Dathan fuhr die Straßen entlang, die allesamt in ein tiefes Schwarz getaucht waren. Selbst die Laternen spendeten nicht genügend Licht, weshalb er das Fernlicht einschalten musste, um überhaupt etwas erkennen zu können. Sogar der Mond und die Sterne leuchteten diese Nacht nicht. Kein gutes Omen, wie er fand. Er fuhr schließlich zu einem McDonalds Drive In, wo er sich Pommes und Cola bestellte. Auch wenn er keinen Appetit hatte, verspürte er doch das Verlangen, etwas zu essen. Nachdem er bezahlt hatte, parkte er am Seitenrand und schaltete das Radio an, wo gerade „Anywhere“ von Amy Lee lief. Und während er dieser ergreifenden Melodie lauschte, dachte er an seine Ex-Freundin Emily. Was sie wohl gerade machte, jetzt wo er weg war? Ob sie einen neuen Freund hatte oder noch an ihn dachte? Hoffentlich ging es ihr gut und sie war glücklich. Manchmal war er versucht, sie anzurufen und ihr die Sache zu erklären. Am liebsten wollte er sie in den Arm schließen und sie küssen und ihr sagen, dass er sie immer noch liebte. Aber es würde nur ein Wunsch bleiben. Er würde sie nie wieder sehen, das hatte er so beschlossen. Lieber sollte sie ihn vergessen und ohne ihn glücklich werden, als dass sie genauso ins Unglück gestürzt wurde wie alle anderen Menschen, die er liebte. Seine Familie, seine Freunde… sie alle mussten seinetwegen sterben. Das wollte er nicht auch noch Emily antun. Dathan drehte die Musik etwas auf und schaute in den dunklen, rabenschwarzen Nachthimmel, während er seine Pommes Frites aß. Ob er eines Tages auch so bösartig wurde wie Sally, wenn Jamie sterben würde? Wie lange würde es brauchen, bis er auch keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind machen würde? Vor diesen Fragen und vor allem vor der Antwort darauf hatte er am meisten Angst. Sein Handy klingelte plötzlich und als er auf dem Display nachschaute, sah er, dass es Samuel war. Was wollte der denn noch so spät? „Sam, was gibt es?“ Keine Antwort, nur ein leises Röcheln. Dathans Alarmglocken klingelten und er spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Etwas musste Samuel zugestoßen sein. „Sam, was haben Sie? Geht es Ihnen gut? Wo sind Sie?“ Wieder ein leises Röcheln. Er schien verletzt zu sein. Dann aber, mit heiserer Stimme, brachte er mit Mühe hervor „Dathan, kommen Sie sofort zu Ihrem Haus. Ich… ich… brauche Ihre Hilfe.“ „Was ist passiert, geht es Ihnen gut?“ „Später… beeilen Sie sich bitte…“ Das Telefonat wurde daraufhin unterbrochen und sofort trat Dathan das Gaspedal durch. Irgendetwas war gehörig schief gelaufen und jetzt schwebte er in Gefahr. Dathan überfuhr mehrere rote Ampeln, raste durch die Kurven und überholte dutzende Autos. Dass die Polizei ihn noch nicht angehalten hatte, war reines Glück und es dauerte nicht lange, bis er endlich sein Haus erreichte. Etwas weiter weg parkte Sams Wagen. Dathan stieg aus dem Wagen aus und sah schon von fern das Licht einer Taschenlampe im Haus. Es kam vom Wohnzimmer her. Samuel musste also dort sein. Die Haustür, die eigentlich mit einem Polizeisiegel versehen war, stand offen. Das Siegel war gerissen und aus dem Inneren des Hauses her hörte er ein leises Schluchzen. Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte hinein. „Sam, sind Sie hier?“ Da keine vernünftige Antwort kam, ging Dathan ins Haus hinein und sah die Verwüstung, die Sally angerichtet hatte. Möbel waren herumgeworfen worden, die Wasserhähne liefen und die Glühbirnen waren durchgebrannt und zum Teil explodiert. Alles Glas und Porzellan lag in Scherben, die Kommoden waren zu Kleinholz verarbeitet worden. Sam hatte sich auf die Wendeltreppe gesetzt und atmete schwer. Er hatte am ganzen Körper schwere Verletzungen und so wie es aussah, auch innere Blutungen. Dathan eilte zu ihm hin als er das sah. „Sam!“ rief er entsetzt „Sam, was ist mit Ihnen passiert?“ „Hören Sie mir gut zu Dathan“, brachte er mit Mühe und rasselndem Atem hervor. „Die einzige Möglichkeit, wie ich Sally bekämpfen konnte war, ihre dämonische Seite in mir selbst aufzunehmen und dort zu verschließen. Sie müssen sie finden und ihr endlich Frieden geben…. Ich hab getan, was ich konnte.“ Samuel hatte Sallys negative Energie absorbiert? Wie war das möglich und warum war er so schlimm zugerichtet? Dathan verstand die Welt nicht mehr. „Dathan, Sie müssen sich beeilen. Sonst wird Sally wieder in der Dunkelheit versinken.“ „Aber Sam, was ist mit Ihnen? Sie müssen schnell in ein Krankenhaus!“ „Schon okay, ich komm klar. Kümmern Sie sich um Sally, sonst war alles umsonst.“ Dathan sah sich um und begann nach Sally zu suchen. Doch wie sollte er sie in dem Chaos finden? Da hörte er wieder dieses leise Schluchzen, das aus seinem Zimmer kam. Ob es Sally war? Dathan zögerte zuerst, da er sich ein wenig davor fürchtete, was ihn wohl hinter der Tür erwartete. Würde Sally ihn sofort angreifen, wenn er das Zimmer betrat? Eigentlich hatte sein Großvater ja gesagt, sie kann ihm nichts antun. Aber konnte er sich wirklich darauf verlassen? Er musste es einfach wagen. Tief atmete er ein letztes Mal durch und betrat sein Zimmer. Das Licht brannte dort und im Gegensatz zum Rest des Hauses war sein Zimmer der Verwüstung entkommen. Die Cthulhu-Poster hingen noch an den Wänden, auch seine Romansammlung von Stephen King und H. P. Lovecraft waren noch an ihrem Platz im Regal. Doch eines war anders als sonst: Ein kleines Mädchen kauerte in der Ecke und weinte. Sie hatte lockiges schwarzes Haar und trug ein blaues Kleid, welches am Saum zerrissen und schmutzig war und einige Blutflecken hatte. Sie hatte eine blasse Haut, durch welche die blauen Adern zu sehen waren und als sie Dathan völlig verstört ansah, leuchteten ihn zwei glutrote Augen an, die von dunklen Schatten umgeben waren. Das Mädchen hatte etwas Unheimliches an sich. Zum ersten Mal erkannte Dathan, wie die Menschen ihn sahen. Und er schämte sich dafür, dass er dieses Mädchen genauso sah. Vorsichtig ging er zu ihr und kniete sich hin, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Doch sie rutschte nur weiter von ihm weg und rief „Komm nicht näher! Bleib weg von mir! Lass mich in Ruhe.“ „Du brauchst keine Angst zu haben, Sally. Ich will dir nichts Böses. Im Gegenteil, ich will dir helfen.“ Sofort, als Dathan seine Hand nach ihr ausstreckte, da versteckte Sally sofort den Kopf unter ihren Armen und zitterte am ganzen Körper. Also ließ er diesen Annäherungsversuch und sprach mit sanfter Stimme. „Sally, sieh mir bitte in die Augen.“ Nur zögerlich hob Sally den Kopf und ängstlich schaute sie den riesigen Jungen vor ihr an, dessen halbes Gesicht hinter einem Mundschutz versteckt war. Und als sie die gleichen roten Augen mit den gleichen dunklen Schatten sah, da nahm sie die Arme wieder runter und war sichtlich durcheinander. „Was… was hat das…“ „Wir beide sind uns sehr ähnlich Sally. Weißt du, ich habe in deinem Alter auch sehr schlimme Dinge erlebt. Die anderen Kinder hatten Angst vor mir und haben mich ein Monster und einen Freak genannt. Sie haben mein Gesicht entstellt und meine kleine Schwester, meine besten Freunde und meine Cousine auf dem Gewissen. Glaub mir, ich weiß genau, was du durchmachen musstest.“ Langsam nahm Dathan den Mundschutz ab und zeigte Sally, was ihm selbst angetan wurde. Und das Mädchen war sichtlich entsetzt über diesen Anblick. „Aber weißt du Sally“, fuhr er fort. „Inzwischen habe ich einen Ort gefunden, an dem mich die Menschen so akzeptieren, wie ich bin und ich habe einen guten Freund, der mir in der schweren Zeit beigestanden hat. Du kannst auch glücklich sein Sally, auch mit dieser Gabe.“ „Du verteidigst die Menschen, obwohl sie uns nur schlecht behandeln? Das verstehe ich nicht! Warum hasst du sie nicht für das, was sie dir angetan haben? Sie werden doch sowieso niemals aufhören, uns zu quälen und zu töten. Solange es sie noch gibt, wird es immer nur Kummer und Leid geben! Sie haben es doch gar nicht verdient, glücklich zu sein, wenn sie uns so schrecklich behandeln. Sie wissen doch gar nicht ihr Glück zu schätzen, normal zu sein!!!“ Es war immer noch Finsternis in Sallys Herzen. Und solange sie nicht von ihrem Groll abließ, würde diese Finsternis fortbestehen. Dathan sah sie mitfühlend an und streichelte ihr sanft über die Wange. „Es ist nicht so, dass ich nicht die Leute für den Mord an meiner Familie und die Anschläge auf meine Person gehasst habe. Aber ich habe nur die Menschen gehasst, die mir das auch angetan haben. Und glaub mir, auch ich habe sehr viele Menschen auf dem Gewissen. Aber ich würde niemals einen Menschen töten, der mich nie so behandelt hat.“ „Warum?“ „Weil ich dann zu dem werden würde, den sie aus mir machen wollen: Ein Monster. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die sind normal und sind trotzdem unglücklich und vom Leben gezeichnet. Auch sie werden gemobbt, geschlagen oder haben nur Unglück im Leben. Mit welchem Recht sollte ich sie töten? Unser Hass sollte allein denen gelten, die uns all diese schrecklichen Dinge angetan haben und nicht jenen, die völlig unschuldig sind. Du magst Recht haben und es ist tatsächlich so, dass es immer so sein wird, dass die Menschen uns für unsere Fähigkeiten hassen und fürchten. Aber die Zeiten ändern sich. Inzwischen gibt es Menschen, die mich mit offenen Armen aufnehmen und mir sagen, dass ich ein liebenswürdiger Mensch bin. Und solange es solche Menschen auf dieser Welt gibt, will ich den Glauben an diese Welt auch nicht verlieren.“ Sally kamen die Tränen, sie gab sich all ihrem Kummer und Schmerz hin und umarmte Dathan laut schluchzend. „Auch für dich gibt es einen solchen Ort, Sally. Es gibt ihn schon sehr, sehr lange.“ „Nein, für mich gibt es keinen Ort, an dem ich glücklich sein kann. Ich habe so viele schlimme Dinge getan. Meine Familie ist tot, ich kann nicht mehr zurück. Es gibt doch sowieso niemanden auf der Welt, der eine wie mich lieben könnte. Also warum sollte ich den Menschen eine Chance geben, oder überhaupt noch an irgendetwas glauben? Ich habe zwei Städte ausgelöscht, nur meinetwegen musste meine Familie sterben und wenn ich schon verschwinden soll, dann werde ich alle mit mir nehmen.“ „Und was würde das ändern?“ fragte Dathan, dieses mal aber in einem strengeren Ton. „Was soll sich ändern, wenn alle auf dieser Welt tot sind? Unsere Familien kommen dadurch auch nicht mehr zurück. Du hast doch schon alle Beteiligten bestraft, die dich und deine Familie getötet haben.“ „Und wenn ich verschwinde, was soll sich dann ändern? Unsereins wird immer gequält und ausgestoßen werden. Sie werden genau wie du und ich völlig zu Unrecht leiden müssen.“ „Das mag sein, aber eines Tages wird das ganz sicher aufhören. Wenn es jetzt schon Menschen gibt, die uns so akzeptieren und lieben wie wir sind, müssen wir ihnen eine Chance geben. Und außerdem irrst du dich, Sally. Es gibt Menschen, die dich sehr lieben und die an dich denken.“ „Du lügst“, rief Sally aufgebracht und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Alle hassen mich oder haben Angst vor mir. Wer soll denn schon ein Monster wie mich lieben?“ „Deine Familie.“ „Ich habe keine Familie mehr! Hör auf, solche Dinge zu sagen, die sowieso nicht stimmen.“ Sally wusste es also tatsächlich nicht. Sie wusste gar nicht, dass Lumis überlebt hatte. Sie war in dem Glauben gestorben, dass sie niemanden mehr auf der Welt hatte und völlig einsam und alleine gestorben war. Dathan musste ihr jetzt unbedingt die Wahrheit sagen. Er griff in seine Jackentasche und holte die kleine Zinnsoldatenfigur heraus. „Erinnerst du dich noch an die hier?“ Sallys Augen weiteten sich, als sie die kleine Figur sah, die ihr so vertraut war. Und wieder flossen die Tränen, als sie die kleine Figur entgegennahm. „Das ist… das ist sie…. Lumis hatte sie über alles geliebt. Ich erkenne sie wieder… aber wie… wie ist das möglich? Wo hast du sie her?“ „Dein Bruder hat damals den Schuss überlebt, der ihn erwischt hat. Er hat dich fest in den Armen gehalten, als du gestorben bist.“ „Er hat überlebt?“ „Ja und er ist bei entfernten Verwandten aufgewachsen. Er hat Frau und Kinder gehabt und ist in einem sehr hohen Alter friedlich gestorben. Er wollte, dass jeder aus der Familie wusste, was du durchmachst und seit Generationen wird diese Figur und deine Geschichte weitervererbt, genauso wie sein Name.“ „Sein… Name?“ „Ich bin Dathan Lumis Kinsley. Alle Männer aus meiner Familie haben den gleichen zweiten Vornamen. Das bedeutet, dass ich ein Nachfahre deines Bruders bin und somit ein Teil deiner Familie.“ Diese Nachricht musste Sally erst einmal verdauen. All die Jahre hatte sie geglaubt, sie wäre ganz alleine auf der Welt und es gäbe niemanden, der sie liebt. Sie war in dem festen Glauben gestorben, dass ihre Familie getötet worden wäre und jetzt erfuhr sie, dass Lumis überlebt und sie in seinen Armen gehalten hatte, als sie gestorben war. Und jetzt erfuhr sie, dass sie sich geirrt hatte. Lumis überlebte und hatte sie bis zu seinem Tode nicht vergessen. Im Gegenteil. Er hatte dafür gesorgt, dass es immer einen Platz in der Familie für sie gab. Selbst nach zweihundert Jahren. „Ich habe… eine Familie?“ „Ja, die hast du. Und du wirst auch immer eine haben, egal was passiert.“ Sally konnte nicht mehr an sich halten. Sie stürzte sich auf Dathan und umarmte ihn. Dabei spürte der Nekromant, wie sehr sie die eigenen Gefühle überwältigten. Und gleichzeitig spürte er auch, dass diese Sally hier nicht lebte. Kein Herzschlag, keine Wärme… und doch war sie hier. Und sie weinte wie ein normales kleines Mädchen. Dathan streichelte ihr sanft den Kopf und versuchte, sie zu beruhigen. Aber Sally war so überglücklich, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Sie war so froh, dass Lumis damals überlebt und eine eigene Familie hatte. Aber noch glücklicher war sie, dass sich ihre Familie bis heute noch an sie erinnerte und es für sie immer noch einen Platz in dieser Familie gab. Und während sie sich dieser Tatsache bewusst wurde, spürte Dathan eine ganz neue Wärme, die Sally auf einmal ausstrahlte. Und er konnte so etwas wie einen Herzschlag hören. Sally war wieder ganz sie selbst. Sie hatte ihre monströse und rachsüchtige Seite überwunden und endlich ihre alte Gestalt zurückerlangt. Sie fand jetzt endlich, nach zweihundert Jahren, ihren Frieden. Mit einem Male kippte sie plötzlich nach vorne, doch Dathan hielt sie fest. „Sally, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?“ „Doch… mir ging es noch nie besser. Ich bin nur müde. Und ein bisschen Angst habe ich schon.“ „Wovor denn?“ „Wenn mein Geist wieder mit meiner Seele verschmilzt, werde ich alles vergessen. Ich werde mich selbst vergessen, meine Familie, ich werde dich vergessen. Ich werde aufhören zu existieren.“ „Aber ich werde dich nicht vergessen, Sally. Ich verspreche dir: Ich werde für immer bei dir sein, selbst wenn wir getrennt werden sollten und du mich vergisst. Alles, was wir uns alle für dich wünschen ist, dass du glücklich wirst.“ Sally nickte und schloss die Augen. Sie sah so friedlich aus, wie sie da in Dathans Armen lag. „Dathan“, sagte sie schließlich mit leiser und müder Stimme. „Könntest du mich im Arm halten, bis ich eingeschlafen bin?“ „Versprochen.“ Ein letztes Mal öffnete Sally ihre Augen und sah Dathan an. Und zum ersten Mal seit so langer Zeit, lächelte sie. Sie konnte nun endlich Frieden finden. Die kleine Zinnsoldatenfigur hielt sie fest an sich gedrückt und dann schloss sie für immer die Augen. Langsam begann sie sich aufzulösen. Ihr Körper wurde transparent, Dathan konnte seine Hände bereits sehen und noch bevor Sally für immer verschwand, küsste er sie auf die Stirn und sagte ihr „Wir sehen uns eines Tages wieder, versprochen.“ Und kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da war Sally ganz verschwunden. Und mit ihr auch die kleine Zinnsoldatenfigur. Epilog: Ein neuer Schatten erwacht ---------------------------------- Der Krankenwagen kam noch rechtzeitig und brachte Samuel Leens sofort ins nächste Krankenhaus. Sein Zustand war Besorgnis erregend und er musste umgehend operiert werden. Die Polizei befragte Dathan die ganze Nacht hindurch, aber er wusste selbst nicht, wie er es am Besten erklären sollte. Er sagte, dass Samuel professioneller Dämonologe und dem Sally-Phänomen auf der Spur war. Dathan schaffte es schließlich, die Polizisten zu überzeugen, dass er selbst nichts mit den Verletzungen zu tun hatte, die Jamie und Samuel zugefügt worden waren. Und kaum wurde er endlich laufen gelassen, besuchte er sogleich Jamie und erzählte ihm, was passiert war. „Dann wird Sally also nie wieder jemandem etwas antun?“ „Ganz sicher nicht. Sie hat endlich eingesehen, dass es genug ist.“ Erleichtert atmeten beide auf und sowohl Dathan als auch Jamie waren unendlich froh, dass der ganze Spuk endlich vorbei war. Während der nächsten Tage, in dem das Haus unbewohnbar blieb, wohnte Dathan im Hotel und sah sich die Nachrichten an. Diese berichteten von überraschenden Wunderheilungen der Sally-Syndrom-Opfer. Ganz überraschend und scheinbar urplötzlich waren alle Symptome abgeklungen, die Filme wurden nicht mehr verbreitet und sie anzusehen löste das Syndrom auch nicht mehr aus. Es war, als hätte jemand einfach einen Schalter umgelegt, der das alles mit einem Schlage beendete. Dathan besprach sich mit der N.E.S.P.R, dass es das Beste wäre, die Wahrheit zu vertuschen. Damit sollten die Nekromanten geschützt werden, die sonst zur Zielscheibe der Regierung werden für irgendwelche kranken Experimente missbraucht würden. Außerdem würde sowieso der Großteil der Leute diese Geschichte nicht glauben. Jamie selbst stellte erleichtert fest, dass auch er endlich geheilt war und auch keine Nachrichten mehr von Sally bekam. Während der nächsten Tage bekam Dathan immer wieder Besuch von Parapsychologen, Dämonologen und anderen Pseudowissenschaftlern, die mehr über Sally erfahren wollten. Er beantwortete alle Fragen ausführlich und allein die Tatsache, dass er ein Nachfahre von Sally war und er selbst diesen Spuk beendet hatte, machte ihn regelrecht berühmt bei der N.E.S.P.R. Immer wieder kamen Pseudowissenschaftler, um sein Haus zu begutachten, wo Sally gewütet hatte, fotografierten alles und binnen kürzester Zeit wurde es zu einer Art Museum. Was Samuel betraf, so grenzte es an ein Wunder, dass er dieses Kamikazeunterfangen überlebt hatte. Der behandelnde Arzt betonte selbst, dass ein normaler Mensch an diesen Verletzungen gestorben wäre. Samuel selbst erholte sich relativ schnell und war froh, dass dieser Alptraum endlich vorbei war. Schließlich trafen sich Jamie und Dathan mit ihm, um noch mal über die letzten Geschehnisse zu reden. Dabei erklärte Samuel, was er eigentlich für eine Rolle gespielt hatte. „Als Sally ihre ganze Macht entfesselt hat, wurde die Finsternis in ihrem eigenen Herzen so mächtig, dass sie die Kontrolle über ihren Geist übernahm. Wenn eine Seele oder ein Geist vollständig von dieser Finsternis verschluckt wird, dann wird diese Person zu etwas, das man mit einem Dämon vergleichen kann: Ein unmenschliches Wesen, das nichts als Selbstsucht, Hass und Verachtung kennt. Meistens kann man diesen nicht mehr retten, sondern höchstens versiegeln. Sally stand kurz davor, sich selbst zu verlieren und hätte ich diese dämonische Seite von ihr nicht losgelöst, hätte es für sie keine Rettung mehr gegeben. So aber konnte Dathan endlich zu ihr durchdringen und ihr helfen.“ „Und was ist mit Ihnen?“ „Diese dämonische Sally hatte natürlich versucht, mich zu töten, um so wieder ausbrechen zu können, aber das hat sie wohl nicht geschafft. Stattdessen hat sie all ihre Energie verbraucht und wurde von meiner eigenen Kraft absorbiert und neutralisiert. Kurzum: Der Sally-Mythos ist endgültig vorbei.“ „Ein Glück“, seufzte Jamie erleichtert und sah zu Dathan. „Du warst wirklich klasse, Dathan. Ohne dich wäre ich schon längst tot.“ „Und nicht nur Jamie. Dank Ihnen konnten viele Menschen dem sicheren Tod entkommen. Sie haben sehr viele Leben und auch noch Sally gerettet, Dathan.“ Etwas verlegen kratzte sich der Nekromant am Hinterkopf und wandte seinen Blick schüchtern ab. „Ich habe das Richtige getan, das ist alles, was wichtig ist.“ „Sie sind viel zu bescheiden, mein Guter. Obwohl Sie genauso leiden mussten wie Sally, haben Sie trotzdem nicht den Glauben aufgegeben und dazu gehört unglaublich viel Stärke. Wenn ich zugeben muss, sind Sie viel stärker, als ich es jemals sein werde.“ Samuel nickte Dathan mit einem Blick zu, der eindeutig zeigte, dass er es ernst gemeint hatte. Er bewunderte Dathan für seinen Charakter. „Und was genau ist jetzt aus Sally geworden?“ fragte Jamie schließlich, den diese Frage wohl die ganze Zeit beschäftigt hatte. „Wird sie auch wirklich keinen Ärger mehr machen?“ „Da bin ich mir ganz sicher“, erklärte der Dämonologe. „Da Sally von ihrer eigenen Finsternis befreit wurde, kann sie ein ganz normales neues Leben führen, oder aber auf die andere Seite gehen zu ihrer Familie. Die Entscheidung liegt bei ihr und ich glaube kaum, dass sie noch ein Mal als Nekromantin zurückkehrt. Dathan und ich haben es ja geschafft, ihre negative Energie auszutreiben. Wenn sie nicht schon längst wiedergeboren wurde, dann wird sie als ein normales Mädchen aufwachsen.“ „Hoffentlich wird sie dann glücklicher. Aber wenn sie immer noch diese dunkle Seite hätte, würde sie dann trotzdem als Nekromant zurückkehren?“ „Garantiert. Wenn die Energie so stark ist, kann sie sich unmöglich verflüchtigen. Sally könnte dann zig Male wiedergeboren werden, sie würde trotzdem immer wieder das gleiche Schicksal erfahren und das würde in einen Teufelskreis ausarten. Zum Glück haben wir genau das verhindert. Sonst wäre Sally eines Tages unaufhaltsam geworden.“ „Daran will ich gar nicht denken, sonst krieg ich wieder nur Alpträume“, kommentierte Jamie und zog dabei eine Miene. „Hauptsache, es ist endlich vorbei und jeder ist zufrieden.“ Da Samuel noch seine Ruhe brauchte, verließen Dathan und Jamie das Zimmer und machten sich auf den Weg in Richtung Cafeteria, um bei Kaffee und Kuchen über alles Weitere zu sprechen. Jamie wollte nämlich mit seinem besten Freund besprechen, ob sie immer noch an ihren Auswanderungsplänen festhalten, oder doch lieber in dem Haus bleiben sollten, wo sie gerade wohnten. „Wenn ich ehrlich sein soll“, sagte Jamie, während er sich ein großes Stück Schokoladentorte genehmigte „würde ich es lieber so einrichten, dass wir den Großteil des Jahres hier bleiben und für ein paar Monate ins Ausland reisen. Ich meine, wir kommen wunderbar mit den Nachbarn zurecht und auch du hast keine Probleme. Was meinst du?“ „Ich finde den Vorschlag gut. Und wo hättest du gedacht, könnten wir die paar Auslandsmonate verbringen?“ „Ich dachte an die Toskana oder Frankreich in der Nähe eines schönen Weinberges. Irgendwo, wo wir unter uns sind und für eine Zeit lang unsere Ruhe haben.“ „Wie wäre es mit einem kleinen Haus in der Toskana in der Nähe eines Weinberges?“ „Das klingt herrlich. Wenn ich entlassen werde, telefonier ich mal ein wenig herum. Solange muss ich in diesem beknackten Oparollstuhl sitzen und mir von den Pflegern sagen lassen, dass ich nicht einfach so herumlaufen darf. Ist ja schlimmer als im Knast.“ Sie lachten beide und hatten seit Tagen nicht mehr so ausgelassen miteinander geredet. Am Abend, als Jamie quasi genötigt wurde, wieder in sein Zimmer zurückzukehren, schob Dathan ihn im Rollstuhl durchs Krankenhaus und verabschiedete sich schließlich von ihm. Er selbst hatte von Mrs. Landon angeboten bekommen, im Gästezimmer zu wohnen, solange die Aufräumarbeiten noch andauerten. Zuversichtlich verabschiedete sich Dathan von seinem besten Freund und fühlte sich so glücklich wie noch nie zuvor. Dabei konnte er sich nicht mal den Grund erklären. Er ließ sogar den ganzen Tag seinen Mundschutz ab und scherte sich nicht darum, dass die Leute ihn anstarrten. Vielleicht war er ja so glücklich, weil er es endlich geschafft hatte, Menschen zu retten, statt sie zu töten. Und das förderte sein eh schon total angeknackstes Ego sehr. Während der Fahrt nach Hause drehte Dathan das Radio lauter, wo gerade „This is What Rock ’n Roll Looks Like“ von Porcelain Black lief. Ja er war sogar so gut gelaunt, dass er lauthals mitsang und dabei die ganze Zeit ein glückliches Lächeln auf seinen entstellten Lippen hatte. Jamie selbst war ziemlich erschöpft von den Strapazen des Tages und froh, endlich im Bett zu liegen. Diese ganzen Fragereien durch diese Pseudowissenschaftler hatten ihn ziemlich geschlaucht und zum ersten Mal seit Tagen konnte er endlich mal ohne Schlafmittel einschlafen. Außerdem war diese Erkrankung auch sehr anstrengend gewesen und es hätte wirklich nicht mehr viel gefehlt, bis er endgültig durchgedreht wäre. Zum Glück konnte das ja noch verhindert werden und Dathan war ja nichts passiert und Samuel lebte auch. Alles in allem war die ganze Sache noch gut ausgegangen. Mit einem lauten Gähnen streckte sich Jamie, legte sich sein Kissen zurecht und schaltete dann das Licht aus. Langsam fielen seine Augen zu und er spürte schon, wie er gleich einschlafen würde. Doch daraus wurde nichts, denn die Tür öffnete sich und das so leise und vorsichtig, dass es schon fast verdächtig erschien. Die Ärzte und Pfleger knallten die Tür regelrecht auf und kamen dann ins Zimmer getrampelt wie eine Herde Elefanten. Jamie setzte sich auf und schaltete das Licht wieder an. An seinem Bett stand Samuel. Aber irgendetwas an ihm wirkte… seltsam. Das freundliche und doch etwas distanzierte Lächeln war einem breiten Grinsen gewichen und mit Augen, die etwas Wahnsinniges ausstrahlten, sah er Jamie kichernd an. In der einen Hand hielt er ein Skalpell. Jamie erbleichte, als er dass viele Blut an Samuels Kleidung sah und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Was war mit Samuel denn los und warum war da Blut an seiner Kleidung? Ein Schauer der Angst überkam ihn, als der Dämonologe den Mund öffnete und sagte „Ich hab es dir doch gesagt, du lila Transe: Ihr werdet allesamt krepieren… und du… du bist der Nächste!“ „S-Sam… das… das können Sie doch nicht ernst meinen. Was… was ist mit Ihnen?“ Ein widerliches, krankes Kichern kam wie ein Zischen zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor. Mit Entsetzen wurde Jamie klar, dass das nicht Samuel Leens war, der da mit der Waffe vor ihm stand. Jamie erblasste und fassungslos starrte er das grinsende Ding an, das einst Samuel Leens gewesen war. Dieses kicherte boshaft und sagte „Warum so ängstlich? Lach doch, Gott liebt dich!!!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)