Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Zwei … es gab tatsächlich nur zwei von ihnen? Eine wahre Rarität … Aber scheinbar hatten die menschlichen Eltern wirklich genug Sorgen um ihren Ruf. Sie wollten einfach ein normales Leben führen … mit einem normalen Kind. „Es werden jährlich in etwa hundert Halbengel geboren – also recht wenig im Vergleich. Alle drei Tage vielleicht eines …“, hatte Nathan ihr erklärt, „Und davon lehnen mindestens achtundneunzig im Vorhinein bereits ab. Sie wollen ihr Leben behalten – und das ihres Kindes vor der Unnatürlichkeit behüten. Ihnen wird die Erinnerung an Engel, die sie besucht haben, vollends gestrichen.“ Das war auch der Grund, weshalb man die Todsünden schickte. Man brauchte sieben starke Engel, um das Gedächtnis eines Menschen zu löschen. Die anderen Ränge wären dafür noch zu schwach – und Sin und Gott zu wertvoll. Also mussten die Todsünden diese Fragen stellen und auf die Antworten warten – gelöscht wurden auch die Erinnerungen jener, die dieser Frage als Erwachsener - wie sie - ausgesetzt waren. „Von den restlichen fünf sind die Eltern zuversichtlich, dass ihre Kinder sich selbst entscheiden können – und mittlerweile bist du die Einzige seit Jahren, die wieder zugesagt hat. Das verlangt Mut – Respekt.", hatte er kommentiert. Sie hatte sich über das Kompliment gefreut. "Aber in den letzten Jahrhunderten hat sich sogar das gewandelt", meinte er, "Den Menschen geht es so, wie sie es haben, gut genug - sie glauben, ohne Engel auszukommen. Darum lehnen jetzt häufig alle hundert ab." Er hatte irgendwie traurig gewirkt. "Aber Ausnahmen wie du bestehen zum Glück weiterhin." Mittlerweile wartete sie wieder auf der Mauer. Seit einer Woche kam ihr Vater aus irgendeinem seltsamen Grund immer etwas später – also musste sie länger warten. Aber Ray war eine nette Gesellschaft. Und er hatte sich bisher sechsmal zu ihr gesellt und mit ihr gesprochen. „Ja, ich wohne wirklich nicht weit entfernt“, sagte der junge Mann, der sich lässig an die Mauer gelehnt hielt, eine Hand im Sack seiner blauen Jeanshose versteckt gehalten. Er grinste sie an. „Aber eigentlich gäbe es zu meinem Haus einen kürzeren Weg.“ Sie legte den Kopf schief. „Warum gehst du den langen Weg?“, wollte sie dann von ihm wissen. „Weiß auch nicht – vielleicht mag ich es nicht, in Gesellschaft zu essen?“, schätzte er. Und er klang wirklich, als würde er das lediglich vermuten. „Irgendwie macht das keinen Sinn …“, gab sie zu bedenken – lächelte ihn dann aber an. „Hey, ich wollte dich eigentlich was ganz anderes fragen“, schoss er dann hervor. Seine blauen Augen fixierten sie entschlossen. „Was denn?“, wollte sie zaghaft wissen. Was war ihm jetzt schon wieder eingefallen? „Was studierst du eigentlich?“, fragte er dann bestimmt. Und dafür machte er so einen Aufwand? „Theologie“, antwortete sie ihm daraufhin. Er schien einerseits enttäuscht, andererseits aber auch glücklich. Wie jemand, der im Lotto gewonnen hatte und dann den Anruf erhalten hatte, dass sein Lieblingsonkel gestorben war. „Wieso Theologie?“, wollte er von ihr wissen, wobei er die Arme streng verschränkte, „Ich habe mir schon so etwas gedacht – Kyrie ist immerhin kein gängiger Name, aber … Haben dich deine Eltern gezwungen?“ Sie sah ihn verwirrt an. „Nein? Wie kommst du darauf?“, entgegnete sie leicht empört, „Theologie ist ein Fach wie jedes andere – die Verbindung zu Gott aufrechtzuerhalten, ist sehr wichtig. Und je mehr man über diese abstrakten Begebenheiten weiß, desto eher kann man sich einen Reim auf die Wirklichkeit machen“, erklärte sie ihm – wohl schnippischer als sie das eigentlich vor hatte. Aber er klang so … ablehnend. Und mittlerweile war Gott gar nicht mehr abstrakt! Er existierte wirklich – wie die Engel. Nur dass Menschen das niemals erfahren durften und würden – was ausgesprochen schade war. Aber die Realität lag nun einmal so. „Wenn du das glaubst …“ Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu – nach einer Weile des Schweigens nahm er dann das Reden wieder auf: „Sag mal, Kyrie, glaubst du an Gott?“ Die Frage überraschte sie doch. Sie hatte ihm doch gerade erklärt, was sie studierte … „Ja“, antwortete sie bestimmt, „Ich glaube an Gott“, bestätigte sie ihm, „Du nicht?“, mutmaßte sie daraufhin. Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe aufgehört an ihn zu glauben – aber Kyrie … Wenn es wirklich einen Gott gäbe … warum existiert dann so viel Leid und Böses auf dieser Welt?“ „Dämonen“, antwortete sie ohne nachzudenken, „Dämonen … sie brechen durch einen Schutzwall hindurch, weißt du?“, erörterte sie, „Diesen Schutzwall hat Gott aufgebaut. Und er beschützt uns dadurch, indem er die böse Macht draußen hält. Aber er ist alleine – und darum sickern hin und wieder böse Gefilde durch … Doch ihm einen Vorwurf zu machen, wäre nicht gerecht.“ Ray sah sie an, als wäre sie eine Außerirdische. „Was für einer Religion gehörst du bitte an?“ Sie lachte kurz. „Der einzigen, die es gibt?“, vermutete sie, „Sie … sie wird nur ein wenig anders gelehrt“; gab sie zu, „Und das ist meine … interpretierte Version.“ Sie log nicht. Es war schon … interpretiert. Bloß, dass es ihr Nathan so erklärt hatte. Und plötzlich hatte sie sehr viel Zuneigung zu Gott gefühlt. Sie hatte sich auch immer diese Frage gestellt – warum gab es Böses? Warum ließ Gott Böses passieren? Nathan hatte es ihr ausführlich erklärt. Aber wie würde die Welt ohne Gottes Schutz aussehen? Sie wollte gar nicht daran denken. Und darum fand sie es auch schade, dass nicht alle Menschen Gott unterstützten, obwohl er auch ihren Lebensraum schützte. Zumindest durch den Himmel hindurch, soweit sie das verstanden hatte. „Aber … es klingt plausibel“, gestand er ein, „Aber dennoch ist es ungerecht.“ Leid stand in Rays Augen geschrieben. „Ray …“, murmelte sie, „Was ist dir zugestoßen …?“ Als hätte er den Ausdruck in seinen Augen bemerkt, ließ er ihn sofort verschwinden und ließ sein Lächeln aufblitzen. „Ich studiere übrigens Politik, Medizin und Jura.“ Entweder er hatte sie ignoriert oder überhört. Kyrie klappte der Mund auf. Schnell schloss sie ihn wieder. Doch ihre Augen waren noch immer aufgerissen – vor Überraschung. „Du studierst – was?“, wiederholte sie, obwohl sie es ganz genau verstanden hatte, „Das ist doch … irre?“ Er zuckte mit den Schultern. „Mit dem nötigen Interesse kann man alles erlernen – auch gleichzeitig. Ein wenig stressig wird es manchmal, aber … es sind erst drei Monate des Studierens um, demnach habe ich erst die Anfangsphase hinter mir. Das wird schon – ich bin zuversichtlich.“ „Du bist verrückt“, richtete Kyrie. Und sie hatte schon mit einem Fach Probleme! Er lachte leise. „Irgendwie gehören sie zusammen“, erklärte er ihr, „Also ist es in etwa wie ein … großes Fach.“ Sie nickte, obwohl sie ihm weder glaubte, noch zustimmte. „Wenn du das sagst …“ „Aber lassen wir das Thema lieber sein“, schlug er vor, „Und wenden uns Spannenderem zu – Was machst du heute Nachmittag?“ Sie würde wieder in den Himmel gehen. Aber das konnte sie ihm kaum sagen. „Lernen“, wich sie seiner Frage aus – wieder ohne zu lügen. Er grinste. „So ein fleißiges Mädchen.“ Sie saß in ihrem relativ langen, weißen Sommerkleid auf der grauen Backsteinmauer, hinter welcher das grüne Gras blühte. „Danke sehr“, sagte sie artig, „Und selbst?“ Er zog eine Schnute. „Mal sehen – vielleicht treffe ich mich mit Freunden, vielleicht treibe ich ein wenig Sport – ich weiß auch nicht. Jedenfalls werde ich das Wetter genießen!“ „Und das trotz drei Fächern zum Lernen?“, informierte sie sich ungläubig. Er musste ein Genie sein! Ray lachte leise. „Guter Einwand – aber ja. Noch sind die Tests eine Zukunftssache.“ „Nicht sehr weitsichtig“, kommentierte Kyrie. Aber was machte sie? Sie lernte fliegen, Engelsränge und andere Sachen … Heute würde sie Nathans Freunde kennen lernen. „Ich weiß“, stimmte er ihr zu, dann lächelte er. „Wieso haben deine Eltern eigentlich die Zeit, dich immer abzuholen?“ „Sie arbeiten gleich hier in der Nähe. Da wäre es eine Verschwendung, wenn ich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen würde. Viele denken zwar, ich sei deshalb verwöhnt, aber …“ Sie zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich dachte er das auch. Doch er kicherte lediglich. „Dasselbe Problem hier. Ich bin gerade mal fünf Monate in der Stadt und schon nennt mich jeder Schnösel, bloß weil ich keine fünfzehn Minuten nach Hause brauche!“ „Welch ein Jammer“, kommentierte sie, dann horchte sie aber auf, „Erst seit fünf Monaten? Wo kommst du denn her?“ „Ist dir meine Hautfarbe gar nicht aufgefallen?“ Er grinste. „So etwas wäre eigentlich die sommerliche Bräune des Roten Dorfs!“ Das Rote Dorf? Es war sehr weit im Norden, soweit sie wusste. „Habt ihr da so starken Sonnenschein?“ „Hey – da teilen sich fünftausend Leute dieselbe Sonne! Da bleibt viel für den Einzelnen.“ Er grinste spitzbübisch. „Anders als hier – mir kommt das hier wie ein Menschenzoo vor … Voll gestopft und unbequem …“ „Wieso bist du dann hergezogen, wenn es dir nicht gefällt?“, wollte sie von ihm wissen. Er zuckte mit den Schultern. „Meine Schwester hat gesagt, ich solle zu unserem Vater.“ Er schaute kurz zum Parkplatz. „Apropos Vater – deiner wartet schon. Morgen erzähle ich weiter … Aber du musst mir auch was von dir erzählen!“ Er lächelte. Sie hielt ihm die Hand hin. Er schaute sie verwirrt an, reichte ihr dann aber seine. „Abgemacht“, sagte sie dann und lächelte ihn an. Sie ließ seine Hand los, verabschiedete sich freundlich und ging dann zum Auto. „Und ich erzähle dir mehr über mich?“, wiederholte er, als er dem kleinen, schwarzen Auto nachsah, „Wollte ich die Geschichte nicht eigentlich begraben?“ Aber wie hätte er das können? Immerhin trug er die Zeichen am Körper und jedes Mal, wenn er sich auf den Heimweg machte, steuerte er auf den Hauptgrund zu. Aber er würde sich stellen müssen. Ray stieß sich von der Mauer ab. Der Ort hier war wirklich gemütlich. Kyrie hatte sich da einen schönen Platz ausgesucht – angenehm. Er mochte es, seine Zeit hier mit ihr zu vertrödeln. Es war viel spannender, als einfach nur extrem langsam durchs Leben zu gehen. Irgendwie war er froh, dass diese zufälligen Worte so über seine Lippen gekommen waren – irgendwie war das makaber, Anbetracht dessen, dass sie damals geweint hatte. Er war froh, sie nicht mehr weinen sehen zu müssen. Sie wirkte wirklich glücklich und zufrieden … Die Theologiestudentin … Dämonen, sagte sie also? Vielleicht war es wirklich so. Vielleicht gab es diese Dämonen, vielleicht schützte Gott sie. Doch er war damit nicht einverstanden. Wieso widerfuhr das Unglück dann nicht bloß jenen, die es zumindest verdienten? Seine Familie verdiente kein Unglück. Bestimmt nicht. Er wollte unbedingt wissen, weshalb Kyrie so an ihrem Glauben und an Gott festhalten konnte. Langsam machte er sich auf den Heimweg. Als er in die Gasse, in der die Villa stand, einbog, bemerkte Ray, dass der Gartenzaun noch geöffnet war. Scheinbar war also noch jemand zuhause. Er ging gemächlich den stählernen Zaun entlang, der gelegentlich in kleinen Blümchenmustern verlief. Man erkannte eindeutig, in welchen der Villen die jeweilige Frau oder der Mann das Sagen hatte. Die Gärten waren eigentlich alle recht ähnlich angelegt. Grasgrünes Gras, das beinahe schon gefälscht wirkte, war von Blumenbeeten, ausschweifenden Hecken, Gartenhäusern und anderem Schnickschnack umgeben, den sich auch nur die Reichen leisten konnten und wollten. Verschiedene Hängematten, Hängeschaukeln und andere Sachen zum Ausspannen hingen gelegentlich an den relativ niedrigen Bäumen fest, sodass sich der arme, überarbeitete Besitzer darin wohl ausspannen konnte. Manchmal lief eine verzogene Katze oder ein arroganter Hund in den riesigen Gärten umher und immer wuselten ein paar Angestellte herum. Im Roten Dorf gab es solche Ausschweifungen nicht. So etwas wurde verachtet. Dort oben im Norden, wo die Sonne einen briet, während man den Schnee wegschaufeln musste, hätte man nicht einmal genügend Zeit für solche Gärten gehabt, da es nur wenige Monate im Jahr gab, in denen man nicht im Schnee versank. Und doch liebte er den weißen Glanz des Schnees – fernab der Zivilisation, umgeben von fünftausend Einheimischen mit ihren Pelzkapuzen, Pelzmützen und stilvollen Mänteln. Und wie liefen die Leute hier bei dieser Sonne herum? In Kleidern und kurzen Hemden. Sie wussten wohl einfach nicht, was richtige Kälte war – die neue Freundin seines Vaters hatte vor kurzem über den Regen geklagt, da es ja so „kalt“ wäre. Sie hatte keine Ahnung. Aber vielleicht ging er zu hart mit ihr ins Gericht … Doch es war schon erstaunlich, dass die Leute hier alle so blass waren, obwohl die Sonne eigentlich sehr oft schien. Es könnte vielleicht an den Hochhäusern liegen, die die ganze Stadt schattig wirken ließen, doch … War es eigentlich sein Problem? Nein. Sein Problem schloss nämlich soeben die Haustüre und drehte den Schlüssel im Schloss um. Ihr tiefschwarzes Haar war zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur hergerichtet und ihr natürlich schönes Gesicht mit Make-up noch betont. So etwas gefiel seinem Vater also? Als sie ihn sah, erstarrte sie. Dann winkte sie ihm zögerlich zu. Er ignorierte die Geste und lief am Haus vorbei. Die fünf Minuten bis die Frau das Grundstück verlassen hatte, würde er auch noch warten können. Jetzt hatte er fast zwei Wochen lang das Glück gehabt, alleine essen zu können und dann heute … „Ray …?“, erklang sein Name von hinten. Würde sie es nie aufgeben? Er seufzte und drehte sich unbegeistert um. Sie war ans Gartentor vorgeschritten und auf die Straße getreten. Sie trug ein ebenso leichtes Sommerkleid, wie es auch Kyrie getragen hatte, nur dass ihres bläulich war und sehr viel Schmuck aufwies – sie würde diese Dekoration wohl brauchen. „Das Essen steht drinnen angerichtet … Wenn du es in die Mikrowelle …“, begann sie. Er unterbrach sie allerdings barsch: „Ich weiß. Ich bin kein Kind mehr. Ich brauche dich nicht.“ Er klang schneidend – nicht wütend, sondern mehr gefühllos. Es hörte sich wohl wie eine Tatsache an – nein. Es war eine Tatsache. Sie sah deprimiert zu Boden. „Ich weiß, dass es hart für dich sein muss, aber …“ „Du weißt gar nichts“, ließ er ihre bedachten Worte ersterben, „Also versuch gar nicht, irgendetwas zu verstehen.“ Vielleicht wirkte er streng auf sie. Vielleicht schaffte er es endlich, sie loszuwerden – von sich abzuwenden. Sie schaute ihm in die Augen. „Ray … Ich hatte auch getrennt lebende Eltern – und mein Vater hatte ebenfalls mit der Zeit eine neue Liebe gefunden … Es ist mir auch sehr schwer gefallen- …“, erzählte sie, doch er schüttelte den Kopf. Wieso war diese Frau nur so töricht? Als würde ihn das stören! Seine Eltern lebten mittlerweile schon seit fünfzehn Jahren getrennt! „Lass mich in Ruhe.“ Es war kein Vorschlag. Er schritt weiter. „Nenn mich bitte einfach Kim“, wollte sie von ihm. Doch er reagierte nicht erst darauf. Er hatte ihren Namen fünf Monate lang ignorieren können – wieso sollte sich das jetzt ändern? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)