Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Kyrie wirkte heute besonders traurig – aber vor allem war er skeptisch, weil sie sie bat, im Haus zu bleiben. Aber sie war nicht die Einzige, die sich seltsam benahm – Thierry genau so. Jetzt war er nach Wochen endlich mal wieder aufgetaucht, dann war er nervös und angespannt, als würde morgen das Spiel seines Lebens stattfinden. Oder gar heute noch. Insgesamt herrschte eine ziemlich seltsame Stimmung. Liana war heute nicht da – jetzt war es beinahe so, als sei Joshua derjenige, der noch die beste Laune hatte. Und das wäre echt seltsam. … Er musste irgendetwas tun. Das war seine heilige Pflicht als Nathan. Sie saßen alle am Esstisch, aber keiner sagte ein Wort. Kyries Eltern waren fort gefahren, um sie nicht zu stören. Er schaute in die Runde. „Wenn ihr so weiter macht, kommen die Dämonen und fressen euch auf.“ Fast schon genervte Blicke trafen ihn von allen Seiten. Er fühlte sich Fehl am Platz. „Würdet ihr mir verraten, was mit euch los ist?“, hielt er sie an, ihm zu verraten. Dann deutete er auf Thierry. „Du. Warum bist du heute so mies drauf?“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich wäre heute lieber im Himmel.“ „Es gibt Schokoladekuchen!“, entgegnete Nathan geschockt. Thi sah ihn nur kopfschüttelnd an. … Irgendetwas lief hier komplett falsch. „Und was ist mit dir?“ Sein Blick fiel auf Deliora, die schon die ganze Zeit eine Tischkarte mit den Augen auseinander nahm. „Ich hätte weg bleiben sollen“, murmelte sie vor sich hin, „So viel Arbeit …“ Nathan seufzte. „Du bist nicht die Einzige, die einen Job hat! Frag mal mich und Kyrie. Oder, Kyrie?“ „Wer?“ Sie schaute auf. „Was? Ich? Was?“ Sie schien verwirrt zu sein. „Hast du zufällig ziemlichen Stress in der Uni?“, wollte er wissen. Sie zuckte nur mit den Schultern. Joshua brauchte er gar nicht zu fragen, weshalb er so deprimiert in der Gegend herumhing. Er verschränkte die Arme. „Wenn ihr nicht gleich gute Laune habt, können wir das heutige Mittwochstreffen gerne absagen.“ Alle sahen auf – und sich gegenseitig an. Stumme Blicke wurden ausgetauscht. Stumme, bejahende Blicke. „Allen Ernstes?!“, begehrte Nathan auf, „Wir nehmen uns alle extra einen Tag in der Woche Zeit für Spaß und ein Treffen und dann … sagt ihr es ab?!“ Von allen Seiten sah er zustimmendes Nicken. Kyrie äußerte sich als erste: „Es … tut mir leid …“ Sie seufzte. „Ich … heute … ist nicht mein Tag …“ „Was ist denn passiert?“, wollte Deliora leise wissen. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin … einfach nur …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Es ist nichts …“ Deliora nickte. „Solche Tage kennen wir doch alle.“ Das erste Lächeln, das er an diesem Tag sah, zeichnete sich kurz auf ihrem Gesicht ab. Dann erhob sie sich. „Ich glaube, ich muss los … Wer kommt mit?“ „Ich habe eine Idee!“, rief Nathan aus, „Wir gehen alle in den Himmel. Da hebt sich unsere Laune bestimmt auch ohne Schokoladenkuchen!“ Er grinste alle an, in der Hoffnung, Fröhlichkeit verbreiten zu können. Wieder sahen sich alle gegenseitig an. Kyrie erhob sich – und sobald sie sich erhob, tat es auch Thi ihr gleich. Und Joshua stand zusammen mit Nathan auf. „Also!“, meinte Nathan gut gelaunt, „Ab in den Himmel!“ Und schon spazierte er zur Tür. Alle schritten ihm langsam nach. Er hatte einmal einen Film über Zombies gesehen – genau an den erinnerten ihn seine Freunde im Moment. Was echt gruselig war. Er ließ sich zurückfallen und wartete, bis Kyrie die Tür zugeschlossen hatte. Sie wirkte wirklich fertig. Irgendetwas bereitete ihr Kopfzerbrechen. Er stieß sie freundschaftlich an. „Hey, was ist los mit dir?“ „Ich …“ Sie ging neben ihm her. „Ich weiß es nicht … Ich fühle mich schon seit einer Weile so … niedergeschlagen …“, gestand sie ihm. „Weißt du … du kannst deinen Eltern doch die Wahrheit sagen“, meinte er dann. Er vermutete, dass John doch mit ihr gesprochen hatte. Aber dass sie einfach weiterhin an ihrer Verschwiegenheit festhielt. „Nein“, entgegnete sie hart, „Das würde sie zerstören. Noch mehr als mich.“ „Du musst deine Angst mit jemandem teilen“, riet er ihr, „Mit jemandem, dem du vertrauen kannst.“ „Ich habe meine Angst nie mit jemandem geteilt“, murmelte sie, „In meinem ganzen Leben nicht … Warum sollte ich jetzt damit anfangen?“ „Weil du sonst wieder so wirst wie früher.“ Er trat vor sie und hielt sie an. Die anderen gingen unbehelligt weiter. Er fasste in ihr Gesicht und zog ihre Mundwinkel nach oben. „Wir alle lieben die neue, lächelnde Kyrie.“ Er grinste. „Darum wollen wir sie auch wieder zurück.“ Sobald er sie los ließ, wanderten ihre Mundwinkel wieder nach unten. „Das ist … leider nicht so einfach …“, gestand sie. „Willst du, dass wir das Schwerttraining für eine Weile aussetzen?“, schlug er ihr vor. Sie wirkte überrascht. „Was?“ „Sagen wir … Bis zum nächsten Mittwochstreffen?“ Er klopfte ihr auf die Schultern. „Ein bisschen Himmelfrei wird dir dann auch ganz gut tun, denke ich.“ Er lächelte fürsorglich. „Vielleicht beruhigt das deine Nerven auch ein bisschen.“ … Egal, ob er da war oder nicht … Diese Angst konnte er wohl nie vollends vertreiben. Sie brauchte mehr Selbstvertrauen! Und das erlangte sie nur, wenn sie lernte, anderen zu vertrauen. … Leider war sie damit echt spät dran. … Was wohl oder übel teilweise – aber nur teilweise! – auf ihn zurückzuführen war. „Danke …“, murmelte sie, „Ich … überlege es mir …“ Dann setzte sie ein so falsches Lächeln auf, dass er sich beinahe ihre niedergeschlagenen Mundwinkel zurückwünschte. Aber nur beinahe. „Nach unserem heutigen Himmelausflug.“ Sie ging an ihm vorbei und schloss schnell zu den anderen auf, die doch in einiger Entfernung gewartet hatten. Er sah ihr nach. Irgendwann würde sie dem Schwert vertrauen. Dann würde sie wieder sicher sein und im Himmel ohne seine Aufsicht umherschwirren können. Und das würde der Moment sein, in dem sie endlich frei von ihrer Angst wäre. Wünschenswert für sie. Er ging weiter. Nathan … er wusste also, dass Angst hatte? Nach wie vor? Dass das Schwert nicht die erhoffte Wirkung bei ihr erzielte? Aber … warum … Warum strengte er sich dann weiter so sehr für sie an? „Bis zum nächsten Mal!“ Deliora lächelte vergnügt, ehe sie davon rauschte. Nathan hatte Recht behalten – im Himmel hatte sich die Laune unerklärlicherweise gleich gebessert. Sie hatte ihren Eltern per Mobiltelefon eine Nachricht geschrieben, dass sie doch in den Himmel zurückgekehrt waren. … Hoffentlich hatten sie das früh genug gelesen. Sie wanken Deliora nach. Auch sie hatte sich noch amüsiert und über Witze gelacht. Sie saßen im Café und aßen kuchenförmiges Licht. „Kyrie“, riss Thi sie plötzlich aus dem Gedanken. „Ja?“ Sie lächelte ihn an. „Ich … muss mit dir sprechen.“ Er schaute sich um. „Unter vier Augen. … Wenn es geht.“ Er wirkte ernst. Als würde es um etwas richtig Wichtiges gehen. Sie starrte Nathan an, der grinste. „Thi ist genau so stark wie ich!“, munterte er sie auf, „Du kannst ihm vertrauen, das weißt du ja.“ Sie blickte zurück zu ihm. „J … Ja … Natürlich …“ Vielleicht klang sie nicht überzeugt. Vielleicht lag das daran, dass Panik in ihr aufstieg. Warum wollte er jetzt plötzlich mit ihr reden? Was … was war denn passiert? Und warum durfte Nathan nicht dabei sein? Nathan … er hatte doch gesagt, dass er sie nicht alleine lassen würde! Natürlich, sie war nicht alleine – Thi war bei ihr. Thi … Thi konnte sie auch beschützen. Er meisterte sehr viele Sportarten und führte das Schwert ausgezeichnet. … Aber Nathan … „Aber …“ Er beäugte sie fragend. „… du darfst mich nicht alleine lassen“, erinnerte sie ihn daran. „Oder ihr bleibt hier und wir beide verziehen uns“; schlug Nathan vor, wobei er Joshua unsicher auf die Schulter klopfte, „Nach da hinten, wo uns jeder sehen kann“, fügte er schnell hinzu. Er zwinkerte Kyrie zu, dann flog auch er weg. Sie starrte Thi an. Er starrte zurück. Schien nach Worten zu suchen. Nathan konnte sie von ihrem Platz aus gut sehen. Sichere Entfernung. Er … er würde bestimmt schnell genug sein, falls … „Wie weit bist du beim Schwerttraining?“, fragte er dann. „… Ich kann … das Schwert rufen“, erklärte sie nervös. Warum? Wollte er wieder gegen sie kämpfen? „Und … ein bisschen fuchteln …“ Er nickte. „Und … kannst du dich verteidigen?“ Er wirkte in etwa so unsicher, wie sie sich fühlte. Sie nickte. „Etwas“, gab sie mit erstickter Stimme von sich. … Überall … diese Leute konnten überall lauern … „Es gibt eine Verteidigungsart, die du nicht kennst“, flüsterte er so leise, dass sie ihn nur schwer verstand, „Eine, die nicht einmal Nathan kennt.“ Er schaute sich nervös um. „Eine, die niemand kennen sollte.“ … Das wirkte böse. Warum wirkte er so böse? Er war doch … ihr Freund! „Ich kann sie dir beibringen“, fuhr er fort, als sie nicht antwortete. „Gula hat mich darum … gebeten.“ Gula?! Sie hielt sich davon ab, den Namen laut auszurufen, sondern entschied sich für ein einfaches: „Was?!“ „Er hat dir gegenüber wohl ein schlechtes Gewissen, weil …“ Er zuckte mit den Schultern. „Weil er von deinen Erlebnissen weiß, dir aber nicht hilft.“ Was? Er … er hatte … Gula erinnerte sich noch an sie? Hatte ein schlechtes Gewissen? Eine Todsünde?! Wegen ihr?! … Wie … wie ging das denn? „Warum?“, fragte sie gerade heraus, „Warum … ein schlechtes … Es geht einfach nicht und …“ Sie brachte keinen vollständigen Satz heraus. Die Informationen überschlugen sich in ihrem Kopf. „Ich habe die letzten Wochen damit verbracht, sie einzuüben“, erklärte er mit flüsternder Stimme, „Darum war ich auch nie hier. Jetzt ist es meine Aufgabe, sie an dich weiterzugeben.“ Er verschränkte die Arme und beugte sich weiter zu ihr. „Und weil sie gegen ein Engelsgesetz verstoßt, ist es eine verbotene Technik. Aber eine wirkungsvolle.“ Der letzte Satz ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. „Ver … verboten?“, stieß sie hervor. Verboten war nicht ihr Gebiet! Das war … verboten eben! Sie wollte kein Gesetz überschreiten! Niemals! „Bitte!“, flehte er sie an, „Ich will das alles so schnell wie möglich hinter mir haben. Ich habe das für dich getan.“ Er seufzte mit einem Hauch von Verzweiflung. „Es … es klingt vielleicht ziemlich egoistisch von mir“, gestand er stirnrunzelnd ein, „Aber … Ich will damit nicht länger etwas zu tun haben als nötig.“ Er schaute ihr direkt in die Augen. „Du hingegen hast das Recht, so etwas zu beherrschen – dir wird Unrecht getan, also verteidige dich auch mit unrechten Mitteln dagegen. Du … hast das Recht dazu.“ Ihr Blick wanderte zum Tisch. Sie starrte ihn an, als wollte sie dadurch ein Loch hineinbohren. „Wenn sie dich noch einmal angreifen“, fuhr er etwas gefasster fort, „Dann ist das die Möglichkeit, wie du dir dein Überleben sichern kannst.“ Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Das wusste sie. Sie fühlte sich auch plötzlich wieder so seltsam leer, nicht fähig, zu antworten. Was … was sollte sie darauf denn sagen?! „Mein Teamkollege, an dem ich die Technik geübt habe, ist bereits bei den Todsünden gewesen“, erklärte er ihr leise, „Er hat schon alles vergessen. Ich will … bitte, Kyrie …“ Sie schaute ihn an. Seltsame Traurigkeit, die Enttäuschung nur zu ähnlich war, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sie hatte ihre Hände unter dem Tisch in ihren Rock gegraben. Verkrampft hielten sie das Stück Stoff fest. Was … was sollte sie denn antworten? „Ich will es dir direkt beibringen“, setzte er erneut an „Wenn ich es vorher noch an Nathan weitergeben …“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich könnte das gar nicht ertragen. Ich will dich nur einführen. Sodass du eine ungefähre Ahnung hast … Okay? Je schneller wir das hinter uns haben, desto besser ist es für uns beide.“ Er hielt ihr die Hand hin. Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen, auch wenn man ihm ansah, dass ihm gar nicht nach Lächeln zumute war. Sie hatte ihren Freund in eine Zwickmühle gebracht. Er … er hatte all die Zeit für sie gegen etwas verstoßen, an das er glaubte, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. Ohne dass sie es überhaupt in Betracht gezogen hatte. … Schuldete sie es ihm nicht, dass er ihr das beibringen konnte? Schuldgefühle überlagerten ihre Angst vor dem Unbekannten. Und darum schlug sie ein. „Diese Woche fällt mein Schwerttraining mit Nathan aus“, gab sie ihm leise bekannt, „… Da könnten wir …“ Er nickte. „Ich hole dich jeden Tag bei dir zuhause ab, okay?“ Sie nickte. „Wir üben dann am Hochhaus. Was du auf der Erde kannst, schaffst du im Himmel dreimal.“ Diesmal lächelte er aufrichtig. „Ich hoffe, dass das ein schnelles Ende haben wird. Für uns beide.“ Sie nickte. … Sie war den Tränen nahe. Warum … warum tat er so viel für sie? Weil sie Freunde waren? … Was anderes konnte sie für ihn tun, als dieses Geschenk anzunehmen? Ob sie wirklich wollte … oder nicht. Das Mittwochstreffen neigte sich also dem Ende zu – Thi verabschiedete sich und machte sich auf den Rückweg. Nathan wollte von ihr wissen, was er ihr mitgeteilt hatte, aber sie schüttelte einfach den Kopf und schwieg eisern. … Etwas Verbotenes … Sie wollte nichts Verbotenes tun. Sie war schon immer davor gewarnt worden, Verbotenes zu tun … Sie musste gehorchen. Wollte immer im Rechten sein. Aber … Was war jetzt richtiger? Dem Gesetz konform zu handeln … oder einen Freund zu erlösen? Sie seufzte, was ihr einen fragenden Blick von Nathan und ein Fast-Stirnrunzeln von Joshua einbrachte. Sie kannte die Antwort. Morgen war Donnerstag. Von da an würde sie gegen das Gesetz verstoßen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)