Poisonous Berry von --Tsuki-- ================================================================================ Kapitel 5: Juns Erfolg ---------------------- Kühle Nachtluft wehte durch das offene Fenster herein und streichelte meine Haut, trocknete den feinen Schweißfilm, der sich auf ihr gebildet hatte. Ich blickte kurz zu dem Fenster mit den langen weißen Vorhängen, die sich sanft im Wind aufbauschten und den Blick auf die Lichter der Stadt freigaben. Ich hörte, wie viele Meter unter uns ein Rettungswagen vorbei zog und den leisen Atem an meinem Ohr. Ein Lächeln schlich sich auf meine Züge, als er mit den Fingerspitzen zärtlich über meinen Rücken streichelte. Automatisch rückte ich näher an ihn heran, legte meine Hand auf seine Brust und liebkoste sie mit langsamen Bewegungen, womit ich ihm ein wohliges Seufzen entlockte. Zufrieden beugte ich mich vor, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. Noch immer spürte ich den leichten stechenden Schmerz dort, wo er in mich gedrungen war, aber es war mir nur recht. So hatte ich zumindest noch länger die lebhafte Erinnerung an das, was wir getan hatten. Und auch er würde sich erinnern. Dafür hatte ich gesorgt, als ich ihm die Kratzer auf seinem Rücken verpasst hatte. Aber es war auch definitiv eine langanhaltende Erinnerung wert. „Ich finde, wir sollten öfter verhandeln…“, seufzte Kirito leise, bestätigte damit meine Gedanken. „Hm, hast du denn noch mehr zu bieten? Etwas, wofür es sich lohnt?“, erwiderte ich frech, um ihm nicht das Gefühl zu geben, er hätte mich bereits in der Hand. Demonstrativ zog ich meine Hand zurück. Es sollte ihm unterschwellig signalisieren, dass er sich meine Gunst erst verdienen musste. Er sollte glauben, er sei von mir abhängig und nicht ich von ihm, wie es eigentlich der Fall war. „Ein paar fadenscheinige Gründe fallen mir bestimmt ein…. Mach weiter!“ So, wie er klang, hatte mein Tun die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Denn so handzahm war er selten. Selbst noch vor ein paar Stunden, eigentlich sogar vor einigen Minuten, war er dominant und herrisch gewesen. Aber jetzt, nachdem er seine überschüssige Energie ausgiebig an mir ausgelassen hatte, war er kaum noch wiederzuerkennen. Aus dem knallharten Geschäftsmann war schließlich ein zärtlicher Schmusekater geworden, der hoffentlich bis zum Ende der Verhandlungen bereit war, mir aus der Hand zu fressen. „Wie sieht’s mit einem Drummer aus? Wenn ich Pech habe, kann Tero sich uns nicht anschließen…“ Ich hatte das Gefühl, dass Kirito in Gönnerlaune war. Und da ich eigentlich nicht vorhatte, in nächster Zeit noch öfter mit ihm zu schlafen, musste ich versuchen, so viel wie möglich herauszuholen. „Gerade nicht. Sorry…. Aber ich kann mich bei dir melden, sobald ich jemanden weiß…“ Verdammt. Auf so eine Aussage konnte ich mich nicht verlassen. Wenn Kirito etwas so vage ausdrückte, bedeutete das, dass er nie darauf zurückkommen würde. Aber noch war nicht aller Tage Abend. Ich begann von neuem, über seine Brust zu streicheln, mit aller Sinnlichkeit, die ich aufbringen konnte. Dabei ließ ich sein Gesicht keinen Moment aus den Augen. „Bist du dir da sicher?“ Ich sah das Lächeln, das er zu unterdrücken versuchte, ehe er antwortete. „Nun, vielleicht gibt es demnächst eine Party, zu der einige Leute kommen, die für dich interessant sein könnten…“ Als hätte er meine Absicht durchschaut, versuchte der Sänger nun ganz offensichtlich, das Ruder herum zu reißen und wieder die Oberhand in dem Gespräch zu gewinnen. Und er war verdammt gut darin, mich neugierig zu machen. Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. „Vielleicht?“ „Nun, die Party gibt es auf jeden Fall.“ Kirito wandte seinen Körper nun mir zu, richtete sich soweit auf, dass er seinen Kopf in seiner Hand abstützen konnte. „Ich bin nur noch nicht sicher, ob ich dich mitnehme. Bisher haben wir nur von dem Label gesprochen.“ Kirito war kein großer Freund von Unverfrorenheit, zumindest nicht, wenn man sie gegen ihn richtete. Ich hatte gehofft, es würde ihm nicht auffallen, aber nun sah ich meine Felle davonschwimmen, daher wechselte ich rechtzeitig das Thema, bevor die Stimmung kippen konnte. Über diese merkwürdige Party konnte ich ihn später immer noch ausfragen, wenn das Wichtigste geklärt war. Möglicherweise stellte das Label sogar einen Drummer, und die Party wäre nicht länger notwendig. „Meinst du, du kriegst es hin, uns beim Label einzuschleusen, ohne dass Jun Wind davon kriegt, dass du da mit drin hängst? Es soll so wirken, als hätten wir uns ganz normal beworben und wären ganz normal genommen worden…“ Wir hatten es innerhalb kürzester Zeit geschafft, uns auf die Musik zu einigen und sogar ein paar Aufnahmen zu machen, die ausreichten, um sich bei den Plattenfirmen zu bewerben. Unsere anfängliche Euphorie darüber war aber schneller als gedacht verflogen, als uns die ersten Absagen erreichten. Jun verstand seitdem die Welt nicht mehr und mir ging es auch nicht anders. Vor allem tat es mir auch für Toya Leid, der sich seinen Neustart in Tokyo sicherlich anders vorgestellt hatte. Andererseits hatte er dafür etwas, worum ich ihn mehr als beneidete. „Diskretion ist mein zweiter Vorname, Baby.“ Baby. Oh, bitte! Ich musste unweigerlich an Dirty Dancing denken, ließ mir die sarkastischen Gedanken aber nicht ansehen. „Geht es dir darum, dass er nicht wissen soll, dass ihr nur deshalb Karriere macht, weil du stillgehalten hast?“ „Also, wenn du das stillhalten nennst…“, warf ich ein, doch er überging meinen Kommentar und sprach weiter. „Oder darum, dass er nicht wissen soll, dass du es mit anderen treibst?“ Ich überlegte krampfhaft, welche Antwort die weniger verfängliche war. Mir war schließlich auch nicht klar, wie viel Kirito von meinem Verhältnis zu Jun wusste. „Das spielt doch keine Rolle, Honey“, hauchte ich schließlich mit verführerischem Grinsen, wobei ich das letzte Wort absichtlich betonte, um ihn ein wenig zu parodieren. Doch bei mir kam es irgendwie völlig anders rüber. Ich fühlte mich plötzlich wie eine professionelle Freudendame. Eine merkwürdige Empfindung. „Ach, komm schon, Jui. Sieh mir meine Neugier nach. Bis vor Kurzem hätte ich nicht mal gedacht, dass er überhaupt Sex hat!“ Ich schloss die Augen, damit er nicht sah, wie ich sie rollte. „Jun ist Achtundzwanzig! Natürlich hat er Sex!“ „Und zwar mit dir.“ „Nein, nicht mehr“, gab ich kleinlaut zu, hörte mich selbst aufseufzen. Es war aber auch zu ungerecht! Seit wir ernsthaft damit begonnen hatten, die Band zu gründen, hatte ich Jun kein einziges Mal mehr allein erwischt. „Er passt ja auch nicht in dein Beuteschema“, stellte Kirito nüchtern fest, während er seine Hand ausstreckte und damit begann, meinen Hals zu streicheln. Wie unpassend, wo ich ihm doch gerade mein Herz ausschütten wollte! Kirito war vielleicht nicht der beste Seelenklempner, aber der Einzige, dem ich momentan in der Hinsicht vertraute. „Das ist doch Quatsch! Ich mag ihn trotzdem. Aber er steht mehr auf unseren neuen Gitarristen. Die hängen nur noch zusammen! Und weißt du, was das Schlimmste ist!?“ Ich pausierte, blickte Kirito an, um sicherzustellen, dass er mir aufmerksam folgte, wenn ich das pikanteste und aufreibendste Detail meiner schrecklichen Situation preisgab. „Der, also Toya, ist auch noch bei ihm eingezogen!“ Ich erwartete eine entsetzte Miene, doch stattdessen blickte Kirito mich mit einem formvollendeten Pokerface an. So, als erwarte er noch das Ende meiner Ausführungen, die Pointe, sozusagen. „Ja. Und nun?“, fragte er schließlich, nachdem einige stumme Sekunden verstrichen waren. Was war denn daran nicht zu verstehen? Verglichen damit, dass ich immer nur vereinzelte Nächte mit dem pinkhaarigen Gitarristen verbracht hatte, befand sich Toya im Schlaraffenland! „Die schlafen bestimmt miteinander!!“ „Bestimmt?“ Das war es, was obendrein an mir nagte - diese Ungewissheit. Die Ungewissheit, ob zwischen den beiden etwas lief, oder ob ich mich irrte, wenn ich versuchte, die Blicke zu deuten. Ich hätte normalerweise darauf gewettet, dass sie sich nicht nur die Wohnung, sondern auch das Bett teilten. Das einzige, was mich jedoch stutzig machte, war Toyas äußerst professionelles Verhalten bei der Probe. Weder schenkte er Jun dann besonders viel, noch besonders wenig Aufmerksamkeit, während dieser scheinbar gar nicht genug von dem anderen Gitarristen bekommen konnte. „Ja… Bestimmt! Jun wirkt total verknallt. Und Toya… Toya tut so, als ob nichts wäre. Der spielt bestimmt nur mit ihm!“ Kirito hielt sich eine Hand vor den Mund, um sein Gähnen zu unterdrücken. „Warum fragst du sie nicht einfach, was Phase ist?“ „Pah, niemals! Nachher denkt Jun noch, ich will ihn zurück!“ Der Sänger musterte mich lächelnd und lachte dann plötzlich laut auf. Noch ehe ich wusste, wie mir geschah, stürzte er sich plötzlich auf mich. „Ohhh Jui, du weißt ja gar nicht, WIE süß du bist, wenn du eifersüchtig wirst!“ Kirito drückte meine Handgelenke auf Kopfhöhe in die Kissen, während er meine Lippen, mein Kinn und meinen Hals mit kleinen, flüchtigen Küssen bedeckte. „Ich bin nicht eifersüchtig…“, protestierte ich leise, nachdem er von meinen Lippen abgelassen hatte. „Ihr seid so dumm… Ich hab eure Blicke in der Garderobe doch gesehen…“ Augenblicklich beschleunigte sich mein Herzschlag und ich wusste, dass das nicht an Kirito lag. Nicht direkt, zumindest. „Spart euch den ganzen Scheiß und gebt’s einfach zu! Voreinander. Das mit eurem Gitarristen ist doch nur eine dämliche Racheaktion.“ Eine Racheaktion? Ich fand nicht, dass es Jun ähnlich sah, aber der Gedanke gefiel mir. „Meinst du wirklich? Meinst du, er empfindet mehr für mich?“ Während er weiter meinen Körper liebkoste, hallten seine Worte wieder und wieder in meinem Kopf nach. Wenn Kirito Recht behielt, warf es ein völlig anderes Licht auf die ganze Situation und es konnte doch noch eine glückliche Wendung geben. Oh, wie ich die Weisheit älterer Männer liebte! „Auf jeden Fall. So, wie der sich aufgeführt hat… Das war ja wohl der dramatischste Abgang, den es je gegeben hat! Wie eine Diva! Er hatte nur Glück, dass ich gerade nicht sprechen konnte.“ Kirito lächelte mir aufmunternd zu, löste dann den Griff um eines meiner Handgelenke und strich mir sanft über die Wange. Vielleicht stimmte seine Einschätzung wirklich. Denn so hatte ich es noch gar nicht betrachtet, was vor allem daran lag, dass Jun mir versichert hatte, wegen der Sache mit Kirito nicht sauer zu sein. „Findest du!? Dabei sagt Jun immer zu mir, dass ich so zickig bin!“ „Der will nur von sich selbst ablenken… ihr nehmt euch beide nicht viel.“ Kirito beugte sich wieder über mich, küsste meine Lippen erneut, dieses Mal etwas länger. „Er will dich genauso, wie du ihn willst. Ihr seid nur zu blöd, das auch mal auszusprechen und veranstaltet lieber einen Kindergeburtstag.“ Er benutzte vielleicht nicht unbedingt die feinfühligen Worte, mit denen er normalerweise seine Songtexte ausschmückte, aber sie verfehlten ihre Wirkung dennoch nicht, sondern zauberten mir ein glückliches Lächeln ins Gesicht. Es schien, als hätte Kirito all den Kummer, der seit Wochen auf meinen Schultern ruhte und mich allmählich in die Knie zwang, mit einem Mal fortgewischt. Als sei ich plötzlich befreit und mein Herz viel leichter. Ich war mir nun sicher, dass er Recht hatte. „Danke, Kirito. Du bist so weise!“, rief ich überschwänglich. Augenblicklich hielt er inne, sah mich stirnrunzelnd an. „Ich bin ein Menschenkenner, das ist ein Unterschied. Weise sind alte Knacker mit langen weißen Bärten, Jui.“ „Ach, nur weil du keinen Bart trägst….“, erwiderte ich mit Unschuldsmiene, schaffte es jedoch nicht, meine grinsenden Mundwinkel unter Kontrolle zu bringen. „Na, warte! Dir bringe ich Manieren bei, du undankbares Stück!“ Wir kabbelten noch eine ganze Weile, bis uns schließlich die Müdigkeit übermannte. Ursprünglich wollte ich nicht bis zum Morgen bleiben, aber letztendlich war die Stimmung zwischen uns so gut, dass es ausnahmsweise in Ordnung war. Als ich morgens in die U-Bahn stieg, dröhnte ein Song von spiv states durch meine Kopfhörer. Lächelnd lauschte ich Juns Stimme, die mir direkt ins Ohr sang, während mein Kopf an der kalten Fensterscheibe ruhte. Ich war komplett erledigt. Insgesamt hatte ich knapp drei Stunden geschlafen und fühlte mich dementsprechend schlaftrunken. Blieb nur zu hoffen, dass ich nicht meine Haltestelle verpasste und zu spät zur Probe kam. Schließlich freute ich mich schon jetzt auf sein Gesicht, wenn er den Anruf von der Plattenfirma bekam, dass unsere Bewerbung akzeptiert wurde. Jun hatte doch ohnehin keinen Überblick mehr darüber, bei welchen Labels wir uns beworben hatten und wo nicht. Und noch etwas hatte sich seit letzter Nacht verändert – seit meinem Gespräch mit Kirito war mir klar, dass ich das Richtige getan hatte. Natürlich für uns alle, aber am meisten hatte ich unseren Plattenvertrag für Jun ausgehandelt. Um den Mann, der mir am meisten bedeutete, glücklich zu sehen. Auch, wenn er niemals erfahren würde, dass ich die Fäden gezogen hatte. ~*~ Mit leisem Klicken schaltete ich das Licht ein, das daraufhin den Flur in einem warmen Orange flutete. Augenblicklich bereute ich aber genau das und hätte das Licht vermutlich sofort wieder ausgeschaltet, wenn ich dann nicht Gefahr gelaufen wäre, über das Chaos zu stolpern, das die Herrschaft über die Wohnung erlangt hatte. „Vorsicht“, warnte ich Toya, der mit einem Sixpack Bier in der Hand hinter mir stand und ebenfalls hinein wollte. Ich schlüpfte aus den türkisfarbenen Boots, stellte sie ordentlich an die Seite und zog meine Hausschuhe über. Dieser Anflug von Ordnung änderte zwar auch nichts mehr am Gesamtbild, aber ich fühlte mich, als könne ich somit wenigstens einen kleinen Teil meines Selbstwerts erhalten. Zielstrebig schlingerte ich an den Tüten mit Pfand, Pizzakartons und Resten vorbei, stieg über herumliegende Schuhe und einem Paar Kopfhörer bis ich endlich die Garderobe erreichte. Es war schrecklich! Ich hatte mir nie einen Orden in Sachen Sauberkeit verdient, aber das, was Toya aus meiner Wohnung machte, war nicht mehr zu toppen. „Ach Mist, heut kam doch die Müllabfuhr!“, entfuhr es ihm, als er die Mülltüten sah und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Das muss man erstmal schaffen! Da haben wir es schon extra in den Flur gestellt und trotzdem vergessen!“ „Das liegt daran, dass du hier wohnst… deine Faulheit ist ansteckend!“, behauptete ich grinsend, während ich meine Jacke an den Haken hing. Ich hatte in den ersten Tagen versucht, ihm seine Unordnung hinterher zu räumen, es aber schon bald aufgegeben, als mir klar wurde, dass ich nicht dagegen ankam. Und als auch auf meine Bitte hin, sich etwas am Wohnungsputz zu beteiligen, außer einem Versprechen nicht allzu viel seinerseits passiert war, hatte ich die Hoffnung endgültig aufgegeben. Trotzdem, obwohl es mich störte, konnte ich es ihm nicht übel nehmen. „Ich bin doch nicht faul! Ich bin – kreativ! Und vielleicht ein ganz kleines bisschen vergesslich!“ Toya grinste spitzbübisch und schälte sich dann aus seiner Jacke, warf sie mir anschließend zu, damit ich sie ebenfalls an einem Haken unterbrachte. Es war jedes Mal das gleiche - spätestens wenn er mich anlächelte, verpuffte mein Ärger rückstandslos. Aber letztendlich, so sagte ich mir resignierend, hatte ich so wenigstens Leben in der Wohnung. Und zum anderen musste ich nicht mehr ständig putzen, wie ich es sonst getan hatte, bevor Jui zu Besuch kam. Ich nutzt meine Freizeit nun vor allen Dingen für gemütliche Fernsehabende mit meinem Mitbewohner. Ich folgte Toya in das Wohnzimmer, versuchte dabei, großzügig über die Details in diesem Raum hinwegzusehen. Solange er hier war, war dies sein Reich. Er schlief auf der Couch und lebte hierin. Und genau so sah es auch aus. Er räumte die halbvolle Chipstüte und die Schokoladenpapiere von der oberen auf den unteren Boden meines Couchtisches, um Platz für die Bierflaschen zu schaffen und ließ sich dann auf die Couch fallen. Auf seine Bettwäsche genau genommen. Sofort flimmerte der Fernsehbildschirm auf und ich fragte mich, wie er es so schnell geschafft haben mochte, in diesem Chaos die Fernbedienung zu finden. Ich beobachtete ihn kopfschüttelnd, sagte aber nichts, um den Frieden zu wahren und setzte mich dann zu ihm. Am ersten Abend war es mir noch merkwürdig vorgekommen, auf seiner Bettwäsche herumzulungern, aber inzwischen war es normal. Wie auch immer, heute war kein Tag für Ordnungsdebatten – heute war ein Tag zum Feiern! Denn ich hatte im Laufe der Probe einen Anruf von einem mir bis dahin unbekannten Plattenlabel – BiJU Records – erhalten. Ein Label, das sich jetzt gerade erst in der Gründung befand und durch unsere Bewerbung bei einem Produzenten derselben Firmengruppe auf uns aufmerksam geworden ist. Die Frau hatte mir versichert, schon innerhalb weniger Sekunden gewusst zu haben, dass wir ins Konzept passten und dass sie uns unbedingt dabei haben wollte. Und dank meiner Erfahrung in solchen Dingen, wusste ich, dass das alles in seriösen Bahnen ablief. Schließlich hatte ich uns nur bei seriösen Unternehmen beworben. Ein Tochterunternehmen sollte normalerweise keine großen Einbußen in dieser Hinsicht bedeuten. Natürlich wollten wir unseren ersten Erfolg zusammen mit allen Bandmitgliedern feiern, aber aufgrund dessen, dass Shingo heute Abend irgendeinen wichtigen Termin hatte, hatten wir beschlossen, die Feierlichkeiten auf das Wochenende verschieben. Außerdem wussten wir frühestens erst dann, ob wir auch Tero einladen konnten oder nicht. Dennoch wollten Toya und ich schon heute auf den Erfolg anstoßen. Es zischte, als der Schwarzhaarige die erste Bierflasche mithilfe seines Feuerzeugs aufhebelte. Danach hörte ich ein Klacken und dann ein Klirren, als der Deckel sich löste und über meinen Fußboden rollte. Dasselbe wiederholte er mit einer zweiten Flasche, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, den Deckeln nachjagen zu wollen. „Prost, Jun!“, rief er fröhlich, ehe er mir eine Flasche in die Hand drückte und seine eigene dann dagegen stieß. „Prost! Auf unseren Plattenvertrag!“ Während ich einen tiefen Schluck trank, fragte ich mich plötzlich, ob es nicht fairer gewesen wäre, Jui zu fragen, ob er sich uns anschließen wollte. Wenn ich tief in mich hineinhörte, merkte ich, dass er mir fehlte. Die Abende mit ihm, insbesondere jene, an denen wir zusammen getrunken haben, waren immer sehr schön gewesen. Ich hatte jeden einzelnen genossen, und ich glaubte, er auch. Andererseits hätte er uns dann aber auch fragen können und hatte es nicht getan. Überhaupt hatte er heute schon wieder so ausgesehen, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Vermutlich vergnügte er sich längst mit einem anderen als mir und hatte schon wieder vergessen, was zwischen uns war. Und was mich außerdem ärgerte, war, dass er sich nicht mal heute, bei diesen guten Neuigkeiten, wirklich gefreut hatte! Während wir drei uns kaum halten konnten, saß er nur still auf dem Sessel und zeigte ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Ich fragte mich langsam ernsthaft, ob ihm überhaupt klar war, dass ich das alles nur für ihn tat. Dass ich auch mit den spiv states weitermachen konnte, aber ihm zuliebe diese Band gründete. Ich schob diesen frustrierenden Gedanken beiseite, machte Platz für einen weitaus interessanteren. Und zwar den, der mir kam, als ich sah, wie sich Toyas Kehlkopf bei jedem Schluck auf und ab bewegte. Ohne etwas dagegen tun zu können, fragte ich mich, wie sich seine Haut anfühlen mochte, würde ich ihn dort zu küssen. Oder irgendwo anders. Entgegen meiner anfänglichen Hoffnung hatte sich seit seinem Einzug in meine Wohnung nämlich so rein gar nichts entwickelt! Vielleicht lag es an den unromantischen Situationen, in denen wir uns fast immer befanden. Oder daran, dass ich in dieser Hinsicht wirklich schüchtern war und immer darauf wartete, dass der andere den ersten Schritt machte. Auf jeden Fall begann dieser Zustand allmählich an mir zu nagen und ich fing an, an meiner Attraktivität zu zweifeln. Doch vielleicht wendete sich heute das Blatt. Drei Bier sollten normalerweise ausreichen, um meinen Mut zu steigern, ohne gleich zu betrunken zu sein. Möglicherweise wurde dieser Tag dann auf zweifache Weise ein ganz Besonderer. „Ich finde, es ist echt der Wahnsinn, wie schnell das jetzt doch alles geklappt hat!“, plapperte Toya plötzlich drauf los, nachdem er die Flasche abgesetzt und sich tiefer in das Polster gefläzt hatte. Er lag schon mehr als dass er saß, die Beine angewinkelt, sodass sie einen Keil zwischen uns trieben. Sein Kopf lag auf der Armlehne, auf die er sein Kopfkissen in Position gebracht hatte. Wir tranken bereits an unserem jeweils dritten Bier und allmählich spürte ich die leichte Benommenheit, die Alkohols stets in mir auslöste. „Ja, das stimmt. Aber wir sind ja auch einfach super! Die, die uns abgelehnt hatten, wissen gar nicht, was sie sich entgehen lassen haben!“ „Alles Idioten!“, stimmte mir der Gitarrist grinsend zu. „Männer versuchen aber auch immer, uns mit Alkohol gefügig zu machen!“, keifte eine aufgebrachte Frauenstimme es aus dem Fernseher und ich fühlte mich unangenehm berührt. Wieso musste ausgerechnet jetzt eine Diskussionsrunde mit diesem Thema auf diesem Sender laufen!? Gerade jetzt, wo ich doch selbst meine Pläne schmiedete, die in eine ganz ähnliche Richtung gingen. „Machst du das auch so, Jun?“, fragte mich Toya plötzlich und übertönte damit die weiteren Kommentare im Fernsehen. Sein Blick war auf den flimmernden Bildschirm fixiert, während sein Gesicht von blauem Licht überzogen war. Ob er etwas gemerkt hatte? Mein Puls beschleunigte sich um ein Vielfaches. „Meinst du, ich hab sowas nötig?“, stellte ich die Gegenfrage und nahm mir vor, erst einmal so lange wie möglich um den heißen Brei herumzutanzen, bis ich sicher sein konnte, ob Toya tatsächlich etwas wusste oder ob er nur aus reiner Neugier fragte. Er zuckte mit den Schultern, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. „Kann sein… Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du jemanden anmachst!“ Nun gut, das klang nicht besonders schmeichelhaft, aber trauriger Weise hatte er damit auch noch vollkommen Recht! „Na, vielen Dank auch!“, erwiderte ich trotzdem teils empört, teils amüsiert lachend, trank dann einen weiteren Schluck meines Getränks, das sich allmählich dem Ende näherte. „Ja, ohne Quatsch jetzt - ich hab mich das schon die ganze Zeit gefragt, seit ich hier bin! Wie machst du Leute an? So wie Shuichi Shindou?“ Wie um seine Frage zu unterstreichen, deutete er auf die DVD Box von Gravitation, die sich direkt neben meinem Fernseher befand. „Oder wartest du, bis dich jemand anflirtet? Du erinnerst mich übrigens total Shuichi! Und das nicht nur wegen der Haarfarbe!“ Toya kicherte kindlich und ich glaubte, eine leichte rötliche Verfärbung auf seinen Wangen zu erkennen. Gott, war der süß! Und offensichtlich schon nach drei Bieren vollkommen betrunken! Ich wollte die Situation nicht ausnutzen, aber die Gefahr, diese günstige Gelegenheit sinnlos verstreichen zu lassen, war einfach zu groß. Und so rückte ich, hoffentlich unauffällig, näher an ihn heran. Zuletzt, im Star Cafe war die Strategie nicht aufgegangen, aber dieses Mal standen die Zeichen gut für mich. „Warum denn noch?“, fragte ich unschuldig, lehnte mich zu ihm vor, indem ich meine Arme auf seine angewinkelten Knie legte und dort miteinander verschränkte. „Na, du bist genauso schwul wie er! Und hast gesungen in ner Band mit deinem besten Kumpel, der Gitarre spielt!“ „Hm, jetzt, wo du’s sagst….“ Er kicherte wieder und nahm den letzten Schluck aus seiner Flasche, blickte dann enttäuscht in sie hinein und im Anschluss vorwurfsvoll zu mir. „Was denn? Du hast gesagt, ein Sixpack reicht!“, erinnerte ich ihn lachend und ehe ich mich versah, hatte er mir meine Flasche aus der Hand gerissen. Ich tat noch kurz, als wolle ich sie mir zurückholen, überließ sie ihm aber in Wirklichkeit gönnerhaft, damit er auch diese leeren konnte. Erneut warf er einen betrübten Blick durch den Flaschenhals, ehe er sie auf den Boden fallen und wegrollen ließ. „Das musst du doch wissen, dass ich nicht planen kann!“, jammerte er und zappelte mit den Beinen, auf die ich mich noch immer stützte. „Ich glaube, du hattest auch schon genug…“ Ich musste jetzt dringend die Kurve kriegen! Nun war ich ihm schon so nah wie nie – er lag auf dem Rücken, blickte zu mir auf, während ich halb über ihn gebeugt war – und wir redeten über Biervorräte! Ein Thema, das nicht gerade für romantische Gefühle sorgte, die ich so dringend brauchte, wenn ich heute endlich einen Erfolg verzeichnen wollte! „Und du, bist du ein Draufgänger?“, fragte ich daher, hoffte, dass er den abrupten Themenwechsel nicht bemerkte und versuchte gleichzeitig, ihn dabei möglichst sexy anzusehen. „Ich? Ich doch nicht!“ Wieder bewegten sich die Knie unter meinen Armen, öffneten sich leicht. Ich fragte mich, ob das Absicht war. Ob Toya mir damit vielleicht ein unauffälliges Zeichen geben wollte, dass ich näher kommen durfte, wenn ich das denn wollte. Clever. So ähnlich machte ich selbst das immer, wenn ich mir nicht die Blöße geben wollte, einen eventuellen Korb einzukassieren. Ich lud so unauffällig ein, dass ich im Zweifel immer noch behaupten konnte, dass es doch gar nicht einladend gemeint war. Blöd war es nur, wenn die ausgesandten so subtil waren, dass sie das Gegenüber nicht verstand. Dann ging man im schlimmsten Fall leer aus, mit dem reuevollen Gefühl, es nicht wenigstens probiert zu haben. Deshalb sprach ich mir Mut zu und beugte mich dann noch weiter zu ihm vor. Soweit, bis ich meine Hände auf der Seitenlehne, links und rechts von seinem Kopf abstützen konnte und mein Oberkörper sich zwischen seinen aufgestellten Beinen befand. Ich befand mich nun direkt über ihm, unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Meine Nervosität steigerte sich ins Unermessliche. Und Toya schien es ganz ähnlich zu gehen. Ich erkannte es an seinem Gesichtsausdruck, seinen Augen, die mich unsicher musterten und an seiner Atmung, die flach seine leicht geöffneten Lippen verließ. Kurz erinnerte ich mich daran, wie ich vor drei Jahren noch täglich schwärmerische Texte über Toya an meine Freunde verschickt hatte. Und jetzt war er hier, wohnte in meiner Wohnung, lag auf meiner Couch, seinem Bett, unter mir, und wartete ganz offensichtlich darauf, dass ich ihn küsste! Ich konnte mein Glück kaum fassen! Behutsam löste ich eine Hand von der Lehne, strich damit eine schwarze Haarsträhne von Toyas Wange. Seine Haut fühlte sich überraschend weich unter meinen Fingern an. Ich sah das leichte Zittern seiner vollen Lippen, ehe sie ein lautloses „Komm schon“ formten. Eine Aufforderung, der ich nur zu gern nachkam, wenngleich ich langsam und vorsichtig vorging. Ich wollte auf keinen Fall den Moment zerstören, der sich mir nach so langer Zeit endlich bot, wenngleich die Spannung zwischen uns kaum auszuhalten war. Ich schloss die Augen, als mein Gesicht seinem immer näher kam. Und dann trafen sich endlich, nach so langer Zeit, unsere Lippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)