Little Presents von Quiana (Wichtel-OS) ================================================================================ Sein Bruder ----------- Sakura schlug die Augen auf. Die Kanülen, die für verschiedenste Injektionen in ihre Hände gelegt wurden, juckten und das Krankenhausbett begann langsam unbequem zu werden. Auch die Sterilität des Zimmers wurde ihr allmählich zuwider. Sie war beinahe froh, sobald sie wieder vor den erdrückenden Wänden flüchten konnte. Aber nun war sie wach. An sich war es einer ihrer guten Momente. Einer der wenigen. Sie schlief oft und viel, manchmal in einem solchen Ausmaß, dass sie nicht wusste, ob sie nicht doch wieder das Bewusstsein verloren hatte. Einen Großteil der Besuche der Ärzte und Schwestern bekam sie nicht mit. Mehr als nur ein Mal war sie mitten während einer Visite plötzlich weg gewesen. Wellen der Müdigkeit und Erschöpfung überrollten sie jedes Mal unvermittelt und gaben ihr nur wenige Augenblicke, bevor sie sie mit sich zogen. Sakura konnte nicht einmal mehr sagen, wie lange sie nun schon im Krankenhaus lag. Es konnten wenige Wochen sein, vielleicht auch Monate. Jegliches Zeitgefühl war ihr verlorengegangen. Nur an den Unfall konnte sie sich erinnern. Noch immer so real und detailreich, dass sie schreien und nichts anderes, als diese Bilder vergessen wollte. Sogar das Geräusch der quietschenden Lastwagenreifen und ihr leicht verbrannter Geruch waren ihr schmerzhaft in Erinnerung geblieben und spielten sich in einer Dauerschleife vor ihrem inneren Auge ab. Ihr Gedankengang ging bis zu dem Moment, an dem der Lastwagen sie treffen sollte. Dann wurde es dunkel um sie herum. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie neben sich eine Bewegung wahrnahm und daraufhin einen ihr fremden Mann zu Gesicht bekam. Er war kein Arzt. Vielmehr trug er den gleichen grauen Überwurf wie sie auch – und wie wahrscheinlich jeder Patient in diesem Krankenhaus. Warum war er in ihrem Zimmer? Soweit sie wusste, war es Leuten, vor allem wenn sie (noch immer) in der Intensivstation oder in der Abteilung der Intensivüberwachung stationiert waren, nicht gestattet, ihre Zimmer zu verlassen und andere zu besuchen. Sakura zuckte ein weiteres Mal zusammen, als der Fremde sich beinahe vorwitzig zu ihr lehnte und sie ausgiebig musterte. Dennoch konnte sie nicht anders und starrte zurück. Zum ersten Mal passierte etwas, seit sie hier war. Nicht, dass sie alles mitbekommen hätte, aber es war ein Bruch im Alltag, der sich allmählich eingefunden hatte. Seine Augen sahen müde und freudlos aus, seine Haut aschfahl und leicht eingefallen. Selbst sein dunkles Haar wirkte stumpf und spröde. "Was machst du hier?", krächzte sie, jegliche Formen der Höflichkeit vor Überraschung vergessen und die Stimme rau von dem langen Schweigen. Der Fremde antwortete nicht, sondern schaute sie nur weiterhin an. Allerdings bemerkte Sakura, dass er nicht wirklich stabil auf den Beinen war, sodass sie knapp mit dem Kinn auf einen Stuhl deutete, der in der Ecke des Zimmers stand. "Nimm den da", sagte sie und der Mann nickte, zog den Stuhl zu ihrem Bett und ließ sich mit einem Seufzen auf ihm nieder. Er stützte sich mit seinem Ellenbogen auf der Matratze, auf der Sakura lag, ab, sodass diese sich verformte. "Ich bin Itachis Bruder." Auch seine Stimme klang angeschlagen. Ganz so, als hätte er sie ebenfalls für längere Zeit nicht mehr benutzt. "Ich habe mir schon gedacht, dass ihr miteinander verwandt seid", murmelte sie und schaute aufgrund des Namens wieder zurück an die Decke, bekam die weitere Vorstellung des Mannes nicht mit und versuchte angestrengt, eine angenehmere Liegeposition zu finden. Im Moment war sie nicht gut auf ihren Verlobten Itachi anzusprechen. Nicht nach dem Streit, den sie nur wenige Stunden vor ihrem Unfall gehabt hatten. Ihr Herz schmerzte bei den Gedanken an ihn und nun lag sie hier, hätte vielleicht auch tot sein können, und weigerte sich trotzdem, mit ihm zu reden. Zu verletzt in ihrem Stolz und zu stur, einem hoffentlich klärenden Gespräch zuzustimmen. "Ach ja?" Ihr Besucher klang überrascht. Wenn ich schielen würde, dachte Sakura, würde ich euch vielleicht sogar verwechseln. Aber sie sagte nichts. Stattdessen schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus. Sie bemerkte, dass sie kurz davorstand, wieder einzuschlafen. "Ich bin müde", hauchte sie. "Dann komme ich das nächste Mal wieder", war das letzte, das sie sie hören konnte, bevor sie weg war. • Als Sakura das nächste Mal aufwachte, war sie alleine. Allerdings hatte man in ihrem Krankenzimmer für Ordnung geschaffen. Die Vorhänge waren zur Seite gezogen und die Sonne strahlte unverschämt hell und freundlich in ihr Gesicht. Der Stuhl, der in ihrer letzten Wachphase noch neben ihrem Bett gestanden hatte, wurde wieder an seinen Platz gestellt und auf dem kleinen Tischchen daneben ist ein großer Strauß frischer Blumen gestellt worden. Sicherlich von Itachi, der seit ihrer Einweisung wahrscheinlich keine Gelegenheit ausgelassen hatte, ihr einen neuen mitzubringen. Er war hartnäckig, genau wie sie. Sogar ihre Kleidung und Bettwäsche hatte man gewechselt, wie sie an den nun fehlenden kleinen Blutflecken ausmachen konnte, die sie zuvor, während eines gescheiterten Versuchs, die juckenden Kanülen loszuwerden, in den Stoff gedrückt hatte. Neben ihr stand der übliche metallene Tisch auf Rollen mit einer Kanne und einem Glas voller Wasser. Vor einiger Zeit hatte sie nach etwas zum Essen gefragt, wenigstens eine schnöde Suppe, doch Wasser war das höchste der Gefühle, dass man erlaubt hatte. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Fremden, zu Itachis Bruder. Sie hatte einige Fragen zu ihm und wollte vor allem wissen, warum er zu ihr gekommen war und Sakura nahm sich fest vor, sie das nächste Mal, wenn er da sein sollte, zu stellen. • Das leise Klicken, dass das Zufallen der Tür verursachte, lenkte ihre Aufmerksamkeit zu dem Eingang des Raumes. Für einen kurzen Augenblick überkam ein kleines Lächeln ihre Lippen. Da stand er. Er sah nicht unbedingt besser aus, als vorheriges Mal und Sakura bemerkte, dass es nicht nur sein Gesicht war, das in sich zusammengefallen war. Er musste ein Stück kleiner als sein Bruder sein und auch die leicht gebückte Haltung trug nicht unbedingt zu seiner Größe bei. Er war um einige Jahre jünger, machte Momentan allerdings einen alles andere als frischen Eindruck. Sakura fragte sich, wer von ihnen beiden in diesem Moment angeschlagener aussehen mochte. Und auch wenn sie keinen Spiegel hatte schloss sie schnell darauf, dass sie es sein mochte. Sie schaffte es ja noch nicht einmal, auf die Toilette zu gehen. Stattdessen hatte sie … Sakura wurde bei dem Gedanken an den Katheter, der unter ihrer Bettdecke lag, heiß und tastete beschämt danach um sicherzustellen, dass er auch wirklich nicht zu sehen war. "Du bist wiedergekommen", stellte sie bemüht nüchtern fest. "Hm", kam die gesummte Antwort. Sie hielt das Schweigen nicht mehr aus. Er saß an ihrer Seite und hatte kein weiteres Wort mehr gesagt. Er war einfach da und tat gar nichts, bis es schließlich aus ihr herausbrach. "Warum bist du hier? Warum", zögerte sie und schluckte ob ihrer schweren Worte, "habe ich nie etwas von dir gehört und weiß Itachi, dass du hier bist?" Der Bruder besagter Person lachte kehlig und leise. "Ich sehe, du hast viele Fragen … Das kann ich verstehen. Die hätte ich wahrscheinlich auch." Seine Schultern sackten nach unten und er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. "Womit soll ich anfangen?", fragte er ehr zu sich selbst, doch Sakura lag bereits eine Antwort auf der Zunge. "Von vorne." "Das hier ist keine Geschichte, Sakura. Hier gibt es keinen Anfang und kein Ende." Wahrscheinlich erwartete er, dass sie nun etwas erwidern würde, doch sie sah ihn lediglich abwartend an. Es entstand eine Stille zwischen ihnen, die fast so unangenehm war wie eine schmerzliche ärztliche Behandlung, die Sakura ertragen musste. Sie seufzte. Beharrlichkeit und Sturheit mussten in der Familie liegen. "Warum bist du hier, im Krankenhaus?", fragte sie also. Sie wusste, dass er erst dann reden würde, wenn sie etwas gesagt hätte. "Unfall." Er zuckte schwach und bedeutungslos mit seinen Schultern. "Wie du, nehme ich mal an." Sakura wusste nicht recht, wo und wie sie diese Information einarbeiten sollte. Musste sie nun ihr Entsetzen aussprechen und fragen, wie es ihm ging? Auch wenn er erschöpft aussah wirkte es nicht so, als wolle er bemitleidet werden. Sie erkannte Züge von Itachi in ihm wieder, der so oft vollkommen erschöpft und frustriert von der Arbeit nach Hause kam, aber nie von ihr betätschelt werden wollte. Sein Bruder schien die gleichen Wege einzuschlagen. Sogar ihre Haltung nach einer anstrengenden Zeit war eine ähnliche. "Und wie bist du zu mir gekommen?", war die nächste Frage, die Sakura einfiel und die sie schon seit einiger Zeit nicht mehr losgelassen hatte. Ihre Müdigkeit ließ es ihr oft schwerfallen, sich über einen längeren Zeitraum hinweg zu konzentrieren, sodass sie erst recht keine Erklärung dafür hatte finden können, wie ein Fremder es in ihr Zimmer schaffte, ohne gesehen zu werden. "Manchmal sind die Leute hier zu beschäftigt von A nach B zu kommen, um die Welt um sich herum mitzubekommen. Wer sich geschickt genug anstellt, wird im Flur auch nicht gesehen. Selbst aus seinem Zimmer zu kommen ist einfacher, als du es dir vorstellen magst." Sakura zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. War es tatsächlich möglich, unentdeckt zu bleiben? Mindestens zwei Mal abzuhauen? Selbst wenn sie laufen könnte, käme sie wahrscheinlich nicht mal in die Nähe der Türklinke. Sie hatte das Gefühl, dass bereits jedes Mal eine Krankenschwester neben ihr stand, wenn sie Anstalten machte, sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren. "Aber …", setzte sie an, wurde allerdings unterbrochen. "Zerbrich dir darüber nicht den Kopf." Der Versuch aufzulachen scheiterte kläglich und er fasste sich mit verzogenem Gesicht an die Brust. Dann schlich sich eine sanfte Röte in sein Gesicht, die ihn merklich jünger und gesünder aussehen ließ. "Als ich gehört habe, dass du hier bist … ich wollte wissen wer es geschafft hat, meinen Idioten von Bruder um den Finger zu wickeln." Die Sicht vor Sakuras Augen verschwamm, sodass sie diese schließen musste. Schon wieder musste sie an Itachi denken. Und daran, dass er ihr nie seinen Bruder vorgestellt oder ihn gar erwähnt hatte. Wie ein wirrer Fragenkatalog schwirrten Sätze und Fragezeichen in ihren Gedanken herum und sie schaffte es gerade noch so, nach seinem Bruder zu fragen. Selbst die Antwort, die einen sehr bitteren Geschmack auf ihrer Zunge hinterließ, hörte sie noch, ehe sie wieder ohne jegliche Vorwarnung einschlief. • Itachis Familie, allen voran sein Vater, gehörten nicht zu den Menschen, die die Arbeit und die Gesellschaft auf die leichte Schulter nahmen. Sicherlich hatte es Zeiten gegeben, in dem auch ihr Leben von Humor gefüllt war, aber das musste vor einer langen Zeit gewesen sein. Der Vater ihres Verlobten arbeitete sechs Tage die Woche und würde sicherlich auch am Sonntag zu seinem Unternehmen zurückkehren, gäbe es keine Ruhephasen. Er war so, seit Sakura ihn kennengelernt hatte und das war nun immerhin schon einige Jahre her. Itachi hatte sie zu einem nachmittäglichen Kaffee – an einem Sonntag versteht sich – in sein Elternhaus eingeladen. Dort hatte sie seinen Vater, den sie zwar als freundlich, aber dennoch grundlegend als ernst und streng empfand, und seine Mutter, die natürlich um einiges herzlicher, aber Sakuras Geschmack nach noch immer zu reserviert war, kennengelernt. Aber es hatte nie einen Bruder gegeben. Kein Zeichen und kein Wort waren gefallen, die seine Existenz verraten hätten. In dem geräumigen Wohnzimmer hatten lediglich Gemälde alter Künstler gehangen, von denen Sakura zum Teil nicht einmal gehört hatte. Nicht mal einen Staubkorn hatte sie gesehen, der auf die Existenz einer weiteren Person aufmerksam gemacht hätte. Und das aus einem Grund. Aus einem guten, wie Itachis Vater gesagt haben soll. Aus einem lächerlichen und eigentlich schon sehr empörenden Grund, wenn es nach Sakuras Meinung ging. Hätten sie sich früher gekannt, hätte Itachi ihr seinen Bruder vorgestellt, dann wäre sie sicherlich in Tränen ausgebrochen, um danach sehr, sehr wütend zu werden. Und das mehr als nur einer Person gegenüber, da war sie sich sicher. Der Jüngste der Familie wurde, seiner Erzählung nach, noch während seiner Schulzeit von seinem Vater höchstpersönlich auf die Straße gesetzt. In ihrem Delirium hatte Sakura keine große Reaktion zeigen können, bestimmt auch einiges falsch verstanden und durcheinandergebracht, doch hatte sie es noch geschafft, ihre nicht mit Nadeln und ähnlichem zerstochene Hand zu einer Faust zu ballen. Auch der Rest, den sie zu hören bekam, tat nicht zu ihrem Besten bei. Sakura hatte schon lange keine solch heftige Empathie gegenüber jemand anderem empfunden, erst recht nicht einem Fremden. Den Klang seiner leicht zitternden Stimme hatte sie erstaunlicherweise noch immer so genau im Ohr, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief. Es hatte keine Tränen gegeben, aber sie erkannte den verletzten Ton. Er habe stets getan, was sein Vater von ihm verlangte, sei ein strebsamer Schüler gewesen und seine Eltern zu keiner Zeit in keiner Weise enttäuscht. Zusammen mit seinem Bruder hatte ihr Vater sie gerne als Vorbilder für andere Kinder und Jugendliche präsentiert und darauf geachtet, dass es seinen Söhnen an nichts fehlte und es ihnen gut ging. Bis zu dem Tag, an dem er den Mut gefasst hatte seinen Eltern zu sagen, dass er, wenn es um eine romantische Beziehung ging, eine männliche Person bevorzugte. 'Er hat geschrien wie ein Verrückter, Sakura. Er hat mir vorgeworfen, ich brächte Schande über diese Familie und dass so einer wie ich sicherlich nicht sein Sohn wäre. Er hat mir genau zwanzig Minuten gegeben, um eine Tasche mit den nötigsten Sachen zu packen. Dann hat er mir meine Schlüssel abgenommen und mich vor die Haustür geschoben.' Er war lange Zeit wütend gewesen, erzählte er. Auf seinen Vater, der ihn nicht erklären lassen und verstehen wollte. Und auf sich selbst. Seine Mutter und Itachi hätten versucht, mit ihm zu reden, aber er habe abgeblockt. So konstant und kompromisslos, dass sie es nach einer langen Zeit aufgegeben hätten. Die Anrufe seien weniger geworden und irgendwann hatten sie aufgehört, nach ihm zu suchen. Er bereue es, den Kontakt untergehen lassen zu haben und der Vorwurf in seiner Stimme ihm selbst gegenüber war so echt gewesen, dass Sakura hinterher immer wieder über ihn nachdenken musste. Sein Stolz zu hoch, um nachzugeben und nun sei es zu spät. Der Zug sei abgefahren. Sakura verstand nicht recht, warum er sich nicht dazu durchringen konnte, sich jetzt bei seinen Eltern zu melden, zumal er im Krankenhaus lag, aber das lag nicht in ihrer Macht. Sie ärgerte sich über ihren Schwiegervater in Spe und ärgerte sich über ihren Verlobten, der ihr all das vorenthalten hatte. Jahrelang war sie davon ausgegangen, dass er ohne Geschwister aufgewachsen war. In ihrer gemeinsamen Wohnung gab es einige wenige ihrer eigenen Kindheitserinnerungen, Itachi hingegen hatte keine mitgenommen. Es hatte sie nicht weiter verwundert, da er nicht unbedingt den besten Draht zu seiner Familie pflegte (und ab einem gewissen Punkt fragte Sakura sich, ob dieser Umstand nicht auch etwas mit seinem Bruder zu tun haben könnte) und auch nicht zu den Menschen gehörte, die gerne in Erinnerungen schwelgten. Ihre Gedanken ließen sie wütender werden und gleichzeitig war ihr bewusst, dass ihr Verhalten Itachi gegenüber nicht richtig war. Sakura wünschte sich Erklärungen von ihm und es gab einige Fehler, die er wieder auszubügeln hatte, doch gleichzeitig wollte sie ihm nicht zuhören. Er hatte Worte ihr gegenüber ausgewählt, die sie sehr verletzten und enttäuschten. Jeden seiner Besuche unbeachtet zu lassen war schwer, doch selbst in ihrem jetzigen Zustand war sie zu stolz. So ließ sie ihn jedes Mal, sollte sie denn wach sein, abblitzen. • Es blieb nicht nur bei den zwei Besuchen des an sich fremden Mannes, von dem Sakura nun gerne dachte, dass es ein neuer Freund war. Er war versucht, jede ihrer Fragen zu beantworten – auch wenn sie den ab und an erscheinenden, genervten Unterton dabei sehr wohl mitbekam – und hörte ihr zu, wenn sie aus ihrem und Itachis Leben erzählte. Er beschwerte sich kein einziges Mal darüber, dass Sakura oft einschlief. Einen einzigen spöttischen Blick hatte sie geerntet, als sie ihm eröffnete, dass sie müde wäre, ansonsten hatte sie keinen Kommentar zu hören bekommen. Auf die Frage, woher er eigentlich wusste, dass sie die Freundin seines Bruders sei (und die ihr erst nach einigen Treffen in den Sinn gekommen war), erklärte er lediglich schulterzuckend, dass er über seine Freunde von ihnen mitbekommen hatte. "Findest du nicht, dass du ein bisschen peinlich bist?" Er war bereits da, als Sakura aufwachte. Normalerweise saß er auf dem Stuhl, den er sich neben ihr Bett schob, oder er saß direkt an ihrem Fußende, doch heute stand er erstaunlich weit weg. Zudem war seine Haltung aufrechter, als sie es gewohnt war. Er wirkte nicht mehr so schwach wie zuvor. Nicht kräftig, aber stabil. So stabil, dass er am Ende des Zimmers gegen die Wand gelehnt dastand und aus dem Fenster starrte, während sie sich unterhielten. Das Sonnenlicht, das auf ihn fiel, ließ sein Gesicht zusätzlich verblassen. "Peinlich?" Sakura richtete das Kissen hinter ihrem Rücken zurecht. Auch sie war langsam wieder zu ihren Kräften gekommen. Sich hinzusetzen, größere Bewegungen zu machen, war nicht mehr so anstrengend wie zuvor und auch ihre Konzentrationsspannen wurden wieder länger. "Wie lange willst du Itachi noch ignorieren?" Ihre erste Intention war es, eben diese Frage an ihn zurückzurichten. Allerdings stand sie nicht in der Position, dass sie sich so etwas erlauben konnte. Der Begriff Freundschaft hin oder her, so lange kannten sie sich nicht – und es war wahrlich nicht an ihr, sich in die Angelegenheit der Brüder, in die Angelegenheit der ganzen Familie einzumischen. Zumindest noch nicht zu diesem Zeitpunkt. "Er hat Dinge zu mir gesagt, die mich ziemlich verletzt haben." "Ich bin mir sicher, dass es ihm leid tut", sagte er und drehte sich zu ihr. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Fenstersims und verschränkte langsam die Arme vor seiner Brust. "Und du bist eine erwachsene Frau und kein Kind mehr, das auf stur stellt, wenn es etwas hört, dass ihm nicht passt." Sakura biss sich auf ihre Wange um stumm zu bleiben. Ihrer Meinung nach sollte er sich wirklich an seine eigene Nase fassen und gleichzeitig hatte er vollkommen recht – etwas, das ihr schon seit längerem bewusst war. "Meine Familie ist nicht gut darin, mit Worten umzugehen. Im Geschäfte machen und wenn es darum geht, noch mehr Profit auszuschlagen vielleicht, aber mit echten Worten sind wir nicht gut. Wir reden bevor wir denken und das kann weh tun. Itachi hat seine Worte wahrscheinlich noch in der gleichen Sekunde bereut, in der er sie gesagt hat." Eine leise Stimme in ihrem Kopf lachte spöttisch auf. Ja, das hatte sie wohl mitbekommen. Ihr Verlobter mochte zwar nicht so lange wie sein Vater arbeiten, aber immer noch lange genug, dass es Sakura störte und selbst wenn er zu Hause war, zerbrach er sich weiterhin den Kopf über alles, was in den vorherigen Stunden passiert war. Sie hatte ihrem Ärger Luft gemacht, sich bei ihm beschwert, ihm vorgeworfen, dass sie ihre Beziehung beinahe alleine führte und er sich erlauben müsse, Auszeiten zu nehmen. Das wiederum hatte Itachi wütend gemacht. Sakura konnte sich noch sehr genau an den Ausdruck in seinen Augen und an seine Rechtfertigungen erinnern. 'Aber natürlich kannst du so etwas nicht verstehen! Vielleicht würdest du Wichtigkeit der ganzen Sache verstehen, wenn du studiert hättest!', war das letzte was sie von ihm hörte, bevor Sakura auf dem Absatz kehrtgemacht, sich ihre Schlüssel geschnappt hatte und aus dem Haus gestürmt war. Das Blut hatte ihr so laut in den Ohren gerauscht, dass es sogar ihre entsetzten, enttäuschten und wütenden Gedanken überdeckte. "Du solltest wirklich mit ihm reden. Streit hat ihn schon immer fertig gemacht." • Itachi sollte stolz darauf sein, solch einen Bruder zu haben. Er hatte Sakura einen Ruck gegeben, ihr gezeigt, dass sie ihre verletzten Gefühle hinten anstellen, sich überwinden musste, wenn sie Klarheiten schaffen und haben wollte. Er hatte ihr versucht einen Teil seines Bruders zu erklären, den sie nicht verstehen konnte. Mehr als auf sie zugehen konnte Itachi nicht, der Rest lag an ihr, wenn er nicht weiterhin gegen eine stumme Wand reden sollte. Sakura war sich nun sicher, tatsächlich einen neuen Freund gefunden zu haben. Ihre Gedanken schwirrten bereits in der Zukunft: sie würden ihn hoffentlich zu sich nach Hause einladen können, nachdem Sakura Itachi erzählt hätte, dass sie seinen Bruder im Krankenhaus kennengelernt hatte. Sie war sich sicher, dass ihr Verlobter ihn auch nach all der langen Zeit finden möchte. Sie könnten sich aussprechen und wieder näher kommen, richtige Brüder werden. Sie hatte die großartigsten Pläne im Kopf herumschwirren, die sie, obwohl es ihr stetig besserging, erschöpften und von denen sie mindestens die Hälfte wieder vergessen hatte, sobald sie wieder aufgewacht war. Im Moment kam es ihr wie ein Ding der Unmöglichkeit vor, aber ein verborgener Teil ihres Herzens hatte es sich zum Ziel gesetzt, dass sie die gesamte Familie wieder zusammenführen würde. Itachi und sein Bruder ähnelten sich in so vielen Punkten und waren doch gleichzeitig so verschieden, dass Sakura nicht anders konnte, als mehr über ihn erfahren zu wollen. Sie hatte seine leicht ruppige Art gern gewonnen und freute sich über jede seiner noch so diskret gestellten Fragen zu ihrem Befinden. Er hatte sich ihr gegenüber nicht noch einmal so sehr geöffnet und von sich erzählt, aber Sakura glaubte, dass sie bereits eine Menge über ihn erfahren durfte und er ein Mensch war, der seine Gedanken am liebsten für sich behielt. Einmal hatte sie ihr eigenes Verhalten ihm gegenüber in Frage gestellt, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass er sich bis jetzt kein einziges Mal über sie beschwert hatte und es ihn somit nicht störte, wenn sie aus ihrem Leben erzählte und versuchte, ihm alles über ihre und Itachis vergangenen Jahre zu berichten, was ihr einfiel. Er saß stets da und hörte ihr zu, ohne dabei Interesse noch Desinteresse zu zeigen. Vielleicht war er nicht der offenherzlichste Mensch, aber Sakura fühlte, dass er ein Teil ihrer Familie war. • Die pure Erleichterung in Itachis Augen zu sehen ließ sie beinahe weinen. Zur Mittagszeit, und Sakura war sich sicher, dass er für sie nicht zur Arbeit ging, war er wiedergekommen. In einer Hand einen Strauß mit all ihren Lieblingsblumen. Fast so einen, den er ihr zu ihrem ersten Treffen mitgebracht hatte und von dem Sakura hinterher mindestens zwanzig Fotos machen musste, von denen sie vor lauter Aufregung und Freude mindestens genauso viele an ihre Freundinnen geschickt hatte. Er hatte den Strauß abgestellt und war an ihr Bett getreten. Sie hatte sich zu ihm gedreht und ihn angelächelt – und war sich sicher, in der gleichen Sekunde nicht geweinte Tränen aufsteigen zu sehen. Vorsichtig hatte er seine Hand in ihre genommen und sie, ungeachtet all der Kanüle, geküsst. Er hatte sich neben ihr Bett gekniet, sie kein einziges Mal losgelassen und sich für die Worte entschuldigt, die er nun nicht mehr zurücknehmen konnte und für die er sich selbst ohrfeigen wollte. "Eigentlich darf ich nicht verlangen, dass du meine Entschuldigung annimmst, aber ich bitte dich trotzdem, mir zu verzeihen. Ich war so erschöpft und wollte mich nicht auch noch mit dir Streiten. Ich habe schneller gesprochen, als ich überhaupt denken konnte und meine Worte müssen die schlimmsten und unangebrachtesten Worte sein, die ich je jemanden gegenüber erwähnt habe." Sakura fuhr mit ihrem Daumen langsam über ihren Handrücken. "Du hast mich ziemlich verletzt, aber ich weiß jetzt, dass du das nicht sagen wolltest. Ich kann nicht verstehen, warum dir die Arbeit so wichtig ist, aber ich versuche es." Sie holte einmal tief Luft. "Ich sollte mich auch bei dir entschuldigen. Dafür, dass ich dich so lange ignoriert habe. Ich bin hier gelandet und habe dich nicht einmal angeguckt." "Ich werde ab nun wieder mehr für dich da sein, das verspreche ich dir." Itachi strich ihr über die Haare. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte und so sehr liebte. Sie fühlte sich geborgen und geschützt und wusste, dass sie an Itachis Seite gehörte. Sakura lächelte sanft. "Wir sollten beide versuchen, noch mehr aufeinander einzugehen. Es gibt einiges, das wir ändern können und müssen. Nicht nur du, ich auch." "Ich bin froh, dass du endlich wieder mit mir redest. Ich habe keine guten Erinnerungen mit Krankenhäusern und dass du mich ignorierst, hat es nicht besser gemacht." "Eigentlich wollte ich noch etwas warten, bis ich es dir sage, aber", sie zögerte einen Moment, "ich habe deinen Bruder kennengelernt. Warum hast du mir nie von ihm erzählt?" Das Aufflackern in Itachis Augen entging ihr nicht, auch wenn sie es nicht richtig deuten konnte. "Meinen Bruder? Sakura –" "Er war hier, bei mir und hat mir von dir erzählt", unterbrach sie ihn. "Ich habe leider seinen Namen nicht mitbekommen und irgendwann war es mir zu unangenehm, noch einmal danach zu fragen." "Mein Bruder …" Itachis Stimme klang gebrochen und sein Blick wanderte zu ihren ineinander verschränkten Händen. "Er hatte vor vielen Jahren einen Motorradunfall." "Ich weiß, er ist auch ein Patient hier!" Sakuras Herz begann, schneller zu schlagen. Anders als in ihren Erwartungen ist Itachi nicht wütend darüber geworden, dass sie von seinem Bruder sprach, dass sie über ihn herausgefunden hatte, bevor er ihr vielleicht selber von ihm erzählen konnte. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Sie begann, aufgeregt zu werden. Vielleicht würde jetzt tatsächlich alles besser werden. Ihre eigene Beziehung, die Beziehung zu seinem Bruder … "Ich wusste nicht, was für einen Unfall er hatte", fuhr sie fort, "aber es geht ihm schon sehr viel besser! Er hat sich immer heimlich hierher geschlichen. Vielleicht … vielleicht könnt ihr euch ja treffen! Oder sollte ich ihm lieber vorher Bescheid geben?" "Sakura", sagte Itachi leise und kniff die Lippen zusammen. "Mein Bruder hat damals nicht überlebt. Er ist gestorben." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)