Zwischen den Zeilen von "Die Rosen von Versailles" von Engelchen ================================================================================ Kapitel 4: Nosce te ipsum ------------------------- Draußen herrschte bittere Kälte an jenem Wintertag, drei Wochen vor Oscars dreizehntem Geburtstag. Die Familie de Jarjayes hatte es sich vor dem Kaminfeuer gemütlich gemacht. Madame de Jarjayes saß am Sekretär und schrieb einen Brief an eine Freundin. Catherine stand müßig am Fenster und sah in den trüben Tag hinaus. Der General las in einem Buch und Oscar hatte sich an das ihr verhasste Klavier gesetzt. Seit ihrem neunten Lebensjahr erhielt sie Klavierstunden, übte jedoch so lustlos und widerwillig, dass ihr Vater den Klavierlehrer nicht mehr kommen ließ. Trotzdem bestand er darauf das Oscar wenigstens ab und zu ein kleines Stück spielte, denn im Gegensatz zu Catherine, die nicht das geringste Taktgefühl besaß, hatte Oscar durchaus Talent. Reynier de Jarjayes hoffte noch immer in Oscar die Liebe zur Musik wecken zu können. Bis auf Oscars verdrießlichen Gesichtsausdruck war es in der Familie de Jarjayes ungewöhnlich friedlich. Doch dieser Friede sollte wie so oft nicht lange währen. Unwillkürlich legte der General sein Buch bei Seite und wandte seinen Kopf in Catherines Richtung. „Sicher wird es dich interessieren Catherine, das ich nun endlich einen passenden Heiratskandidaten für dich gefunden habe. Du wirst nächstes Jahr neunzehn Jahre alt und wir haben gewiss viel zu lange damit gewartet. Aber du als meine jüngste Tochter, die ich noch zu verheiraten habe, sollst eine glänzende Partie machen.“ Catherine sah weiter starr aus dem Fenster und gab ihm keine Antwort. Oscar hatte aufgehört die Tasten des Klaviers lustlos zu bearbeiten. „Du bist so still. Interessiert es dich nicht wer bei mir um deine Hand angehalten hat?“ In diesem Moment klopfte es an der Türe und Laurent, General de Jarjayes Leibdiener, trat ein. „Madame und Monsieur de Jarjayes, Eure Tochter Comtesse Veronique de Fortune ist so eben eingetroffen.“ „Veronique ist hier?“ fragte Madame de Jarjayes freudig überrascht. „Wir lassen bitten.“ Kurz darauf betrat Veronique den Raum um ihre Eltern und Geschwister zu begrüßen. Oscar lief ein leichter Schauder über den Rücken. Sie konnte nicht vergessen wie ihre Schwester im vergangenen Sommer, mit dem fremden Mann im Garten, die Ermordung der zukünftigen Dauphine geplant hatte. Weil der Gedanke daran gar so schrecklich war, versuchte sie ihn vergeblich zu verdrängen. Doch sie konnte ihn nicht vergessen, besonders jetzt nicht, da sie nun ihre Schwester wieder sah. Veronique machte einen sehr erschöpften Eindruck. Sie war blass, um ihre Mundwinkel hatten sich feine Fältchen gebildet und sie wirkte als hätte sie mehrere Nächte nicht geschlafen. Dennoch umarmte sie ihre Eltern und ihre jüngeren Schwestern. „Was führt dich zu uns, Veronique?“ fragte ihr Vater. Wie alle in der Familie war er gespannt was seine Tochter wohl aus Versailles und in ihr Elternhaus getrieben haben könnte. Angespannt ließ sich Veronique auf einen Sessel sinken. „Ich habe es in Versailles nicht mehr ausgehalten und Madame Dubarry um Urlaub gebeten. All dieses Getuschel über mich und die bösen Blicke...“ Verstohlen tupfte sie sich mit einem Taschentuch ein paar Tränchen aus den Augen. „Aber was gibt es denn über dich zu tuscheln?“ fragte Emilie de Jarjayes. „Mein Gemahl der Comte hat sich duelliert.“ „Um Gottes willen!,“ fuhr ihre Mutter auf. „Mit wem um alles in der Welt hatte er ein Duell?“ „Er hat General de Ronsard herausgefordert.“ „General de Ronsard? Wie kam er auf so einen Gedanken?“ Zuerst wollte sich Veronique in Schweigen hüllen, doch dann dachte sie das ihre Eltern ohnehin alles erfahren würden, sei es beim nächsten Ball oder einer von Madame de Jarjayes Teegesellschaften. Und so antwortete sie wahrheitsgemäß: „Weil er General de Ronsard und mich miteinander im Bett erwischt hat.“ Empört schnappte Madame de Jarjayes nach Luft und zückte ihr Riechsalz. „Veronique, wie konntest du das tun? Hättest du dabei nicht wenigstens an unsere Familie denken können? Was ist das für ein Benehmen für eine Tochter aus dem Hause de Jarjayes?“ fuhr nun Monsieur de Jarjayes auf. Er war im Gesicht zornesrot geworden. „Fangt nun nicht auch noch an deswegen mit mir zu streiten. Ich wollte zuerst zu Marguerite aber Maxime hat mich hinausgeworfen als er alles erfahren hat.“ Der Blick des Generals fiel Oscar und Catherine, die sich mucksmäuschenstill verhielten aber dem ganzen Gespräch gebannt folgten. „Oscar, Catherine, hinaus mit euch! Wir haben unter uns zu sprechen.“ Widerstandslos aber enttäuscht gingen die beiden nach draußen. Immer wurden sie davon geschickt wenn es interessant wurde! „Vater ist sehr wütend,“ meinte Oscar. „Er wird in nächster Zeit noch viel mehr Grund dazu haben,“ sagte Catherine mit einem seltsamen Ton in der Stimme. „Wie meinst du das?“ „Warte es ab.“ Mit diesen Worten ließ Catherine ihr Schwester stehen. Die eisige Stimmung im Hause ließ Oscar keine Ruhe. Um auf andere Gedanken zu kommen machte sie sich am Abend auf den Weg in den Dienstbotentrakt, wo sie bei Andre ein wenig Ablenkung finden wollte. Auf dem Weg dorthin dachte sie für sich: „Oft wüsste sie nicht was ich ohne einen Freund wie Andre machen sollte.“ Die Dienerschaft saß noch nach dem Abendbrot in der Küche gemütlich beisammen. Einer der Diener hatte seine Ziehharmonika geholt und stimmte ein fröhliches Lied an. Oscar kam zu dem Entschluss, dass sie das mehr aufmuntern würde, wie wenn Andre und sie sich miteinander zurück zögen und setzte sich mit dazu. Nach einigen Liedern kam Danielle, die Zofe von Veronique, hinunter. „Wer von euch ist Philippe, der Kutscher?“ fragte sie. Philippe erhob sich. „Ich bin das.“ Er antwortete etwas langsam, da er dem Rotwein bereits ausgiebig zugesprochen hatte. „Meine Herrin schickt mich mit einer Nachricht zu dir, die unverzüglich überbracht werden soll.“ Damit übergab sie Philippe einen versiegelten Brief und verließ rasch wieder den Raum. Kaum war die Zofe verschwunden, begannen die Männer in der Küche zu grölen. „Sicherlich eine Nachricht an ihren Liebhaber! Da würden wir gerne einen Blick hinein werfen.“ Die Frauen kicherten, doch dann viel ihnen ein das Oscar mit ihnen am Tisch saß und sie verstummten. Philippe stand auf um seinen Mantel zu holen und seinen Auftrag zu erfüllen. „He, Philippe! An wen ist denn nun der Brief?“ Den alten Pferdeknecht zerriss es beinahe vor Neugierde. „Eigentlich dürfte ich euch das gar nicht sagen aber ich kann euch beruhigen. Er ist nicht an General de Ronsard.“ „Nanu, noch mehr Liebhaber?“ „Er geht an einen Herzog La Vauguyon.“ „Der Name sagt mit nichts.“ „Aber natürlich,“ rief Oscar. „Ich habe schon von ihm gehört. Er ist der Hauslehrer des Dauphins. Einmal habe ich mitbekommen wie mein Vater über ihn gesprochen hat.“ „Da treibt es Madame Veronique also auch noch mit dem Hauslehrer des Dauphins,“ kicherte das Hausmädchen Paulette. Ein Rippenstoß von Sophie traf sie, die mahnend ihren Kopf in Oscars Richtung drehte. Niemand ahnte glücklicherweise das die Dinge, die Veronique und der Herzog La Vauguyon miteinander austauschten, weit gefährlicher waren als eine Liebschaft. Vor dem Einschlafen ging Veroniques Brief Oscar noch einmal durch den Kopf. „Der Herzog La Vauguyon? Was kann Veronique bloß von ihm wollen?“ Darüber schlief sie ein. Der nächste Tag sollte noch mehr Besucher in das Palas de Jarjayes bringen. Der Morgen begann so gewöhnlich wie immer, nur das nun Veronique mit am Frühstückstisch saß. Madame de Jarjayes war dazu übergegangen, wieder das Wort an ihre Tochter zu richten, trotz der skandalösen Angelegenheit in die sie verwickelt war. Selbst der Reynier de Jarjayes hatte sich dazu herabgelassen Veronique wenigstens wieder mit einem „Guten Morgen“ zu begrüßen. Immerhin hing es sehr von General de Ronsard ab ob Oscar, nach ihrem unmöglichen Auftritt ihm gegenüber, die Offiziersakademie besuchen konnte. Vielleicht würde seine Liaison mit Veronique seinen Groll auf die Familie de Jarjayes besänftigen. Von diesem Standpunkt aus gesehen erwies sich seine älteste Tochter als durchaus nützlich. Auch wenn er das niemals zugeben würde. Als Oscar und Andre am Nachmittag miteinander ausritten, kam ihnen ein Reiter in einem einfachen Umhang entgegen. „Wer ist denn bei der Kälte unterwegs?“ wunderte sich Andre. „Scheinbar sind wir nicht die einzigen Verrückten.“ „Er reitet in die Richtung von Palas de Jarjayes,“ viel Oscar auf. Als der Reiter näher kam, erkannten sie das es Frederic Gaspard war. „Er wird wohl seine Eltern besuchen wollen,“ überlegte sich Oscar. „Aber weshalb reitet er dann in unsere Richtung? Zum Bauernhof der Gaspards hätte er die andere Abzweigung nehmen müssen.“ „Er wird wohl Catherine heimlich besuchen wollen,“ grinste Andre. „Was sagst du da?“ „Ja, die beiden schreiben einander immer noch. Ich habe es unten in der Küche mitbekommen. Catherine besticht Paulette mit ihren abgelegten Kleidern, damit diese ihr seine Briefe unauffällig bringt. Ihre Briefe an ihn nimmt Paulette immer mit nach Paris, wenn sie dort ihre Verwandten besucht.“ „So ist das also,“ murmelte Oscar. Offensichtlich gingen im Palas de Jarjayes mehr Dinge vor sich als sie ahnen konnte. „Guten Tag, Monsieur Oscar. Oh, verzeiht! Catherine hat mir geschrieben das Ihr Euch für Lady Oscar entschieden habt. Mit Verlaub gesagt passt das auch wesentlich besser zu Euch.“ Frederic Gaspard lächelte sie freundlich an. „Guten Tag Andre, alles in Ordnung bei dir?“ „Immer doch,“ versicherte Andre. „Triffst du dich mit Catherine? Pass lieber mal auf das Monsieur und Madame de Jarjayes nicht dahinter kommen.“ „Wenn du es genau wissen willst bin ich auf dem Weg zum Palas de Jarjayes um mit General de Jarjayes zu sprechen.“ „Mit meinem Vater?“ fragte Oscar erstaunt. „Ja, mit eben diesem. Ich möchte ihn um die Hand Eurer Schwester Catherine bitten. Nächstes Jahr werdet ihr meine Schwägerin sein Lady Oscar.“ Mit diesen Worten ritt er weiter. Oscar und Andre blieben wie angewurzelt mit ihren Pferden stehen. „Das nenne ich doch einmal richtigen Mut. Er wagt sich in die Höhle des Löwen,“ sagte Andre anerkennend. Oscar nickte. „Aber auch wenn er noch so mutig ist wird mein Vater nie sein Einverständnis dazu geben. Es ist wohl besser wir reiten sofort zurück und warnen Frederic.“ Oscar spürte einen leichten Druck im Bauch. Ihr schwante nichts Gutes für die nächsten Tage. Erst Veroniques Affäre, dann der unziemliche Heiratsantrag Frederics. Die Laune des General würde unerträglich sein und das bedeutete das es zuhause sehr ungemütlich werden würde. Schnell ritten sie Frederic hinterher. Im Stall übergaben sie ihre Pferde dem Pferdeknecht. Meistens kümmerten sie sich selbst um ihre Pferde, auch Oscar, denn ihr Vater war der Ansicht, dass ein guter Reiter, selbst wenn er adliger Herkunft war, wissen sollte wie ein Pferd gesattelt und versorgt werden musste. Aber heute hatten sie es eilig Frederic einzuholen. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, denn Laurent führte ihn bereits durch das Haus in das Arbeitszimmer des Generals. Frederics Selbstsicherheit war ein wenig geschwunden. Andre erinnerte sich noch gut daran, wie es ihm ergangen war, als er selbst das erste Mal den Luxus im Palas de Jarjayes gesehen hatte. „Frederic, bitte wartet,“ rief Oscar. Der junge Mann drehte sich um. „Bitte überlegte es Euch nochmal. Mein Vater wird niemals zustimmen. Er wird sehr ungehalten über Euch werden.“ Frederic sah Oscar durchdringend an. „Ich muss es aber tun. Eure Schwester ist meine große Liebe und die große Liebe lässt einen Standesunterschiede vergessen und die verrücktesten Dinge machen. Das werdet Ihr später selbst erfahren wenn Ihr Eure große Liebe gefunden habt.“ Damit war er nach Laurents Anklopfen und dessen Anmeldung in Monsieur de Jarjayes Arbeitszimmer verschwunden. Oscar und Andre nahmen im Gang auf der Treppe platz, obwohl es dort recht kühl war, aber sie konnten sich vor Anspannung nicht von der Türe des Arbeitszimmers entfernen. Um sich ein wenig abzulenken, beschloss Andre für sich die Minuten zu zählen, bis sie den General brüllen hören würden. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen trat Frederic ein. „Ich wünsche Ihnen einen Guten Tag General de Jarjayes.“ „Guten Tag, Frederic. Aber mittlerweile muss ich wohl Monsieur Gaspard sagen. Bitte setzt Euch.“ Frederic nahm Platz. Nun spürte er auch wie sehr seine Knie zitterten. „Was führt Euch zu mir? Ist etwas mit Euren Eltern geschehen? Brauchen sie vielleicht Hilfe?“ „Meinen Eltern geht es gut, vielen Dank. Ich habe ein anderes Anliegen.“ Er holte einen kurzen Moment Luft, während ihn der General im Moment noch wohlwollend ansah. „Ich möchte Euch hiermit um die Hand Eurer Tochter Catherine de Jarjayes bitten.“ „Wie bitte?“ Der General wirkte so verdutzt, als hätte jemand einen Kübel mit eiskaltem Wasser über seinem Kopf ausgekippt. Er glaubte nicht was er da gerade gehört hatte. Frederic wäre am liebsten davon gelaufen. Doch er musste nun durchziehen was er begonnen hatte. Immerhin ging es dabei um ihn und Catherine und ihr gemeinsames Glück. „Ihr wisst sicherlich das mein Onkel in Paris mich bei sich aufgenommen.hat. Ich werde nächstes Jahr meine Schreinerlehre bei ihm beenden. Er möchte mir seine Werkstatt überschreiben. Ich kann also gut für Catherine sorgen.“ Genau nach diesem Satz hörte man die Stimme General de Jarjayes durch das Haus dröhnen: „So eine Unverschämtheit! Bist du denn ganz richtig im Kopf? Scher dich hinaus und lass dich hier nie wieder blicken!“ Auf den Treppenstufen zuckten Oscar und Andre zusammen. „Eine Minute und einundzwanzig Sekunden,“ sagte Andre. „Wie bitte?“ fragte Oscar verständnislos. „Ich habe mitgezählt wie lange es dauern wird bis wir deinen Vater brüllen hören. Es hat genau eine Minute und einundzwanzig Sekunden gedauert.“ Die Türe des Arbeitszimmers wurde aufgerissen und Frederic flog in hohem Bogen hinaus und knallte im Gang auf die harten Marmorfliesen. In diesem Moment kam Catherine angelaufen. Sie musste erfahren haben das Frederic gekommen war um mit ihrem Vater zu sprechen. „Frederic, oh nein!“ Catherine ließ sich neben ihm auf den Boden fallen und nahm ihn in die Arme. „Catherine was fällt dir ein?“ „Bitte, Vater! Frederic und ich lieben uns! Wir haben uns vor zwei Jahren in Paris näher kennen gelernt als ich bei Marguerite auf Besuch war. Ich möchte nur Frederic heiraten und sonst niemanden.“ Der General überlegte fieberhaft um welchen Besuch es sich dabei handelte. Dann viel ihm ein das es der verdammte Aufenthalt gewesen sein musste, der von seiner Gattin gestattet worden war, auf dem Oscar fest gestellt hatte ein Mädchen zu sein. Wenn man nicht überall seine Augen hatte... Aber diesem frechen Lausebengel Frederic würde er nun eine Lektion erteilen lassen, so das er für den Rest seines Lebens wissen musste wohin er gehörte! Da entdeckte er Oscar und Andre. Die beiden steckten wirklich immer gerade dort wo man sie am wenigsten gebrauchen konnte. „Verschwindet! Was geht euch beide das schon wieder an?“ So schnell sie konnten rannten Oscar und Andre die Treppen hinunter und trotz der Kälte hinaus in den Stall und die Leiter zum Heuboden hinauf, wo sie sich im wärmenden Heu vergruben. Kurz darauf hörten sie in ihrem Versteck Stimmen. „Lass uns durch die Luke hinaus sehen,“ schlug Oscar vor. Draußen sahen sie wie drei Diener der Familie de Jarjayes Frederic mit sich in den Hof hinaus schleppten. Laurent war mit dabei. Er trug in seiner Hand eine lange Kutscherpeitsche. Oscar stockte der Atem. „Sie werden ihn doch nicht auspeitschen?“ fragte Andre eben so fassungslos wie Oscar. „Mit aller Wahrscheinlichkeit,“ sagte Oscar kleinlaut. Frederic war so mutig gewesen und nun wurde er dafür bestraft. Es war so ungerecht! Unerwartet ließen die drei Männer Frederic los. „Und nun verschwinde,“ meinte Laurent. Ungläubig sah Frederic ihn an. „Hast du nicht gehört?“ Hastig drehte Frederic sich um und lief in den Stall um sein Pferd zu holen „He,“ rief Laurent. „Du solltest langsam gehen und ein bisschen hinken. Immerhin hast du gerade eine Tracht Prügel bezogen.“ Frederic befolgte dessen Rat und machte sich betont schleppend auf den Weg in den Stall. Bevor er davon ritt blieb er vor Laurent stehen und sah ihn noch einmal an. „Danke,“ sagte er nur und verschwand im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends. Auch die drei Diener kehrten um. Als sie an der Luke des Heubodens vorbei kamen, hinter der sich Andre und Oscar versteckt hatten, hörten die beiden wie einer der Männer sagte: „Armer Kerl! Unsere Mademoiselle Catherine ist eben nur allzu hübsch. Aber was hat er sich nur dabei gedacht?“ „Liebe kennt eben keine Grenzen,“ meinte ein anderer und damit gingen sie lachend weiter. „Ich kann es einfach nicht verstehen,“ sagte Oscar. „Marguerite hat doch ebenfalls einen Bürgerlichen geheiratet und Vater hat die Ehe sogar arrangiert.“ „Maxime hat auch so viel Geld wie Heu und Frederic ist eben nur ein Schreiner,“ meinte Andre. Oscar verspürte Mitleid mit ihrer Schwester und mit Frederic. Noch viel mehr aber nagte in ihr das Bewusstsein der großen Ungerechtigkeit, unter der die beiden zu leiden hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben machte sie sich darüber Gedanken, dass offensichtlich nicht alle Menschen gleich behandelt wurden. Es gab einen Unterschied zwischen dem Adel und den Bürgerlichen. Dieser Unterschied war wie eine Grenze, bei deren Übertreten sofort eine schwere Strafe winkte. Irgendwann wurde es im Stall so kalt das Oscar und Andre nichts anderes mehr übrig blieb als zurück ins Haus zu gehen. Als Oscar am Arbeitszimmer ihres Vaters vorbei kam hörte sie einen furchtbaren Schrei. Es klang nach Catherine.Gewiss neigte ihre Schwester gelegentlich dazu leicht hysterisch zu werden, doch so einen Schrei hatte sie noch nie von ihr gehört. Kurz darauf folgte ein Poltern, wie wenn etwas umgestoßen würde und das Klirren von zerbrochenem Glas. Erschreckt überlegte Oscar was sie nur unternehmen sollte. Irgendetwas Furchtbares passierte hinter dieser Tür. „Ihr seid nicht mehr mein Vater, ich verabscheue Euch,“ schrie Catherine. Die Türe öffnete sich und General de Jarjayes schleifte Catherine am Arm hinter sich her und warf sie hinaus in den Gang, wie eine halbe Stunde zuvor Frederic, so das sie dort gegen die gegenüberliegende Wand fiel. „Du wirst tun was ich dir sage. Noch vor Weihnachten heiratest du denjenigen den ich für dich ausgesucht habe, das wird dir dann schon die Flausen aus dem Kopf treiben. Und wenn Frederic Gaspard sich noch einmal in deine Nähe wagen sollte, dann lasse ich ihn in das nächstbeste Gefängnis werfen!“ Mit einem lauten Knall warf der General die Türe hinter sich zu. „Catherine, bitte weine nicht...,“ versuchte Oscar ihre große Schwester zu trösten. „Lass mich zufrieden,“ schluchzte Catherine und lief davon. Oscar tat das Herz weh, als sie ihre Schwester so unglücklich sah. Sie hätte ihr gerne geholfen aber wusste nicht wie. In seinem Arbeitszimmer hatte sich der General ein Glas Brandy eingeschenkt. Die Wut in seinem Inneren musste irgendwie besänftigt werden. Allmählich verspürte er das dringende Bedürfnis seine Töchter mit einem Seil, an dessen Ende in schwerer Stein hinge, alle am Halse aneinander zu binden und in die Seine zu werfen! Es kam ihm so vor als hätte man mit seinen Kindern nichts als Ärger. Es klopfte an der Tür und auf das „Herein“ Reynier de Jarjayes betrat Laurent das Arbeitszimmer. „Hat der Bauernlümmel seine Lektion erhalten,“ erkundigte er sich. „Ja, das hat er,“ log Laurent. „Aber ich bin gekommen um Euch den Besuch Eurer Tochter zu melden.“ Der General verschluckte sich an seinem Brandy. „Meine Tochter?“ fragte er fassungslos. „Welche Tochter denn nun schon wieder? Ist es vielleicht Marguerite? Himmel noch mal! Was will sie denn nur?“ „Nein Monsieur, es handelt sich um Schwester Juliette.“ Reynier de Jarjayes stöhnte. Seine vierte Tochter Juliette war einem Franziskanerorden beigetreten, was er inzwischen erfolgreich verdrängt hatte. Doch nun stand sie im unpassendsten Moment vor der Tür, um ihrer Familie ihren alljährlichen Besuch abzustatten. So meinte er nur leicht gereizt zu Laurent: „Die hat mir gerade noch gefehlt. Ich werde sie morgen empfangen.“ Immerhin waren es genügend Aufregungen für einen Tag gewesen. Er war froh zwei Tage später wieder in Versailles antreten zu müssen, da wichtige Verhandlungen anstanden, und dort Ruhe vor seiner Familie zu haben. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht das der Ärger noch größer werden sollte. „Pssst, Oscar, Oscar, wach auf,“ hörte Oscar im Schlaf eine sanfte Stimme. Erstaunt öffnete sie die Augen und entdeckte vor ihrem Bett Catherine mit einer Kerze in der Hand. „Catherine, was ist los?“ Erstaunt richtete sich Oscar auf. „Ich möchte mich von die verabschieden.“ Jetzt erst bemerkte Oscar das Catherine einen Reiseumhang trug und ein kleines Bündel dabei hatte. „Verabschieden? Wohin möchtest du mitten in der Nacht?“ Oscar verstand die Welt nicht mehr. „Ich gehe mit Frederic fort. Ich habe mich fest dafür entschieden seine Frau zu werden.“ „Aber Catherine das kannst du nicht machen.! Du kannst doch nicht so einfach davon laufen! Maman und Sophie werden sich die Augen ausweinen wenn du fort bist.“ „Ich möchte Frederic heiraten. Ich fühle das ich an seiner Seite glücklich werde. Keinesfalls möchte ich die Ehefrau eines verschrobenen Adligen werden und mir mein Glück woanders suchen müssen so wie Veronique. Was nützen mir alle Juwelen und schönen Kleider, wenn ich dafür ein Leben lang unzufrieden bin?“ Das konnte Oscar verstehen. Sie dachte aber auch an das Donnerwetter das morgen über sie alle hereinbrechen würde. „Lass dich noch einmal umarmen,“ sagte Catherine. Oscar stand auf und drückte ihre Schwester an sich. Sie konnte sich gar nicht vorstellen wie es sein würde, wenn Catherine nicht mehr da wäre. Dann wandte Catherine sich um und ging zur Tür. „Wie möchtest du an der Haustüre hinaus kommen,“ fragte Oscar. Ein letztes Mal zeigte ihr Catherine ein spitzbübisches Lächeln. „Ich wusste das Frederic heute kommen würde und habe mit Vaters Reaktion gerechnet. Also habe ich Maman, als sie heute ihren Mittagsschlaf gemacht hat, vorsorglich ihre Schlüssel gestohlen. Ein Abschiedsbrief an sie liegt auf ihrem Sekretär.“ Damit war Catherine fort. Traurig legte sich Oscar zurück in ihr Bett. Catherine hatte ihr von all ihren Schwestern am nächsten gestanden. Immerhin hatten sie miteinander ihr ganzes Leben unter einem Dach verbracht, während ihre anderen Schwestern der Reihe nach alle geheiratet hatten. Natürlich war Catherine ihr oft auf die Nerven gegangen, vor allem wenn sie gerade wieder eine ihrer Launen hatte, doch nun merkte sie wie sehr ihr die ältere Schwester fehlte. Mit brennenden Augen lag Oscar in ihrem Bett aber es wollte keine einzige Träne fließen. Als sie am nächsten Morgen, während sie sich ankleidete, die Stimme ihrer Mutter hörte die schluchzte und rief: „Oh Reynier, es ist etwas Furchtbares passiert! Das müsst ihr Euch ansehen!“ wusste Oscar das Catherines Brief gefunden worden war. Am Frühstückstisch herrschte eisiges Schweigen. Emilie de Jarjayes war vor Kummer außerstande etwas zu sich zu nehmen und so frühstückte der General mit seinen Töchtern alleine. Verstohlen beobachtete Oscar ihre beiden Schwestern ihr gegenüber. Wenn man Juliette in ihrer strengen, dunklen Ordenstracht ansah und neben ihr Veronique, die bereits zum Frühstück geschminkt war und einen ausgesprochen tiefen Ausschnitt trug, konnte man kaum glauben das die beiden miteinander verwandt, geschweige den Schwestern waren. Die Stille wurde immer unerträglicher. Endlich wagte Juliette sich zu Wort zu melden: „Vater ich bitte Euch, verzeiht Catherine. Immerhin ist sie Eure Tochter.“ Der General sah von seinem Teller auf und blickte Juliette kalt an. „Ich habe keine Tochter Catherine mehr.“ Das war das einzige Mal das an diesem Tag während des Frühstücks gesprochen wurde. Oscar war froh als ihr Hauslehrer Monsieur Dumas kam um mit seinen Stunden zu beginnen. Am Nachmittag ließ es sich nicht vermeiden dem General aus dem Weg zu gehen da er im Hof eine Fechtstunde angesetzt hatte. Seine Wut auf seine Tochter zeigte sich zwar nicht in seinem beherrschten Gesicht aber in dem Elan mit dem er Oscar und Andre mit seinem Degen über den Hof trieb. Obwohl bittere Dezemberkälte herrschte, standen den beiden Schweißperlen auf der Stirn. Erschöpft verkrochen sich Oscar und Andre in dessen Zimmer. „Ab morgen hat Vater wieder in Versailles zu tun,“ sagte Oscar. Ihre Muskeln fühlten sich an wie Brotteig, der gerade durchgeknetet wurde. „Wenn nicht würde ich es zuhause nicht mehr aushalten und davon laufen wie Catherine.“ Andre nickte. „Ich kann Catherine wirklich verstehen.“ „Ich auch,“ meinte Oscar. „Wenn ich nicht als Junge erzogen worden wäre, dann würde ich auch viel lieber einen Mann heiraten den ich liebe, auch wenn er bürgerlich ist, als irgendeinen Herzog, für den ich nicht das Geringste empfinde.“ „Das würdest du?“ fragte Andre. „Ja, das würde ich,“ antwortete Oscar fest. „Weißt du das ich in Catherine ein bisschen verliebt war als ich zu euch kam?“ fragte Andre. „Nein das wusste ich wirklich nicht,“ sagte Oscar und lachte. „Es stimmt. Ich fand ihre goldblonden Haare so schön und …, naja eben noch einige andere Sachen an ihr.“ „Ja, meine Schwester ist eine schöne Frau,“ sagte Oscar ehrlich. Eine Weile war es ruhig zwischen den beiden. „Meine Großmutter hat ein Glas mit eingelegten Gurken aufgemacht und einen Kuchen gebacken. Sollen wir uns etwas davon holen?“ fragte Andre. „Ja, gerne,“ freute sich Oscar. „Ich habe Hunger wie ein Bär.“ Wieder einigermaßen vergnügt gingen sie in Sophies Küche, um dort den Kuchen, von dem jeder drei Stück aß, und das ganze Glas Gurken, das als Vorrat für einen Monat eingerechnet gewesen war, zu vertilgen. Sophie sah ihnen kopfschüttelnd zu. Wenn Andre alleine so maßlos zugeschlagen hätte, dann wäre sie bereits eingeschritten, aber da Lady Oscar mit dabei war, konnte sie dazu nichts sagen. Junge Leute hatten eben immer Hunger, auch wenn Andre ihrer Meinung nach stopfte wie ein Vielfraß. Von dem Schreck über Catherines Ausriss hatte sie sich einigermaßen erholt, obwohl sie immer noch in ihr großes Taschentuch schnupfen musste. Da es neben ihrem Enkel und Oscar nun keine anderen Kinder mehr zum verwöhnen im Palas de Jarjayes gab, musste sie eben nun ihre gesamte Zärtlichkeit auf die beiden verströmen. Sofort machte sie sich daran ihnen eine riesengroße Kanne heißer Schokolade zu kochen. Als Oscar den Dienstbotentrakt verließ gluckerte es in ihrem Bauch. Vermutlich vertrugen sich saure Gurken nicht mit Kuchen und heißer Schokolade. In ihrem Zimmer setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann in einem Buch zu lesen. Das Gluckern in ihrem Bauch hatte sich nun in ein leichtes Zwicken verwandelt, das immer stärker wurde. Oscar beschloss sich hinzulegen, doch der Schmerz in ihrem Bauch wurde immer stärker. Sie läutete und Paulette erschien. „Bitte gib Bescheid das ich nicht zum Dinner hinunter komme. Ich fühle mich nicht wohl.“ „Sehr wohl, Lady Oscar.“ Bald nachdem Paulette gegangen war klopfte es an Oscars Tür. Auf ihr „Herein“ trat ihre Mutter in ihr Zimmer. „Oscar, was fehlt dir? Paulette hat uns ausgerichtet das es dir nicht gut geht.“ Madame de Jarjayes stellte fest das Oscar wirklich recht blass im Gesicht war. Auch Oscar, die selten einmal krank gewesen war, im Bett vorzufinden, war recht ungewöhnlich. „Ich habe Bauchschmerzen, Maman. Ich möchte deswegen lieber auf das Dinner verzichten.“ „Soll ich nach dem Arzt schicken lassen? Du siehst wirklich nicht gesund aus.“ „Nein, ich möchte mich einfach nur ausruhen,“ bat Oscar. Später brachte ihr Sophie eine Tasse Tee und schimpfte dabei lautstark über die Gurken und den Kuchen. „Ich wusste doch das ihr schon wieder viel zu viel gegessen habt! Bei diesen Unmengen die ihr hinunter geschlungen habt wäre es jedem Menschen schlecht. Außer Andre natürlich, der könnte die Speisekammer ausräubern und wäre danach noch wohl auf.“ Sophie ließ Oscar, nachdem diese ihren Tee getrunken hatte, wieder alleine. Da Oscar noch immer ihre Kleidung trug, begann sie sich auszuziehen. Mit Erschrecken stellte sie fest das sich in ihrem Hemd ein bräunlicher Fleck abzeichnete. Beschämt knüllte Oscar das Hemd zusammen und versteckte es unter ihrem Bett. Wie hatte ihr das nur passieren können? Sicher würden die Hausmädchen, die sich um die Wäsche kümmerten, über sie lachen. Sie würde es morgen lieber selbst heimlich auswaschen und trocknen. Lange konnte Oscar nicht schlafen und wälzte sich unruhig hin und her. Ihr Bauch wollte nicht aufhören zu schmerzen und zudem hatten Juliette und Veronique nun lautstark angefangen mit ihrem Vater zu streiten, was bis zu ihr nach oben tönte. „Ich habe keine von euch beiden hierher gebeten um mir Vorhaltungen zu machen! Verschwindet wieder! Du zurück nach Versailles oder zu deinem Liebhaber und du wieder in dein Kloster!“ „Aber Vater bedenkt doch das Catherine aus Liebe gehandelt hat. Frederic wird sie heiraten und das was Gott zusammen gefügt hat das soll der Mensch nicht trennen.“ „Mir steht nicht der Sinn nach deinen frommen Sprüchen!“ „Ich finde Euer Verhalten nicht richtig,“ mischte sich nun wieder Veronique mit ein. „Catherine ist Eure Tochter...“ „Ich habe keine Tochter mehr die Catherine heißt. Das habe ich euch allen bereits heute morgen erklärt. Sie existiert nicht mehr für mich. Und wenn wir gerade über unschickliches Verhalten sprechen, so bedenke erst mal das deine! Der ganze Adel spricht darüber das du deinem Gatten Hörner aufgesetzt hast und wenn ich mich morgen nach Versailles begebe so muss ich mich dort für dich, für meine eigene Tochter schämen.“ „Lasst Veronique gefälligst in Frieden. Was sie getan hat das muss sie ganz alleine mit Gott ausmachen!“ „Habe ich dir nicht gerade eben gesagt das ich von deinen frommen Geschnatter nichts mehr hören möchte?“ „Aber Vater wie könnt Ihr nur...“ Oscar schlüpfte unter ihre Bettdecke, wo sie sich ihr Kopfkissen fest gegen beide Ohren presste, um den Streit ihrer Familie nicht mehr hören zu müssen. Sie hasste es wenn ihre Schwestern so mit ihrem Vater zankten. Egal wie verschieden Veronique und Juliette von einander waren, ihrem Vater Kontra geben konnten sie beide hervorragend und bewiesen dies gerade auch lautstark. Oscar jedoch war einfach nur noch zum weinen zumute. „Was Catherine nun gerade macht? Ob ich sie jemals wieder sehen werde?“ überlegte sie noch, bis endlich einschlafen konnte. Mitten in der Nacht erwachte Oscar und spürte das ihr eine warme Flüssigkeit an den Beinen herunter lief. Entsetzt fuhr sie in ihrem Bett hoch. Was war nur los mit ihr? Würde sie nun auf einmal wie ein Kleinkind in ihr Bett machen? So schnell wie möglich zündete Oscar eine Kerze an. Im Schein der Flamme bemerkte sie, das es Blut war, das ihr zwischen den Beinen herunter lief und ihr Nachthemd und das Bettlaken durchweicht hatte. Oscar überlegte fieberhaft von was so eine Blutung herrühren konnte. Sie war zweimal während der Fechtstunde heftig hingefallen. Vermutlich hatte sie sich innen in ihrem Bauch verletzt. Ihr Vater hatte einmal davon erzählt das es immer wieder Soldaten gab, die sich im Kampf solche inneren Verletzungen zuzogen. All das Blut musste von so einer Wunde tief in ihrem Bauch stammen und hatte sich nun einen Weg gesucht, um nach draußen zu gelangen. Das war wohl die beste Erklärung dafür. Voller Angst wurde Oscar bewusst das sie nun verbluten musste, so wie die Soldaten in den Kriegsgeschichten ihres Vaters. Doch sterben wollte sie auf gar keinen Fall. Es wäre furchtbar nie wieder Sophies leckere Kuchen zu probieren, nicht mehr mit Andre auszureiten und nie wieder die herrlich grünen Wiesen im Sommer zu sehen. Sie konnte es sich nicht vorstellen einfach tot zu sein. Vielleicht konnte ihr der Arzt noch rechtzeitig helfen. Einer der Dienstboten musste möglichst schnell ein Pferd satteln und den Hausarzt der Familie in das Palas de Jarjayes bringen. Um in den Gängen des Hauses keine Spuren zu hinterlassen klemmte sie sich ihr Nachthemd zwischen die Beine und lief so schnell sie konnte in den Dienstbotentrakt. Ihr erster Gedanke war Andre zu wecken aber dann müsste sie ihm auch erklären an welcher peinlichen Stelle das Blut ihrer Verletzung aus ihr heraustrat und das ihr vor ihrem Freund unangenehm. Immerhin war Andre mit seinen vierzehn Jahren beinahe ein Mann und sie wusste nicht wie sie es ihm erklären sollte. Die Rettung in der Not war wie immer Sophie. Sie würde sicher umgehend den Kutscher Philippe aus dem Bett reißen, damit dieser so schnell als möglich den Doktor abholte. Sicher hatte Sophie auch etwas in ihrem Arzneischränkchen um die Blutung zu lindern, bis der Arzt ihr helfen konnte. Sophie schlief friedlich als sie ein Klopfen an ihrer Tür vernahm. „Unfassbar, was ist denn nun schon wieder? In diesem Haus herrscht wohl niemals Ruhe,“ zeterte Sophie. „Sophie, bitte! Ich bin es, Oscar.“ Sofort wusste Sophie das etwas geschehen sein musste. Oscar hatte sie noch nie in der Nacht geweckt. Eilig stand sie auf und lief zur Türe. Draußen fand sie eine leichenblasse Oscar vor, die ihr Nachthemd auf eine seltsame Weise nach oben gerafft hielt, so das darunter ihre mageren Beine zum Vorschein kamen. Bevor sie eine Frage stellen konnte sprudelte Oscar schon los: „Bitte Sophie, ich brauche einen Arzt. Du musst sofort Philippe losschicken.“ „Aber Kind, weshalb denn?“ Vor lauter Aufregung vergaß Sophie das Oscar in drei Wochen ihren dreizehnten Geburtstag feiern würde und bereits seit einiger Zeit von ihr Lady Oscar genannt wurde. „Ich habe mich beim Fechten verletzt und blute nun aus dem Bauch heraus.“ Sophie betrachte Oscars Nachthemd das um den Bauch herum in makellosem weiß strahlte. „Aber Oscar, wie kommst du darauf? Ich sehe an deinem Bauch keinen Tropfen Blut. Lege dich wieder hin, du hast sicherlich nur geträumt.“ „Nein Sophie, hör mir zu. Das Blut fließt an einer anderen Stelle aus mit heraus,“ versuchte Oscar nun schon fast panisch zu erklären. „Es kommt aus...,“ trotz ihrer Angst wurden Oscars Wangen heiß. Aber ihrer alten Sophie konnte sie alles sagen. „Es fließt aus der Stelle, ich meine aus der kleinen Öffnung die ich unten habe.“ Am liebsten hätte Sophie, als sie das hörte, zu lachen begonnen. Aber sie wusste, das dies nun fehl am Platze war. Die arme Oscar musste sich sicherlich zu Tode geängstigt haben. Ihre Schwestern waren alle von ihrer Mutter auf den „Umstand der nun bald auftreten sollte“ rechtzeitig vorbereitet worden, um ihnen einen solchen Schreck zu ersparen. Bei Oscar war es einfach vergessen worden. Sie konnte ihrer Herrin aber keinen Vorwurf deswegen machen. Sie selbst hatte nie daran gedacht. Man wusste eben oft nicht ob man Oscar nun als Junge oder als Mädchen sehen sollte. Sie trug die Kleidung eines jungen Mannes und trat auch so auf. Trotzdem war sie eine Frau, was die Natur gerade ausgiebig bewies. „Liebe Oscar,“ meinte Sophie. „Bitte komm herein, es ist alles in Ordnung, du bist nicht krank oder verletzt.“ „Aber Sophie...“ „Beruhige dich, an dem was du hast stirbt man nicht. Das hat jede Frau. Komm herein, das wir miteinander darüber sprechen können.“ Einerseits fühlte sich Oscar immer noch aufgeregt, doch Sophies Stimme beruhigte sie und wenn Sophie sagte, das es nichts ernstes war worunter sie litt hatte sie sicherlich recht. Sophie hatte immer recht. Auch wenn Oscar noch nie blutende Frauen hatte umher gehen sehen. Nach dem gemeinsamen „Gespräch unter Frauen“ war Oscar vollauf beruhigt. Kaum zu glauben, das ihre Mutter, ihre Schwestern und alle Frauen, regelmäßig so etwas hatten. Zunächst hatte Sophie aber Paulette geweckt, um Oscar eine Leinenbinde und den passenden Gürtel, der diese zusammenhalten sollte, zu borgen, da Sophie, wie sie selbst sagte, „davon glücklicherweise schon lange nicht mehr betroffen war.“ Als sie dann in einem sauberen Nachthemd, ebenfalls von Paulette, mit Sophie über den Gang des Dienstbotentraktes ging, da Sophie auch ihre Bettlaken erneuern wollte, öffnete sich Andres Schlafzimmertüre. Erstaunt sah er Oscar und seine Großmutter an. „Was macht ihr zwei denn da?“ „Frauensache,“ erwiderte Sophie. „Also verschwinde wieder in dein Bett.“ Verdutzt verzog sich Andre in seinem Zimmer und Oscar musste über beide Ohren grinsen. Letzten Endes fand Oscar noch ein paar Stunden Schlaf. Bevor sie am Morgen zum Frühstück ging kam ihre Mutter auf ihr Zimmer, die von Sophie über den Vorfall der letzten Nacht unterrichtet worden war. Oscar wurde von ihrer Mutter in die Arme genommen, das tat gut. Emilie de Jarjayey fühlte sich dabei weniger wohl. Wie Sophie war sie irritiert. Meist sah sie Oscar als jungen Mann an, so wie Andre einer war an. Das Oscar nun zum ersten Mal „unpässlich“ geworden war, rief ihr wieder einmal schmerzlich in ihr Bewusstsein das Oscar, trotz ihrer burschikosen Art, eine junge Frau war. Heimlich seufzte sie auf. Oscar war froh darüber das ihr Vater bereits in aller Frühe abgereist war und während des Frühstücks nur Frauen anwesend waren. Veronique ließ es sich nicht nehmen ihre Schwester dazu zu beglückwünschen, „jetzt auch endlich so weit zu sein“, wobei Madame de Jarjayes demonstrativ auf ihren Teller sah. Das war nun wirklich zu viel der Vertraulichkeit! Marie, die ihnen den Tee servierte, blinzelte Oscar verschwörerisch zu, so wie noch zwei weitere der Hausmädchen. Offensichtlich war die Tatsache einmal im Monat bluten zu müssen, wie der Eintritt in eine Art Geheimbund sämtlicher Frauen. Es war etwas das sie alle gemeinsam hatten und von dem die Männerwelt noch nicht einmal eine Ahnung zu haben schien. Leicht gehemmt saß Oscar während des Unterrichts mit Andre und Monsieur Dumas im Studierzimmer aber keiner der beiden schien etwas zu bemerken, worauf sich Oscar im Laufe des Vormittages entspannte. Sophie war nun der Gedanke gekommen das man Andre, der ja nun ein Jahr älter als Oscar war, ebenfalls über bestimmte Dinge aufklären sollte. Und da sie seine einzige noch lebende Verwandte war, viel dieses schwere Amt wohl oder übel ihr zu. Sie stärkte sich mit einem Gläschen Rotwein, rückte ihre Haube zurecht und machte sich auf den Weg in Andres Zimmer. Dieser saß an seinem Tisch und polierte gerade einen Degen, den er von Oscar bekommen hatte. Seine Großmutter setzte sich ihm gegenüber. Sie wirkte sehr ernst. „Was gibt es Großmutter?“ fragte Andre. „Nun Andre, es ist an der Zeit dir bestimmte Dinge zu erklären.“ „Ja, und welche?“ „Es gibt da nicht nur gewisse Unterschiede zwischen Mann und Frau, sondern auch Dinge die Mann und Frau miteinander tun können, wenn sie verheiratet sind.“ Andre konnte es nicht fassen! Nun kam seine Großmutter tatsächlich am Abend in sein Zimmer um ihn aufzuklären. Allerdings war das der eher biederen Sophie hoch anzurechnen. Sie war dabei schamrot angelaufen und nestelte ständig an ihrem Kragen herum, da sie während der Erklärungen, zu denen sie angesetzt hatte, ungemein zu schwitzen schien. Andre beschloss seine Großmutter von ihren Qualen zu erlösen, obwohl es sicher recht lustig gewesen wäre, wie Sophie diese „bestimmten Dinge“ erklärte. „Großmutter es ist in Ordnung. Philippe und Laurent haben mit mir bereits über alles gesprochen.“ „Wie bitte?“ „Ja, sie haben gesagt nachdem ich nun keinen Vater mehr hätte würden sie diese Aufgabe übernehmen. Ich weiß also recht gut was zwischen Mann und Frau passieren kann.“ Das Laurent und Philippe ihm dazu mal wieder ein Bier eingeschenkt hatten, dabei einiges sehr detailreich geschildert hatten und auch der Ansicht waren das gewisse Dinge nicht nur Verheirateten vorbehalten waren, verschwieg er besser. „Ach so ist das also.“ Sophie fühlte sich recht erleichtert. „Der General hat mir übrigens auch nochmal alles erklärt.“ „So?“ „Eines Abends musste ich zu ihm in seine Bibliothek kommen. Er meinte ebenfalls, nachdem ich keinen Vater mehr hätte und unter seinem Dach aufwachse, hielte er es für seine Pflicht mir diese Dinge zu erklären. Ich musste mich setzen und Monsieur de Jarjayes holte ein dickes Buch aus einer gesonderten Schublade in seinem Bücherschrank. Dann hat er mir noch einmal ausführlich alles erklärt und mir auch Bilder dazu gezeigt, die in diesem Buch waren. Er hat es sehr wichtig gehabt und nach einer Stunde bin ich dabei richtig müde geworden. Ich denke wenn Laurent und Philippe mir nicht schon so viel darüber gesagt hätten, hätte ich von dem Vortrag des Generals vieles nicht verstanden. Aber beide Erklärungen miteinander waren gerade perfekt. Man fühlt sich auch ganz anders danach, wenn man solche Dinge weiß.“ „Natürlich,... also was es nicht alles gibt,“ stotterte Sophie. Solch ein Buch hatte also der General in seine Bibliothek! „Laurent und Philippe haben gesagt das mich einmal in ein Freudenhaus mitnehmen werden. Sie haben gemeint danach würde ich alles noch viel besser verstehen.“ „Also nun genügt es aber,“ fuhr Sophie auf. „Diesem Laurent und diesem Philippe werde ich gründlich den Kopf waschen. Was fällt ihnen denn ein dich so zu verderben zu wollen?“ Andre konnte nicht widerstehen seine Großmutter noch ein bisschen zu necken. „Weshalb? Was ist denn nun ein Freudenhaus?“ Zu ihrem Ärger wurde Sophie schon wieder rot. „Nun ja, das ist eben ein Haus, in dem viele Frauen sind.“ „War jede Frau schon einmal in einem Freudenhaus? Auch du und Madame de Jarjayes und Schwester Juliette?“ Nun merkte Sophie das ihr Enkel sie auf den Arm nahm. „Jetzt hältst du aber deinen Mund Andre! Es ist wirklich eine Schande wie du daher redest! Wütend stapfte Sophie aus dem Raum um sich Philippe und Laurent zurecht zu weisen. Ihr lieber, kleiner, unschuldiger Andre in einem Freudenhaus, nicht auszudenken! Oscar war sehr nachdenklich geworden. Ihr Vater hatte seinen Entschluss, sie auf die Offiziersakademie zu schicken, nicht aufgegeben. Dort würde sie, wie bis jetzt zuhause, in der Kriegskunst unterrichtet werden, die ansonsten nur Männern vorbehalten war. Sie würde eine Uniform tragen wie ein Mann und sich so verhalten müssen wie ein Mann. Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie geglaubt ein Junge zu sein. Sie benahm sich auch jetzt noch anders als ihre Schwestern oder andere junge Mädchen. Wenn sie ausritt wurde sie von allen, die ihnen unterwegs begegneten, durch ihr Auftreten und ihre Kleidung für einen Jüngling gehalten. Aber sie war eine Frau. Eine junge Frau die nun Kinder bekommen konnte, so wie ihre Mutter und ihre Schwestern. Vorsichtig strich Oscar über ihren flachen Bauch. Ob sie jemals ein Kind haben würde? All diese Fragen und Gedanken quälten sie. Sie suchte vergeblich nach einer Möglichkeit um nicht mehr nachdenken zu müssen, um all das, was sich in ihr aufgestaut hatte heraus lassen zu können. Dabei fiel ihr Blick auf das Klavier. Mechanisch stand sie auf und strich sachte über die Tasten. Der Klang beruhigte sie und tat ihrer aufgewühlten Seele wohl. Ohne weiter nachzudenken setzte sie sich auf den Klavierhocker und begann das Stück, das gerade auflag, zu spielen. Alles was aus ihr heraus wollte legte sie in ihr Klavierspiel. Erstaunt sah ein paar Zimmer weiter Madame de Jarjayes von ihrer Handarbeit auf. „Das wird doch nicht etwa Oscar sein? Kaum zu glauben das sie plötzlich freiwillig übt.“ Oscar war so in ihr Spiel vertieft das sie nicht bemerkte wie Juliette bei ihr eintrat. „Deine Musik gefällt mir,“ hörte sie plötzlich ihre Stimme. „Du spielst mit viel Gefühl. Das schafft nicht jeder Musiker.“ Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Oscar sah auf das Notenblatt. „Oscar, hör mir einen Moment zu,“ bat Juliette unvermittelt. Oscar drehte sich auf dem Klavierhocker zu ihrer Schwester um. Sie betrachtete das ernste, blase Gesicht unter der dunklen Haube. Zum ersten Mal viel ihr auf das ausgerechnet Juliette ihrer Mutter am ähnlichsten sah. „Ich habe bemerkt das dich all das was in den letzten Tagen geschehen ist sehr beschäftigt. Gerade das Catherine davon gelaufen ist und das du nun zur Frau geworden bist. Gerade das muss besonders schwer für dich sein, wo du doch dein ganzes Leben lang als Junge erzogen wurdest.“ Juliette fasste unter ihren Kragen und zog ein kleines, goldenes Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing, hervor. Sie öffnete den Verschluss, nahm die Kette ab und reichte sie Oscar. „Das möchte ich dir schenken. Ich habe das Kreuz von einer Mitschwester bekommen aber ich denke du brachst es gerade nötiger.“ Sie drückte das Schmuckstück Oscar in die Hand. Diese sah darauf und entdeckte das auf dem Querbalken eine Inschrift eingraviert war. „Nosce te ipsum,“ las Oscar vor und übersetzte sofort. „Erkenne dich selbst.“ „Das wünsche ich dir liebe Oscar. Erkenne dich selbst! Noch bist du auf der Suche aber eines Tages wirst du erkennen wer du wirklich bist. Und dann triff deine eigenen Entscheidungen. Mache das von dem du glaubst das es dich glücklich machen wird . Sogar dann wenn du davon laufen musst so wie Catherine.“ Plötzlich schossen Oscar Tränen in die Augen und sie umarmte ihre Schwester zum ersten Mal wieder seit ihrer Kindheit. Mit ihren Tränen floss aller Kummer und alle Aufregungen der letzten Tage aus ihr heraus. Als sich Oscar wieder ein wenig beruhigt hatte drückte ihr Juliette einen Kuss auf die Wange. „Leb wohl Oscar.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Oscar blieb noch lange Zeit alleine sitzen, das Kreuz auf ihrer Hand. „Nosce te ipsum!“ Ob ihr das jemals gelingen würde? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)