Brüder... von HellmotherEva (... verzeihen einander) ================================================================================ Kapitel 1: ... verzeihen einander --------------------------------- „Na Koda, was sagst du?“ Kenai drehte sich einmal um die eigene Achse, ehe er sich hinlegte. Er hatte für sich und Koda einen kleinen, windgeschützten Fleck zwischen einigen, am Boden liegenden, Baumstämmen zum Übernachten ausgesucht. „So schlecht sind die gar nicht. Aber ich versteh nicht wie ihr so mutig sein könnt und euch wirklich traut mit dem Feuer zu spielen. Mir wäre das viel zu gefährlich, überleg mal was da alles passieren kann!“, plapperte Koda, setzte sich an einen Baumstamm und begann ihn mit seinen Krallen zu bearbeiten, in der Hoffnung unter dem Holz irgendwelche Insekten zu finden. „Tja, daran wirst du dich gewöhnen müssen, wenn du Denahi mit mir besuchen kommen willst.“, meinte Kenai, doch im nächsten Moment fragte er sich ob Koda das denn wirklich wollte. Menschen waren… Na ja… Die waren dem kleinen Bären einfach nicht geheuer. Und wahrscheinlich würden sie das nie so ganz sein, aber er schien den Tag, den er heute mit Kenai und Denahi verbracht hatte, tatsächlich genossen zu haben. Jedenfalls hatte er auf Kenai so aufgekratzt und freudig wie immer gewirkt. Nichts war von der Angst da gewesen, die er normalerweise gegenüber Menschen verspürte. Aber irgendwas sagte Kenai dass das einzig und allein daran lag, dass er dabei gewesen war. Wäre Koda allein gewesen, wäre er genauso ängstlich wie jeder andere, kleine Bär es gewesen wäre. Koda vertraute Denahi, aber auch nur weil Kenai ihm vertraute. Weil er dessen Bruder war. Und Kenai war sein Bruder, gewissermaßen war Denahi also auch Kodas Bruder, nicht? „Ich weiß, aber das ist die einzige Möglichkeit in kalten Nächten nicht tot umzukippen“, erklärte Kenai ihm „Du weißt doch das Menschen sehr verweichlich sind, was das angeht, nicht?“ „Ach, das hättest du aber nicht gesagt wenn du noch einer wärst.“, meinte Koda grinsend und ließ von dem Holz ab. Entweder es war ihm zu langweilig geworden, was eine wahrscheinliche Möglichkeit war, oder er sah dass es doch keinen Sinn machte nach Insekten zu suchen, nicht bei diesem schrecklichen Wetter. Stattdessen riss er nun einige Ästchen aus einem Brombeerstrauch aus und hatte wohl vor diese noch zu fressen. „So ein Blödsinn!“, wand Kenai gespielt entsetzt ab. „Gar nicht! Du bist nur zu dickköpfig um das zuzugeben!“, widersprach Koda ihm schnell und stopfte ihm, bevor Kenai ihm widersprechen konnte, die Brombeerzweige, samt Blätter und Beeren, ins Maul und kletterte dann eilig einen kleinen Baum, der in unmittelbarer Nähe stand, hoch. Kenai spuckte währenddessen, laut hustend, das aus, was ihm quer im Maul lag und trabte dann schnell zu dem Baum, in dem Koda sich versteckt hielt. „Hey! Komm da runter oder willst du da oben übernachten? Ich hab ewig nach einem Schlafplatz gesucht, an dem wir uns nicht völlig verkühlen, also komm endlich!“ „Haha, du bist ein Nörgler! Du nörgelst noch mehr als alle Wildgänse zusammen!“, lachte Koda von oben hinunter, dennoch kletterte den Stamm hinunter und lachte auf, als er spürte, wie Kenai ihn am Nackenfell zu fassen bekam und mit ihm im Maul zurück zu ihrem Schlafplatz lief. „Weißt du Kenai, du kannst so ein Langweiler sein, wenn es ums Schlafen geht. Nur weil Menschen bei Nacht schlafen, heißt das nicht, dass Bären es auch tun. Ich zum Beispiel, hab mal zwei Nächte durch gemacht, das warn sogar die zehnt oder elftkältesten Nächte meines gesamten Lebens!“ Doch Koda kam nicht dazu seine Geschichte zu Ende zu erzählen. „Koda, wir hatten einen seeehr langen Tag und IRGENDWIE kann ich dir sehr schlecht abkaufen, dass du noch nicht müde bist. Ich bin es nämlich und ich bin um einiges weniger herumgesprungen als du es bist.“, unterbrach Kenai ihn und setzte ihn auf ihrem Schlafplatz, unter den Stämmen, ab. „Tja, du wirst eben alt. Soll ich dir vielleicht in naher Zukunft über den Fluss helfen?“, neckte Koda Kenai weiter, doch als dieser nur genervt seufzte und sich zur Seite fallen ließ und einige Sekunden nichts erwiderte, wurde es Koda bereits zu langweilig. Es schien wohl nichts zu bringen Kenai zu ärgern, denn dieser war anscheinend tatsächlich zu müde zum Streiten. Also legte Koda sich einfach wortlos neben seinen Bruder und kuschelte sich in sein weiches, warmes Bauchfell. ‚Bruder‘… Immer schon, seit Koda denken konnte, hatte er sich einen Bruder gewünscht. Seit er zum ersten Mal mit den anderen Jungen bei den Lachsfällen gespielt hatte, hatte er sich einen kleinen Bruder gewünscht und als er seine Mutter darauf angesprochen hatte, hatte sie ihm versprochen dass er nächstes Jahr vielleicht tatsächlich ein Geschwisterchen bekommen würde. Tja, das Versprechen hatte sie leider nicht mehr einhalten können, doch Kenai hatte sich gewissermaßen zu einem Bruder entwickelt. Er war alles für ihn, er war alles was übrig geblieben war und bevor Koda es bemerkt hatte, war Kenai der Mittelpunkt seines Lebens geworden. Sie waren Brüder, vielleicht nicht im Sinne von einer Blutsverwandtschaft, aber sie standen einander so nahe, das war nicht einfach nur Freundschaft. Was sie für einander empfanden war eine solche Zuneigung und Verbundenheit, die nur Brüder spürten. Und sie liebten einander – wie Brüder es taten. „Kenai…“, sprach Koda plötzlich in die Stille „Ich hab da mal eine Frage an dich.“ Obwohl Kenai in diesem Moment alles für eine Runde Schlaf gegeben hatte, so wusste er auch dass Koda nicht Ruhe geben würde, bis er eine Antwort auf diese Frage bekommen würde. „Ja?“ „Du wolltest doch damals ein Bär bleiben, weil du meintest dass ich dich brauche…“, begann Koda und spürte plötzlich wie sich ein furchtbar schlechtes Gefühl in seine Magengegend schlich, als er darüber sprach „Aber was wenn du irgendwann der Meinung bist dass ich dich nicht mehr brauche und du dann doch wieder ein Mensch werden willst? Würdest du mich alleine lassen?“ Auch wenn Koda diese Worte unglaublich schwer gefallen waren und er sich dabei schrecklich fühlte, so waren sie nötig gewesen. Die Frage war plötzlich in deinem Kopf aufgetaucht und er brauchte Antworten darauf. Er wollte nicht vorwurfsvoll klingen, auch nicht enttäuscht oder gar ängstlich, aber wirklich hinbekommen hatte er es wohl nicht, denn sonst hätte Kenai ihn nicht so erschrocken angesehen. „Koda, wie kommst du denn auf so was?“ fragte der große Bär und erschien mit einem Mal ganz und gar nicht mehr zu müde. „Ich weiß nicht, die Frage kam eben plötzlich auf…“, gab Koda kleinlaut zu und spürte wie Kenais seine großen Pfoten um ihn schlang und ihn an seinen Brustkorb zog. „Hey, für was ich mich entschieden habe, habe ich mit gutem Grund gemacht und ganz egal wie alt du auch seien magst, du bist und bleibst mein kleiner Bruder. Nie würde ich meine Entscheidung bereuen, ja?“, erklärte Kenai ihm und, so als wolle er das gesagte nur noch mehr unterstreichen, drückte Koda an sich, so als wolle er ihn aus dieser Umarmung gar nicht mehr gehen lassen, so als wolle er ihm klar machen wie sehr er ihn lieb hatte und wie viel er ihm bedeutet, dass sich das nie ändern würde, egal was auch passieren würde. Doch Kenais Worte waren so ehrlich und voller Beteuern, dass Koda es ihm glaubte. Es hatte gut getan das zu hören. Es war wie eine Bestätigung, dass er ihn nie allein lassen würde und das beruhigte ihn, sehr sogar. „Gut, was anderes wollte ich nämlich auch gar nicht hören.“, meinte Koda schmunzelnd und versuchte durch sein gewohntes, munteres Auftreten die Situation etwas aufzulockern, was schließlich auch gelang. „Ach Koda, was anderes will ich doch auch gar nicht“, meinte Kenai und lockerte den Griff um den kleinen Bären nun etwas „Und jetzt schlaf schön, ja?“ „Gute Nacht, Kenai.“, murmelte Koda und schmiegte den Kopf so tief er nur konnte in das dichte Fell seines Bruders. Doch Kenai konnte nicht einschlafen. Er spürte zwar Kodas gleichmäßigen Atem und Herzschlag an seiner Brust, doch wirklich schläfriger wurde er leider auch nicht. Koda hatte gerade alles aufgewühlt. All das, was er gefühlt hatte als er realisiert hatte, dass der Bär, den er getötet hatte, der ihm sozusagen ins Messer gelaufen war, Kodas Mutter gewesen war. Kenai hatte sich in diesem Moment so schrecklich gefühlt, wie Abschaum und in dem Moment wo er es endlich geschafft hatte es Koda zu erzählen, war es noch schlimmer geworden. Und nun? Jetzt traute dieser wunderbare, kleien Bär ihm immer noch nicht. Oder? Kenai wusste es nicht. Er hatte diese Frage, diese Vermutung, die Koda vorhin geäußert hatte, so aufgenommen, dass Koda ihm nicht traute. Das war verständlich, doch es tat weh. Kenai wollte dass Koda ihm vertraute, er wollte ja gewissermaßen Verantwortung für ihn übernehmen, doch die Gewissheit, dass auf Ewig ein Misstrauen zwischen ihnen herrschen würde, machten ihn unglaublich traurig. Das hatte Kenai bisher gar nicht wahr genommen, doch nun… Nun schmerzte es nur umso mehr. Natürlich sagte Koda nicht, dass er Kenai misstraute, aber seine Frage von vorhin erklärte sich doch wohl von allein. Hätte Kenai dem kleinen Bären vielleicht nicht sagen sollen dass er seine Mutter getötet hatte, dass er der Verantwortliche war? Nein. Dann würde Koda bis ans Ende aller Zeiten auf seine Mutter warten und irgendwann… Irgendwann würde er aufstehen und sich fragen was wohl mit ihr passiert war… Wann es wohl mit ihr passiert war. Und er würde nie Antworten bekommen. Kenai hatte das richtige getan, indem er Koda alles gestanden hatte… Doch leider hatte das noch mehr weh getan als es ihm nicht zu sagen. Es war inzwischen einen ganzen Tag her, dass Koda am Fluss, bei den anderen Bären, ganz stolz und großspurig von dem Mut seiner Mutter erzählt hatte. Es war einen ganzen Tag her, dass Kenai nun schon mit dieser Schuld lebte und diese schreckliche Erleuchtung sich in seinem Kopf festgerannt hatte. Schuld war alles was er noch verspürte. Schuld und das schrecklichste Gewissen, welches er jemals verspürt hatte. Es fraß ihn auf. Er konnte das kaum mehr ertragen. Wie sollte er das vor Koda denn nur verheimlichen? Wie sollte er ihm sagen dass… Wie? Wie sollte er diesem kleinen Bären nur klarmachen, dass er, Kenai, der, der mit ihm noch vor einem Tag Lachsfischen war, der, der mit ihm auf einem Mammut geritten war, der, der ihm mehrmals, das Leben gerettet hatte, der Mörder seiner Mutter war? Wie? Wie sollte er ihm das je verzeihen? Kenai fühlte sich wie gelähmt und die Last, die er da mit sich herumschleppte, lag so unglaublich scher auf seinen Schultern. Sie nahm ihm alle Sinne, sie nahm ihn sämtliche Möglichkeit auf ein klares Denken, auf den geringsten Lichtstrahl in diesen düsteren Gedanken, die ihm durch den Kopf rannen. Kenai fühlte sich krank. Er wusste nicht wie er es beschreiben sollte, doch er hatte das Gefühl krank zu werden. Aber es war nichts körperliches, das wusste er. Es konnte nichts körperliches sein, es ging ihm gut, er bildete sich diese Schmerzen ein. Wie sollte er das schaffen? Kenai schaffte es kaum einen Tag diese erdrückende Last mit sich herumzuschleppen, wie sollte er es dann über Jahre schaffen? Wie sollte er es je wieder schaffen Koda unter die Augen zu treten und nicht vor lauter Schuldgefühlen zusammenzubrechen? Irgendwann würde Koda sich fragen wo seine Mutter blieb… Und irgendwann würde er sich denken können, dass sie tot war. Und dann würde er Trost suchen. Bei ihm. Bei Kenai. Wirklich? Wirklich, sollte Kenai diesen kleinen Bären in die Arme schließen, ihm sagen dass alles okay war und gelichzeitig wissen, dass er der Schuldige für Kodas Trauer war? Das würde er nicht schaffen. Koda war inzwischen so viel mehr als nur ein Mittel zum Zweck geworden und aus irgendeinem Grund trieb es ihm gerade die Tränen in die Augen, als er daran dachte, ihn zu verlieren. Aber er hatte keine Wahl. Er musste es ihm sagen, sonst würde einer von ihnen daran zu Grunde gehen. Kenai lag die ganze Zeit schon an einer Klippe, von der aus er die gesamte Gegend im Blick hatte, doch es war ihm egal. Er war nur hier, weil es so wunderbar ruhig hier oben war. Niemand der ihn hätte sehen können. Da waren sie schon wieder, diese verdammten Tränen. Er blinzelte eilig und schluckte schwer, und rieb die Schnauze kurz an seiner Pfote, auf welcher sein Kopf bereits die ganze Zeit ruhte. In diesem Moment ertönte von irgendwo her ein leises Rascheln, über welches Kenai jedoch gar nicht weiter nachdachte. Seine Gedanken war wo völlig anders. Er würde es ihm sagen müssen. Tausend Mal hatte er sich dieses Szenario durch den Kopf gehen lassen und jede einzelne Version war schlimmer als die vorige. Doch ehe Kenai sich versah, hörte er bereits ein eher schmächtiges Brüllen hinter sich und Koda schmiss sich auf seinen Rücken, was Kenai jedoch nicht wirklich überraschte. Jetzt war es so weit. Jetzt war Kenai geliefert. „Du hast dich schon wieder erschrocken, nicht?“, lachte Koda triumphal und entschied sich wohl dafür auf Kenais recht kuscheligem Rücken zu verweilen. „Hmhm… Ja.“ Das war alles was Kenai zur Antwort brachte. Mehr bekam er grade einfach nicht heraus. „Wo warst du? Du siehst schrecklich aus!“, bemerkte Koda, jedoch nicht mit weniger Enthusiasmus in der Stimme. „Koda…“ Kenai machte einen ersten Anlauf dieses Gespräch zu beginnen und setzte sich auf, so dass der kleine Bär von hinten seinen Rücken herunter rutschte. Doch dieser ging gar nicht auf Kenai ein, sondern plapperte einfach fröhlich weiter: „Meine Mutter sagt immer, wenn du zu viel Lachs frisst, solltest du dich einfach hinlegen.“ „Koda.“ Diesmal klang Kenai drängender, tadelnder. Warum musste er gerade jetzt damit anfangen? Es war doch schon so schwer genug für ihn, musste Kenai es da noch schwerer für ihn machen? Aber was für Vorwürfe machte Kenai ihm da? Er hatte doch keine Ahnung was gleich geschehen würde, was er gleich erfahren würde. Kenai setzte sich auf, Koda neben ihm. Unschuldig. Völlig unschuldig saß Koda da, wie ein kleines Kind, welches er ja im Grunde auch war, die Beine gespreizt, die viel zu großen Vorderpfoten auf dem Bauch. Kenai schaffte es einfach nicht ihn länger anzusehen und begann zu sprechen: „Da ist… etwas dass ich… äh…“ Er stockte und blickte nun doch zu Koda „Erinnerst du dich an diese Geschichte, die du mir gestern Abend erzählt hast?“ „Ja?“, antwortete Koda und sah dem großen Bären, neugierig über das, was er ihm nun sagen würde, entgegen. Ach verdammt. Dieser Blick brachte Kenai um. Dieser Blick der freudigen Erwartung, so als ob jetzt irgendwas gutes passieren würde. Koda hatte wirklich keine Ahnung wie schwer er es Kenai machte. Aber er hatte jetzt schon angefangen, es musste weitergehen. „Na ja, i-ich habe auch eine Geschichte, die ich dir erzählen möchte.“, fuhr Kenai fort. „Wirklich“ Kodas Neugierde wuchs weiter und er schnappte sich schnell einige Beeren von einem Strauch, der neben ihm wuchs „Um was geht’s darin?“ Er gab Kenai einige der Beeren, welche er schweren Herzen entgegen nahm. Er wollte nichts mehr von Koda, er wollte ihn nicht weiter ausnutzen, er wollte ihm in diesem Moment irgendwas geben, aber er wollte nichts mehr nehmen. Einen Moment zögerte Kenai noch, sah auf die Beeren in seinen gewaltigen Tatzen und ließ diese schließlich unauffällig sinken. „Es geht irgendwie um einen Mann… und irgendwie um einen Bären… Aber…“ Er sah beschämt zu Boden und stockte scherfällig „hauptsächlich geht es um eine Bestie.“ Damit war der Anfang getan. Jetzt hatte er Kodas Aufmerksamkeit, jetzt konnte er nicht mehr abbrechen. Tatsächlich fand Koda diese Geschichte interessant, denn er sah auf und ließ von den Beeren ab. „Ein Bestie, die etwas so schlimmes getan hat, dass die Großen Geister hinab kamen. Es gab da…“ Kenai und blickte auf. Er blickte auf in den unendlichen Himmel über ihnen, der von der Abendsonne, in ein sanftes rosa getaucht wurde. Koda sah ebenfalls auf, noch immer unwissend, dass gleich seine ganze Welt zerbrechen würde. „… all diesen Wind… Und, und, und Lichter“ Kenai erhob seine Pfote „Und sie zogen ihn mit nach oben, weit, weit hoch in den Himmel“ Er ließ die Pranke wieder sinken, doch Kodas Blick heftete noch immer am Horizont, während er weiter seine Beeren fraß „Und als er zurück kam, hatten sie ihn in einen Bären verwandelt.“ Ein anerkennendes ‚Wow‘ war von Koda zu hören und er sah einen kurzen Moment zu Kenai, ehe sein Blick wieder in Richtung Himmel schwiff. „Ja…“, murmelte Kenai kaum hörbar und sah schuldbewusst zu Boden. Es herrschte eine Sekundenlange Stille, doch er durfte jetzt nicht aufhören. „Doch er wusste gar nichts darüber, wie es ein Bär zu sein“, fuhr er fort „Wie man läuft… Wie man trinkt… Wie man fischt.“ Nun wagte er es wieder einen Blick auf Koda zu werfen. Doch dieser schien nicht wirklich mitzubekommen wie schlecht es Kenai gerade ging, denn die sichere Überlegenheit in seinem Gesicht war unbeschreiblich. „Genau wie DU!“, quiekte er lachend und sprang Kenai mit einem Satz direkt in den Schoß. „Ja… Doch, zu seinem Glück“, fuhr Kenai fort und liebkoste vorsichtig Kodas Kopf mit seiner Pfote „traf er diesen kleinen Bären, der ihm all diese Dinge zeigte“ Die Last auf Kenais Herzen wurde immer schwerer und drohte es zu zerbersten, vor allem jetzt, wo er mit dem, dessen Mutter er getötet hatte, kuschelte „und noch vieles mehr.“, beendete Kenai seinen Satz und umarmte Koda so fest er nur konnte. Ein letztes Mal wollte er das tun, so lange er eben noch die Chance dazu hatte. Denn irgendwas sagte ihm, dass Koda bald nie wieder mit ihm kuscheln würde. Doch plötzlich schien er zu realisieren, dass er das besser lassen sollte. Wenn er jetzt nicht von Koda abließ, würde es ihm nur umso schwerer fallen. Doch diesem schien es egal zu sein, dass Kenai seine Umarmung aufgelöst hatte und nur noch seine Pfoten lieblos auf Kodas Rücken ruhen ließ, er kuschelte sich noch immer in das Fell des großen Bären. „Ein Bär, für den er alle tat“, fuhr Kenai schweren Herzens fort und vermied es zu Koda hinab zu sehen „Ein Bär, der war für ihn wie ein… wie ein…“ Kenai sah sich nachdenklich um, überlegte Fieberhaft wie er diese Beziehung beschreiben sollte, doch es fiel ihm nichts ein. „Bruder?“, beendete Koda stattdessen für Kenai den Satz und ließ ihn noch immer nicht aus seiner Umarmung. Aua. Das tat weh. Nie hätte Kenai gedacht dass der kleine Bär bereits eine so innige Beziehung zu ihm aufgebaut hatte und umso mehr erschrak es ihn. Umso mehr tat es ihm weh das jetzt gleich sagen zu müssen, umso mehr sträubte er sich dagegen. Doch er musste. Es hatte ihn wirklich erschrocken und so nahm er Koda kurz zwischen die Pfoten und setzte ihn wortlos von sich weg. Er sollte sich nicht an ihn kuscheln wenn er es erfuhr… Das wäre einfach zu makaber. Das konnte er ihm doch nicht aufzwingen. Kenai stand auf, wand Koda den Rücken zu und langsam spürte er eine gewisse Übelkeit aufkommen und Tränen in die Augen schießen, als er fortfuhr. „Koda… Ich habe etwas sehr falsch gemacht.“, brachte er schließlich hervor und erschrak sich über diese unglaubliche Brüchigkeit seiner Stimme. Und genau das schien auch Koda so sehr zu verunsichern, fast schon Angst zu machen, dass er plötzlich ungewohnt ruhig wurde. Nichts war mehr von dem überdrehten Bärenjungen zu sehen, das er war. „Was hast du getan, Kenai?“, fragte er vorsichtig und sah besorgt zu ihm. „Ich…“ Stille. Doch Kenai versuchte diese so kurz wie nur möglich zu halten, denn je mehr Zeit er verstreichen ließ, umso schlimmer machte er es. Und da war noch immer dieser Brechreiz, diese Übelkeit und das Schwindelgefühl, das über ihn kam, als er nun so kurz davor stand es ihm zu beichten. Es war als ob alle Kraft Kenais Körper verlassen hatte. „Ich habe einen Bären getötet.“ Jetzt war es endlich draußen. Das Wechselbad der Gefühle, das Kenai grade durchmachte, war erschreckend, doch gleichzeitig unglaublich gut. Für diesen einen Moment fiel alles von ihm ab, seine Seele fühlte sich unglaublich frei an, doch als er das erschrockene Stocken von Kodas Stimme hörte, war es als ob mit einem Mal eine noch viel schwerere und schlimmere Last auf Kenais Schultern hing. Und diesmal konnte er nichts gestehen. „Ich…“ Koda hatte Angst, dazu musste man kein Bär sein um das zu sehen. Er hatte unglaubliche Angst, er wollte nicht hören was als nächstes kam. „Koda…“ Kenai drehte sich nach dem kleinen Bären um und aus irgendeinem Grund überkam ihm der Drang, ihn einfach nur in den Arm zu nehmen, ihn an sich zu drücken und zu heulen. Doch, wirklich, wenn es nach Kenai gegangen wäre, er hätte sich die Augen aus dem Kopf geweint, hier und jetzt, denn das was er Koda soeben angetan hatte, war unverzeihlich. Kenai wusste dass er keine Gnade verdient hatte, er hatte nach all dem nicht verdient dass Koda es ihm verzeihen würde, doch er brauchte es. Er brauchte diesen kleinen Bären, nämlich als Bruder. „Ich mag diese Geschichte nicht!“, wand Koda weinerlich ein und seine Stimme klang mit einem Mal so brüchig, dass Kenai immer mehr den Drang hatte, ihn in die Arme zu nehmen und ihn einfach nur zu trösten. Das Problem war nur, dass er, Kenai, der Grund für Kodas Kummer war. „Koda, deine Mutter wird nicht mehr kommen.“ Und hiermit war es offiziell raus. Hiermit hatte Kenai es sich endgültig versaut. Hiermit hatte Kenai den besten, kleinen Bären unter der Sonne verloren. „Nein…“ Ein ungläubiges Keuchen entfuhr Koda und er machte weinerlich ein paar Schritte zurück. „Ich wusste es nicht, Koda.“ Warum versuchte Kenai sich zu verteidigen, sich vielleicht sogar gar zu rechtfertigen? Warum war er so dumm und ließ es nicht einfach sein? Es gab nichts mehr zu retten, das sagte ihm sein Verstand. Aber sein Herz bettelte um die Liebe dieses kleinen Bären, egal was es kostete. Und ihn so zu sehen, tat ihm so verdammt weh. „Nein!“, wand Koda wieder ein, noch trotziger, noch ungläubiger, noch so viel trauriger und, am allermeisten, noch sehr viel enttäuschter als zuvor und nun begannen die Tränen, die ihm von einer Sekunde auf die andere in die Augen geschossen waren, heraus zu kullern. „Ich schwöre, ich wusste es nicht!“, machte Kenai noch einen letzten Anlauf, mit der winzigen Hoffnung, dass Koda bleiben würde, doch dieser war schon so gut wie auf der Flucht. Er floh vor ihm. Er floh vor Kenai. „Koda!“, rief er dem kleinen Bären reuevoll hinterher, wollte ihm folgen, doch er war bereits im dichten Wald verschwunden. Und Kenai verstand nur zu gut warum. Nur wollte er es nicht verstehen. „Koda… Hey… Koda…“ Vorsichtig rieb Kenai die Schnauze an Kodas Seite, bis dieser schließlich doch kichernd aufwachte. „Du kitzelst mich! Was ist denn?“, gähnte Koda müde und wäre am liebsten gleich wieder eingeschlafen. „Koda, ich kann nicht schlafen.“, begann Kenai. „Soll ich dir etwa eine Gute Nacht Geschichte erzählen?“, lachte Koda verschlafen. „Nein, eigentlich nicht“, erwiderte Kenai kichernd „Es geht mehr um eine Frage, die mir schon sehr lange auf dem Herzen liegt… Und sie hat mit dir zu tun.“ „Ja?“ Koda war inzwischen hellwach und schmiegte sich an Kenais Pelz. „hast du Angst davor, ich könnte eines Tages wieder ein Mensch werden wollen?“ Koda schluckte schwer und nickte schließlich nach einer ungewöhnlich langen Zeit des Schweigens. „Aber Koda, warum denn? Ich hab dir doch versprochen immer bei dir zu bleiben? Vertraust du mir etwa nicht?“ Ha, geschickt hatte er zwei Fragen verbunden. „Nein… Ich vertraue dir doch, aber ich hab einfach solche Angst dass du dir irgendwann dein altes Leben wieder wünschst. Ich will dich bei mir haben, als Bär. Als der Bär, als den ich dich kennengelernt habe. Denn diesen Bär kann ich mir nicht als ein solches Monster vorstellen, wie du es mal sagtest. Der Bär den ich kennenlernte ist toll. Nur den Menschen hätte ich nicht gemocht.“ Kenai wusste nicht ob er lachen oder heulen sollte. „Koda, du bist der wunderbarste Bär den ich kenne“, murmelte Kenai und rieb den Kopf an ihm „Ich hab mich im Übrigen nie entschuldigt für… Alles.“ „Musst du auch nicht… Ich hab dir doch schon verziehen, weißt du das denn nicht?“ Kodas Worte waren ungewohnt ruhig, was entweder daran lag dass er todmüde war, oder dass er es wirklich ernst meinte. Kenai glaubte ihm. „Das Problem ist nur… Ich kann mir nicht verzeihen.“, gab er schließlich schweren Herzens zu. Koda sah einen Moment an seinem großen Bruder hoch, doch dann meinte er: „Meine Mutter sagte mal dass es einfacher ist jemanden zu verzeihen, den man liebt, als sich selbst. Aber ich hab dir doch verziehen, also ist ja alles gut, oder?“ Stille. Was wollte Kenai noch? Er hatte den besten, kleinen Bruder den er sich hätte vorstellen können, er hatte ihm verziehen und er vertraute ihm. Es gab nicht worüber er hätte nachdenken müssen. „Na komm, geh jetzt schlafen.“ „DU hast mich doch geweckt.“, widersprach Koda frech, doch als Kenai ihn in einer Umarmung an sich quetschte, verstummte auch er, wenn auch nicht ganz freiwillig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)