Ein Leben wie dieses von Juju ================================================================================ Kapitel 41: Streit und Versöhnung --------------------------------- Donnerstag, 9. November 2006   Am Morgen, als Mimi vor ihrem Schließfach stand und es öffnete, um ihre Bücher für den Tag herauszuholen, fiel ihr ein weißer Briefumschlag entgegen, den sie dort eindeutig nicht selbst hineingelegt hatte. Neugierig und verwundert nahm sie den Umschlag in die Hand. Mimi stand darauf geschrieben und sie konnte Soras feinsäuberliche Handschrift erkennen. Sie hob die Augenbrauen und öffnete den Umschlag. Zwei Bögen weißes Papier kamen zum Vorschein, die sie auseinanderfaltete. Gespannt begann sie zu lesen.   Liebe Mimi, ich weiß, es ist irgendwie feige, dir einen Brief zu schreiben, weil ich das lieber persönlich mit dir klären sollte. Bestimmt würdest du das auch besser finden als so. Aber ich habe einerseits Angst, dass du nicht mit mir reden willst und andererseits befürchte ich, ich könnte etwas vergessen, was mir wichtig ist. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich anfangen soll. Bestimmt reicht dieser Brief hier auch nicht aus, aber du solltest es trotzdem wissen. Ich möchte mich hiermit bei dir für das entschuldigen, was ich zu dir gesagt habe. Es tut mir unendlich leid und ich hätte es niemals zu dir sagen dürfen, denn es stimmt einfach nicht. Mit dem, was du zu mir gesagt hast, hast du vollkommen Recht gehabt. Ich bin die Schlampe von uns beiden. Irgendwie ist mein Leben vollkommen aus den Fugen geraten, womit ich absolut nicht gerechnet habe. Ich liebe Matt. Ich kann es nicht ändern und ich wünschte, es wäre nicht so, aber es ist so. Deswegen war es natürlich umso schrecklicher von mir, mich auf eine Beziehung mit Tai einzulassen. Er hat das nicht verdient. Ich dachte nur, ich könnte mich vielleicht tatsächlich in ihn verlieben, da du mit allem, was du gesagt hast, Recht hattest. Er ist ein toller Mensch, aber ich fühle mich einfach nicht zu ihm hingezogen. Ich hätte das erkennen sollen, bevor das alles passiert ist. Das war nicht nur Tai, sondern auch Matt gegenüber mehr als unfair. Jedenfalls habe ich festgestellt, dass ich meine Gefühle für Matt einfach nicht ändern kann, weshalb es mich so geschockt hat, dass du mit ihm geschlafen hast. Ja, ich war unglaublich eifersüchtig, obwohl ich das nicht hätte sein dürfen. Stattdessen hätte ich mit dir reden sollen, aber dieses Video, das in der Schule herumging, hat mir einfach das Herz gebrochen. Das soll jetzt natürlich alles keine Rechtfertigung sein. Ich habe viele Fehler begangen und mich mehr als einmal völlig falsch verhalten. Aber vielleicht hilft es dir ein bisschen, zu verstehen. Ich wollte dir wenigstens in Ansätzen so etwas wie eine Erklärung geben. Du hast ja schon ganz richtig gesagt, dass ich irgendwie eine Andere war und nicht die, die du kennst. Ich würde dir gern beweisen, dass ich wieder die Alte sein kann, aber dafür muss ich erst einmal wieder die Alte werden. Irgendwie habe ich mich selbst verloren. Ich hoffe sehr, dass wir noch einmal darüber reden können. Du bist mir sehr wichtig und du fehlst mir wirklich.   Deine Sora   Mimi presste die Lippen aufeinander, während sie den Brief noch einmal überflog. Sora hatte tatsächlich einen Schritt auf sie zu gemacht und sich entschuldigt. Der Brief rührte sie einerseits, doch andererseits wusste sie nicht, ob sie ihr so einfach verzeihen konnte. „Guck‘ nicht so, das gibt Falten.“ Mimi ließ den Brief sinken und sah in Tais grinsendes Gesicht. „Von wegen. Eine Tachikawa kriegt keine Falten“, antwortete sie schnippisch und schob den Brief wieder zurück in den Umschlag. Tai beobachtete sie neugierig. „Von wem ist der denn?“, fragte er skeptisch. „Von niemandem“, antwortete sie und stopfte den Brief in ihre Tasche. Tai hob eine Augenbraue und musterte sie argwöhnisch. „Hast du etwa einen heimlichen Verehrer?“ „Und wenn es so wäre?“ „Dann will ich für denjenigen hoffen, dass er auf Falten steht“, erwiderte er frech grinsend und Mimi verdrehte die Augen. Für einen Augenblick hatte sie gehofft, der Brief hätte ihn vielleicht eifersüchtig gemacht, doch dem schien nicht so. „Idiot“, murmelte sie. Er beugte sich dicht zu ihr, damit niemand sonst ihn hören konnte. „Das klang gestern aber noch ganz anders.“ Mimi lief knallrot an, während Tai nur leise lachte und sie allein stehen ließ. Gestern, an ihrem Nachhilfetag, hatten sie gerade einmal eine halbe Stunde mit Matheaufgaben verbracht, bevor sie im Bett gelandet waren. So war das nicht geplant gewesen, denn Mimi brauchte die Mathezeit. Genossen hatte sie es trotzdem. Und sie hatte ihn nicht gefragt, was es ihm bedeutet hatte. Sie hoffte einfach, dass er sich doch noch in sie verliebte.   _   „Sagt mal, ist euch auch schon aufgefallen, dass Davis sich die ganze Woche von uns distanziert hat?“, fragte Yolei und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht einmal die Pause hat er mit uns verbracht.“ „Ich habe auch das Gefühl, dass er irgendwie Abstand hält“, meinte Kari nachdenklich. „Aber keine Ahnung, warum. Haben wir ihm irgendwas getan?“ „Nicht, dass ich wüsste“, meinte T.K. „Oh, mir fällt gerade etwas ein“, sagte Yolei plötzlich und fasste sich an die Stirn. Die Erinnerung von Samstag war ihr wieder gekommen. „Ken und ich haben ihm am Samstag gesagt, dass wir zusammen sind und dann ist er plötzlich abgehauen. Er wirkte sauer.“ Kari und T.K. sahen sie verblüfft an. „Was denn?“ „Du und Ken?“, fragte Kari ungläubig und machte große Augen. „Im Ernst?“ „Ähm… ja“, antwortete Yolei ein wenig verlegen und kratzte sich am Kopf. „Warum ist das so unglaublich?“ „Ist es nicht. Es ist nur überraschend. Warum hast du denn nichts erzählt?“ Sie wirkte auf einmal aufgeregt und heiß auf Tratsch. „Ich meine, es freut mich natürlich für euch.“ „Wie lang seid ihr denn schon zusammen?“, fragte T.K. „Macht mal halblang“, erwiderte Yolei und musterte die beiden nun argwöhnisch. „Ihr habt auch niemandem von eurer Beziehung erzählt.“ „Wir mussten uns erst mal selbst dran gewöhnen“, meinte Kari verlegen. „Siehst du? Ich musste mich auch erst mal dran gewöhnen. Und jetzt wisst ihr es ja. Und wir sind schon seit ein paar Wochen zusammen“, erklärte Yolei sachlich. „Wow“, machte Kari anerkennend. „Aber Davis‘ Reaktion ist trotzdem etwas übertrieben.“ „Ja. Dass er auf Yolei steht, können wir wohl ausschließen“, fügte T.K. nachdenklich hinzu. „Danke“, brummte Yolei, während Kari ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. „Hey, so war das doch gar nicht gemeint“, wehrte T.K. ab und hob die Hände. „Ich meinte nur… naja, er war ziemlich lang verknallt in Kari.“ „Vielleicht sollten wir ihn mal darauf ansprechen“, schlug Kari vor und Yolei und T.K. nickten zustimmend.   _   Nach dem Unterricht ging Davis mit Kari allein nach Hause. T.K. hatte noch Basketballtraining, also waren sie nur zu zweit. Ein Glück. Davis hatte wirklich überhaupt keine Lust, Zeit mit diesem Pärchen zu verbringen. Sie nervten ihn einfach nur. Kari plauderte fröhlich über den Unterricht und er brummte hin und wieder zustimmend und nickte, redete aber nicht viel. Nach einer Weile sah sie ihn an. „Sag‘ mal, stimmt eigentlich irgendwas mit dir nicht?“, fragte sie. „Nö, wieso?“, murmelte Davis und wich ihrem Blick aus. „Naja, du hast bisher diese Woche keine Pause mit uns verbracht und irgendwie habe ich das Gefühl, du gehst uns aus dem Weg“, erklärte Kari und zuckte mit den Schultern. „Deswegen dachte ich, dass vielleicht irgendwas nicht in Ordnung ist.“ „Alles bestens“, log Davis. Er spürte Karis kritischen Blick von der Seite und wusste, dass sie ihm nicht glaube. Und sie würde wohl nicht locker lassen. „Ich hab‘ einfach nur noch andere Freunde. Die Jungs vom Fußball und so. Mit denen verbringe ich auch gern Zeit.“ „Okay.“ Sie klang nicht überzeugt. „Ist es vielleicht, weil… naja, weil T.K. und ich jetzt ein Paar sind?“ „Du musst nicht alles auf dich beziehen, hörst du? Die Welt dreht sich nicht um dich!“, blaffte Davis, der mit so einer Frage gerechnet hatte. Erschrocken sah sie ihn an und blieb stehen. „So war das doch gar nicht gemeint. Ich dachte nur…“ „Nein, sorry. Wollte das nicht sagen“, murmelte Davis und ließ den Kopf hängen. „Davis, was ist los mit dir?“, fragte sie mit weicher Stimme und berührte ihn vorsichtig am Arm. Er seufzte tief. „Naja, es hat ein klein wenig mit dir und T.K. zu tun. Aber auch mit Ken und Yolei. Irgendwie fühle ich mich auf einmal einsam und… keine Ahnung. Ungewollt oder so. Ihr habt alle jemanden und seht so glücklich aus und ich bin allein.“ „Aber Davis!“ Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung. „Du bist doch gar nicht allein. Wir sind doch trotzdem noch für dich da.“ „Ach ja? Ihr habt doch jetzt alle nur noch Zeit für eure Beziehungen“, murmelte Davis und kickte einen kleinen Stein weg. „Nein, das stimmt nicht“, erwiderte Kari eindringlich. „Das kann ich dir hoch und heilig versprechen. Wir bleiben trotzdem deine Freunde und nehmen uns Zeit für dich, wenn du willst.“ „Ach ja?“ „Natürlich! Rede dir doch nicht so einen Quatsch ein. Wir kennen uns nun schon so lange und du bist mir wichtig. Genauso wie den anderen. Wir gehören doch alle zusammen.“ Davis wusste nicht, was er davon halten sollte. Ein wenig beruhigte ihn, was sie sagte, doch konnte sie ihm wirklich versprechen, dass er seinen Freunden trotzdem noch wichtig war? Er musste erst einmal abwarten, was die nächste Zeit brachte, bevor er sich darüber ein Urteil bilden konnte.   _   Es war der erste Tag, an dem Sora seit langem wieder arbeitete, jedoch nur für drei Stunden. Sie wollte endlich einmal ein wenig kürzer treten, konnte das Arbeiten jedoch nicht ganz lassen. Momentan informierte sie sich über verschiedene Modeschulen weltweit und überall musste man jedes Semester viel Geld bezahlen. Zwar hatte sie schon einiges sparen können, doch für ein komplettes Studium reichte es natürlich noch lange nicht. Deshalb musste sie bis zum Sommer noch so viel arbeiten, wie sie konnte. Sie lieferte gerade eine Bestellung an einem Tisch ab und war überrascht, Mimi zu sehen, als sie wieder zurück hinter den Tresen ging. Plötzlich saß sie dort und sah Sora ernst an. Offensichtlich war sie schon zu Hause gewesen, denn sie trug ihre Schuluniform nicht mehr und hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden. Eine Strähne davon drehte sie sich gerade um den Finger. „Mimi“, sagte Sora überrascht und stellte das Tablett auf dem Tresen ab. „Hast du meinen Brief gefunden?“ Mimi nickte, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Einen Augenblick hielt Sora ihrem Blick stand, wandte sich dann jedoch ab. „Ähm… kann ich dir irgendwas bringen?“ „Ich nehme einen Kaffee“, antwortete sie. Sora machte ihr einen Kaffee und stellte die Tasse vor ihr auf dem Tresen ab. Mimi bedankte sich und kippte scheinbar gedankenverloren Zucker in den Kaffee. Sora beobachtete sie nervös. Warum war sie nur gekommen? „Es freut mich, dass es dir wieder besser geht“, sagte Mimi, als Sora wenige Minuten später von einer Bestellung zurückkam. „Danke.“ Mimi nippte an ihrem Kaffee und sah Sora über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Sie setzte die Tasse wieder ab und seufzte. „Du fehlst mir auch.“ Ein leichtes Lächeln huschte über Soras Lippen. Das klang ganz so, als wäre Mimi dazu bereit, an ihrer Freundschaft zu arbeiten. Oder zumindest über die Sache zu reden. „Schön, dass du hier bist.“ „Vielleicht komme ich ja mal wieder öfter vorbei“, meinte Mimi schulterzuckend. „Das wäre schön.“ „Ich hoffe nur, du arbeitest nicht wieder so viel.“ Sora schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich werde besser auf mich aufpassen.“ Sie huschte zu einem Tisch, an dem drei Gäste saßen, die bezahlen wollten, und kam wieder zurück zu Mimi. „Es tut mir echt leid, was ich zu dir gesagt habe. Das war schrecklich unangebracht und daneben und ich war einfach…“ „Schon gut“, unterbrach Mimi sie und hob die Hände. „Ich habe deinen Brief gelesen. Du hast dich doch schon entschuldigt.“ „Ich wollte es dir nur noch einmal persönlich sagen“, murmelte Sora. „Sora, ich möchte dich nicht einfach aufgeben. Ich hab‘ dich echt gern. Schon immer. Ich denke, wir sollten versuchen, an uns zu arbeiten.“ Sora lächelte leicht. „Ja, das denke ich auch. Freut mich, dass du das so siehst.“ „Wo wären wir denn heute, wenn wir immer gleich aufgegeben hätten, sobald mal was schief läuft?“ Auch Mimi lächelte. Glücklich seufzte Sora, überrascht, dass Mimi hier war und ihr auch noch eröffnete, dass sie weiterhin mit ihr befreundet bleiben wollte. Gleichzeitig überkam sie jedoch das Gefühl, dass sie ihre Freunde allesamt nicht verdient hatte. Eine kleine Gruppe, die gerade Nami’s Café betrat, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich, denn sie kannte sie. Es handelte sich um Matt, T.K. und deren Eltern. „Nanu? Sieh mal, wer gerade gekommen ist.“   _   Es war am frühen Abend, als sich die gesamte Familie Ishida-Takaishi in Nami’s Café traf. T.K.s Basketballtraining war soeben zu Ende gegangen und auch Hiroaki war gerade von der Arbeit gekommen. Ausgerechnet Matt hatte dieses Treffen zur Verwunderung aller einberufen. Was war nur in ihn gefahren? Hatte er seine Meinung etwa tatsächlich geändert und wollte doch wieder Teil einer glücklichen Familie sein? Sie ließen sich an einem Tisch für vier Personen nieder und studierten zunächst die Karte. Kurz darauf erschien Sora mit einem kleinen Block und einem Stift bewaffnet an ihrem Tisch und lächelte. „Hallo, schön euch zu sehen“, begrüßte sie die Familie. „Oh, hallo Sora, uns freut es ebenso.“ Natsuko erwiderte ihr Lächeln fröhlich. „Ich habe dich schon ewig nicht mehr gesehen“, stellte Hiroaki mit einem Seitenblick auf Matt fest. „Viel zu tun“, erklärte Sora verlegen. „Was kann ich euch bringen?“ Sie bestellten Getränke und Sora verschwand wieder. „Ich freue mich ja so, dass wir heute hier zu viert sind“, sagte Natsuko und stützte den Kopf auf den Händen ab. „Das kommt so selten vor.“ „Ja, man könnte fast meinen, Matt heckt irgendwas aus“, meinte Hiroaki und klopfte Matt, der neben ihm saß, auf die Schulter. T.K. erkannte in Matts Gesicht sofort, dass Hiroaki ins Schwarze getroffen hatte, und machte sich innerlich schon auf etwas gefasst, was vielleicht keinem von ihnen gefallen würde. Er hätte gleich wissen sollen, dass Matt dieses Treffen nicht einberufen hatte, um seiner Familie zu verkünden, er würde sich von nun an nicht mehr querstellen. „Also, um ehrlich zu sein“, begann Matt zögerlich, „gibt es da etwas, das ich euch sagen muss.“ Die Stimmung am Tisch schlug augenblicklich um. Niemand rechnete damit, dass er ihnen etwas Schönes mitteilen würde. Zu gut kannten sie ihn. „Es gibt da ein Problem“, redete er weiter. „Was denn für eins?“, fragte Hiroaki langsam und T.K. konnte ihm ansehen, dass er bereits versuchte, Ruhe zu bewahren. Matt holte tief Luft und sah T.K. an, der ihm gegenüber saß. „Ich werde vielleicht Vater.“ Stille. „Was?!“, rief Hiroaki dann. „Oh mein Gott“, seufzte Natsuko und griff sich in die Haare. T.K. war unfähig, etwas zu erwidern. Er starrte seinen Bruder nur vollkommen fassungslos über den Tisch hinweg an. Hatte er ihn gerade richtig verstanden? An den Reaktionen seiner Eltern gemessen ja. „Das ist ein Scherz, oder?“, fragte Hiroaki scharf und sah ihn an. „Sag‘, dass das ein schlechter Scherz ist.“ „Okay“, sagte Natsuko und hob die Hände. Sie sah vor allem Hiroaki an. „Wir sollten ruhig bleiben. Er hat gesagt, er würde vielleicht Vater. Warum vielleicht, Matt?“ „Es gibt da eine Nacht, an die ich mich nicht erinnern kann. Und dieses Mädchen…“ „An die du dich nicht erinnern kannst?“, platzte Hiroaki wütend dazwischen. „Lass‘ ihn bitte ausreden“, sagte Natsuko. „Ich habe nicht viel getrunken. Ich weiß nicht, woran es liegt. Jedenfalls behauptet dieses Mädchen, sie wäre von mir schwanger“, erklärte Matt. „Oh, Yamato“, stöhnte Hiroaki und fasste sich an die Stirn. „Haben wir nicht letztens erst darüber geredet? Ich habe dir gesagt, ich mische mich nicht in deine Angelegenheiten ein, sondern erwarte nur, dass du immer verhütest. Und jetzt erzählst du das.“ „Hiroaki“, murmelte Natsuko, die leicht rot angelaufen war. „Ist doch die Wahrheit! Das ist jetzt die Krönung seines fragwürdigen Lebensstils! Er wird Vater mit siebzehn!“, rief er außer sich. In diesem Moment erschien Sora mit einem Tablett voller Getränke am Tisch. Sie machte ein unbehagliches Gesicht. Offenbar hatte auch sie den Streit bemerkt. Sie warf T.K. einen unruhigen Blick zu, bevor sie sich wieder entfernte. „Ich weiß nicht, ob es wirklich mein Kind ist“, ergriff Matt wieder das Wort. „Aus irgendeinem Grund hat sie es auf mich abgesehen. Ich würde ihr zutrauen, dass sie versucht, mir das Baby nur unterzujubeln.“ „Wie kommst du nur auf so einen Blödsinn?“, blaffte Hiroaki ihn an. „Du machst Fehler und gibst dem Mädchen die Schuld. Die ist auch so schon genug gestraft, ein Kind mit einem Idioten gezeugt zu haben!“ „Hiroaki!“, wies Natsuko ihn zurecht. „Reiß‘ dich zusammen!“ „Ich?“ Hiroaki war aufgesprungen. Andere Gäste im Café drehten sich bereits zu ihnen um. „Er hätte sich mal zusammenreißen und seine Wochenenden normal verbringen sollen!“ Er wandte sich an Matt, der auf seinem Stuhl saß und keine Miene verzog. „Mir reicht es mit dir! Ich kann einfach nicht mit dir umgehen! Ich erwarte, dass du noch dieses Wochenende deine Sachen packst und machst, dass du wegkommst! Zieh‘ am besten gleich zu dem armen Ding, das du geschwängert hast und mach‘ einmal in deinem Leben etwas richtig!“ Er warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und stürmte aus dem Laden. „Hiroaki!“ Natsuko sprang auf und eilte ihm nach. Die umliegenden Tische waren verstummt und beobachteten das Geschehen unverhohlen. Nur noch Matt und T.K. waren übrig. Matt hob fragend den Blick, doch T.K. schüttelte nur den Kopf. „Manchmal möchte ich einfach nicht mehr dein Bruder sein“, sagte er und stand auf. „T.K.“, sagte Matt mit einem Drängen in der Stimme. „Lass‘ es mich erklären.“ Eine Weile musterte T.K. ihn, doch dann seufzte er leise. „Ich will’s gar nicht wissen.“ Er verließ ebenfalls das Café und ließ seinen Bruder allein zurück.   _   Frustriert sah Matt T.K. hinterher und versuchte, gegen das betäubende Gefühl von Hilflosigkeit, das langsam in ihm aufstieg, anzukämpfen. Das war noch schlimmer verlaufen, als er vermutet hatte. Sein Vater hatte ihn rausgeworfen und T.K. verachtete ihn nun wahrscheinlich noch mehr als ohnehin schon. Er stand auf und verließ ebenfalls das Café, ohne zu wissen, wohin er jetzt gehen sollte. Am besten ging er sofort nach Hause, um seine Sachen zu packen, um seinem Vater aus dem Weg zu gehen. Aber wo sollte er dann heute Nacht schlafen? Er würde auf keinen Fall zu Nagisa gehen. „Matt, warte doch mal!“ Das war Mimis Stimme. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Was ist passiert? Hast du ihnen von Nagisa erzählt?“, fragte sie und kam vor ihm zum Stehen. „Ja“, antwortete er kurz angebunden. „Und ich hab‘ keine Lust, darüber zu reden.“ „Du musst drüber reden! Wie geht es denn jetzt weiter?“ „Boah, keine Ahnung! Ich suche jetzt einen Platz, wo ich heute Nacht schlafen kann, okay? Und das würde ich gern allein machen!“ Er ließ sie einfach stehen und ging. Er hatte keine Lust, mit ihr zu reden. Er wollte gerade mit niemandem reden, sondern einfach allein sein und nachdenken. Er ging nach Hause. Oder eher zu dem Ort, an dem er bis vor ein paar Minuten zu Hause gewesen war. Sein Vater war zum Glück gerade nicht da. Matt schnappte sich eine Tasche, packte so viele Klamotten ein, wie rein passten, und verließ die Wohnung eilig wieder. Wo sollte er jetzt hin? Er wollte niemanden von seinen Freunden fragen, ob er bei ihnen übernachten konnte. Nein, das käme ihm vor wie betteln. Vielleicht sollte er sich besser ein Hotelzimmer nehmen, doch das war zu teuer. Unter der Brücke schlafen? Nein, zu kalt um diese Jahreszeit. Der Proberaum! Natürlich, er konnte einfach im Proberaum übernachten. Das würde zwar nicht sehr bequem werden, aber zumindest hatte er ein Dach über dem Kopf.   _   „Oh mein Gott“, seufzte Kari und machte große Augen. „Das sind echt krasse Neuigkeiten.“ „Ja“, sagte T.K. grimmig und nippte an seinem Tee. Sie saßen auf Karis Bett und er hatte ihr erzählt, was in Nami’s Café passiert war. Völlig verstört hatte er vor ihrer Haustür gestanden. „Und dein Vater hat ihn jetzt rausgeschmissen?“, hakte Kari unsicher nach. „Mhm.“ „Und wo geht er jetzt hin?“ „Keine Ahnung, aber ist mir auch egal. Soll er wegen mir auf einer Parkbank pennen.“ „T.K.!“ Kari sah ihn vorwurfsvoll an. „Er ist dein Bruder!“ „Ist er das?“ Trotzig erwiderte er ihren Blick. „Eigentlich ist er nur ein Unruhestifter, der nichts als Ärger macht und sein Leben nicht im Griff hat. Wenn sich unsere Eltern seinetwegen wieder trennen, werde ich ihm das nie verzeihen.“ „Glaubst du wirklich, sie könnten sich wieder trennen?“, fragte Kari vorsichtig. „Ich weiß es nicht. Ich hoffe es nicht, aber bestimmt streiten sie gerade, weil mein Vater ihn rausgeworfen hat.“ Niedergeschlagen starrte er in seinen Tee und man könnte meinen, seine Eltern hätten sich bereits wieder getrennt. „Ach, T.K.“, seufzte Kari, schlang die Arme um ihn und küsste ihn auf die Schläfe. „Sie werden sich ganz bestimmt nicht trennen. Bestimmt sieht dein Vater bald ein, dass er überreagiert hat und holt Matt wieder nach Hause.“ „Du findest, er hat überreagiert? Ich glaub‘, ich hätte ihn auch rausgeschmissen an seiner Stelle“, murmelte er. „Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass er Scheiße baut. Aber diesmal ist es die größte Scheiße bisher.“ „Ja, aber er ist sein Sohn und er liebt ihn doch trotz allem“, widersprach Kari mit sanfter Stimme. Darauf erwiderte T.K. nichts. Er starrte weiter nachdenklich in seinen Tee, doch legte eine Hand auf ihre Hand und streichelte ihren Handrücken. „Vielleicht solltet ihr mal ein oder zwei Tage warten, bis sich alle wieder beruhigt haben, und dann nochmal mit Matt reden. Ich finde, er sollte in Ruhe alles erklären dürfen. Ihr habt ihn ja nicht ausreden lassen“, schlug Kari vor. „Da gibt es doch gar nichts zu erklären. Er hat mit dieser Nagisa geschlafen und vorher zu viel getrunken. Deswegen kann er sich an nichts erinnern und fertig“, meinte T.K. und zuckte mit den Schultern. „Aber ich dachte, er hätte gesagt, er hat nicht so viel getrunken.“ T.K. sah sie an und hob eine Augenbraue. „Und du glaubst das?“ „Du etwa nicht?“ „Nee. So naiv bin ich nicht.“ Kari seufzte und ließ ihn los. „Du solltest ihm mal mehr vertrauen. Du gibst ihm ja gar keine Chance, sich zu erklären.“ „Ich habe ihm schon genug Chancen gegeben, aber er macht sie alle kaputt, weil er nur an sich denkt.“ „Aber er wollte sich heute mit euch treffen, um euch etwas zu erzählen, was er ausgefressen hat. Das ist doch an sich gut. Und wenn er das schon macht, dann solltet ihr ihm auch zuhören und ihn ausreden lassen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an. Erst erwiderte er ihren Blick skeptisch, doch dann wandte er sich wieder ab, stellte die Teetasse auf den Boden und ließ sich nach hinten auf ihr Bett fallen. „Er gehört doch genauso zu deiner Familie wie deine Eltern“, sagte Kari und drehte sich zu ihm um. „Also kämpf‘ um ihn.“ „Ich glaube, du stellst dir das viel zu einfach vor“, murrte er. „Ich denke nur, dass man gerade in einer Familie verzeihen können und immer zusammenhalten sollte“, erwiderte sie und beugte sich über ihn. Einen Augenblick lang musterte er sie. Dann lächelte er leicht. „Danke.“ „Wofür?“, fragte sie verwirrt. „Einfach, dass du da bist.“ Er legte eine Hand in ihren Nacken, zog sie zu sich herunter und küsste sie.   _   Nach der Arbeit verließ Sora das Café und überlegte, was sie machen sollte. Mimi hatte sie dazu gedrängt, sich um Matt zu kümmern, obwohl sie protestiert hatte. „Warum, glaubst du wohl, hat er sich ausgerechnet hier, wo du arbeitest, mit seiner Familie getroffen? Er will, dass du dich um ihn kümmerst“, hatte sie gesagt und schließlich hatte Sora beschlossen, zumindest mal nach ihm zu sehen und ihn zu fragen, ob er reden wollte. Doch wo würde er jetzt sein? Mimi hatte ihr erzählt, dass er seine Sachen packen und eine Unterkunft zum Schlafen suchen wollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einen seiner Freunde darum gebeten hatte, ihn aufzunehmen. Dafür war er zu stolz. Dennoch schrieb sie eine schnelle SMS an Tai und fragte ihn, ob er etwas von Matt gehört hatte. Wenige Minuten später erhielt sie eine verwirrte Antwort, in der er ihr aber ihre Vermutung bestätigte. Wo konnte er noch sein? Vielleicht im Proberaum? Ja, das war möglich. Er hatte sich schon öfter dorthin verzogen, wenn er mal Stress hatte. Vielleicht war er jetzt auch dort und es war zumindest einen Versuch wert. Mit dem Bus fuhr Sora zu der richtigen Station, stieg aus, lief auf den Proberaum zu und konnte schon auf dem Gang dorthin die vertrauten Gitarrenklänge hören. Anscheinend behielt sie mit ihrer Vermutung Recht. Vorsichtig betrat sie den Raum und spähte hinein. Er saß auf einem Stuhl und hatte ihr den Rücken zugewandt. Er sang nicht, sondern spielte nur eine Melodie auf seiner Gitarre. Sora räusperte sich, sodass die Töne verstummten und er sich umdrehte. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, fragte er verwundert. „Weibliche Intuition“, antwortete Sora. „Weibliche Intuition ist echt unheimlich.“ „Wie geht’s dir?“, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort, auf seiner Gitarre zu spielen. „Bei uns gibt es heute zum Abendessen gebratenen Lachs und meine Mutter macht immer viel zu viel davon. Meistens müssen wir was wegschmeißen, weil nicht alle Reste in den Tiefkühlschrank passen. Hätten wir doch nur einen dritten Esser…“ Wieder drehte Matt sich zu ihr um und hob eine Augenbraue. „Ich bin kein mittelloser Penner.“ Sora seufzte. „Ach, komm schon, Matt. Bleib‘ heute Nacht bei mir. Du solltest nicht ganz allein in diesem düsteren Loch schlafen.“ „Hey, dieses düstere Loch ist der Proberaum der legendären Tokyo Rebels“, erwiderte er in gespielter Empörung. „Die bald nur noch zu dritt sind, weil ihr Sänger von einer Straßengang ausgeraubt und ermordet wurde“, fügte Sora hinzu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast eine blühende Fantasie“, sagte er belustigt. „Bitte, Matt. Nur für eine Nacht und morgen kannst du dann in Ruhe überlegen, wie es weitergeht. Bestimmt findet sich etwas und du musst nicht hier einziehen.“ Er zögerte. „Aber… wäre das denn für deine Mutter in Ordnung?“ „Natürlich, wieso sollte das nicht in Ordnung sein?“   _   „Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben schon mal so guten Lachs gegessen habe“, seufzte Matt, als er sich mit vollem Bauch auf dem Futon niederließ, den Sora in ihrem Zimmer für ihn ausgebreitet hatte. „Siehst du? Du hättest es bereut, wenn du nicht hergekommen wärst“, erwiderte sie und setzte sich neben ihn. Sie trugen beide schon ihre Schlafsachen: Shorts und ein T-Shirt. Matt war müde, doch er wusste, dass er nicht in der Lage sein würde, zu schlafen. Zu aufwühlend war die Situation heute gewesen. „Danke, dass ich hier übernachten kann“, sagte er ernst und sah sie an. „Du kannst gern auch noch ein paar mehr Nächte bleiben. So lang wie nötig eben“, erwiderte sie verlegen lächelnd. „Das ist wirklich kein Problem.“ „Danke“, wiederholte er. „Wie willst du jetzt weitermachen? Willst du noch mal versuchen, mit deiner Familie zu reden?“, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ob das einen Sinn hat. Vielleicht würde meine Mutter mir zuhören, aber T.K. und mein Vater? Vielleicht versuche ich auch einfach, mich bis April irgendwie durchzuschlagen und dann bin ich ja eh weg.“ „Aber… was, wenn das Kind wirklich von dir ist?“, fragte sie leise und ohne ihn anzusehen. Matt seufzte tief. „Dann werde ich natürlich versuchen, sie zu unterstützen und für das Baby da zu sein.“ Sie nickte mit gesenktem Kopf und sah plötzlich so niedergeschlagen aus, wie er sich fühlte. Kein Wunder. Wie musste es sich wohl anfühlen, wenn der Junge, in den man verliebt war, ein Kind mit einer anderen bekam? Doch das hatte in diesem Fall nichts zu bedeuten. „Hey“, sagte er leise und strich ihr mit der Hand ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er ließ seine Hand an ihrer Wange verweilen, sodass sie den Kopf hob und ihn ansah. Sie sahen sich in die Augen, keiner der beiden wandte den Blick ab. Matt spürte sein Herz schneller schlagen, als sie ihn so ansah. Tief versunkene Gefühle traten wieder an die Oberfläche; Gefühle, von denen er dachte, sie wären fort. Langsam näherte er sich ihrem Gesicht. Sie machte keine Anstalten, zurückzuweichen, sondern kam ihm entgegen. Zaghaft berührten sich ihre Lippen, vereinten sich zu einem zärtlichen Kuss, der so intensiv war, dass Matt die Umgebung um sich herum völlig ausblendete. Er schloss die Augen und gab sich ganz seinen Gefühlen hin, obwohl er wusste, dass es nicht richtig war. Doch es fühlte sich so unglaublich richtig an. Sie rutschte näher an ihn heran, legte ihre Hände in seinen Nacken und zog ihn so noch näher an sich. Seine Hände glitten über ihre Seiten, als sie vorsichtig rittlings auf seinen Schoß kletterte und ihren Körper an seinen presste. Er spürte, wie sehr sein Körper auf sie reagierte. Seine Hände schoben sich unter ihr T-Shirt und strichen sanft ihren Rücken hinauf. Er fühlte, wie die feinen Härchen auf ihrer weichen Haut sich unter seiner Berührung aufstellten. Er konnte ihre Rippen spüren, die noch immer deutlich hervortraten, ihre Schulterblätter, die zu kantig wirkten. Er ließ seine Hände sinken und löste den Kuss. Ein wenig enttäuscht öffnete sie die Augen und sah ihn an. „Das ist nicht richtig“, flüsterte er. „Ich weiß“, entgegnete Sora atemlos. „Ich suche mir morgen einen anderen Platz, okay?“, sagte er. Mehr als eine Nacht bei Sora zu verbringen, würde ihnen beiden nicht guttun. „Ja, aber bitte nicht im Proberaum.“ „Keine Angst. Ich finde bestimmt eine nette Parkbank.“ „Matt!“ Er lächelte schief. „War nur ein Witz.“ „Gute Nacht. Schlaf schön.“ Sie hauchte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen, bevor sie in ihr eigenes Bett kletterte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)