Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Er hatte sich gedrückt. Und er hatte die Wahrheit erfahren. Auch wenn Kylie sich noch so bemüht hatte, ihm vorzugaukeln, dass sie von tiefstem Herzen davon überzeugt war, dass er sich mit seinem Vater verstehen müsse – sie hatte versagt. Er hatte alles aus ihr herausbekommen. Wie er immer alles aus ihr herausbekam. Mark hatte sich neben ihn gesetzt und wollte von ihm wissen, weshalb er die ganze bisherige Woche gefehlt hatte – ob das an seiner neuen Freundin läge. Ray ignorierte seinen Kollegen. Es ging ihn nichts an. Was er dann wohl auch eingesehen hatte – zumindest war es still geworden. Nur der Vorleser sprach. Eigentlich würde er jetzt mit gebannter Aufmerksamkeit zuhören. Doch … er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zum gestrigen Gespräch zurück, das sie geführt hatten, nachdem sie erst nach Mitternacht zuhause angekommen waren. In der Dunkelheit hatte er nichts gesehen, nur Kylies Stimme gehört. Aber er war es, der zu sprechen begonnen hatte: „Warum lässt du es mir durchgehen?“, hatte er gefragt, wobei er sich darauf bezog, dass sie den gesamten Tag in der Stadt verbracht hatten, ohne dass das Wort „Liz“ auch nur einmal gefallen war. Am Dienstag hätte sie ihn am liebsten noch eigenhändig ins Haus zurückgeschleift, um das Essen mit Kim zu genießen, sodass diese noch etwas über ihre Tochter erzählen hätte können, aber am Mittwoch war ihr plötzlich völlig egal, ob er sich bei seiner zukünftigen Stiefschwester nun vorstellen würde oder nicht. Ein Sinneswandel war das wohl. Er hatte sich natürlich dazu entschieden, wieder in seine Isolation zurückzukehren. Dorthin, wo er sein und bleiben wollte. „Ich werde Maria wohl einfach sagen müssen, dass ihr Sohn auch nach einem halben Jahr noch immer derselbe Sturkopf ist wie sie selbst“, war die leichtfertige Antwort gekommen, „Ich habe aufgegeben, dich zu etwas bringen zu wollen, was du nicht brauchst.“ „Was du auch nicht brauchst“, schloss er daraus. Das Schulterzucken, das daraufhin kam, konnte er nur erahnen. „Goldrichtig, mein Lieber“, erklärte sie daraufhin, „Diese Zeug mit der Zwischenmenschlichkeit … du kennst meine Meinung dazu.“ „Wenn nicht, würdest du sie mir jetzt zitieren“, fügte er lächelnd hinzu. Er war froh, dass seine Starrköpfigkeit gesiegt hatte. Dass er wieder alles wie früher werden würde. Auch wenn das seine Mutter vermutlich enttäuschte … Aber in diesem Punkt waren sie sich einfach noch nie einig gewesen. Und egal, welche Armee seine Mutter ihm noch hinterher schicken würde … Sie hätte keine Chance gegen seinen Willen. „Mir ist es so schnurz egal, wie du Radiant, Kim oder Liz behandelst“, fuhr sie fort, „Oder wie du sonst wen behandelst, der nicht ich ist. Ich will nur, dass du glücklich bist. Und wenn du dafür weder Frühstück noch einen Vater brauchst – so sei es.“ Seit er Kylie kannte, besaß sie diese Einstellung. Diese Einstellung, dass jeder sein Leben durch seinen freien Willen gestalten konnte, ohne auf die anderen zu achten. Dass jeder seinen Weg gehen sollte, egal, welche Hürden er nehmen wollte. Sie akzeptierte einfach alles, glaubte nicht an das Gute in Menschen und hielt so ziemlich jede Lösung für die richtige. Umso mehr hatte es ihn all die Zeit gewundert, dass sie sich Kim gegenüber so nett verhielt und ihn zwingen wollte, Zeit mit seinen Mitbewohnern zu verbringen. Es verstieß doch eindeutig gegen ihre Einstellung. „Aber … weil Maria mich so nett darum gebeten hat“, murrte sie leise, „Ich wollte es wirklich die ganze Woche lang durchziehen. Aber … nachdem ich keine Fortschritte gemacht habe und es mir auch zu nervig wird, deine Babysitterin zu spielen ...“ Sie seufzte theatralisch. „Da muss ich den Job wohl aufgeben.“ „Du tust mir fast schon leid“, kommentierte er, „Aber nur fast. Du hast mir nämlich ziemlichen Schrecken eingejagt, als du plötzlich sozial sein wolltest.“ „Hey, ich bin Krankenschwester“, fuhr sie dazwischen, „Ich bin aber so was von sozial eingestellt und am Wohl meiner Mitmenschen interessiert.“ „Oberflächlich“, gab er in einem Räuspern bekannt, „Schwindler.“ „Du hast mir die Welt der Kranken näher gebracht, Freundchen“, erinnerte sie ihn, „Deinetwegen bin ich, was ich heute bin! Also sei mir ein bisschen dankbarer.“ „Du weißt doch, dass ich dich liebe“, gab er grinsend hinzu. „Na klar weiß ich das. Du weißt doch, dass ich das weiß.“ Sie gab einen genervten Laut von sich – eindeutig gespielt. „Manchmal glaube ich, du hältst mich für dumm!“ „Und du verkaufst hier alle für Dumm!“, klagte er sie daraufhin – mit einem kleinen Fünkchen Ernst in der Stimme - an, „Willst du das mit dem Kuchen echt durchziehen?“ „Klar“, meinte sie geradeheraus, „Ich liebe Backen, Kuchen und habe keinerlei Probleme mit der Anwesenheit dieser Menschen.“ Sie hielt kurz inne. „Die Frage ist wohl eher … hast du etwas gegen den Kuchen?“[/i ] Ray saß auf der Mauer. Kyrie war noch nicht da. Aber er war sich sicher, dass sie kommen würde. Immerhin hatte er sich … ihretwegen für den Kuchen entschieden. So betrachtet war es wohl der erste freiwillige Schritt in Richtung seiner Familie. … Dass er Kyrie zu dieser Party einlud, die Kim veranstaltete. Dass sie Kylies Kuchen essen würde ... Er seufzte. Er war einfach froh, dass sich Kylie ihre Flausen aus dem Kopf geschlagen hatte. Dass sie ihn in Ruhe lassen würde, was seine Familienprobleme anging. „Eine Kylie mischt sich nicht in Familienangelegenheiten ein“, hatte sie ihn vor vielen Jahren einmal gescholten. Aber er wusste gar nicht mehr, worum genau es ging. Vielleicht hatte er mit Diane gestritten und sie gebeten, das wieder gerade zu biegen. Auch wenn sie ihm, Diane und seiner Mutter beinahe nichts abschlug, so hatte sie es dieses eine Mal getan. Also musste es etwas ziemlich Dummes gewesen sein … Kylie war einfach eine treue, beste Freundin. Mit ihr war er durch dick und dünn gegangen … Wenn er jetzt daran dachte, dass sie in vier Tagen wieder weg sein würde, dann wollte er am liebsten heulen. Kylie selbst weinte nicht. Sie war stark. Und darum konnte sie ihn auch … beruhigen. Mit einem Lächeln und einem dummen Spruch auf den Lippen, einem lässigen Schulterklopfen … Sie war immer für ihn da gewesen. Seit gut fünfzehn Jahren schon. Seine beste Freundin auf Lebzeit. „Ray!“, erklang eine erfreute Stimme. Er schaute Richtung der Universität und entdeckte auch gleich Kyrie, die überglücklich auf ihn zu eilte. Neben ihrer normalen Tasche trug sie auch eine kleinere mit sich herum. Sie steckte in einem warmen Wintermantel, trug einen Schal, Handschuhe und eine Mütze. Eine typische Stadtfrau. Er lächelte über seinen Gedanken und erhob sich. „Kyrie, du bist da!“ Sie stand vor ihm – plötzlich breitete sie stralend die Arme aus. „Alles, alles Gute zum Geburtstag!“ Und schon hatte sie ihn umarmt. „Bleib mir ja gesund! Auf dass du noch mindestens fünfmal so alt wirst!“ Er erwiderte die Umarmung. „Danke! Ich werde versuchen, mich ranzuhalten.“ Ein Lächeln überzog seine Lippen. Ein breites Lächeln. Er spürte, wie sich ihr warmer Körper an ihn drückte, wie sie ihn fest hielt, ihm Halt gab. Die Wärme durchfuhr ihn. Dieses wunderbare Gefühl … Sein Herz begann, wie wild zu pochen. Die Umarmung hielt an. Das war doch … schon eine ziemlich lange Umarmung. Für Freunde. Entgegen seiner eigentlichen Gedanken drückte er sie noch fester an sich, ohne dass sie sich irgendwie wehrte. Stattdessen sah sie lächelnd zu ihm hoch. Und ehe er sich versah, verfing sich sein Blick in ihren dunklen Augen. Er entdeckte Zuneigung in ihnen … Dieselbe Zuneigung, die er für Kyrie empfand? Das wäre schön … Er fühlte, wie er sich weiter nach unten beugte, wie sich der Abstand zwischen ihrem und seinem Gesicht immer weiter verminderte. Und wie er immer breiter lächelte, je näher er ihr kam. Das breiteste Lächeln, das er in seinem ganzen Leben je gelächelt hatte, schlich sich auf seine Lippen. Gerade als er dabei war, seine Augen zu schließen, um den unausweichlich näher rückenden, so lange und hart ersehnten – auch wenn er sich dessen nicht hundertprozentig bewusst war, so erkannte er es in diesem Moment – Kuss zu vollenden, erklang ein belustigtes: „Stör ich, mein Schätzchen?“ Als er die Augen aufriss und auf den Boden der Wirklichkeit zurückfiel, lief die komplette Wärme, die seinen Körper Sekunden zuvor noch in Euphorie versetzt hatte, in seine Wangen und ließ diese glühen wie eine reife Tomate. Kyrie starrte ihn in etwa mit denselben roten Wangen und einem ähnlich geschockten Gesichtsausdruck an – und beide wandten sie den Blick voneinander ab. Er sah zu Kylie, die breit grinsend hinter ihm stand. Sie hatte einen dünnen Mantel angezogen – sonst wies nichts darauf hin, dass um sie herum zehn Zentimeter Schnee lagen. „Du bist dann sein Zuckerpüppchen, nehme ich an?“, fragte sie spöttisch und stellte sich neben ihm wobei sie ihm eine Hand auf die unverletzte Schulter legte, „Er hat schon so viel von dir erzählt.“ Das kecke Grinsen behielt sie bei. … Oh Gott, was machte diese Frau da?! Warum hielt sie nicht die Klappe!? Na gut … Also … schlimmer konnte es ja kaum werden! Er wandte sich zu ihr um. „Magst du nicht einfach die Klappe halten, Kylie?“, zischte er. Sie starrte ihn wie ein Unschuldslämmchen an. „Wer? Ich?“ Sie blinzelte ein paar Mal zu oft. „Was mache ich denn?“ „Benimm dich!“, wies er sie streng an. Er sah Kyrie an, die seltsam belustigt wirkte. Und dabei unvorstellbar … toll aussah … Er unterdrückte ein Seufzen. Und während er so da stand, auf eine Reaktion wartete und derweil seinen Seufz-Reflex unter Kontrolle zu bringen versuchte, ohne dabei den Blick von dem schwarzhaarigen Mädchen vor ihm wenden zu können, sah er etwas ein, was er schon lange hätte einsehen sollen. Er war verliebt. Kyrie war merklich kleiner als Kylie, was auch ihre Stiefelabsätze nicht verbergen konnten. Sie starrte zu der anderen Frau hinauf, die Ray überragte. Bei ihr lag es wahrscheinlich auch nicht an den Absätzen. Sie bestaunte das beinahe goldene Haar und den schön geflochtenen, viel zu kleinen Zopf, der sich so von den anderen Haaren abhob. Ihre Augen waren blau wie klares Wasser … und sie blitzten gefährlich. So gefährlich, dass sie sich beinahe eingeschüchtert von dieser Person fühlte. Zurückgedrängt … Was … gab ihr das Recht, bei Ray zu sein … Warum … hatte sie gestört? Ihr Herz schlug immernoch wie verrückt und sie hoffte, dass keiner es hören konnte. Sie hätte beinahe Ray geküsst. Sie hatte den Kuss schon beinahe fühlen können. Diesen Moment der Wärme und des Glücks … Wie er sie umarmt und fest an sich gedrückt hatte … Sie fühlte, wie ihre Wangen sich rot färbten. Unauffällig nahm sie ihren Schal und zog ihn etwas weiter in ihr Gesicht. Dann räusperte sie sich kurz, um einen Frosch im Hals vorspielen zu können. Wie blöd es wirken musste, dass sie einfach nichts sagte! Sie musste etwas sagen … aber … Zuckerpüppchen? Wovon sprach diese seltsame Frau bloß? „Ich glaube, ich bin zu weit gegangen“, sah die andere ein, wobei sie mit den Schultern zuckte, „Dann fangen wir wohl besser von vorne an.“ Sie stieß sich von Ray ab, wodurch der einen Schritt zurückstolperte und leise vor sich hin murrte. Kyrie hätte ihr gerne eine Moralpredigt gehalten, wie unhöflich so ein Verhalten gegenüber einem Freund war, dass er sich dabei hätte verletzen können oder einfach, dass sie mit ihrem Ray nicht so umzuspringen hatte … Aber ihr Mund war eindeutig zu trocken, um auch nur ein Wort herauszubringen. Es waren wenige Schritte, die Kylie zurückzulegen hatte, um ihr die Hand entgegenzustrecken, doch es war mehr als genug, Kyries Misstrauen zu schüren. … Warum durfte Kylie bei Ray sein? Warum durfte sie, was Kyrie verwehrt blieb? All ihren aufkeimenden Unmut zurückdrängend, nahm sie die Hand entgegen und schüttelte sie hastig. „Ich bin Kyrie“, stellte sie leise sich vor, „Nicht Zuckerpüppchen“, fügte sie dann kleinlaut noch hinzu. Kylie lächelte. „Ich bin Kylie, die man fast gleich schreibt wie dich“, erklärte sie ihr und schien sich dabei für die Königin der Welt zu halten, „Ich bin seit fünfzehn Jahren mit unserem Chaoten hier befreundet und habe den Kuchen für seine Geburtstagsparty heute gebacken.“ Nein. Sie war die Königin der Welt. So schön, gefährlich und … ehrfurchtserregend. Jemand, zu dem man aufsah … Jemand, mit dem ein einfacher Mensch nichts zu tun hatte. Gegen den man keine Chance hatte … Vor dem man zurückweichen sollte, wenn man klug war … In dieser Hinsicht erinnerte sie sie an Melinda. Melinda. Sofort ließ sie ihre Hand los. Und als sie die Hand los ließ, schien irgendeine Last von Kyrie zu fallen. Als sie sich umwandte, fühlte sie sich beinahe erleichtert. Sie kannte Menschen wie Kylie. Sie waren arrogant und hochnäsig, glaubten, dass alle ihnen zu Füßen lagen. Und … das Schlimmste daran war, dass sie damit Recht behielten. Sie war eine der Personen, die Menschen anstrebten. Die Menschen anzogen. Ihr Selbstbewusstsein strotzte doch über, sodass Kyrie das nach fünf Sekunden bereits bemerkte! Diese Frau war überzeugt von allem, was sie tat, sagte und dachte. Sie war egoistisch. Kyrie konnte sie nicht leiden. Ihr Blick fiel auf Ray, der ihr kurz in die Augen schaute und ein traumhaftes Lächeln auf den Lippen trug – doch als er sich dann abwandte, um einen kurzen Wortwechsel mit Kylie zu führen, änderte sich Kyries Sichtweise. … Wem … galt dieses Lächeln eigentlich? Ihr … oder Kylie? … Wem galt Rays Zuneigung? Was … wieso … Kylie kannte ihn doch schon viel länger als sie. Kylie sah noch dazu umwerfend aus und schien kein Kälteempfinden zu haben! Sie war groß, schlank und hatte an den richtigen Stellen dennoch angemessene – wünschenswerte – Fülle. Sie schien … perfekt zu sein … Wenn er mit ihr befreundet sein konnte … warum würde er sich dann für Kyrie entscheiden? Es traf sie wie ein Schlag: Er würde sich nicht für Kyrie entscheiden. „Setzen wir uns?“, riss Rays Vorschlag sie aus ihrer Gedankenwelt. Kyrie nickte und setzte sich neben Ray. Kylie nahm auf der anderen Seite Platz. Sie fühlte sich, als würden alle von ihr erwarten, den Smalltalk zu beginnen. Aber sie war im Moment nicht fähig, etwas zu sagen. Die ganze Woche lang war sie deprimiert durch die Gegend gelaufen – sie hatte beinahe das Mittwochstreffen abgesagt, bloß weil sie zu traurig über Rays Abwesenheit war! Und heute … heute traf sie ihn endlich wieder … und dann war er bei Kylie, verstand sich so gut mit ihr … Hatte aber beinahe sie geküsst. Er hatte beinahe sie geküsst. Sie!öl Sie sah überrascht auf. Ray musterte sie nachdenklich, schien gar nicht zu bemerken, dass sie ihn ebenfalls ansah. … Wenn … wenn er sie küsste … empfand er vermutlich etwas für sie. Sonst … hätte er ja schon viel früher … und … aber … Wenn er dasselbe wie sie empfand … dann … Der Drang, wegzulaufen, machte sich in ihr breit. Dann konnte sie ihn doch nicht weiter belügen! Ihre ganze Existenz war eine Lüge! Alles, was sie ihm sagte … „Oh, was hast du ihm denn mitgebracht?“, erklang Kylies Stimme plötzlich. Sie deutete auf die Tasche, in der Kyrie das Geschenk für Ray aufbewahrt hatte. Das schien auch ihn wieder auf die Erde zu bringen. Kyrie schnappte die Gelegenheit, um zumindest für den Moment aus ihrer Gedankenwelt zu flüchten. Sie nahm die Tasche hoch und legte sie Ray auf den Schoß, der überrascht dreinschaute. „Danke!“, rief er atemlos aus, „Das … wäre doch nicht …“ Er starrte das Geschenk ehrfürchtig an. „Hey, so hast du meines aber nicht angestarrt“, beschwerte sich Kylie dann, „Dabei war es so cool.“ Sie klang nicht enttäuscht. Ray überging Kylies Worte und sah Kyrie tief in die Augen. Sie lächelte. „Hol es raus!“ Er öffnete die Tasche und schaute hinein. Sie war schlecht im Einpacken. Und das war eines der Dinge, die ihre Mutter ausnahmsweise nicht hinbekam. Und ihren Vater konnte man da sowieso vergessen. Also hatte sie es einfach offen gelassen. Er holte es heraus und vor ihm entfaltete sich ein T-Shirt mit dem Logo der Sieben Sünden und einem bekannten Bandbild. Er starrte es an. „Oh, wow, danke!“ Ein Strahlen überzog sein Gesicht. „Oh, WOW, danke!“ Kylie schien ziemlich amüsiert zu sein. Aber Kyrie war einfach nur froh, dass sie nicht daneben gegriffen hatte. Als er das Shirt fein säuberlich zusammenlegte, entdeckte er noch den zweiten Teil ihres Geschenks. Er nahm ein Kuvert hervor, welches er vorsichtig aufmachte. Und schon purzelten eine Karte und zwei Tickets für das Sieben-Sünden-Konzert nächstes Jahr in der Nordstadt heraus. Sie war zum Ticketshop gegangen, um dort nachzufragen. Da hatte sie sie gekauft. Wenn sie Glück hatte, würde er mit ihr hingehen, wenn nicht … würde ihr das wohl einen ziemlichen Stich versetzen. Er strahlte die Geschenke ungläubig an. „Viel cooler“, fügte Kylie dann gelangweilt hinzu, „So cool, dass du es nicht so angestarrt hast.“ Sie seufzte erneut theatralisch. „Das erinnert mich an …“ Sie blinzelte verwirrt. „So gestrahlt hast du nicht mehr, seit …“ Ray packte schnell alles in die Tasche und umarmte Kyrie, ehe sie reagieren konnte – nicht, dass sie sich gewehrt hätte ... „Oh, Kyrie!“, begann er, „Das wäre doch alles überhaupt nicht nötig gewesen!“ Er ging zurück und schaute ihr in die Augen. „Ich habe dir doch noch nicht einmal zum Geburtstag gratuliert!“ Sie lächelte. „Du hast mir das beste Geschenk gemacht, das mir an dem Tag jemand anbieten hätte können“, entgegnete sie leise, „Und ich habe mich noch nie angemessen bedankt …“ Sie wandte ihren Blick den Boden zu. Wie peinlich. Hatte sie das gerade eben wirklich gesagt? Als sie nach einigen Momenten wieder aufschauen konnte, lächelte Ray sie an. Sie lächelte zurück. „Ray, wir müssen gehen.“ Kylie schaute todernst drein, als Kyrie sich zu ihr umwandte. Sie hatte sich bereits wieder erhoben. „Ich gehe jetzt jedenfalls. Mir egal, was du tust.“ Ohne ein weiteres Wort stapfte sie davon. Während des Gehens tippte sie auf ihren Schläfen herum. Ray sah ihr kurz nach. Das Lächeln war ihm vergangen, stattdessen runzelte er besorgt die Stirn. Dann wandte er sich Kyrie zu. „Was … ist los mit ihr?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Kommst du dann gleich mit? Wir gehen zu mir“, lud er sie ein, „Ich schulde dir noch Kuchen.“ Sie lächelte. „Ja, natürlich sehr gern …“ Sie stockte. Etwas in ihrem Gedächtnis meldete sich. Etwas, was sie bis eben total übersehen hatte. Thierry. Heute war die erste Trainingsstunde. Er würde sie zuhause abholen. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie nicht da war. Und … „Kyrie? Alles in Ordnung?“ Er legte seine Hand auf ihre Mütze und blickte sie mit Sorge an – mit mehr Sorge als Kylie. „Ich …“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Wie konnte sie nur!? Sie hatte Ray doch versprochen, dass sie kommen würde! Kylie hatte eine Torte gebacken, die sie essen sollte! Was würde ihr nur alles entgehen, wenn sie nicht kam? Warum sollte sie auf einen Tag mit Ray verzichten? Auf einen unverzichtbaren Tag mit Ray. Sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen! Sie wollte mit! Nichts anderes als Mitkommen … Aber … der Grund, weshalb sie zu Thierry musste … Er überwog. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, als sie die nächsten Worte aussprach: „Ich … kann nicht …“ Er sah sie überrascht an. „Kommst du später nach? Weißt du, wo ich wohne?“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. „Es tut mir leid!“, brachte sie hervor, „Ich … ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder Zeit habe …“ Sie sackte in sich zusammen. Er … er hatte doch nur einmal im Jahr Geburtstag! Wie konnte sie das nur übersehen? Vergessen? Sie war eine schlechte Freundin. Eine miserable Freundin. „Ach so …“, meinte Ray. Dann legte er einen Arm um sie. „Na dann bringe ich dir am Montag einfach ein Stück Kuchen mit.“ Sie schaute erstaunt auf. „Du bist nicht böse?“ „Ich habe es dir einfach zu kurzfristig gesagt.“ Er lächelte und hob die Tasche mit den Geschenken hoch. „Und ich denke, du hast dich entschädigt.“ „Das war keine- …“ Sie wurde unterbrochen, indem er belehrend einen Finger hob. „Dadurch verpflichtest du dich sogar, am Montag zwei Stück Kuchen mit mir zu essen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Wenn Kylie dann weg …“ Plötzlich verstummte er und schaute dorthin, wo Kylie vorhin noch gewesen war. Sie war weg. Er verzog den Mundwinkel. „Oh.“ Kyrie fühlte sich schrecklich, weil sie ihn versetzt hatte. Er erhob sich. „Na dann … Bis Montag?“ Sie nickte. „Bis Montag. Und habt … noch eine schöne Woche. Und einen unvergesslichen Geburtstag!“ Als sie Ray hinterher schaute, wusste sie nicht, ob sie Kylie wirklich eine schöne Woche vergönnte. Aber sie wusste, dass sie sich das für Ray wünschte. Dass er einen herrlichen Tag verdiente. Wenn auch … ohne sie … Sie hatte selbst Schuld. Sie hätte einfach „übermorgen“ sagen müssen. Alle Probleme wären vorüber. Aber nein … Sie hatte Ray einfach verdrängt gehabt … Angst und Schuldgefühle hatten alles überschattet … Alles … Als sie alleine an der Mauer stand, verschränkte sie die Arme und starrte auf den Boden, auf dem keine Schneeflocke überlebt hatte. Die Leute, die herumtrampelten, stießen den Schnee einfach fort, bis er nicht mehr da war … Wenn man sich nicht wehrte, würde man fort gestoßen werden … doch das war kein Grund, andere fort zu stoßen. Warum also … verhielt sie sich Kylie gegenüber so seltsam? Warum fühlte sie … diese brennende Eifersucht? … Würde sie von jetzt an auf jede Frau, die sich in Rays Nähe traute, eifersüchtig sein? Eifersucht war doch falsch … Eine … Todsünde … Unauffällig starrte sie in die Richtung, in die Ray winkend verschwunden war. … Wer würde überhaupt noch zu seiner Feier kommen? Als sie in das Auto ihrer Eltern stieg, hatte sie sich bereits Dutzende Schreckensgeschichten zusammengereimt – und die Schrecklichste beinhaltete Melinda. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)