Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Acedia hatte wirklich Nerven. Er hatte ihr gefühlte tausend Male erklärt, dass er wirklich keine weitere Spur mehr finden konnte. Dass die Suche nach Luxuria mittlerweile im Sand verlief. Dass man auch von ihrem Mörder nichts finden konnte! Dass er jeder Spur nachgegangen war – dass er sogar Lianas Informationen herangezogen hatte. Dass es nichts gebracht hatte. Rein gar nichts. … Eigentlich konnten sie nur noch auf weitere Opfer hoffen. Hoffen, dass sich irgendwelche Gemeinsamkeiten ergaben. Aber … nach Luxuria hatte sich der Killer wohl zur Ruhe begeben! Kein einziger Engel war seither verschwunden. … Also war ein persönliches Motiv wohl noch immer am wahrscheinlichsten. Oder viel mehr: zu viele persönliche Motive! … Und Nathan konnte wohl schlecht aussprechen, dass er weitere Verbrechen herbeisehnte. Er seufzte, als er im Bürostuhl saß und die Akte aufschlug, in der stand, wessen Erinnerungen als nächstes dran waren. Gerade hatte Acedia wieder die Aufgabe, Erinnerungen zu nehmen. Wenn sie damit für heute fertig waren, würde sie herkommen. … Dann konnte er mit ihr Klartext sprechen. … Er konnte ja behaupten, dass er erwartete, dass der Täter in nächster Zeit zuschlagen werde. Ja, das klang besser, als wenn er es als Wunsch aussprach. Genauso wie er verheimlichte, dass er es besser finden würde, weniger Zeit mit Kyrie verbringen zu müssen. Eine Woche Freizeit war zwar wirklich nicht lang, aber er hatte ziemlich viel weiter gebracht. Zum Beispiel hatte er eine komplette Akte über den Fall Luxuria zusammengestellt – in Zusammenarbeit mit Xenon und dem anderen Assistenten. Noch dazu hatte er die Liste der Engel, die eine Erinnerung gelöscht haben wollten – seit es eine Acedia gab, jeder Engel, bei dem eine Acedia dabei war – nach Jahr geordnet. Er wusste selbst nicht so genau, weshalb diese Informationen aufbewahrt wurden. Das war vielleicht eines der Todsünden-Geheimnisse, die nicht einmal ihre Assistenten erfahren durften. Er hatte keine Ahnung. Vielleicht war es auch nur ein Wettbewerb zwischen den einzelnen Personen, wer die meisten Erinnerungen in einer Ära löschen konnte … Noch dazu hatte er alle Sitzungsprotokolle analysiert und nach Datum geordnet – wobei er die unterschiedlichen Schriften der Todsünden einfach nur bewundern fand … und bei einigen anstrengend zu entziffern - und dabei war ihm aufgefallen, dass sich Sin in letzter Zeit überhaupt nicht mehr blicken hatte lassen … Eigentlich war das nicht seine Angelegenheit, aber … es besorgte ihn schon. Ob er etwas zum Fall Luxuria wusste? Nathan hatte die Kraft, bis zu Sin hochzukommen. Mit ihm zu sprechen. Aber er hatte nicht die Erlaubnis. Das war ein Privileg für vollwertige Todsünden. Also … musste er hoffen, dass Acedia ihm alles verriet, war er zum Lösen des Falls wissen musste. Aber sie würde ihn nicht sabotieren. Das wäre ja widersinnig. Als hätte sie seine Gedanken gehört, öffnete sie die Tür und trat mit großen Schritten ein, wobei ihr Umhang bei jedem Schritt zurückgeworfen wurde und sie dadurch einfach mächtig wirken ließ. Genauso wie mit dem roten Haar, das heute ausnahmsweise wild durch die Gegend peitschte, statt gezähmt hinter einer Schleife zu liegen. „Waren wieder aufwühlende Erinnerungen dabei?“, mutmaßte Nathan mitleidsvoll, „Du sollst sie doch sofort löschen.“ „Ich habe mich getäuscht“, gab sie offen zu und ließ sich dann fertig auf ihren Stuhl sinken. Sie wirkte nachdenklich. „Ich … habe geglaubt, es hätte etwas mit Luxuria zu tun gehabt …“ Sie schüttelte den Kopf. „Langsam werde ich paranoid.“ „Solange du keine Geister siehst.“ Er grinste. „Aber ich muss mit dir noch einmal reden.“ Sofort richtete sie sich auf. „Ja?“ Ein Stirnrunzeln zierte ihr Gesicht. „Hast du etwas herausfinden können?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Nur … habe ich eine Vermutung.“ „Ach ja?“ Sie wirkte angespannt. Sprungbereit. Sie hoffte auf einen Tipp. Etwas, das sie verfolgen konnten … Er würde sie wohl enttäuschen müssen. „Er wird wieder zuschlagen“, erklärte er, „Ich denke, wieder weiter oben. Er will uns irgendetwas sagen. Und das macht er wohl dadurch, dass er sich immer weiter nach oben arbeitet.“ Er zuckte mit den Schultern. „Gehen wir davon aus, dass er zuerst nur Siebte, dann auch Sechste, als nächsten Schritt Fünfte, Jahrzehnte später Vierte und nun auch Dritte verschwinden hat lassen.“ Er spannte sich dann an. „Nehmen wir an, es war immer derselbe Täter – er muss alt sein. Er muss uns etwas aufzeigen wollen. Und vor allem ist er all die Jahre ignoriert worden …“ Er lehnte sich dann wieder zurück. „Er ist wütend.“ „Wütend?“, wiederholte Acedia leise, „Wütend … Auf die Ränge? Auf die Todsünden? Oder auf Luxuria?“ „Soweit bin ich noch nicht“, gab Nathan leise zu, „Wir müssen seinen nächsten Schritt abwarten. Erst dann können wir Näheres herausfinden …“ Sie nickte. „Und du behauptest, er würde in nächster Zeit wieder zuschlagen?“ „Er lässt immer unterschiedlich lange Abstände zwischen den Entführungen“, erklärte er, „Also … kann es auch erst in zehn Jahren oder so passieren.“ „Interessant … ein Engel, der mehr als tausend Jahre alt ist …“ Sie verschränkte die Arme und musterte ihre Füße. „Oder eine Aufgabe, die weitergegeben wird.“ „Um ein Zeichen zu setzen“, stimmte Nathan ihr zu, „Doch wofür?“ Acedias Mundwinkel ging merklich nach unten. „Wofür …“ Sie seufzte. „Das wäre des Rätsels Lösung, was?“ Als Ray auf der Steinmauer saß, pochte sein Herz schrecklich. Kyrie war noch nicht da. Und sie hatten nicht ewig Zeit. Sie mussten das doch durchgesprochen haben, ehe ihre Eltern kamen. … Zumindest er würde sich weigern, so etwas vor anderen Leuten zu besprechen. Ihr Vater war so schon unzufrieden mit ihm … Was … was wenn er herausfand, dass er mehr in seiner Tochter sah, als eine gute Freundin? Wenn er sie … noch mehr beanspruchen wollte? Bei solchen Gedanken überkam ihn der Scham und ließ ihn zu Boden sehen. „Oh weh …“, murmelte er vor sich, „Das wird hart.“ „Was wird hart?“, erkundigte sich Kyrie, die plötzlich neben ihm stand. Heute schneite es nicht. Die Sonne stand am Himmel, der Schnee war schon wieder am Wegschmelzen. Deshalb hatte er auch nur eine normale Jacke an. Kyrie hingegen war noch voll im Winterstil gekleidet. Inklusive Schal und Mütze. „Du … bist hier“, erkannte er. Am liebsten hätte er sich an die Brust gegriffen und sein Herz zum Stillstand bewegt. … Was war nur los mit ihm? Sie war nicht das erste Mädchen, das er mochte. Natürlich war er nicht wie Ted, der jede Woche eine andere hatte, aber … dennoch … Wie hatte sie es geschafft, ihn so aus der Fassung zu bringen? Was war anders an ihr? Sie nickte. „Bin ich …“ Sie setzte sich neben ihn und hielt die Arme verschränkt. Schweigen tat sich zwischen ihnen auf. Das war nicht richtig! Sie … sie sollten doch sprechen … Aber er bekam kein Wort heraus. „Danke, dass du gestern gekommen bist“, sagte sie plötzlich. Genau, weshalb war er nicht von selbst auf das Thema gekommen? … Was war nur los mit ihm?! „Kein Ding“, wehrte er locker ab, „Dich besuche ich doch gerne überall.“ Sie lächelte erfreut. „Tut mir … aber dennoch Leid, dass ich nicht bei dir bleiben konnte.“ „Ich habe dich überrascht“, erklärte er, „Das ist das Risiko an Überraschungen.“ „Ja …“, gab sie ihm recht, „Sie sind sooft … überraschend.“ „Wie … am Donnerstag“, lenkte er das Thema auf den richtigen Pfad. Er bemerkte, dass sie plötzlich den Atem anhielt. „Da … waren wir ja kurz davor …“, murmelte er, wobei seine Stimme immer leiser und undeutlicher wurde. … Es zu tun, war eine Sache. Darüber zu reden, eine komplett andere. Sie nickte. „Ja“, gab sie zu, „Ich … habe auch darüber nachgedacht.“ „Was … heißt das jetzt?“, hakte er leise nach. Er sah sie nicht an. „Ich … wollte dasselbe fragen“, gab sie zu. In dem Moment schaute er zu ihr. Sie starrte in den Boden hinein. Ihre behandschuhten Finger hielten ihre Arme fest. Sie wirkte, als wolle sie sich selbst gleich erdrücken. Sie wirkte so klein und zierlich … und so nett eingepackt in alle ihre weiße Winterkleidung, umgeben vom goldenen Glanz des Himmels … „Aber“, fügte sie erstickt hinzu, „Ich … mag nichts ändern …“ … Sie … wollte nichts ändern … Er bemerkte, dass sie zu ihm aufschaute. Er hoffte, dass sie ihm seine Bestürztheit nicht ansah. Dass … er sie verbergen konnte. Dieser Schmerz in seinem Herzen … Dass er … abgelehnt wurde. „Ich will, dass es so bleibt wie jetzt …“, murmelte sie. Plötzlich lagerte ihre Hand auf seiner. Der Handschuh fühlte sich so warm an. „… Bist du … enttäuscht?“ Dreimal setzte er zu einer Antwort an, auch wenn er nicht genau wusste, was er antworten sollte. Zurückgewiesen. Sie hatte … ihn abgelehnt … Konnte es dann überhaupt so bleiben wie früher? Wenn sie jetzt wusste, dass er sich in sie verliebt hatte … und sie seine Gefühle nicht erwiderte …? In dem Moment wurde ihm klar, dass er erwartet hatte, dass sie zusagte. … Dass er und sie von heute an ihre Hände haltend durch die Straße gehen würden. Dass sie von heute an beide Kingstons sein würden. Dass sie … mehr sein würden als bloß Freunde. „Ich kann nicht sagen“, murmelte er vor sich hin, „dass ich … nicht enttäuscht bin …“ Er holte tief Luft. „Aber ich bin erleichtert, dass es so bleibt, wie es ist …“ Er sah sie kurz an. Ihre Blicke kreuzten sich. „Damit bin ich genauso zufrieden.“ Schnell wandte sie sich ab. „Gut, das …“ … Sein Herz stimmte mit seiner Aussage leider nicht überein. Am liebsten hätte er sich zurückgelegt und sich im Schnee eingegraben. … Warum sie ihn wohl ablehnte? … Warum … konnte sie ihn nicht einfach auch … Sie umarmte ihn plötzlich und vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke. „Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen“, verstand er, obwohl ihre Stimme durch den Stoff stark gedämpft war. „Es tut mir leid.“ Er hielt weiterhin ihre Hand, strich sanft über den Handschuh. „Mir tut es leid, dass ich es falsch verstanden habe.“ Kyrie zuckte bei den Worten stark zusammen. Besorgt sah er zu ihr. „Kyrie …?“ „… Ich … fühlte mich heute nicht so gut …“, brachte sie hervor, „Ich … sollte mich daheim lieber ausruhen …“ … Sie wollte heute nicht mit ihm lernen. Nicht bei ihm sein … Er verstand es. Er konnte es nachvollziehen … So … war es wohl besser … So hatten sie Zeit zum Nachdenken … Ihre Gefühle zu ordnen … zu vergessen … „Erhole dich gut“, murmelte er. Er konnte nicht umhin, sich zu ihr hinunter zu beugen, sie in seine Arme zu nehmen und seinen Kopf auf ihrem ruhen zu lassen … Nur dieses eine, letzte Mal wollte er noch … Sie umarmte ihn weiter. Und bis das schwarze Auto kam, verbrachten sie ihre Zeit auf der Mauer schweigend in dieser Pose. Sie sah ihn noch winkend vor sich, die Enttäuschung in seinem Gesicht, die Trauer auf seinem Gesicht. Gebrochen. Sie hatte ihm das Herz gebrochen. Falsch. Es war einfach alles falsch! Als sie hinten eingestiegen war, hatte sie sich an die Fensterscheibe gelehnt. Stumme Tränen waren ihr Gesicht nach unten geronnen. Doch sie beantwortete nicht eine einzige Frage ihrer Eltern, sagte kein einziges Wort, entschuldigte nicht einmal Rays Abwesenheit. Sie hatte einfach all ihre Gefühle nach draußen geweint, wie sie geglaubt hatte. Doch als sie ausgestiegen war, wurde ihr das Gegenteil bewiesen. Als sie in das besorgte Gesicht ihrer Mutter blickte, ihre Frage hörte, ob alles in Ordnung wäre, überkam es sie erneut. Das Schluchzen und Heulen einer Person, die einen riesigen Fehler gemacht hatte, weil es das einzig Richtige war. Ein Mädchen, das sich selbst das Herz gebrochen hatte, um sich selbst treu zu bleiben, die andere Person zu beschützen. Und so durfte sie sich an der Brust ihrer Mutter ausweinen. Und als sie im Wohnzimmer waren, hatten sie sich auf das Sofa gesetzt, wo Magdalena Kyrie sanft streichelte. Doch sie hörte nicht auf zu weinen. Es ging nicht. Rays Gesicht. Seine Augen. Sie bohrten sich in ihre Seele, zerdrückten sie innerlich … Sie wollte ihn doch nicht verletzen, sie wollte nicht … Er würde am nächsten Tag doch wiederkommen, oder? Er würde … Immerhin … war er doch … Es würde alles so sein wie früher, oder? … Aber … seine Enttäuschung … Sie konnte den Tränenschwall nicht aufhalten. Nicht einmal, als es ihr Lieblingsessen gab. Obwohl sie jeden Tag gemeinsam Konferenzen hielten, begegnete Ira den anderen Todsünden selten am Gang. Jeder ging seinem eigenen Geschäft nach, nachdem sie die gemeinsamen Aufgaben erledigt hatten. Umso seltsamer fand er, dass Acedia im Gang stand und aus dem Fenster starrte. Langsam ging er zu ihr. „Wenn man einen Assistenten hat, hat man wohl zu viel Freizeit.“ Überrascht wandte sie sich zu ihm um. „Ira.“ Sie lächelte ihn feixend an. „Ohne wohl auch. Oder mischt du dich immernoch in fremde Angelegenheiten ein?“ Er hielt gebührenden Abstand. „Was tust du hier?“ „Ich beobachte meinen Assistenten, wie er sich auf zur Informationsbeschaffung macht“, erklärte sie ihm. Er kannte sie schon zu lange, um nicht zu erkennen, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Und genau deswegen wusste er, dass sie es ihm nicht mitteilen würde, wenn er danach fragte. Sie redete nur, wenn sie es wollte. Das war wohl etwas, was sie mit Luxuria gemeinsam hatte. Damals … als sie ihm mehr bedeutet hatte, als alles andere … Nein, das war nicht er. Er war Ira. Er war eine Todsünde. Er blickte Acedia in die Augen. Seit sie ihn davon überzeugt hatte, dass Luxuria etwas zugestoßen sein musste, hatten sie nicht mehr unter vier Augen geredet. Sie waren beide sehr beschäftigte Engel. „Hast du noch immer kein schlagkräftiges Argument gefunden?“, prüfte er nach, obwohl er die Antwort sehr gut kannte. So etwas hätte sie ja sofort mitgeteilt. „Mein Assistent behauptet, der Täter würde erneut zuschlagen …“, murmelte sie, „Wir sollten also vorsichtig sein.“ „Gewarnten Todsünden kann er nichts anhaben“, stimmte Ira ihr zu. Also musste er noch mehr aufpassen … Und die anderen wohl auch. „Er hat kein bestimmtes Muster, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das macht es schwieriger.“ Sie runzelte die Stirn und wirkte mehr als nur unglücklich. Er schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Sorge dich nicht zu sehr, Acedia.“ Er lächelte sie aufmunternd an. Aber sie lächelte nicht zurück. „Das ist einfacher gesagt, als getan“, murmelte sie ernst. Heute ging es ihr wohl wirklich schlecht. Sie war weder temperamentvoll, noch aufbrausend. Einfach nur ernst und niedergeschlagen … Sie musste Luxuria wirklich noch sehr gerne gehabt haben … Umso schlimmer fühlte er selbst sich, weil es ihn lange nicht so sehr mitnahm wie seine Freundin. Immerhin … waren sie doch alle Freunde gewesen. Er wich einen Schritt zurück. „Bis dann“, murmelte er und ging. Was war nur aus ihm geworden? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)