Zwischen den Zeilen von "Die Rosen von Versailles" von Engelchen ================================================================================ Kapitel 1: Unbeschwerte Kindheit -------------------------------- Mehr als acht Jahre waren seit Oscars Geburt vergangen. Es war ein warmer, sonniger Tag im Mai und die Familie de Jarjayes hielt sich im großen Park ihres Palais auf. Madame de Jarjayes saß mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Catherine auf der Terrasse und stickte. Das Haus warf genügend Schatten um die Damen vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Catherine lebte als einzige ihrer Töchter, Oscar nicht mit gezählt, im elterlichen Haus. Veronique war mit dem Comte de Fortune verheiratet worden, dem Erben einer alten Adelsfamilie, die Zutritt nach Versailles hatte. Dort zählte sie zu den engsten Freundinnen der Madame Dubarry, der Mätresse Ludwigs des fünfzehnten. Marguerite war die Gemahlin eines sehr reichen Kaufmannes in Paris geworden. Maxime Leclerc war von bürgerlicher Herkunft und wollte durch die Heirat mit Marguerite die Verbindung mit einer Adelsfamilie eingehen. Sein Vermögen hatte er durch den Handel mit Weinen und einer großen Portion Glück gemacht. So war es ihm auch möglich gewesen einen Adelstitel zu kaufen und sich fortan Graf de la Tour nennen zu dürfen. Für Marguerites Hand hatte er großzügig gezahlt. Unter anderem erhielt die Familie de Jarjayes von ihm ein Anwesen in der Normandie. Marie- Anne war drei Jahre nach Oscars Geburt an Typhus gestorben und ruhte nun in der Familiengruft der Jarjayes. Juliette war auf ihren eigenen Wunsch nicht verheiratet worden, sondern hatte darum gebeten als Novizin in ein Franziskanerinnenkloster eintreten zu dürfen. Da Juliette immer schon ihren eigenen Kopf gehabt hatte und man ihr nur etwas aufzwingen konnte, wenn man dafür eine kleine Familientragödie in Kauf nahm und es keine Rolle spielte ob ihre Mitgift nun in die Kasse eines Ehemannes oder eines Klosters floss, gab Rainier de Jarjayes seiner Tochter letzten Endes nach. Emilie de Jarjayes hatte ihre Tochter beim ihrem letzten Besuch äußerst zufrieden vorgefunden und hoffte das sie mit ihrer Entscheidung glücklich werden würde. Weiter vom Haus entfernt erhielt Oscar von ihrem Vater ihre Lektion im Schießen. Von klein an waren ihr Knabenkleider angezogen worden und sie selbst war der festen Überzeugung ein Junge zu sein. Schließlich wurde sie nicht nur anders gekleidet wie ihre Schwestern, sie musste auch nie langweilige Stick- und Näharbeiten erledigen und beim Tanzunterricht erhielt sie auch stets den männlichen Part. Wenn Besuch kam dann stellte der General sie jedes Mal als „meinen Sohn Oscar“ vor und wenn Damen mit zu den Besuchern gehörten dann seufzten sie jedes Mal entzückt: „Was für ein bildhübscher, kleiner Junge.“ Mit den rosigen Wangen, dem feinen Gesicht, den großen blauen Augen, dem hellblonden lockigen Haaren und den zarten Gliedern traf diese Bemerkung auf Oscar durchaus zu. Natürlich wussten die Besucher das es sich bei Oscar um keinen kleinen Jungen sondern um ein kleines Mädchen handelte. Aber da General de Jarjayes darauf bestand und es sich niemand mit ihm verscherzen wollte, war ein jeder dazu übergegangen Oscar als Jungen zu bezeichnen. Einzig das Kindermädchen Sophie nannte Oscar, allerdings nur wenn der General nicht in der Nähe war, Mademoiselle Oscar. Da Sophie jedoch einige Schrullen hatte nahm Oscar dies nicht weiter ernst. Vermutlich hatte sie mit ihren Schwestern so viele Mademoiselles um sich, das sie an einen einzigen Monsieur ganz einfach nicht dachte. Oscar stand mit einer Pistole in den kleinen Händen vor einer Zielscheibe und sollte versuchen genau den schwarzen Kreis in der Mitte zu treffen. Rainier lud immer wieder nach doch verfehlte Oscar den Kreis jedes Mal um eine Handbreit. „Du musst dich mehr konzentrieren mein Kind. Einen Gegner räumst du nur aus dem Weg in dem du genau sein Herz oder seinen Kopf triffst. Wir gönnen uns erst eine Pause wenn du wenigstens einmal getroffen hast.“ Oscar seufzte tief. Ihr Vater war ein strenger Übungsmeister. Doch schließlich hatte er recht. Wenn sie eines Tages Befehlshaber über eine ganze Truppe werden sollte, musste sie auch hervorragend schießen können. Und Oscar wollte Befehlshaber werden, ein großer Soldat so wie ihr Vater. Noch einmal gab Rainier seiner Tochter die geladene Pistole in die Hand. Schuss- und wieder daneben. „Ich muss es schaffen. Ich muss meinen Vater zufrieden stellen,“ dachte sich Oscar. Sie nahm all ihre Konzentration zusammen, fixierte nur den kleinen, schwarzen Kreis, schoss - und traf. „Na siehst du, Oscar. Wenn du so weiter machst wirst du noch der beste Schütze im Land. Aber um das zu Erreichen müssen immer weiter und weiter trainieren..“ Stolz legte er Oscar die Hand auf die Schulter. „Nun haben wir uns aber eine Pause verdient. Bestimmt hat Sophie schon die Limonade für uns bereit gestellt.“ Gemeinsam gingen sie auf die Terrasse und setzten sich zu Madame de Jarjayes und Catherine. Oscars Wangen waren gerötet und sie schwitzte. Oft beneidete Catherine ihre jüngere Schwester. Oscar durfte stets in bequemen Knabenkleidern herum toben. Sie selbst hatte schon früh ein enges Korsett und umständliche Reifröcke bekommen und brachte die Hälfte ihres Lebens, wie es ihr manchmal erschien, über ihrem Stickrahmen zu. Anderseits bekam sie mit wie streng der General zu Oscar war, besonders bei ihren endlosen militärischen Lektionen, die Oscar seit ihrem vierten Lebensjahr erhielt. Sofort brachte Sophie für ihren Liebling ein großes Glas Limonade das Oscar sofort gierig herunterstürzte. Da Oscar die Jüngste der Geschwister war, verströmte Sophie ihre ganze Zärtlichkeit auf sie. Den Erwachsenen war jedoch nicht entgangen das dem alten Kindermädchen Tränen in den Augen standen, die sie verstohlen weg zu wischen versuchte. „Sophie, weshalb bist du so traurig? Ist etwas geschehen,“ frage Emilie de Jarjayes. Sophie war mehr ein Familienmitglied als eine Bedienstete, und so nahm auch jeder Anteil daran wenn es ihr schlecht ging. „Ach Madame, es ist einfach schrecklich. Ich habe einen Brief erhalten. Meine Tochter in Prest ist letzte Woche verstorben. Meine Julie, es ging ihr schon lange Zeit nicht gut.“ Ihren Tränen nun freien Lauf lassend ließ sich Sophie unaufgefordert auf einen der Stühle fallen, was sie sonst niemals tun würde. Niemand hatte daran gedacht das Sophie auch eine eigene Familie hatte. Sie hatte mit sechzehn geheiratet und ihre Tochter geboren. Kurz danach wurde sie Witwe. Um zu leben zu können und ihr Kind aufzuziehen hatte sie sich als Dienstmädchen in verschiedenen Familien durchgeschlagen, bis sie der Familie de Jarjayes als Kindermädchen empfohlen wurde, da sie die Töchter einer befreundeten Familie bis zu deren Hochzeit liebevoll großgezogen hatte. Ihrer Tochter Julie war das gleiche Schicksal widerfahren wie ihrer Mutter. Sie heiratete einen angesehenen Zimmermann, der kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes starb. „Liebe Sophie, das tut mir so leid. Ich weiß nur zu gut was in einer Mutter vor geht wenn sie ein Kind verliert,“ sagte Emilie und bei dem Gedanken an Marie- Anne schossen auch ihr Tränen in die Augen. Schnell hatte sich Sophie wieder gefasst. „Nun Madame, Julie hatte schlimme Schmerzen. Ich bin froh das sie nun erlöst ist, auch wenn sie in so jungen Jahren von uns gegangen ist. Aber mein kleiner Enkelsohn, mein kleiner Andre ist nun Mutterseelen allein auf der Welt. Er ist doch erst neun Jahre alt. Julies Nachbarn haben sich seiner angenommen aber sie haben selbst so viele Kinder und kein Geld und wenn ich ihn nicht zu mir nehme muss er in ein Waisenhaus. Das kann ich doch nicht zulassen!“ „Aber nein Sophie,“ rief Catherine spontan. „Bring dein Enkelkind nur zu uns. Palais de Jarjayes ist so groß das wir genug Platz für ihn haben. Nicht wahr Papa?“ Bittend sah sie ihren Vater an. Egal wie hart er sich nach außen gab, bei den Bitten von Catherine war Rainier immer schwach geworden. Als seine jüngste Tochter war sie sein erklärter Liebling. Ohnehin hätte er den verwaisten Enkel der treuen Sophie niemals abgewiesen. „ Ich sorge dafür das er hier her gebracht wird. Wir brauchen noch einen Burschen der im Stall zur Hand geht.“ „Wie freundlich! Monsieur, vielen Dank!“ Schon wieder hatte Sophie Tränen in den Augen. „Außerdem braucht Oscar beim Fechten einen Übungspartner in ihrem Alter. Sagtest du nicht das er neun Jahre ist?“ „Ja Monsieur, Andre zählt neun Jahre. Gewiss wird er das Fechten erlernen um mit Oscar üben zu können und auch alle Arbeiten erledigen für die er gebraucht wird. Wir sind eine fleißige Familie.“ „Das wissen wir nur zu gut,“ entgegnete Mandame de Jarjayes. „Und nun bleib noch ein wenig bei uns sitzen und beruhige dich.“ Monsieur de Jarjayes betrachtete Oscar, die sich inzwischen erholt zu haben schien. „Bestimmt freust du dich darauf einen Übungspartner und Spielkameraden zu haben. Die meisten anderen Jungen in deinem Alter wohnen recht weit weg von uns und mit dem Sohn von Graf de Girodelle kommst du nicht aus.“ Oscar überlegte: „Ja, es wird gut sein wenn noch ein anderer Junge hier ist. Hauptsache es ist nicht Girodelle. Ihn kann ich einfach nicht leiden.“ Oscar und Victore de Girondelle waren im gleichen Alter und ihre Väter auch der Taufpate für den jeweils anderen. Da beiden eine militärische Laufbahn für ihre Sprösslinge vorschwebte, hatten sie beschlossen, dass Oscar und Victore miteinander trainieren sollten. Natürlich war ihre Hoffnung auch das sich die Kinder anfreunden und Kameraden werden würden, so wie ihre beiden Väter. Dieses Vorhaben ging jedoch nicht lange gut. Oscar war mit ihrem Vater zu einem gemeinsamen Zusammentreffen auf das Gut des Grafen de Girondelle geritten. Die Männer hatten sich auf ein Gläschen Wein zurückgezogen und ihre Kinder miteinander alleine gelassen. Verachtungsvoll hatte der kleine Girondelle Oscar gemustert, mit der er in den Garten geschickt worden war. Sein Vater hatte ihm erzählt das Oscar in Wirklichkeit ein Mädchen war aber bereits so gut schießen, fechten und reiten konnte wie kein anderes Kind in ihrem Alter. Victore tat sich gerade mit diesen Dingen besonders schwer. Pferde hatten ihm schon immer einen Schauder über den Rücken gejagt, denn ihre Größe wirkte auf ihn Respekteinflößend. Das erste Mal, als man ihn auf ein Pferd gesetzt hatte, endete damit das er, wegen der Höhe in der er sich auf einmal befand, so furchtbar brüllte, das das Tier beinahe durchgegangen wäre. Auch für Übungen mit der Pistole und dem Degen konnte ihn sein Vater nicht gewinnen. Nur widerwillig ließ er die Übungsstunden über sich ergehen. Viel lieber las er und lernte Sprachen. Mit fünf konnte er bereits fließend lesen. Mit seinen acht Jahren sprach er neben seiner Muttersprache Spanisch und Deutsch und der Verwalter der Familie de Girondelle ließ ihn heimlich einen Teil der Abrechnungen führen, da er bereits schneller und besser rechnen konnte als er selbst. Doch sein Vater schien die außergewöhnlichen Begabungen seines Sohnes kaum zu bemerken. Er hatte es sich eben in den Kopf gesetzt einen guten Soldaten aus ihm zu machen. Um ihn anzutreiben hatte er ihm stets von dem wunderbaren Oscar vorgeschwärmt, der obwohl er ein kleines Mädchen war, kämpfen konnte wie ein Mann. Das war alles natürlich weit hergeholt doch Girondelle meinte damit den Ehrgeiz seines Sohnes zu wecken. Erreicht hatte er lediglich damit das Victore gegen Oscar unbekannter Weise einen tiefen Groll hegte. Als nun dieses Wunderkind mit den großen blauen Augen und den hellblonden Haaren vor ihm stand hätte er ihm am liebsten den Hals umgedreht. Von oben bis unten betrachtete er Oscar. „Warum siehst du mich den so an?“ fragte Oscar. „Mein Vater hat gesagt das du ein Mädchen bist das nur so tut als sei es ein Junge.“ Natürlich war Victore streng untersagt worden Oscar auf ihr Geschlecht anzusprechen. Graf Girondelle wusste das General de Jarjayes strikt darauf bestand das Oscar von allen wie ein Knabe behandelt wurde. Oscar brauste wütend auf. „Das ist gar nicht wahr! Ich bin kein Mädchen, sondern in richtiger Junge. Das hast du erfunden.“ Völlig absurd erschien ihr was der junge Girondelle gerade zu ihr gesagt hatte. Für Oscar stand fest das er sie nicht mochte und nur ärgern wollte. Victores Blick fiel auf die beiden Degen die noch von seiner letzten Übungsstunde auf der Parkbank lagen. „Wenn du wirklich ein Junge bist dann kämpfe doch gegen mich. Alle erzählen das du im Fechten so gut bist. Zeig mir doch was du kannst.“ In seinem angestauten Groll gegen Oscar, von der sein Vater ihm ständig vorschwärmte, hatte Victore sogar vergessen das er eine Abneigung gegen das Fechten hegte. Das ließ sich Oscar nicht zweimal sagen. Sofort hatte sie einen Degen in der Hand und begab sich in ihre Ausgangsposition. Victore, der sich eigentlich gar nicht hatte schlagen wollen, blieb nun gar nichts anderes übrig als mitzumachen. Keinen Augenblick später waren die beiden schon im schönsten Gerangel miteinander. Kreuz und Quer jagten sie sich mit ihren Degen über die Wiese. Ihre beiden Väter, die das Klirren der Degen gehört hatten gingen ans Fenster und sahen hinunter. „Wie gut sie sich amüsieren ,“ rief Graf de Girondelle erfreut. „Ich bin froh das Victore nun endlich einen Kameraden hat, der ihn ein bisschen antreibt.“ Zufrieden widmeten sich die beiden Männer wieder ihrem Gläschen Wein. Draußen zeigte sich inzwischen das Victore Oscar eindeutig unterlag. Oscar hatte ihm bereits eine Schramme im Gesicht verpasst und seinen Ärmel aufgerissen. Das tägliche, stundenlange Üben mit ihrem Vater machte sich nun bezahlt. Nach wenigen Minuten hatte sie Victore entwaffnet und dessen Degen steckte nun in der Erde. „Wer von uns beiden ist nun das Mädchen?“ fragte Oscar und blickte Victore in die Augen. „Ich kann dich nicht leiden,“ schrie er wütend und hilflos und rannte so schnell er konnte davon. Oscar blieb alleine im Garten zurück und wartete geduldig auf ihren Vater. Schließlich rief sie ein Dienstbote herein, da sich dieser nun endlich auf den Heimweg machen wollte. „Wo hast du Victore gelassen?“ fragte General de Jarjayes. „Er ist davon gerannt,“ antwortete Oscar wahrheitsgemäß. Graf de Girondelle und Oscars Vater errieten sofort das etwas zwischen den beiden Kindern vorgefallen sein musste und fragten nicht weiter nach. Stumm ritt Oscar neben ihrem Vater nach hause. Als sie von weitem den Turm von Palais de Jarjayes sahen sagte Oscar: „ Victore Girodelle hat gesagt das ich ein Mädchen bin. Das hat mich wütend gemacht. Deswegen habe ich gegen ihn gekämpft.“ Der General antwortete: „Dann hast du das Richtige getan Oscar. Du bist schließlich ein Junge und brauchst dir so etwas nicht gefallen zu lassen.“ „Vater, ich denke nicht das Victore mein Spielkamerad werden kann.“ „Nein, ich denke auch das du besser einen Bogen um ihn herum machst,“ pflichtete ihr de Jarjayes überzeugt bei. „Wir werden sicher bald einen anderen Spielkameraden und Übungspartner für dich finden.“ An dieses Ereignis dachte Rainier nun zurück. Seitdem hatte Oscar nur wenig Kontakt zu anderen Kindern gehabt. Die Gefahr war einfach zu groß, dass noch einmal jemand Oscar darauf ansprach das sie ein Mädchen war. Sie sollte so lange als möglich der Überzeugung bleiben ein Knabe zu sein. Um so perfekter würde sie später, als Soldat des Königs, ihre Rolle spielen können. Dennoch war es wichtig für sie auch ein gleichaltriges Kind um sich zu haben. Der kleine Waisenbengel von Sophie kam da gerade wie gerufen. Selbstverständlich musste er Sophie zu vor eintrichtern das er keinesfalls etwas von Oscars wahrem Geschlecht wissen durfte. Aber darum würde er sich schon kümmern. Auch Oscar schien die Aussicht auf einen Spielkameraden zu gefallen. „Sophie, schreibe deinem Enkel Andre das ich mich auf ihn freue,“ sagte sie zu ihrem Kindermädchen und sah es dabei aufrichtig an. „Wie lieb von euch Monsieur Oscar. Das werde ich sicher tun.“ Schon fühlte sich Sophie etwas besser. Im Schloss Schönbrunn in Österreich war auch die kleine Erzherzogin Maria Antonia zu einem Mädchen von acht Jahren herangewachsen. Maria Antonia bekam ihre Eltern, den Kaiser und die Kaiserin, oft tagelang nicht zu Gesicht. Es war keineswegs so das die Kaiserin Maria Theresia für ihre Kinder keine Liebe empfand. Doch nahmen ihre Regierungsgeschäfte, die sie mit voller Leidenschaft ausführte,zu sehr in Anspruch um ihrer Familie mehr Zeit widmen zu können. Für die Kaiserin waren Kinder in erster Linie dazu da um in andere Fürstenhöfe ein zu heiraten, damit neue Bündnisse zum Wohle Österreichs geknüpft werden konnten. Ihre vier Jüngsten, mit dazu gehörte Maria Antonia, waren somit noch nicht von Interesse, da eine Verheiratung aufgrund ihres Alters noch nicht in Frage kam. Maria Antonias beste Freundin war ihre drei Jahre ältere Schwester Maria Karolina und zusammen mit ihr und ihren beiden Brüdern, dem neun Jahre alten Ferdinand und dem siebenjährigen Maximilian, wuchs sie unter der Obhut ihrer Erzieherin Gräfin Brandeis unbeschwert auf. Sechs der älteren Geschwister waren früh verstorben, die älteren Schwestern waren bereits verheiratet worden und die älteren Brüder wurden früh zu Staatsgeschäften herangezogen. Regelmäßig musste Gräfin Brandeis einen Brief an die Kaiserin schreiben um über die Fortschritte und das Betragen der Erzherzöge und Erzherzoginnen zu berichten. Gemeinsam erhielten Maria Karolina, Maria Antonia, Ferdinand und Maximilian Unterricht von verschiedenen Hauslehrern. Nach der Mittagspause sollte nun wieder der Unterricht beginnen, doch als der Hauslehrer an der Seite von Gräfin Brandeis das Studierzimmer betrat, fanden sie es leer vor. „Na so etwas! Die Kinder haben schon wieder die Zeit vergessen! Entschuldigen sie vielmals. Ich werde sie suchen gehen.“ Schnaubend lief die Gräfin hinaus in den Park. Von wegen vergessen! Maria Karolina und Ferdinand konnten hervorragend die Uhr lesen und hätten ihre jüngeren Geschwister daran erinnern können. Das schöne Wetter war so verlockend gewesen, dass sie deswegen schon wieder dem Unterricht absichtlich fern blieben. Erst gestern hatte sie alle vier aus dem Springbrunnen im Hof fischen müssen und da die Kinder völlig durchnässt waren, konnte der Unterricht erst eine ganze Stunde später beginnen. Was sie wohl dieses Mal ausgeheckt hatten? Suchend sah sich Gräfin Brandeis um. Da blieb ihr Blick an einem der Bäume hängen und ihr gefror das Blut in den Adern. Maximilian hatte sich mit dem Kopf nach unten an einen der Äste gehängt, so wie die Affen im Tierpark, und baumelte drei Meter über dem Boden. Auf dem selben Ast saßen Maria Antonia und Maria Karolina rittlings wie ein Junge mit nach oben geschobenen Kleidern, so das ihre bestrumpften Beine zu sehen waren. Im allerhöchsten Wipfel aber stand Ferdinand und brüllte: „Ahoi! Land in Sicht!“ und als er die Gräfin herbeieilen sah „Kehren wir um! An Land gibt es Kannibalen!“ „Was sind Kannibalen?“ fragte Maximilian. „Ein Kannibale ist ein Menschenfresser,“ erklärte Maria Karolina. „Ich glaube Gräfin Brandeis wird gleich zu einem werden. Seht doch wie sie die Zähne fletscht.“ In der Tat war die Gräfin wütend wie schon lange nicht mehr auf ihre Zöglinge. Sie sah sie schon alle der Reihe nach vom Baum stürzen und sich selbst geköpft. „Wie könnt Ihr nur! Ist das ein Benehmen für junge Erzherzöge und Erzherzoginnen? Kommt sofort herunter. Wie seid Ihr überhaupt dort hinauf gekommen?“ Maria Antonia deutete auf die Leiter, die von den Gärtnern vergessen worden war. Doch Gräfin Brandeis schimpfte weiter: „Ihr begebt Euch sofort alle ins Studierzimmer! Es geht einfach nicht mehr an das der Unterricht jeden Tag verschoben werden muss.“ Wütend rauschte sie davon. So gerne sie ihre Schützlinge auch hatte war ihr Benehmen doch oft unmöglich. Am liebsten würde sie diesen Vorfall in ihrem Bericht der Kaiserin melden aber das würde auch ein schlechtes Licht auf sie selbst werfen und Maria Theresia würde denken sie wäre inkompetent und nicht in der Lage die Kinder zu erziehen. So erfuhr die Kaiserin meist von solchen Dummheiten der Kinder nichts. Endlich kamen sie alle ins Studierzimmer, nahmen ihre Plätze ein und der Unterricht konnte beginnen. Die vier waren sehr ruhig und aufmerksam dabei, doch Gräfin Brandeis entging das Grinsen nicht, das gelegentlich um Ferdinands Mundwinkel zuckte. Nach der ersten Stunde wurde eine kurze Pause gemacht und Ferdinand ging nach draußen, vermutlich um sich zu erleichtern. Als er zurück kam trug er ein Teetablett und sagte zu der Gräfin Brandeis: „Gräfin, draußen stand bereits das Tablett mit dem Tee. Ich habe auch schon eingeschenkt.“ „Ah, habt vielen Dank Erzherzog Ferdinand,“ sagt die Gräfin überrascht .Da der Hauslehrer Herr Doktor Klemmeyer während dem Unterrichten stets über einen trockenen Hals klagte, wurde ihm zur Pause immer Tee gebracht, der von den Dienstmädchen, um nicht zu stören, im Vorzimmer abgestellt wurde. Meistens holte Gräfin Brandeis den Tee herein um Herr Doktor Klemmeyer einzuschenken, doch heute hatte sich Ferdinand ungewöhnlich hilfsbereit gezeigt. Als der Unterricht wieder aufgenommen wurde und Herr Doktor Klemmeyer seine Tasse an den Mund setzte wisperte Ferdinand seiner Schwester Maria Antonia zu: „Pssst, Tonerl! Pass auf was gleich geschieht.“ Maria Antonia sah auf und fing im selben Moment wie ihre Geschwister prustend zu lachen an. Die Lippen und der Bart des Hauslehrers waren plötzlich blau- schwarz verfärbt. Auch Gräfin Brandeis sah auf. „Herr Doktor Klemmeyer! Wie sehen sie denn aus?“ „Pardon Gräfin, ich verstehe nicht?“ Verdutzt sah der Hauslehrer die Gräfin und die lachenden Kinder an. „Sie sind ja blau,“ quietschte Maximilian. Schnell ging Doktor Klemmeyer an einen Spiegel und seine Befürchtung bestätigte sich. Ferdinand hatte ihm Tinte in den Tee geschüttet. Seufzend ging er sich waschen. Diesem Ferdinand fiel auch jeden Tag eine neue Dummheit ein. Im Studierzimmer wollte Gräfin Brandeis bereits zu schimpfen anfangen doch Maria Antonia stand auf und umarmte sie. „Liebe Gräfin, bitte nicht schimpfen. Ferdinand hat es nicht so gemeint und Tinte lässt sich doch leicht wieder abwaschen. Es war doch so lustig und Herr Doktor Klemmeyer wird sicher auch nicht wütend sein. Nicht wahr Herr Doktor?“ Maria Antonia blickte ihre beiden Erzieher bittend an. Niemand konnte diesem Blick in den unschuldigen Augen stand halten und Gräfin Brandeis spürte wie sie, wie schon so oft, wenn Maria Antonia sie um etwas bat, butterweich wurde. Nach dem Unterricht sagt aber Doktor Klemmeyer zu ihr: „Gräfin, ich muss darauf bestehen das Ihr diesen Vorfall der Kaiserin meldet. Unter diesen Umständen kann einfach nicht gearbeitet werden. Wir hinken mit dem Stoff schon seit Wochen hinterher.“ „Oh nein, das werde ich nicht,“ sagte die Gräfin. „Das Betragen der Kinder wird auf uns beide und die anderen Lehrer zurückfallen. Es wird heißen wir wären nicht in der Lage sie zu unterrichten und zu erziehen. Man wird uns entlassen und Leute einstellen die man als fähiger betrachtet. Wenn kümmert es schon was diese Kinder lernen? Ferdinand und Maximilian werden niemals regieren. Das Amt des Kaisers geht an ihren älteren Bruder Josef und wenn dieser sterben sollte an Leopold. Maria Antonia und Maria Karolina werden mit irgend einem unbedeutendem König verheiratet werden, vermutlich mit jemandem der eines der kleinen, deutschen Fürstentümer regiert. Sie werden alle vier ihr Leben damit verbringen sich würdevoll zu langweilen. Also weshalb sollen wir uns selbst solchen Ärger bereiten und es uns mit der Kaiserin verscherzen? Ich bin dafür wir arbeiten weiter wie bisher.“ Herr Doktor Klemmeyer konnte nicht anders als Gräfin Brandeis recht zu geben und verabschiedete sich. So blieb es weiterhin in der Kinderstube herrlich unbeschwert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)