Shooting Star von Phantom (Psych) ================================================================================ Last Shot --------- Sirenen. Das Tachometer zeigt 112 mph. Blinklicht. Adrenalin pur. Matte Lampen, die sich ihren Weg durch den vom Regen gepeitschten Tag suchen, rutschen links und rechts vorbei. Die Frontscheibe wie das verweinte Gesicht eines Mädchens. Autos quietschen, hupen. Sirenen heulen. Sechs Einheiten sind hinter ihm her: Fünf Fahrzeuge, ein Helikopter. Er kennt ihre Vorgehensweise. Drei hat er bereits abgehängt. Seine riskante Fahrweise überfordert sie. In letzter Sekunde schnellt er zwischen zwei einander entgegenkommenden PKWs hindurch – die Karosserie kreischt, zwei Polizisten bremsen scharf. 118. 119. Der Regen nimmt zu. Es wird fortwährend schwieriger, das Fahrzeug auf dem nassen Asphalt zu manövrieren. Donner rollt über die wasserträchtige Wolkendecke. Er weiß nicht, wie viele Meilen bereits hinter ihm liegen. Er weiß nicht, wie viele er noch vor sich hat. Er weiß nicht, ob er etwas sucht, ob er vor etwas flüchtet. 125. Schüsse. "Tu's einfach, Lassie. Schieß." Henry Spencer öffnete endlich die Tür und sah aus wie ein Kriegsveteran. Kein Wort kam über die Lippen des Hausherrn, und die herausfordernde Stille schnürte Lassiter beinahe den Hals zu. Er wog ab, ob er sich nicht vielleicht umdrehen und einfach wieder gehen sollte. "Was wollen Sie?", hielt Henrys wenig einladende Stimme ihn schließlich hier. Lassiter nahm allen Mut zusammen. Es war nicht viel. "Ich… ich halte es für das Mindeste, persönlich bei Ihnen zu erscheinen, um… mich in aller Form… zu entschuldigen." "Ja, natürlich. Das ist jetzt wichtig: Ihre Entschuldigung." "Henry!", stieß er mit gekränktem Vorwurf aus. "Sie wissen schon, was ich meine!" "Offenbar wissen Sie das ja nicht einmal selbst. Wie soll ich es dann?" Lassiter gab es auf, einen Hehl daraus zu machen, Henrys Blick standhalten zu können. Der Mann packte seinen Arm, und er erkannte darin den bemerkenswerten, gerechten Cop, der Spencer einmal gewesen war, während er ins Innere gezogen wurde. Dort ließ sich der unwillkommene Gast auf der Couch nieder und die Augen durch den Raum streifen. Alles hier wirkte so heiter. Die Nachmittagssonne sandte ihre glitzernden Boten quer durch die Wohnung, und auf dem Tisch vor dem Fernseher stand eine Packung bunt besprenkelter Donuts. "Hören Sie", begann Henry, schob das transparente Plastik beiseite und stellte stattdessen eine dampfende Tasse dorthin, auf der "STARDUST SPORTFISHING" zu lesen war. "Ihre Bitte um Entschuldigung können Sie sich sparen. Es spricht für Sie, dass Sie zu mir gekommen sind, aber es ändert nichts. Sie sind zurückgetreten, nicht wahr?" Er nickte. "So schlimm?" Es schien nicht wirklich eine Frage zu sein. "Was machen Sie zurzeit?" "Ich plane momentan nicht sehr weit voraus", klang seriöser als "Ich weiß es nicht". Er senkte sich ihm gegenüber in einen Sessel. "Irgendjemand musste es tun. Wenn Sie es nicht getan hätten, dann hätte jemand anderes sich diese Schuld aufbürden müssen. Sie sind nur Ihrer Arbeit nachgegangen." "Shawn an meiner Stelle hätte eine andere Lösung gefunden." "Shawn an Ihrer Stelle hätte niemals den Mut aufgebracht, diese siebenhundert Menschen zu retten." Lassiter starrte in den Kaffee, als wäre diese trügende Tiefe das einzige Ziel, welches sein Blick noch verdiente. "Ich war der Feigling. Er hat mich bekräftigt, abzudrücken." Betont langsam schwenkte Henry den Kopf. "Er hat die Waffe nicht gehalten. Die schwierigste Aufgabe hat immer der, dessen Finger am Abzug ist." "Danke für diesen schwachen Trost." Er stand auf. "Carlton", hieß Shawns Vater ihn noch einmal stehen. "Werfen Sie Ihre Freude am Leben nicht weg. Kämpfen Sie darum. So wie wir alle." Er drehte sich nicht mehr um. "Vier Wochen – drei Therapeuten. Alle haben kapituliert." 128. 129. Der Puls pocht heiß in seinen Ohren. Das Herz hämmert an seinen zu engen Rippenkäfig. In waghalsigen Kurven schlittert der Wagen durch die knappen Gassen zwischen den anderen. Nagelsperre. Er reißt das Lenkrad herum, und unter dem Beschuss der Verfolger poltern die Reifen über Gestein. Eine Streife hinter der Absperrung beschleunigt und scheppert gegen seine Motorhaube. Das Duell nimmt er auf – Funken fliegen, und als ihnen ein Auto naht, stößt er seinen Kontrahenten darauf zu. Das platzende, quetschende, sich häutende Metall lärmt über den abschwellenden Alarm hinweg. 137. 146. 155. Er lässt sie hinter sich und wird sie doch nicht los. "Morgen. Neunzehn Uhr dreißig. Dein Lieblingsrestaurant. Bekannter Platz." Und da die Tür sie tatsächlich preisgab, war er höchst überrascht. Doch sie kam nicht allein: Ein Mann – jünger und entzückender als er und ihr ergo so viel besser stehend – begleitete sie an den Tisch. "Victoria", sagte er lediglich und knüppelte sich mental schon den Pistolengriff gegen die Stirn für diese überaus geistreiche und würdevolle Begrüßung. "Du siehst schlecht aus, Carlton." Ihr Neuer platzierte sich zwischen sie. Lassiter zwang sich zur Ruhe. "Ich will, dass du mir noch ein letztes Mal zuhörst." "Deshalb bin ich hier. Warum bist du so endgültig?" "Es ist viel vorgefallen. Ich habe den Dienst quittiert." Sie neigte sich vor. Auf eine unerfüllende Weise genoss er es. "Du hast…? Wieso? Was ist geschehen?" "Ich habe einen Menschen erschossen." Die geleckte Visage ihres Strandsouvenirs – was war er? Surfer? Schauspieler? Astronaut? – sprach Bände. Victoria schickte ihm einen flüchtigen, wie um Verzeihung heischenden Blick, ehe sich ihre bezaubernden Augen wieder ihm widmeten. "Das hattest du bereits, als ich dich kennenlernte. Das bringt dein Beruf leider manchmal mit sich." "Dieses Mal ist es… etwas anderes." Am oberen Rand seines Sichtfeldes bedeutete sie ihrem Lover, sie allein zu lassen. Auf einmal hatte sie seine Hände genommen, und er wunderte sich, wie er die Jahre, ohne ihr so nahe zu sein, bloß überlebt hatte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass es niemals wieder wie früher werden konnte. "Sag mir alles." "Nein. Du brauchst nicht alles zu wissen. Eine Sache nur, die ist wichtig, dass du sie weißt." "Ich möchte aber alles wissen." Sie schob seine Hände übereinander und drückte sie. "Sollen wir zu dir nach Hause fahren? Ich bleibe die ganze Nacht, wenn du es möchtest." Die Vorstellung brannte in ihm wie ein Traum, der wider alle Naturgesetze dabei ist, in Erfüllung zu gehen – dann jedoch entsann er sich seines Stolzes, die Ex niemals in eine Wohnung zu lassen, in der alles noch ihrer gedenkt und nach ihr duftet. Er straffte sich und versuchte ein Lächeln, welches so gut gelang, als hätte man ihm gerade ins Bein geschossen. "Willst du meine Einladung ausschlagen? Hier ist es doch ganz nett!" "Was ist mit deiner Wohnung, Carlton?", hakte sie nach. Er seufzte und wünschte sich, die Bedienung würde endlich erscheinen, um seine Order von etwas zu trinken zu protokollieren. "Ich ziehe demnächst aus." "Du hast Schulden?" Woher…? "Du bist mit dem Bus gekommen." "I-i-ich dachte, es sei mal an der Zeit für ein wenig… Abwechslung! Und Busfahren – wie ich unvermutet festgestellt habe – verleiht mir ein ganz neues Lebensgefühl!" Victoria ließ sich nicht auf eine falsche Fährte führen. "Wo ist dein Auto?" Er räusperte sich. "Vorübergehendwoandersuntergebracht." "Du hast es verkauft." "Verliehen." "Verkauft." "Gut: Verkauft." "Wo ist das Geld?" "Ist das hier ein Verhör?" Er lachte leblos. "Diese Technik! Diese Beharrlichkeit! Und erst diese Zielstrebigkeit! Als Cop wärst du einmalig gewesen!" "Ich bin kein guter Cop; du bist nur ein schlechter Lügner. Wovon willst du das Restaurant bezahlen?" Er zückte sein Portemonnaie und knallte ein paar Scheine auf den Tisch. "Von meinem Auto. Wenn du glaubst, ich würde dich einladen, ohne es finanzieren zu können, dann kennst du mich schlecht." "Du mich auch, wenn du meinst, ich würde ein Essen auf die Kosten meines verschuldeten Ex-Mannes vollkommen in Ordnung finden." "Dann hat sich das Dinner also erledigt?" Er warf die Hände in die Luft. "Kein Problem! Ich hatte ohnehin nicht vor, deinem Jack Dawson da ein Festmahl zu spendieren." Sie zog sich äußerlich wie innerlich von ihm zurück. "Ich wünschte, du könntest loslassen. Ich wünschte es mir für dich. Doch du hängst an der Vergangenheit. Du willst nicht akzeptieren, dass sie nicht so verlaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast, und wirst solange in ihr leben, bis du herausgefunden hast, wie du sie ändern kannst." Ohne den Blick von ihm zu lösen, erhob sie sich. "Aber du wirst keine Möglichkeit finden. Die Vergangenheit können wir nicht gestalten, Carlton. Aber die Zukunft." Sein Körper fühlte sich schwer an wie ein Sack voll konfiszierter Schlagringe. Oder Resignation. Dem ausgeliefert musste er beobachten, wie sie ihre Tasche lüftete. "Ruf mich an, wenn du wieder in die Zukunft schaust. Ich werde immer für dich da sein." Jack Dawson stieß sich von der Bar und öffnete der fortgehenden Frau den Ausgang. "Victoria!" Hinter dem dunklen, in schimmernden Wellen fließenden Haar kam noch einmal ihr bildschönes Gesicht zum Vorschein. "Ich liebe dich." Sanft fiel die Tür in ihren Rahmen. Die Straße ist verwaist wie nach einer apokalyptischen Katastrophe. Sein Atem geht im Takt der Benzinverbrennung im Motor. Es ist friedhofsruhig außerhalb der Kabine; nur der Regen prasselt gleichmäßig an die Fenster. Keine Polizei – doch er weiß, dass sie ihn lediglich in Sicherheit wiegen wollen. 112… 112… Die Strecke liegt gleich einem unermesslichen Lineal unter den Rädern und schenkt ihm Gelegenheit, für einen Moment die Augen zu schließen. Das Mädchen weint. Es weint wirklich ohne Unterbrechung, und er kann nicht glauben, dass ein kleiner Mensch so viel Tränenflüssigkeit in sich tragen kann. Sarah wird niemals akzeptieren, dass ihr Vater sie verlassen hat, und für immer weinen. Er steht daneben und begreift endlich, was es bedeutet, unmenschlich zu sein. Ein abruptes Erbeben reißt ihn in die Realität. Vom Weg abgekommen. Er lenkt zurück in die Mitte der Bahn. Zwei Streifenwagen sind ihm dicht auf den Felgen. 130, 142, 155, 160 – und da sie ihn gerade überholen wollen, bremst er unvermittelt und lässt sie wie Blitze an sich vorbeischießen. Er wendet, gibt wieder Gas. Seine Sicht ist auf den Umfang eines dünnen Fernrohrs beschränkt, die Straße verliert sich im Nichts. Lange macht er das nicht mehr mit. Entweder ist es das durch seine Venen rasende Adrenalin oder O'Hara hat vorhin doch konsequenter zugeschlagen, als er hofft. …O'Hara? Es hatte höflich geklingelt, und nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, blickte er hinab auf eine Knarre, die steifgerade auf seine Brust zielte – dahinter seine ehemalige Partnerin Juliet O'Hara. "Mr. Carlton Jebediah Lassiter! Ich verhafte Sie hiermit wegen Autodiebstahls. Sie haben das Recht, zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen, und Sie haben das Recht auf die Anwesenheit eines Anwalts während jeden Verhörs. Falls Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen auf Staatskosten einer zur Verfügung gestellt." Er hob die Hände. "Verblüffend, wie schnell das Department einen Fall aufklärt, kaum dass man nicht mehr da ist." O'Hara ließ die Waffe sinken. "Das Department zieht andere Fälle vor. In diesem ermittle ich allein. Wenn jemand Sie festnehmen muss, dann wollte ich es sein." "Aus Rache?" "Aus Freundschaft." Ahnend, sie nun nicht mehr loszuwerden, winkte Lassiter sie herein. O'Hara schritt in das Zentrum des verdüsterten Zimmers und ließ schier schockiert den Blick schweifen. "Carlton, hier… hier sieht es ja furchtbar aus!" Er zuckte mit den Schultern. "Tut mir Leid, ich stecke gerade mitten im Umzug. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie vorbeikommen, hätte ich selbstverständlich ein bisschen aufgeräumt." Sie beugte die Knie, um eine Scherbe aufzuheben. "Warum haben Sie nichts gesagt?" "Sie hatten alle selbst mit Ihren Gefühlen fertigzuwerden. Zu wem hätte ich als der große Buhmann gehen sollen – und wozu? Um Ihnen alles noch schwieriger zu machen?" "Carlton…" Sie musterte ihn, der sich nicht vom Fleck bewegt hatte, eindringlich. "Gus, Henry und ich… wir haben uns nach dem Vorfall eng zusammengerauft. Aber Sie… haben wir vermisst." "Ich hatte stattdessen drei Psycho-Docs an meiner Seite, mit denen ich das Thema gründlich durchgepflügt habe. Demzufolge denke ich nicht, dass ich etwas versäumt habe." "Und das hier?", fragte die Kommissarin zweifelnd und wies mit gespreizten Armen auf das sie umlagernde Chaos. "Ist das so eine Art Stressbewältigung, zu der Ihnen Ihre "Psycho-Docs" geraten haben?" "Nein", gab er zu und stellte fest, dass der Drang, ihr etwas vorzumachen, schwächer wurde. "Da bin ich ganz allein drauf gekommen." Juliet O'Hara schien dies zu bemerken, denn als sie sich aufrichtete, lächelte sie auf einmal – auch wenn es nur ein sehr erschöpftes Lächeln war – als hätte sie just einen Hinweis darauf erhalten, dass noch nicht alle Hoffnung verloren war. "Meinen Sie, wir können nun auf die Dienststelle fahren und die Sache mit Ihrem gestohlenen Auto hinter uns bringen? Ich lad' Sie anschließend zu einem Drink ein, hm? Wie wär's?" Zu einfach. O'Hara fing an, ein wenig Ordnung zu schaffen, obwohl sie sich darüber im Klaren sein musste, dass er sie nicht für eine Arbeit entlohnen würde, für die er sie nicht unter Vertrag genommen hatte. Mit der bloßen Hand schob sie die Überreste eines Bilderrahmens, einer Sektflasche und Ulysses S. Grant zur Seite. "Gibt es neue Erkenntnisse im Vorfall?", erkundigte er sich und war verwundert über seinen eigenen, warmen Ton. "Das Letzte, was ich aufgeschnappt habe, bevor ich den Fall endgültig abgegeben habe, war, dass Jason Veigh tot aufgefunden wurde." Lassiter war erstaunt. "Mord?" "Offensichtlich, ja. Feinde hatte er am Ende ja genug. Wenn kein anderer mir zuvorgekommen wäre, hätte ich es vielleicht irgendwann getan." "Wie schön, wenn man die Wahl hat." Es rutschte ihm heraus. "Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?" "Ich sagte Ihnen doch, dass es das Letzte war, was ich mitbekommen habe." "Ich frage Sie ja auch, ob Sie persönlich einen Verdacht haben." O'Hara, die eigentlich gar nicht mehr O'Hara hieß, inspizierte ihn, als wollte sie die exakte Intention der Frage aus seinen Augen ablesen. "Nun", setzte sie schließlich an. "Wie ich bereits gesagt habe: Es gibt viele Leute, denen er einen guten Grund gegeben hat, ihn umzulegen. Allerdings traue ich es niemandem von denen zu." Eine Weile sahen sie sich bloß an. "Sie waren es nicht, oder?" "Einem trauen Sie es also doch zu." Sie versuchte, seinen Einwand müde zu belächeln, bevor sie wieder ernst wurde. Ausgesprochen ernst. "Waren Sie es oder nicht?" "Ich kann Ihnen schwören, dass ich es nicht gewesen bin. Der Kerl war doch bloß ein Wahnsinniger wie viele andere Attentäter. Ob er lebt oder tot ist, ändert doch nichts mehr." "Ich glaube Ihnen." Obschon die Ermittlerin, deren Karriere er von Anfang an entscheidend gefördert hatte, längst nicht mehr das naive Nesthäkchen mit dem Praktikantinnengrinsen war, sah man ihr ohne Probleme an, wie die Schwere der Befürchtung von ihren weichen Zügen glitt. "Kommen Sie. Lassen Sie uns gehen." "Nein." Irritation. "Wir sollten es nicht tun." Während sie regungslos dort stand und über seinen jähen Verhältniswechsel grübelte, wandte er ihr den Rücken zu und drehte den Schlüssel im Schloss der Haustür um. Erst, da sie den eindeutigen Ton zum zweiten Mal vernommen hatte, fuhr Leben in sie. "Was tun Sie?!" "Wenn wir auf die Dienststelle gehen, werden sie mich wegen Mordes festnehmen", erklärte er ihr ruhig. "Das haben sie schon einmal getan. Aber dieses Mal wird kein Shawn Spencer zur Stelle sein, um meine Unschuld zu beweisen." "Das ist doch Unsinn!", protestierte sie. "Niemand verdächtigt Sie!" "Und das wissen Sie so genau, nachdem Sie den Fall bereits abgegeben haben?" "Carlton! Schließen Sie sofort die Tür wieder auf!" Sie stiefelte auf ihn zu. "Sie müssen auf die Dienststelle! Wir können die Sache mit Ihrem Auto nicht einfach totschweigen!" Erst halbherzig, dann intensiver griff sie nach seinen Armen, um an ihm vorbei irgendwie an den Schlüssel zu gelangen. Ein Ringen entwickelte sich, in welchem sich zeigte, dass die kleine Juliet O'Hara ihrem einstigen Kollegen und Vorgesetzten niemals gewachsen sein würde, wenngleich sie – das erkannte er auf eine undefinierte Art stolz an – stärker geworden war, als er einer Frau jemals zu werden zugetraut hätte. "Wenn Sie nicht aufhören, sehe ich mich gezwungen, die Polizei zu alarmieren!" "Ehe die hier ankommt, werden Sie mich schon erschossen haben müssen." "Ich werde Sie niemals erschießen!" Lassiter bekam ihre Hände zu fassen, zog sie grob an sich und nötigte sie damit zur Rast. "Gut, dann halten Sie mich mal davon ab, meinen Willen durchzusetzen, Detective O'Hara." Mit unverhohlener Wut schnaubte sie ihm entgegen. Sobald sich ihr Atem beruhigt hatte, löste sich die Spannung in ihren Fäusten. "Von mir aus. Bleiben wir erst einmal hier. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es in der Autodiebstahlgeschichte auch nicht mehr an." Selbst nicht unwesentlich erleichtert, ließ er sie los. Sofort holte sie aus und schlug ihm den Griff ihrer Dienstwaffe gegen die Stirn, dass es ihm das Gleichgewicht entzog und er an die Tür stürzte. Alles vor seinen Augen fuhr Karussell, und wie durch Watte hörte er O'Hara die Polizei verständigen sowie den Schlüssel wieder herumdrehen. Anschließend tauchte ihr Gesicht auf – riesengroß, verschwommen und verärgert. "Es tut mir Leid, dass Sie mich gezwungen haben, Ihnen das hier anzutun. Ich muss Ihnen jetzt leider Handschellen anlegen. Sind Sie einigermaßen okay?" Lassiter konzentrierte seine verbliebene Kraft darauf, O'Hara von sich zu werfen und nun seinerseits zu überwältigen. Sie verteidigte sich mit allem, was ihr zur Verfügung stand, doch wieder kristallisierte sich heraus, dass sie ihm im H2H unterlegen war, was gewiss nicht auf fehlenden Eifer im Training zurückzuführen war, sondern allein auf ihr nachlässiges Vertrauen, sich niemals gegen einen Partner stellen zu müssen. Die Sirenen trieben ihn zur Eile an. Er steckte O'Haras Pistole ein, und einen Augenblick lang wusste ihm das vertraute Gefühl des kalten Metalls wieder etwas Sicherheit zu geben, ehe er seine strampelnde Geisel zum Wagen brachte. O'Haras Leidenschaft, sich zur Wehr zu setzen, gestattete ihm nicht, die Haustür hinter sich zu schließen, aber das war egal. Er hatte nicht vor, noch einmal zurückzukehren. Plötzlich dämmert es ihm: Er ist nicht allein in diesem Fahrzeug. Juliet O'Hara, die jetzt Spencer heißt, sitzt neben ihm, mit jenem verweinten Gesicht, welches sich in der Scheibe spiegelt. "Bitte, Carlton… Sprich doch mit mir…" Es kann nicht seine Absicht gewesen sein, sie auf diese Höllenfahrt mitzunehmen. Er hat sie stets aus allem raushalten wollen. 150. 139. Mit einer Hand öffnet er die Handschellen. O'Hara starrt ihn unglaubend an, versteckt ihre geröteten Handgelenke, indem sie sich an den Sitz klammert. Ihre Augen muten ihm Todessehnsucht zu, und vielleicht weiß sie es besser als er. Er weiß nicht, wie das hier heute ausgeht. Er weiß überhaupt nichts mehr. Doch. Eine Sache weiß er definitiv: Er wird Juliet behüten. 118. 87. 56. "Springen Sie aus dem Wagen, O'Hara", befiehlt er ihr. "Tun Sie es. Sarah wartet auf ihre Mutter." O'Hara und er, sie leben längst nicht mehr in derselben Welt. "Hey, Lassie!" Es kostete ihn eine Kaffeekanne voll Überwindung, sich von der Akte ab- und Shawn Spencer zuzuwenden, und vermutlich schaffte er es lediglich, weil der Möchtegern-Hellseher inzwischen so fest mit seiner Partnerin verbunden war, dass er sich selbst die Pflicht auferlegt hatte, sorgfältig darauf zu achten, was Spencer fortan sagen und tun würde. "Ich frage Sie nur ein Mal", warnte er ihn erhobenen Zeigefingers, "also fangen Sie jetzt an, Ihre ganze Weisheit zu sammeln, wie Sie sie nie zuvor zur Lösung eines Falls gesammelt haben, und antworten mir dann mit nichts Geringerem als der geballten Lassie-Weisheit: Wollen Sie auf unsere Hochzeit kommen?" Er musste nicht lange überlegen: "Nein." Der Junge, der gar nicht mal so jung war, ließ die Schultern hängen. "Waaas? Wieso nicht? Stellen Sie sich das doch nur mal vor, Lassie: Sie könnten den Brautstrauß fangen! Und Kuchen essen, so viel Sie wollen! Sie haben endlich was zu tun, obwohl Sie sich freinehmen – und jetzt sagen Sie nicht, dass Sie noch nie davon geträumt haben, frenetisch mit Reis um sich zu schmeißen!" "Es bleibt beim Nein. Ich will nicht der griesgrämige Single sein, der allen anderen die Stimmung verdirbt." "Schade", meinte Spencer, und ohne weitere Widerworte wandte er sich zum Gehen. Hatte er sich vertan oder war das gerade tatsächlich ehrliches Bedauern gewesen? "Spencer." "Hm?" "Passen Sie gut auf sie auf." "Versprochen, Sheriff." "Denn wenn Sie es nicht tun, werde ich einen Weg finden, um Sie moral- und gesetzeskonform zu erschießen." "Ach! Ich ging davon aus, Sie wüssten längst einen." "Juliet ist eine taffe Frau. Aber wenn es um die Menschen geht, die sie liebt, kann sie sehr leicht verletzt werden. Denken Sie immer daran." Zwei zitternde Hände legen sich auf die seine. Mit feuchten Augen, in denen die Hoffnung allerdings noch loht, fixiert O'Hara ihn. "Nein. Ich lasse Sie nicht allein." Ihre Finger sind eiskalt; nichtsdestotrotz senden sie eine intime Empfindung aus, eine überphysische Wärme, und hinter dem Steuer dieses unaufhaltbaren Gefährts kommt er sich auf einen Schlag vor wie ein Kind, das, als die Nacht schon den Abend verdrängt, doch noch seine Mutter vom Spielplatz heimholen kommt. Heim. Er erkennt, dass Juliet O'Hara auf ihn stets so aufgepasst hat wie er auf sie, und dass sie vermutlich – nein: ziemlich bestimmt – wenngleich weniger sichtbare, erheblich schwierigere Arbeit dabei hatte. 50. 43. Sirenen. Als habe sie schlussendlich doch nicht mehr daran geglaubt, zeigt sich O'Hara unverblümt erstaunt, da er den Wagen am Waldrand parken lässt. Dort schließt er die Augen, reißt ihre Dienstwaffe aus seinem Gürtel und drückt sie sich an die Schläfe. "Carlton! Nicht!", kreischt O'Hara, ohne Luft zu holen. Hinter ihnen Blinklicht, das wie aus einer anderen Dimension in ihre unwirkliche vordringt. Spencer taumelte auf der Stelle, mit ratlos ausgebreiteten Armen und jener sperrigen Vorrichtung um sein Abdomen, auf deren Display ein Countdown verriet, wie aufgeregt er in Wahrheit war. "Wenn du's nicht tust, werden alle Leute in diesem Kaufhaus draufgehen." Lassiter hatte die Pistole bereits auf ihn gerichtet. Die Augenpaare Burton Gusters, Karen Vicks sowie seiner Partnerin Juliet Spencer bohrten sich in seinen Rücken; von jeder Etage stierten ihn ungezählte Zivilisten an, klein und starr wie Schachfiguren. Alles war kurz davor, sich dem Lauf der Zeit zu entziehen – nur der Zähler auf dem Bildschirm nahm mit jedem Herzschlag des Hellsehers ab. Zögerlich sank die Waffe. "Ich kann das nicht, Spencer." "Du musst!" Zum ersten Mal, meinte er, war Spencers Miene seinem tatsächlichen Alter angemessen. "Head Detective Carlton Lassiter: Es ist Ihre verdammte Pflicht, es zu tun! Schießen Sie! Los! Wir haben keine Zeit!" Er hatte die Augen geschlossen, als er den Abzug betätigte, und hasste sich dafür, auch blind sicher zu treffen. Hinter ihm brach O'Hara zusammen. "Shaaaaawn!" Es war das letzte Mal, dass sie Weiß trug. Einen Monat nach dem Vorfall warf er Dienstmarke und Dienstwaffe auf das Pult von Chief Vick, die ihn anstarrte, als hätte sie ihn vor dem Department aus einem UFO steigen sehen. "Es geht nicht mehr. Ich kann keinen Schuss mehr abgeben." "Sie brauchen Abstand", vermutete sie eher, als dass sie es ihm riet. Er verließ sie bar irgendeiner Erwiderung. Carlton lässt die Hand auf sein Bein sinken, lässt die Pistole aus seinen Fingern rutschen. Leer sitzt er da und wartet; lässt auch zu, dass Juliet sich um seinen Hals wirft und endlich hemmungslos in seinen Sakko schluchzt. 0. "Onkel Chaaaaarlieeeee!" Sarah tapste aus der blendenden Hochzeitsgesellschaft direkt auf ihn zu. Sie machte keinerlei Anstalten, zu bremsen, und so musste er sie auffangen, um zu verhindern, dass sie gegen die Bank knallte, auf welcher er sich niedergelassen hatte. "Das heißt "Detective Lassiter", junges Fräulein. Sag: "Deteeective Laaassiteeer"!" Das Mädchen erwies sich jedoch als überaus desinteressiert an so vielen Silben und klatschte ihm stattdessen eine Zeitschrift gegen den Arm. Es war keine Zeitschrift für Informationsabonnenten in ihrem Alter: Voller Werbung, Kreuzworträtsel und Unwahrheiten, doch eine Schlagzeile hatte Sarah neugierig gemacht. Sie drückte ihren Zeigefinger darauf. "Warum heißt das "Shooting Star"? Kann dieser Stern echt schießen?" Was für Fragen… Lassiter hatte keine Ahnung. Er begeisterte sich nicht für Gaskugeln jenseits seines Reviers und gab sich damit zufrieden, dass die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht sittsam ihre Dienste verrichten – was auch immer der Dienst des Mondes sein möge. Allerdings würde er sich nicht die Blöße vor Sarah genehmigen, eine ihrer Fragen nicht zu beantworten. "Ja, der kann tatsächlich schießen", war das Plausibelste, was ihm einfiel. "Dieser Stern geht niemals ohne seine Pistole aus dem Haus, und wenn du ihn nachts einmal über den Himmel streifen siehst, dann kannst du davon ausgehen, dass er gerade einem gefääährlichen Verbrecher auf der Spur ist – Peng! Peng!" Die anderen Gäste blickten sich fassungslos nach ihm um. "Peng! Peng!", wiederholte Sarah und lachte. In Wahrheit ist eine Sternschnuppe nichts anderes als ein Klumpen Schrott, der auf die Erde niederstürzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)