Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Kyrie legte ihr Religionsbuch zur Seite und hörte auf, darin zu lesen. Sie würden bald die ersten Prüfungen haben. Sie durfte darin nicht versagen. Das wäre ziemlich peinlich. Aber genauso unwillkommen wäre es, wenn sie im Himmel nicht ihren Arbeiten nachginge. Es war halb zwölf. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, auf den Ruf zu antworten. „An diesem Tag solltest du noch auftauchen“, wiederholte sie Nathans Worte, wobei sie auch seine Stimmlage imitierte, „Na dann … sollte ich vielleicht losgehen?“ Sie erhob sich von ihrem Lernstuhl in ihrem kleinen Zimmer, wobei sie die Bücher ordentlich stapelte. Bevor sie das Zimmer verließ, schaute sie noch kurz auf die Feder, die sie neben ihrem Bett platziert hatte. Die erste Feder, die sie verloren hatte. Ihr Glücksbringer, wie Nathan gesagt hatte … Ob der ihr auch Prüfungsglück bescheren würde? Daraufhin ging sie die Treppen leise nach unten. Der Fernseher lief noch. Also war noch jemand wach. Sie machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter am Sofa saß und ihr Vater daneben lag. Ein lieblicher Anblick. „Ich gehe noch in den Himmel“, flüsterte Kyrie, wobei sie sich an die Wand schmiegte, die das Wohnzimmer von der Eingangshalle trennte – es war keine Tür vorhanden. Ihre Mutter sah müde zu ihr auf. „Jetzt noch?“, wisperte sie träge. Sie musste kurz vor dem Einschlafen sein. Sie nickte bestimmt. „Nathans Anweisung“, erklärte sie ruhig. Plötzlich trat ein schelmischer Ausdruck in die Augen ihrer Mutter – und durch das Licht des Fernsehers, der die einzige Lichtquelle im Raum war, zeichnete sich ein amüsiertes Lächeln auf deren Mund ab. Warum? „Natürlich, Liebes“, hauchte sie, „Geh ruhig! Bis morgen. Kommst du am Morgen zum Frühstück?“ Guter Punkt. Sie würde nicht schlafen müssen, falls Nathan vorhatte, eine ganze Einheit einzurichten, weil sie die Nacht dann im Himmel verbrächte – und der würde sie von Müdigkeit erlösen. Aber sie bezweifelte es. Vermutlich war der Ruf lediglich ein Übungsruf gewesen. Doch trotzdem hatte sie einige Fragen. Hoffentlich war Nathan darauf vorbereitet … Sie schüttelte den Kopf. „Und hinzubringen braucht ihr mich auch nicht … Nur Abholen wäre nett …“ Sie lächelte. „Aber ihr könnt euch ruhig mehr Zeit lassen!“ Es war angenehm mit Ray zu sprechen … und in letzter Zeit – so schien es ihr – kamen ihre Eltern immer früher an. Ihre Mutter kicherte leise, aber sehr belustigt. „Geh jetzt, Liebes. Er wartet bestimmt schon.“ „Danke sehr. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um, zog sich die weißen Stiefel an und nahm eine Jacke mit. Es war dunkel und etwas kühl. Sobald sie die Flügel ausstreckte, würde sie die Jacke liegen lassen müssen … Na ja. Sie würde morgen sowieso wieder nach oben gehen – morgen war endlich Mittwoch! Sie würde Thi und Liana und Deliora wieder sehen! … Und Joshua … Joshua … Sie spazierte durch den kleinen Garten vor ihrem Haus und schloss das Gartentor hinter sich, als sie auf die Straße trat. … Joshua warf auch so viele Fragen auf … Vor allem was ihn und Nathan betraf … Sollte sie erst noch Informationen von Thi und den anderen einholen oder aber sofort Nathan darauf ansprechen? Mit Joshua wollte sie nicht alleine reden, aber … Ja. Ja – sie würde gleich heute Nacht Nathan dazu befragen. Würde sie! Nach einem kurzen Fußmarsch, in dem sich zeigte, dass die Jacke kein Fehler war, bog sie in das leer stehende Hochhaus ein, welches vor vielen Jahren einmal ein Wohnhaus gewesen war. Sie schaute sich kurz um, nur um festzustellen, dass kein Mensch in der Nähe war. Danach erklomm sie die Stufen. Achtzehn Stufen pro Stockwerk. Bei zehn Stockwerken … Schwer atmend erreichte sie die hundertachtzigste Stufe … Zum Glück besaß der Himmel Heilfähigkeiten … ansonsten würden nicht sehr viele Engel auf die Erde kommen und zurück … Treppen waren schlichtweg anstrengend! Nach einer kurzen Atempause entledigte sie sich der Jacke und versteckte sie hinter einem Sockel, der auf dieser ehemaligen Dachterrasse angebracht war. Die Dachterrasse war groß und breit, bestand vollkommen aus grauem Beton und wirkte heruntergekommen. Passend um in den goldenen Himmel aufzusteigen. Kyrie konzentrierte sich, berührte ihr Licht und streckte ihre Flügel aus. Sie fühlte sich erfüllt und stark mit diesen kräftigen Schwingen auf ihrem Rücken, die so viel Licht und Energie bedeuteten. Ihr Wunsch war es, dem Ruf zu folgen und somit in den leuchtenden Himmel zu gelangen … In den Himmel … Sie wollte die goldene Treppe in den Himmel hinauf gehen! Und schon spürte sie, wie sie sich dematerialisierte und auf den Wolken zum Stehen kam. „Und wie finde ich jetzt Nathan?“, fragte sie sich, als sie bemerkte, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie jetzt eigentlich gehen sollte. Der Himmel war wirklich groß, wenn man nicht wusste, was man wollte. Sie flog mit gespreizten Flügeln über die goldenen, leuchtenden Wolken hinweg, in wunderschönem Licht, das einen niemals erkennen ließ, ob es auf der Erde Tag oder Nacht war, das gleichmäßige Licht des Himmels, das sie in diesen zwei Wochen so sehr lieben gelernt hatte … Darin zu baden, Zeit mit ihren Freunden zu verbringen … so war das Leben eines Engels. So schön. So gleichmäßig … Tschag. Kyrie fühlte, dass sie gegen etwas gestoßen war. Sie speckte ein wenig zurück, gewann ihre Balance jedoch sehr schnell wieder und konnte sich dadurch in der Luft halten. Sie schüttelte den Kopf, um die Verwirrung loszuwerden und starrte ihr Gegenüber an. Eiskalte, schwarze Augen trafen auf ihre. „Joshua!“, rief sie überrascht aus, „Hallo – guten Tag … ähm … Hallo …“, begrüßte sie ihn daraufhin unsicher. Sie hatte noch nie mit ihm alleine gesprochen! Warum bloß er? Wo sich doch jeden anderen Engel hätte über den Haufen fliegen können – warum gerade ihn? „Tut mir leid, ich wollte dir nicht im Weg sein …“, begann sie, als er sich nicht regte, „Hab ich dir wehgetan?“ Sie musterte ihn kurz besorgt. Er wirkte unverletzt. Daraufhin schüttelte er leicht den Kopf, wobei er die Augen beruhigend schloss. „Nein. Ich war unachtsam.“ Er pausierte für einen Moment. „Es tut mir leid.“ „Ach – keine Ursache! Ich war ja auch mit den Gedanken woanders und- …“ Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, dass Joshua bereits wieder in Bewegung war – strikt an ihr vorbei. „Äh!“, rief sie aus, „Einen Moment … bitte!“ Joshua verharrte in der Luft, ohne sich zu ihr umzuwenden. „Weißt du, wo Nathan ist? Er hat mir einen Ruf erteilt und …“ „Dann weißt du, wo er ist“, unterbrach er sie ruhig und überaus sachlich – ohne ihr in die Augen zu sehen. „A-Ach ja?“, fragte sie verwundert und flog ein wenig in seine Richtung. Sie schaute ihn so fragend an, wie es ihr möglich war. „Horche in dich hinein und finde heraus, woher der Ruf kam“, wies er sie informativ an, „Dann weißt du es.“ Er warf ihr einen kurzen, trockenen Blick zu. … In sich selbst hineinhorchen also? Wie sollte das möglich sein? Sie wusste ja auch nur, dass der Ruf von Nathan kam, weil sie sonst niemand rufen würde … Hätte sie also genauer hingehört, würde sie es jetzt wissen? Joshua seufzte plötzlich. „Der Ruf bleibt in dir. Er überreicht dir einen kleinen Teil der Magie des Absenders. Durch diesen kleinen Teil kannst du etwas über den Aufenthaltsort des Absenders herausfinden. Dafür ist er gedacht.“ Hatte sie jetzt so dumm dreingeschaut, dass er …? Aber einen kleinen Teil … Sie hatte also Nathan in sich. Gut … und wo fand sie Nathan? Sie versuchte es auf die Weise, auf die sie ihre eigene Magie ebenfalls finden konnte. Zu diesem Zweck schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich auf ihren Körper. Auf das Licht in sich, das sie erleuchtete, bereicherte … dieses Licht, das alles in ihr betraf … Doch da … Da war etwas anderes – etwas … Es war ebenfalls Licht. Aber ein anderes Licht. Sie vermochte den Unterschied nicht genau zu beschreiben, doch etwas störte sie daran. War die Intensität anders? Die Farbe …? Sie versuchte, auf dieses Licht zuzugreifen, es an sich zu nehmen und zu benutzen. Sie war kurz davor, es anzufassen, als ihr Körper plötzlich erneut zuckte – auf dieselbe Weise schmerzte er, wie er bereits bei Aussendung des Rufs geschmerzt hatte. Ja, also war es der Ruf … Und wie …? Plötzlich fühlte sie, dass sie in eine bestimmte Richtung gehen musste. Sie wusste zwar nicht ganz genau wohin, aber sie erhielt irgendwoher eine Vorstellung von ihrem Ziel. Es war eher klein und eingeengt und lag genau zwei Treppen über ihr und dann einige Maße geradeaus. Da war er also … Sie löste ihre Konzentration auf. „Danke für deine Hi- …“ Sie stoppte ihre Danksagung, als sie bemerkte, dass Joshua verschwunden war … Jetzt hatte sie sich gar nicht bedankt … Kyrie seufzte. Wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, würde sie sich bei ihm bedanken. Ja. Also morgen – wenn alles gut ginge. Sie machte sich auf den Weg zur nächsten Treppe – und plötzlich bemerkte sie, dass es das erste Mal war, dass sie alleine durch den Himmel wanderte. Eigentlich hatten sie immer diesen einen Treffpunkt gehabt – zu jenem war sie gekommen und dort geblieben, bis jemand mit ihr woanders hingegangen war. Und jetzt … war sie ganz allein … Wie aufregend! Und so würde es dann sein, wenn sie keine Schülerin mehr war? Einsame Spaziergänge im goldenen Licht …! Sie würde alles erkunden können! Sie freute sich schon sehr auf diesen Tag! Darauf endgültige Freiheit genießen zu können - ihre Freunde immer und überall aufsuchen zu können ...! Uneingeschränkt durch die Welt zu kommen ... Wunderbar! Sie schaute sich um. In einiger Entfernung flog eine kleine Gruppe Engel vorbei. Sie fragte sich, was diese Engel den ganzen Tag über trieben. Jene, die den Rängen nicht angehörten … Einige waren wie Thi in einem Verein und trainierten dort – ähnlich wie auf der Erde … Aber die anderen? Liana schien ja spaßhalber alle Gerüchte des Himmels aufzuschnappen ... Über Joshua hatte sie keine Informationen erhalten ... Und mehr ranglose Engel kannte sie nicht. Sie erklomm die beiden Stiegen und wanderte geradeaus – als sie plötzlich vor dem riesigen, goldenen Turm mit den meisten Verzierungen, die sie jemals gesehen hatte, stand. Das Schloss der Ränge. Ihr Blick wanderte nach oben – instinktiv. Der Ruf teilte ihr mit, dass sie weiter nach oben musste. Nathan hatte ihr erzählt, dass man in den obersten Stockwerken ziemlich einsam war, weil dort nur Engel mit gewisser Stärke Zutritt hatten, da es sehr viel Energie brauchte, nach dort oben zu kommen. Sie hatte dieses Magiearsenal leider nicht. Das wusste sie. Aber wie würde sie jetzt zu ihm kommen? Vermutlich war er sowieso in einer Besprechung mit Acedia … Er sprach mit einer Todsünde – persönlich! Sie selbst war ja ganz überwältigt gewesen, als sie die Sieben auf einmal gesehen hatte … Aber mit ihnen privat zu sprechen! Vermutlich würde ihr Vater dafür sterben … Wobei er schon einmal öfter Kontakt mit ihnen gehabt hatte als sie. „Du kannst ihn ebenfalls rufen“, ertönte eine Stimme hinter ihr. Sie wandte sich überrascht um – Joshua! „Du bist wieder da?“, wunderte sie sich, „Danke für vorhin. Es hat mir sehr geholfen – aber du bist einfach verschwunden … Nun ja …“ Sie lächelte freundlich. „Danke.“ „Ruf ihn“, fasste er seinen Tipp zusammen, „Dann wird er auftauchen.“ „Suchst du ihn ebenfalls?“, wollte Kyrie verdutzt wissen – weshalb sonst sollte er so ambitioniert sein, ihr zu helfen? Er konnte sie immerhin nicht wirklich leiden. Als Antwort zuckte der Dunkelhaarige lediglich mit den Schultern. Kyrie ließ sich einen Moment Zeit, ehe sie eine weitere Frage stellte: „Wie benutze ich den Ruf?“ Die trockene Gelassenheit auf Joshuas Gesicht wich für einen kurzen Moment einer Grimasse, die aussagte, dass er nicht glaubte, dass Kyrie irgendetwas wusste. Seine Stimme hingegen war wieder völlig glaubwürdig und informativ, als er ihr berichtete: „Du musst dich konzentrieren und deiner Magie den Wunsch unterbreiten, dass du Nathan sehen möchtest.“ Er machte eine kurze Pause. „Je dringender dein Wunsch ist, desto stärker verspürt er die Nachricht.“ Kyrie nickte. Nathan hatte Kyrie bereits vor Stunden gerufen. In der Mittagspause, wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte. Sie hätte also durchaus Zeit haben müssen. Außer sie wollte nicht kommen. Aber weshalb sollte sie das Kommen verweigern? Höchstens, um zu beweisen, dass sie sich die Stundenanzahl gemerkt hatte, die man Zeit hatte, um auf eine bestimmte Art des Rufs zu reagieren – wenn das so war, würde er ihr demnächst einen Magneten aufhalsen! Er saß in Acedias Büro – wie sooft – und sortierte ihre liegen gelassenen Sachen. Er konnte vermutlich so viel er wollte aufräumen – es würde jeden Tag wieder so unordentlich sein, wenn er zurückkam. Acedia war einfach eine Chaotin – und daran bemerkte man, dass man, um eine Todsünde zu sein, keinen tugendhaften Charakter benötigte. Eigentlich war Nathan hergekommen, um Acedia zu berichten, dass Luxurias Verschwinden nicht an die Öffentlichkeit geraten war – jeder dachte, sie wäre noch hier. Also war es doch ziemlich gewiss, dass sie sich bloß eine Auszeit nahm. Wieso auch nicht? Todsünden hatten ein ziemlich stressiges Leben – natürlich nicht so stressig, wie das ihrer Assistenten. Man mochte zwar meinen, diese schlimmen Fälle, die die Sünden zu behandeln hatten, wären nicht allzu häufig, aber da irrte man sich gewaltig! Immer wieder kamen Halbengel zur Welt – vor gut sechshundert Jahren gab es einen Boom: vier Kinder in einer Nacht! ... hatte er gehört – und Sie mussten bei Engelsversammlungen anwesend sein, sie hielten untereinander Konferenzen ab … Wenn ein Engel verbannt werden musste, wurde das ebenfalls von ihnen übernommen – und mit Sin konnten auch nur sie sprechen! Falls zwei Engel Streit hatten und sich ernsthaft verletzten oder falls sie sich versehentlich, aber gefährlich verletzten, wurden die Strafen ebenso von den Todsünden ermessen – auch wenn keine Verletzung blieb. Und wenn jemand Erinnerungen besaß, die er loswerden wollte oder musste, dann waren sie auch für das Blockieren zuständig. Doch, da sammelte sich schon ziemlich etwas an. Und er war der Assistent. Zu ihm rannten die Leute dann, sodass er Acedia ausrichten konnte, dass sie dort und dann dafür anwesend sein musste. Er fragte sich, wie lange Acedia Assistentin gewesen war. Und ob sie es auch so hart gehabt hatte – na ja, zumindest hatte sie keinen Halbengel zu betreuen gehabt. Nicht, dass Kyrie ihm besonders viel Arbeit machen würde – er liebte es, mit ihr Zeit zu verbringen –, aber trotzdem … Eine Arbeit weniger bedeutete meistens eine Stunde Schlaf mehr! Plötzlich verspürte er ein heftiges Ziehen. Ein richtiger Krampf bildete sich in seinem Körper – es fühlte sich an, als würde sämtliches Glied sich doppelt und dreifach verknoten und sich dann noch einmal verknoten! Dieser … Schmerz … Würde er sterben? Würde er verrecken? Er konnte sich nicht mehr bewegen. Es war wie eine Lähmung – eine Lähmung, die ihn ermahnte, dass er sofort dieses Stockwerk zu verlassen hatte und auf den Boden der Tatsachen zurückkehren sollte. So ein starkes Ziehen. Nein – kein Ziehen. Ein Reißen. Scheinbar hatte Kyrie herausgefunden, wie man den Ruf verwendete. Das wollte er ihr eigentlich gar nicht so richtig beibringen – zumindest noch nicht! Das Mädchen hatte noch keinerlei Feingefühl! Wenn er im Moment geflogen wäre, wäre er wie eine tote Kartoffel einfach abgestürzt! Er wäre tot, Mann! … Fast zumindest. Wenn man im Himmel eines unnatürlichen Todes sterben könnte. Aber das hieß wohl, dass sie dem Ruf nun nachgekommen war. Und er musste sofort springen? Das, was sie veranstaltet hatte, war zwar noch lange kein Magnet gewesen, doch es war bereits deutlich, dass sie ungeduldig herumstand. „Tut mir leid, Büro, aber du musst warten“, verabschiedete er sich. Er verließ den abgeschlossenen, fensterlosen Raum durch die massive Goldtür, welche er sorgsam hinter sich schloss. Nicht, dass hier jemand etwas stehlen würde … Die anderen Assistenten hatten genug zu tun und die Todsünden trauten einander. Mussten einander trauen – ansonsten wäre ihre Macht geschwächt. Engel waren keine Dämonen. Und Misstrauen war eine Kunst des Bösen. Etwas, was kein Rang in sich tragen sollte. In etwa so wie Herzschmerz. Dass man Herzschmerz verdrängen lernte, war auch der Grund dafür, dass Assistenten eine Liebesbeziehung untersagt war – immerhin mussten sie so ihren Frust bekämpfen, sodass sie als Todsünden – oder Wochentage oder was auch immer – dann ihre Gefühle unter Kontrolle hatten und rein und tugendhaft sein konnten – wie richtige Engel es sein sollten. Gefühllose Richter der Gerechtigkeit mit einem sachlichen Blick auf sämtliches Unrecht! Sie mussten unparteiisch und fair sein. Anstatt all die Treppen nach unten zu steigen, marschierte Nathan auf das Fenster im Gang zu und öffnete es. Nathan hatte den Trick von Acedia gelernt. Keinen störte ein offenes Fenster hier oben – wer sollte auch hinaufkommen können? Er kletterte auf das Fenstersims und spreizte die Flügel. Und Absprung! Er fiel nach unten, da er die Flügel nicht als Fallschirme verwendete, und sauste auf den Wolkenboden zu. Irgendwie erinnerten die Wolken auf diese Weise ganz und gar nicht an Schäfchen. Er breitete die Flügel richtig aus und ließ sie schlagen – und plötzlich sauste er wie ein Engel nach unten. In einem gleichmäßigen Flug – voller Anmut und Eleganz. Nathan brauchte gar nicht lange nach der Verdächtigen zu suchen. Kyrie stand genau dort, wo er sie erwartet hatte. Ihr Ruf war wirklich zu genau. Als er den Boden berührte, wandte sie sich erschrocken zu ihm um – scheinbar hatte sein Ruf auf die plötzliche Nähe reagiert. Während sich seine Schülerin schwungvoll umwandte, erblickte Nathan Joshua. Joshua. Was machte von allen Engeln genau Joshua hier? Er und Kyrie konnten sich doch nicht leiden! Wieso war Joshua dann bei Kyrie? War ihm aufgefallen, dass Nathan ihn gemieden hatte? Hatte er Kyrie ausgenutzt, um an ihn heranzukommen? Wie gemein. „Hey Kyrie!“, sagte er locker und nickte Joshua dann freundlich grinsend zu, „Joshua!“ Seiner Stimme war seine Missgunst keineswegs irgendwie anzuhören. Negative Gefühle musste man aus seinem Erscheinungsbild verbannen. „Du bist wirklich gekommen!“, rief Kyrie erfreut – aber auch sehr überrascht – aus, „Ich habe dich gerufen!“ Sie strahlte wie ein Kind, das seine Süßigkeiten alleine auspacken konnte und plötzlich einen Ozean von Ideen vor sich hatte, wie es diese Gabe nutzen konnte. Sie war einfach zu niedlich. Plötzlich ergab es Sinn, dass sie ihn rufen konnte. Joshua musste ihr geholfen haben. Wollte er jetzt die Lehrerkonkurrenz spielen? Oder einfach nur helfen? Oder sein Ziel schnellstmöglich erreichen? „…meinen etwas stärker platzieren … Wie ist es gelaufen?“, wollte Kyrie von ihm wissen. „Was?“, fragte Nathan – leicht verwirrt. Verdammt. Er hatte sie ausgeblendet. Er durfte nicht so auf Joshua fixiert sein! Sie wirkte niedergeschlagen. „Habe ich gestört?“, fragte sie unsicher, „Ich dachte, du wolltest, dass ich die Zeit ausnutze, die du mir gegeben hast …“ Er riss sofort beschwichtigend seine Hände nach oben und gestikulierte wild. „Äh – nein! Keine Bange! Du hast alles richtig gemacht – ich meine nur … Also … Was … hast du gesagt?“ Sie blinzelte irritiert. „’Ich habe auch deinen Ruf gespürt. Es hat etwas wehgetan. Ich wollte meinen etwas stärker platzieren … Wie ist es gelaufen?’, habe ich gesagt …“, wiederholte sie stirnrunzelnd für ihn. „Oh – äh … Es hat ziemlich fest wehgetan. Meiner war ein weicher Stoß … ein Ziehen in die richtige Richtung und deiner war …“ Er suchte nach den richtigen Worten. Kyrie sah ihn erwartungsvoll an. „Ein Stoß in die Rippen, der dazu führt, dass man ein Hochhaus hinunter fällt und am Asphalt aufschlägt und danach elendig verblutet!“, vollendete er seine Rede, „Also falls dir jemals etwas dieser Art passieren sollte – benutz den Ruf. Jeder wird dir zu Hilfe eilen … aber wenn ich bloß runter kommen sollte, mach es weicher“, riet er ihr, wobei er Joshua einen kurzen Blick widmete. Was hatte dieser Mann ihr bloß erzählt? „Oh! Tut mir furchtbar leid!“, sagte sie schnell, wobei sie merklich erblasste, „Ich wollte nicht, dass du dich fühlst, als würdest du sterben!“ Sie schlug die Hände aufeinander und verbeugte sich, „Es tut mir leid!“ „Keine Sorge! Dafür benötigt man Feingefühl.“ Er lächelte sie freundlich an. Sie richtete sich wieder auf. „Hast du Zeit zu üben?“, wollte sie von ihm wissen. Er nickte. „Ja. Aber der Ruf ist nur auf Entfernung möglich. Wenn ich es jetzt probieren würde, würde er sich selbst aufheben.“ „Weshalb?“, verlangte sie zu erfahren, wobei ihre Augen wieder diesen wissbegierigen Ausdruck annahmen, der ihm das Gefühl gab, sie würde jedes seiner Worte einzeln vertilgen. „Weil man sich, sobald man den anderen richtig mit den anderen Sinnen wahrnimmt, die Magie zurückholt. Wenn ich also vor dir stehe, nehme ich den Ruf wieder zurück.“ Sie nickte bestätigend. „Klingt logisch.“ „Gut“, stimmte er lächelnd zu, „Joshua? Weshalb bist du da?“ „Ich wollte mit dir reden“, sagte der andere Mann trocken, „Aber lasst euch von mir nicht stören.“ Für andere mochte er vielleicht gleichgültig klingen – für ihn jedoch war seine Verletztheit und Trübseligkeit sichtbar wie seine Hand. Er war also traurig, weil Nathan ihn so lange ignoriert hatte? Das tat ihm leid, aber … Er musste Herzschmerz bekämpfen, okay?! Anstatt, wie geplant, zu sagen: „Gut, dann bis morgen“, hörte er sich selbst sagen: „Hast du Lust, mit mir zusammen die Stunde zu halten?“ Joshuas Augen weiteten sich in etwa genauso überrascht wie Kyries. Doch die Augen des Mannes hielten ihn in seinem Bann. Er freute sich über das Angebot. Schön. Wirklich … schön … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)