Ein Leben wie dieses von Juju ================================================================================ Kapitel 9: Vorwürfe und Moralpredigten -------------------------------------- Montag, 10. April 2006   Sora saß vor der ersten Stunde im Klassenraum und war nervös. Sie hatte sich am Sonntag nicht bei Tai gemeldet und auch er hatte ihr nicht geschrieben. Allerdings hatte sie die ganze Zeit über ihn nachgedacht und er wahrscheinlich auch über sie. Er hatte tatsächlich versucht, sie zu küssen. Nicht nur versucht, es war ihm sogar gelungen. Sora berührte mit den Fingern ihre Lippen. Was sollte sie nur davon halten? Wie sollte sie ihm jetzt gegenübertreten? Sollte sie einfach so tun, als ob nichts wäre? Plötzlich kam sie sich vor wie Mimi. Ihr hatte sie geraten, mit Matt zu reden, dass sollte Sora selbst wohl auch mit Tai tun. Aber wie sollte sie das anstellen? Sie hatte ja ein komplett anderes Verhältnis zu ihm als Mimi zu Matt. Und außerdem gingen die beiden ja nicht einmal in die gleiche Klasse. Tai betrat den Klassenraum und kam auf seinen Platz neben ihr zu. Augenblicklich richtete sie sich auf und setzte sich kerzengerade hin. „Hey“, begrüßte Tai sie und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Hi“, murmelte Sora und richtete den Blick auf ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Sie spielte mit ihren Fingern. Tai packte seine Schulsachen für die erste Stunde aus und sagte dabei kein Wort. Normalerweise unterhielten sie sich immer, bis die Stunde anfing, doch heute schwiegen sie sich an. Sora sah aus dem Fenster, nur um so zu tun, als wäre sie beschäftigt. Tai stellte seinen Rucksack wieder auf dem Boden ab und tat nun ebenfalls nichts. „Und, hast du Mathe noch geschafft?“, fragte Sora betont beiläufig. Die Stille zwischen ihnen war einfach nicht auszuhalten. „Ja, gestern“, murmelte Tai zur Antwort. „Okay“, erwiderte Sora, dann schwiegen sie wieder. Sie konnte es kaum erwarten, dass der Unterricht endlich begann. _ „Mimi, würdest du jetzt bitte rausgehen? Ich will den Raum abschließen für die Pause.“ Mit strengem Blick und verschränkten Armen stand Frau Yamamoto in der Tür und beobachtete Mimi, die gerade zum zweiten Mal feucht über die Tafel wischte. „Aber die Tafel ist noch nicht richtig sauber“, entgegnete Mimi mit flehendem Unterton. „So kann der Unterricht doch nach der Pause gar nicht richtig weitergehen.“ Frau Yamamoto zog eine Augenbraue in die Höhe. „Es ist schön, dass du dich so um ein ordentliches Klassenzimmer bemühst, aber ich glaube, die Tafel ist gut so.“ „Nein, da drüben ist noch ein Fleck, sehen Sie das nicht?“ Hastig sprang Mimi einen Meter nach links und wischte auf einem imaginären Fleck herum. „Mimi“, sagte Frau Yamamoto langsam und bedrohlich. „Ich würde jetzt auch gern in meine Pause gehen. Sofort.“ Mimi sah sie noch ein letztes Mal flehend an, doch sie war unerbittlich. Seufzend legte sie den Schwamm beiseite, schnappte ihre Tasche und ging an Frau Yamamoto vorbei nach draußen. Betont langsam schlenderte sie durch die Gänge und kam schließlich auf den Schulhof. Sie hielt Ausschau nach ihren Freunden und überlegte, was sie machen sollte. Wenn sie nicht zu ihnen ging, würde sie sich wohl schämen, weil sie sich so albern verhielt. Außerdem würde Izzy dann fragen, weshalb sie in der Pause nicht zu ihm gekommen war. Sie atmete einmal tief durch und schritt dann auf den Baum zu, an dem sich ihre Freunde in jeder Pause zu versammeln schienen. „Da bist du ja endlich. Was hast du denn so lang noch gemacht?“, fragte Izzy verwundert, als sie sich neben ihn stellte. „Die Tafel gewischt“, sagte Mimi schnell und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Die war ganz schön dreckig.“ Sie sah zu Sora, die ihr einen vielsagenden Blick zuwarf. Dann schaute sie ganz kurz in Matts Richtung, doch der stand einfach nur da und starrte gelangweilt in die Gegend. Wahrscheinlich hatte Sora wirklich Recht und Matt hatte das Ganze schon wieder vergessen. Wie konnte er nur? „Also, was gibt’s denn so Neues bei euch? Hattet ihr alle einen schönen Sonntag?“, fragte sie möglichst fröhlich in die Runde. „Ja. Meine Mutter hat gesagt, sie ist enttäuscht, dass sie nicht da war, als du da warst“, antwortete Izzy genauso fröhlich. Kein Wunder. Der hatte ja auch keine Probleme. „Oh, ähm... nächstes Mal komme ich vorbei, wenn sie da ist“, antwortete Mimi verlegen. „Super“, meinte Izzy. „Was habt ihr gestern so gemacht?“ Er wandte sich an Tai, Matt und Sora. „Schule“, murmelte Tai. „Nichts weiter“, antwortete Sora und lächelte unsicher. „Das Gleiche“, sagte Matt gelangweilt. Mimi sah Sora kritisch an. Sie wirkte irgendwie seltsam, etwas neben der Spur. Da fiel Mimi ein, dass sie sie ja noch gar nicht nach ihrem Date mit Tai gefragt hatte. Ob das wohl nicht gut gelaufen war? Dann sah Mimi sich nach Davis und den anderen um. Sie entdeckte sie bei einer Bank und stellte fest, dass die wie immer wirkten. Anscheinend war zwischen denen alles super. _ „Sag doch mal, Cody, wie findest du eigentlich die Schuluniform?“, fragte Davis und musterte ihn interessiert. „Gefällt sie dir?“ „Naja. Eigentlich ziehe ich lieber an, was ich will“, antwortete Cody und sah an sich herunter. „So sehen alle gleich aus.“ „Seit wann interessierst du dich eigentlich für Klamotten, Davis?“, fragte T.K. und sah ihn schief an. „Tu ich doch gar nicht. Ich wollte nur wissen, wie es Cody hier geht“, murrte Davis genervt und schob die Hände in die Hosentaschen. Dass dieser blöde T.K. auch immer wieder seine Kommentare abgeben musste. „Glaubt ihr, Ken hat am Samstag die Wahrheit gesagt?“, fragte Kari nachdenklich und sah in die Runde. „Warum er nicht kommt, meine ich.“ „Wieso sollte er nicht?“, fragte Davis verwundert. „Er ist doch immer fleißig, also glaube ich ihm auch, wenn er sagt, er hat noch so viel für die Schule zu tun.“ „Aber das Schuljahr hat gerade erst angefangen“, gab T.K. zu bedenken und wieder warf Davis ihm einen genervten Blick zu. „Um die Zeit hat niemand schon so viel zu tun. Ich glaube eher, er wollte nicht kommen.“ „Warum unterstellst du ihm, dass er lügt?“, fragte Davis verärgert. „Das weißt du doch gar nicht.“ „Ist ja auch nur eine Vermutung. Reg dich nicht gleich so auf“, entgegnete T.K. gelassen. „Also ich befürchte auch, dass er keine Lust hatte, uns zu sehen“, meinte Yolei, die sich gerade eine Haarsträhne um den Finger wickelte. „Aber das können wir ihm nicht verübeln, oder? Vielleicht ging ihm das einfach zu schnell.“ „Bin ich denn der Einzige, der glaubt, dass er nicht gelogen hat?“, rief Davis nun ernsthaft wütend. Wie konnten seine Freunde nur so etwas sagen? Wollten sie Ken etwa nicht wieder in die Gruppe integrieren? „Jetzt bleib doch mal ruhig“, meinte T.K. noch immer gelassen. „Es ist doch kein Problem, falls er wirklich keine Lust hatte. Wir fragen ihn in Zukunft einfach immer, ob er auch kommen will, wenn wir unterwegs sind und irgendwann wird er schon dabei sein.“ „Genau“, pflichtete Yolei ihm bei. „Wir wollen ihn doch auch wieder bei uns haben.“ _ Lustlos machte die Gruppe sich wieder auf den Weg ins Schulgebäude, da die Pause zu Ende war. Matt schloss zu Mimi auf und sah sie an. „Normalerweise bin ich derjenige, der morgens unbemerkt abhaut“, raunte er ihr zu und grinste. Erschrocken sah sie ihn an und wurde auf der Stelle knallrot. Sie öffnete den Mund, als würde sie etwas sagen wollen, schüttelte dann aber den Kopf und wandte sich ab. „Du brauchst mich deswegen nicht zu ignorieren“, sagte er. Sie warf ihm einen empörten Blick zu, griff ihn am Arm, wobei sich ihre Fingernägel in seine Haut bohrten, und zerrte ihn hinaus aus der Schülermasse in eine Ecke. Matt spürte die neugierigen Blicke der anderen Schüler, die sie verfolgten. „Jetzt hör mal! Das war einfach nur total daneben. Hast du eigentlich auch ein Fünkchen Anstand in deinem Hirn oder ist da nur Platz für Mädchen?“, fauchte sie und starrte ihn wütend an. „War doch nur Spaß“, erwiderte Matt und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Nur Spaß? Hast du mal darüber nachgedacht, wie andere sich fühlen, anstatt immer nur an dich selbst zu denken? Vielleicht ist es für andere kein Spaß!“ „Ich dachte, du wüsstest, worauf du dich einlässt“, sagte Matt stirnrunzelnd. Er war ein wenig perplex von dieser Ansprache. „Es geht ums Prinzip!“, keifte Mimi. „Welches Prinzip? Es geht einfach nur um Spaß“, entgegnete Matt verwirrt. Mimis Lippen wurden zu einer schmalen Linie und sie verengte die Augen zu Schlitzen. „Du kapierst es wirklich nicht, oder?“ Matt sah sie zur Antwort nur verständnislos an. „Du kannst einem eigentlich nur Leid tun, Yamato Ishida“, sagte Mimi finster, wandte sich um und stolzierte davon. Nachdenklich sah Matt ihr hinterher. _ Rauchend vor Zorn stampfte Mimi ins Klassenzimmer und ließ sich auf ihren Platz neben Izzy fallen, der sie erschrocken ansah. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen funkelten und sie wirkte allgemein gerade wie jemand, zu dem man besser einen Sicherheitsabstand einhielt. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Izzy verwirrt. In der Pause war sie doch noch halbwegs normal gewesen. Oder zumindest nicht wütend. „Matt ist ein Arschloch“, platzte Mimi heraus und warf geräuschvoll ihre Bücher auf den Tisch. „Oh... äh“, machte Izzy und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. „Wieso?“ „Weil... er... ein Idiot ist“, tobte Mimi und sprühte geradezu vor Zorn. „Okay“, sagte Izzy langsam. Anscheinend wollte sie nicht weiter darüber reden. Trotzdem fragte Izzy sich, was passiert sein konnte. Eben auf dem Schulhof war doch noch alles in Ordnung gewesen. Was konnte Matt in den zwei Minuten angestellt haben, die sie gebraucht hatten, um vom Schulhof in den Klassenraum zu gehen? „Etwa der Matt aus der Dritten?“ Oh nein. Gleichzeitig drehten Izzy und Mimi sich zu Katsuro um, der einen seltsam Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte und Mimi interessiert musterte. „Ich glaube, das sagt hinterher jede, die mit ihm geschlafen hat“, meinte er und zuckte mit den Schultern. Izzy zuckte zusammen. Was? Mimi soll mit Matt geschlafen haben? Das konnte er sich absolut nicht vorstellen. „Was mischst du dich hier eigentlich ein?“, zischte Mimi und in ihren Augen blitzte der Zorn. „Wenn du nicht willst, dass sich jemand einmischt, solltest du vielleicht nicht so herumschreien“, erwiderte Katsuro grinsend. Mit einer schwungvollen Bewegung drehte Mimi sich wieder um und Izzy tat es ihr gleich. Irritiert musterte er sie und konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. _ „Matt!“ Tai sah, wie der blonde Junge sich umdrehte und stehen blieb, als er Tai sah. Er hatte sich ganz kurz von Sora verabschiedet und war Matt hinterhergerannt, der ein wenig eher aus dem Schulgebäude gegangen war. „Hey“, sagte Matt, als Tai bei ihm ankam. Gemeinsam verließen sie das Schulgelände. „Sag mal, hast du vielleicht noch eine Stunde Zeit?“, fragte Tai nach einer Weile des schweigenden nebeneinanderher Laufens. „Klar, was willst du denn?“, fragte Matt und musterte ihn interessiert. „Mit dir reden.“ Matt stieß einen Seufzer aus. „Geht es um Mimi?“ „Um Mimi?“, fragte Tai verwirrt. „Gut, also nicht Mimi“, entgegnete Matt und wirkte erleichtert. Sie gingen in die Pizzeria, in der Tai am Samstag schon mit Sora gewesen war und setzten sich an einen freien Tisch. „Mann, hier war ich schon ewig nicht mehr“, stellte Matt fest und sah sich um. „Du solltest öfter mit uns mitkommen“, meinte Tai halb vorwurfsvoll, halb scherzhaft. „Ja, das sollte ich“, stimmte Matt zu. Sie bestellten sich jeder eine Pizza, als einer der Kellner vorbeikam, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Heute war es nicht besonders voll, aber es war ja auch Montag. Gedankenverloren trank Tai einen Schluck Cola. „Also“, setzte Matt an und beugte sich nach vorn, „was gibt’s denn?“ „Naja“, setzte Tai an und holte tief Luft. Wie sollte er nur anfangen? „Ich glaube, ich brauche einen Rat von dir.“ Matt zog überrascht die Augenbrauen hoch und musterte ihn interessiert. „Einen Rat? Worum geht’s denn?“ „Es gibt da so ein Mädchen...“ Er sah Matt an, der auf einmal schief lächelte, aber nichts sagte. „Und ich weiß irgendwie nicht richtig, was ich machen soll. Ich glaube, sie ist nicht wirklich an mir interessiert in dieser Hinsicht.“ „Kenne ich sie denn?“, fragte Matt. Tai raufte sich die Haare. Warum musste er sich ausgerechnet in Sora verlieben? Bei jeder anderen hätte er Matt sofort davon erzählt, aber nicht bei Sora. Er war sich sicher, es würde irgendwie komisch werden, wenn Matt wüsste, dass Tai in Sora verliebt war. Irgendwie wäre ihm das mehr als unangenehm. „Nein“, log er und Matt machte ein verdutztes Gesicht. „Kein Mädchen aus der Schule?“ „Äh... nein.“ „Okay, ähm... hattest du denn schon Kontakt zu ihr?“, fragte Matt. „Ja, ziemlich viel“, sagte Tai langsam. „Das macht die Sache doch schon einfacher“, erwiderte Matt gelassen. „Glaubst du?“ Tai glaubte eher, es wäre einfacher, wenn er Sora nicht so gut kennen würde, wie es nun mal der Fall war. „Klar. Halte einfach weiter Kontakt. Sei nett zu ihr, mach ihr Komplimente, aber sei nicht zu aufdringlich“, sagte Matt bestimmt. „Am besten, du lernst Gitarre spielen. Darauf stehen sie irgendwie.“ Er lächelte schon wieder sein schiefes Lächeln. „Könnte schwierig werden“, meinte Tai. „Oder zieh einfach dein T-Shirt aus. Das reicht bei dir als Sportler bestimmt schon.“ Tai runzelte die Stirn und Matt lachte. „Weißt du, ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum du ausgerechnet mich fragst.“ „Hä?“ Verständnislos starrte Tai ihn an. „Vielleicht, weil du schon an die hundert Mädchen hattest?“ „Erstens, übertreib es nicht. Zweitens, bei mir ist das doch immer nur für kurz. Ich hatte noch nie eine Beziehung, die länger als zwei Wochen gedauert hat. Und außerdem sind die meisten hinterher nicht gerade gut auf mich zu sprechen. Da brauchst du nur Mimi ansehen.“ Tai seufzte und stützte den Kopf auf der Hand ab. „Aber ich glaube trotzdem, dass du mit Mädchen besser umgehen kannst als ich.“ „Du hattest doch schon mal 'ne Freundin“, meinte Matt nun und musterte ihn fragend. „Ja, aber das war doch nur kurz. Und ist außerdem schon zwei Jahre her“, entgegnete Tai abwinkend. „Du denkst also, ich sollte nicht aufgeben?“ „Aufgeben kannst du später immer noch“, antwortete Matt. „Wenn sie auch nur ein Fünkchen Verstand hat, wird sie schon bald sehen, welche Chance sich ihr bietet.“ Nachdenklich kaute Tai auf seiner Unterlippe herum. Matt war also der Meinung, dass Sora sich schon in ihn verlieben würde, wenn er nicht aufgab. Vielleicht sollte er es einfach weiter versuchen. „Und wie gesagt, wenn es nicht klappt, kannst du immer noch dein T-Shirt ausziehen“, fügte Matt hinzu und lachte. _ Mimi kochte noch immer vor Wut, als sie in Nami's Café ging, um Sora dort zu treffen und ihre Hausaufgaben zu erledigen. Sie setzte sich an einen freien Tisch am Fenster, packte ihre Schulsachen aus und zückte einen Stift, doch sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was war Matt nur für ein Mensch? „Hallo!“ Sora stand plötzlich neben ihr und lächelte sie an. „Was kann ich dir bringen?“ „Einen Tee, bitte. Und ein Stück Schokotorte“, murmelte Mimi und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu. Sora ging kommentarlos hinter den Tresen, um ihre Bestellung fertig zu machen. Zehn Minuten später kam sie wieder, stellte den Tee und die Torte auf dem Tisch ab und setzte sich auf den Stuhl Mimi gegenüber. „Ist alles okay mit dir?“, fragte sie und sah sie an. Stirnrunzelnd sah Mimi auf und schnaubte. Zähneknirschend erzählte sie Sora von dem Gespräch mit Matt in der Pause. „Ohje“, seufzte Sora, als Mimi fertig war und begann, ihre Torte zu essen. Oder eher zu verschlingen. „Er ist so ein egoistisches Arschloch“, fauchte sie zwischen zwei Bissen. „Er versteht mich überhaupt nicht. Er kommt nicht mal ansatzweise auf die Idee, dass diese ganzen Mädchen auch Gefühle haben, die verletzt werden können. Ihm ist das völlig schnuppe. Hauptsache, er hat seinen Spaß.“ Sora hatte den Kopf auf die Hände gestützt und beobachtete Mimi beim Essen, wodurch Mimi sich unbehaglich fühlte. Sie hatte doch eigentlich abnehmen wollen und nun stopfte sie sich vor lauter Ärger mit ungesundem Süßkram voll. Angewidert von sich selbst legte sie die Gabel beiseite und trank einen Schluck Tee. „Bestimmt hat er schon ein paar Kinder in die Welt gesetzt, ohne es zu wissen“, murrte sie und sah aus dem Fenster. Sora kicherte. „Na hoffentlich setzt du jetzt keins in die Welt.“ „Das wäre ja noch schöner“, schnaubte Mimi und schüttelte den Kopf. Dann kam ihr plötzlich eine Idee. Sie riss die Augen auf und sah Sora bedeutungsvoll an, die ihren Blick etwas ängstlich auffing. „Das ist es!“, rief Mimi. „Ich werde ihm sagen, dass ich schwanger bin! Das wird ihm hoffentlich mal eine Lehre sein!“ „Was?“ Verdattert sah Sora sie an. „Das ist doch Blödsinn.“ „Mir doch egal“, erwiderte Mimi trotzig. „Bestimmt bekommt er dann einen ordentlichen Schrecken. Immerhin muss er dann Verantwortung tragen zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben.“ „Oh, Mimi“, sagte Sora bang. „Ich halte das für keine gute Idee.“ „Wieso nicht? Er soll ruhig mal eine Strafe für das bekommen, was er abzieht.“ „Aber dafür musst du ihm doch nicht so eine Lüge auftischen.“ „Wenn er es anders nicht begreift schon.“ Unerbittlich verschränkte Mimi die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Bitte denk noch mal darüber nach“, bat Sora, bevor sie aufstand und zu einem anderen Tisch ging. _ Kari hockte in ihrem Zimmer auf dem Fensterbrett und starrte nach draußen auf die Straße. Sie malte sich gerade in Gedanken aus, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn ihre Eltern sich tatsächlich trennten. Für Tai würde sich wohl nicht allzu viel ändern, da er nächstes Jahr sicher ohnehin wegzog. Doch was sollte Kari machen? Zu wem sollte sie ziehen? Sicher müsste sie ständig zwischen ihren Eltern hin und her pendeln, um beide gleich regelmäßig zu sehen. Ihre Eltern wären sicher nicht mehr gut aufeinander zu sprechen, würden beide losziehen, um einen neuen Partner zu finden. Dann bekämen sie und Tai eine Stiefmutter und einen Stiefvater. Vielleicht würden sich ihre Eltern irgendwann wieder miteinander vertragen und befreundet sein, doch das widersprach völlig Karis Vorstellungen einer glücklichen, heilen Familie. Jetzt konnte sie sich vorstellen, wie T.K. und Matt sich wohl gefühlt haben mussten. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie klappte es auf und hielt es sich ans Ohr. „Hallo?“ „Hi Kari, hier ist Yolei“, meldete sich Yolei am anderen Ende. „Hallo“, sagte Kari etwas überrascht. Sie hatte schon lange nicht mehr mit ihr telefoniert. „Ähm... ich wollte dich eigentlich was fragen. Und zwar, ob du am Wochenende schon was vorhast?“, fragte Yolei und klang etwas verunsichert. „Es ist Montag“, erinnerte Kari sie. „Ja, ich weiß. Mir ist nur gerade eine super Idee gekommen und da wollte ich dich gleich anrufen und dir davon erzählen“, antwortete Yolei fröhlich. „Nein, ich hab bisher noch nichts vor. Was hast du denn für eine Idee?“, fragte Kari nun neugierig geworden. „Also, vielleicht könnten wir ja am Samstag zusammen shoppen gehen. Was hältst du davon? Und abends machen wir uns bei mir einen gemütlichen DVD-Abend und ziehen uns alberne Schnulzen rein“, erklärte Yolei. „Oh, das klingt prima“, erwiderte Kari, war jedoch noch ein wenig überrascht von dem Vorschlag. „Ich bin gern dabei.“ „Super!“, rief Yolei. „Ich freue mich schon richtig darauf. Wenn doch nur schon Wochenende wäre.“ „Ja“, seufzte Kari. „Okay, das war eigentlich auch schon alles, was ich wollte“, sagte Yolei. „Mach's gut. Bis morgen in der Schule.“ „Bis morgen.“ Noch ein wenig irritiert klappte Kari ihr Handy wieder zu. Auch sie freute sich nun aufs Wochenende. _ Sora hatte beschlossen, noch bei Matt vorbeizugehen und mit ihm zu reden, auch wenn es schon spät war. Doch Mimis Vorhaben hatte ihr gezeigt, dass anscheinend ein Vermittler gebraucht wurde. Von allein würden die beiden wohl nicht miteinander reden. Sie hoffte nur, dass Matt noch wach war. Sie kam an seiner Wohnung an und drückte auf den Klingelknopf mit der Aufschrift „Ishida“. Es dauerte einige Sekunden, bis Matts Vater die Tür öffnete und sie neugierig musterte. „Hallo Sora“, sagte er verwundert. „Guten Abend. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ist Matt vielleicht noch wach?“, fragte sie. „Ja. Komm rein“, lud Hiroaki sie ein und trat zur Seite. „Danke“, erwiderte Sora lächelnd und lief an ihm vorbei in die Wohnung. „Er ist auf dem Balkon“, sagte Hiroaki, während sie sich die Schuhe auszog. Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, in dem der Fernseher gerade eine Nachrichtensendung zeigte und trat hinaus auf den Balkon. Hiroaki schloss die Tür hinter ihr und ging zurück zur Couch. Matt stand am Geländer, hatte die Arme darauf abgestützt und rauchte gerade. Er drehte sich um und machte ein verdutztes Gesicht. „Huch. Wo kommst du denn auf einmal her?“, fragte er und musterte sie. „Von Arbeit?“, erwiderte sie lächelnd. „Ja, schon klar.“ Er grinste. „Willst du was trinken?“ „Nein, danke. Ich wollte nur mit dir reden“, antwortete Sora. Matt sah sie eindringlich an und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Da bist du nicht die Erste heute.“ Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch raus. „Worum geht’s denn?“ Sie stellte sich neben ihn und sah nach unten auf die Straße, wo ab und an ein Auto vorbeirauschte. „Um Mimi“, sagte sie schnell. „Oh, komm schon“, stöhnte Matt, drehte sich um und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. „Willst du mir jetzt auch einen Vortrag über die Gefühle von Mädchen halten?“ „Nein“, erwiderte Sora hastig und drehte sich um, um ihn anzusehen. „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du dich nicht vielleicht bei ihr entschuldigen kannst.“ „Entschuldigen?“ Empört starrte Matt sie an. Asche fiel von seiner Zigarette auf den Boden. „Wofür? Ich hab sie doch nicht vergewaltigt!“ „Natürlich hast du das nicht“, entgegnete Sora und schüttelte den Kopf. „Aber sie ist irgendwie ziemlich fertig deswegen. Und wütend. Sie denkt, du kümmerst dich nicht um ihre Gefühle. Und die der anderen Mädchen.“ „Tu ich ja auch nicht“, sagte Matt gelassen und drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, der auf einem winzigen Tischchen stand. Sora warf ihm einen verdutzten Blick zu, den er stirnrunzelnd erwiderte. „Es kümmert sich doch auch keiner um meine Gefühle, oder? Es geht doch dabei auch nicht um Gefühle“, erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Naja“, fing Sora irritiert an, „manchen Menschen geht es dabei schon um Gefühle.“ Irgendwie war sie verwirrt von Matts Sicht auf die Dinge. Für ihn war Sex anscheinend etwas völlig Neutrales und unterschied sich nicht von einem Gespräch. Vielleicht war er noch nie auf den Gedanken gekommen, dass andere dabei etwas anderes als Spaß empfinden könnten. Er zuckte nur mit den Schultern und schob die Hände in die Hosentaschen. „Das ist nicht mein Problem. Ich habe bisher jedem klar gemacht, dass das nichts zu bedeuten hat.“ „Aber damit verletzt du andere trotzdem“, warf Sora ein und sah ihn an. „Willst du jetzt Moralapostel spielen?“, fragte Matt abfällig. „Jeder ist für sich selbst verantwortlich und entscheidet allein. Wenn Mimi sich dazu entscheidet, mit mir zu schlafen, dann ist das ihre Sache und ihr Problem, wenn sie das hinterher bereut. Damit habe ich nichts zu tun und deshalb werde ich mich auch nicht bei ihr entschuldigen.“ Er lehnte sich neben Sora an das Geländer des Balkons. „Dann ist es dir also total egal, wenn du die Gefühle anderer verletzt?“, fragte Sora und sah ihn nun eindringlich an. Er antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern. „Matt, willst du das jetzt den Rest deines Lebens so weitermachen? Mit irgendwelchen Mädchen schlafen und dich hinterher nie wieder bei ihnen melden? Sind dir andere Menschen wirklich so egal?“ Matt ging zur Balkontür, legte eine Hand auf den Türgriff und sah Sora an. Sein Blick war kalt und abweisend. „Gute Nacht, Sora“, sagte er leise, öffnete die Tür und ging ins Wohnzimmer. Erschrocken lief sie ihm hinterher und spürte, wie Hiroaki Ishida ihnen fragende Blicke zuwarf. Matt ging zur Wohnungstür und öffnete nun auch diese. Wortlos forderte er Sora somit auf, zu gehen. „Matt, was soll denn das?“, fragte sie flehend. „Ich wollte doch nur mit dir reden.“ Sein Blick wurde keine Spur weicher und somit schlüpfte Sora seufzend in ihre Schuhe und verließ die Wohnung. _ Er schlug die Tür hinter ihr zu, drehte sich um und wäre fast mit seinem Vater zusammengestoßen. „Hast du sie verärgert?“, fragte er verständnislos. „Sie sah so traurig aus.“ „Quatsch“, murmelte Matt und ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer. Er hatte Sora immer dafür geschätzt, dass sie ihm nie irgendwelche Vorwürfe machte oder Moralpredigten hielt, so wie es alle anderen gern taten. Und nun hatte sie es doch gemacht und das nur wegen Mimi, die anscheinend nicht damit klar kam, dass sie nicht der Nabel der Welt war. Schon gar nicht der Nabel Matts Welt. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemals eines der Mädchen nach seinen Gefühlen gefragt hätte. Warum sollte er sie dann also fragen? Für ihn war alles von Anfang an klar gewesen und eigentlich hatte er seine Absichten stets verdeutlicht. Oder zumindest dachte er, er hätte sie verdeutlicht. Andererseits wollte er sich eigentlich auch nicht mit Mimi streiten. Vielleicht sollte er einfach nur ein klärendes Gespräch mit ihr führen, noch einmal darüber reden und dieses Problem aus der Welt schaffen. Immerhin gehörte sie doch auch zu der alten Truppe und sie waren Freunde. Er hätte nie gedacht, dass diese einfache Nacht solche Folgen mit sich bringen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)