Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Luxuria wird jetzt schon seit zweieinhalb Monaten vermisst“, fasste Acedia zusammen, „Das Volk ist in Aufruhr! Unterschiedliche Gruppen stellen Nachforschungen an. Sie suchen alle Orte auf, an denen sie Luxuria einmal angetroffen haben. Die Engel, die zu uns kommen, bitten immer wieder um Hinweise, wie weit wir, Luxurias Verschwinden betreffend, sind!“ Sie holte tief Luft. „Und noch dazu kommt alle gefühlte drei Tage ein Halbengel auf die Welt, dessen Eltern sofort unser Angebot ablehnen, was wirklich nicht sehr hilfreich ist, unseren Ruf aufzubessern.“ Sie verschränkte die Arme. „Es ist nötig, aber … unnötig!“ Ira nickte zustimmend. „Außerdem haben wir immer noch keine Hinweise.“ „Mein Assistent sucht seit einer Weile die Erde nach ihrem Verschwinden ab“, mischte sich Invidia ein, „Aber noch hat er keinen Anhaltspunkt auf ihr Verbleiben.“ Sie lächelte. „Vielleicht hat sie sich ja einen netten Menschen angelacht und benimmt sich deshalb ungewöhnlich?“ „Vielleicht sollten wir alle das tun und unsere Pflichten total vernachlässigen!“, schlug Acedia voll strömenden Sarkasmus vor, „Hört sich doch toll an, oder?“ „Habt ihr vielleicht euren Charakter vertauscht?“, informierte sich Superbia amüsiert, „Soweit ich weiß, warst du doch immer diejenige, die genau das getan hat, während Luxuria die Suchtrupps alarmieren wollte, um dich an den Haaren herbeizuzerren.“ „Das ist nicht witzig!“, entgegnete Acedia aufgewühlt, „Und genau mein Punkt – das ist nicht ihr Stil. Das ist meiner.“ Avaritia entgegnete: „Vielleicht möchte sie dir einfach eines auswischen. Dafür, dass du deine Pflicht und Aufgabe nie ernst genommen hast. Seit sie verschwunden ist, kommst du weitaus pünktlicher und bist immer mit Feuer und Flamme dabei.“ Die Todsünde der Faulheit verschränkte beleidigt ihre Arme und wandte sich ab. „Sie hätte so viele Jahre dafür Zeit gehabt“, meinte Ira langsam, „Warum sollte sie das ausgerechnet jetzt starten?“ „Wieso nicht?“, wollte Invidia wissen. Ira wollte etwas entgegnen, doch er wusste nicht, was. Aber da war doch ein bestimmter Gedanke gewesen, der ihn das sagen hatte lassen … Doch welcher? Er war einfach verschwunden. Also ließ er die Frage unbeantwortet. „Ich nehme an, dass es immer noch unentschieden ausgeht“, fasste Superbia zusammen, „Und Sin meldet sich auch nicht zu Wort, also … Sollten wir uns wohl unseren üblichen Aufgaben widmen.“ Er erhob sich. Alle anderen taten es ihm gleich. Ira sah zu Acedia, die noch immer unzufrieden wirkte. Dass Luxuria ihr wirklich noch immer so viel bedeutete … Doch diese Geschichten gehörten vergangenen Tagen an. Sie hatten keinerlei Existenzberechtigung mehr. Egal, was Luxuria früher für ihn war – er musste als Todsünde denken. Sie brauchten Todsünden, die einsatzfähig waren. Vor allem jetzt. Jetzt, wo die Zeit kam, an der sie … An der sie … was? Er fragte sich, ob dieses Geheimnis auch in den Köpfen der anderen Todsünden Gestalt annahm. Oder ob es nur ihn betraf? Doch was war es … Und viel wichtiger: Was beinhaltete es, dass es einen Denkschutz wert war? War es so gefährlich? Hatte es etwas mit Luxurias Verschwinden zu tun? Ira ließ sich zurückfallen, um neben dem schweigsamen Gula herzuschweben, während alle anderen Todsünden bereits vor ihm flogen, um schnellstmöglich in den Saal des Höchsten Gerichts zu gelangen. Er hatte gehört, dass sich Gula in letzter Zeit wieder häufiger mit den Sportarten des Himmels beschäftigte. Warum wohl? Vielleicht hatte das etwas mit diesem Geheimnis zu tun? Wollte er sich erinnern? Oder nur ablenken? Ablenkung gebührte einer Todsünde nicht. „Gula“, erregte er seine Aufmerksamkeit. Er sprach leise. Kein anderer sollte das mitbekommen – am Ende hielten sie nichts mehr auf ihn, weil sie ihn als verrückt betrachteten, und das wollte er sich nicht leisten. Der hünenhafte Mann blickte zu ihm herunter. Ira war groß, Gula war ein Berg. „Warum spielst du in letzter Zeit wieder?“, fragte er leise. Der große Mann wandte sich ab. Also würde er ihm diese Frage nicht beantworten. „Ich mache mir Sorgen“, ertönte dann nach einer Zeit plötzlich von ihm. Seine Haare hatte er wieder durch einen Rossschwanz gezähmt, „Etwas regt sich. Doch ich bin mir nicht sicher, was.“ Ira nickte. Und er glaubte, seine Antwort gefunden zu haben. Es stellte sich nur die Frage, ob die anderen Todsünden dasselbe fühlten. Oder nur er und Gula? Aber wenn sie beide es nicht wussten, dann würde es vermutlich keiner wissen … Und er würde einfach warten, bis die Denkblockade sich löste. Nur der Ersteller einer solchen konnte sie lösen. Und nachdem Ira eine Todsünde war, blieben nur Sin oder Gott persönlich, die in der Lage wären, ihm eine aufzuerlegen. Und wenn sie eine schufen, dann hatte das einen Grund. Und er würde abwarten müssen, wozu sich das entwickelte – er hatte keine Chance, sie zu brechen. Und wenn sie einen besonders guten Grund hatte, dann war er sich nicht sicher, ob er sie überhaupt aufbrechen wollte. Gula erging es vermutlich genau gleich. Sie kamen im Saal des Höchsten Gerichts an. Und wie erwartet, strömte ein Engel nach dem anderen hinein, wobei jeder zweite sich nach Luxurias Verbleib erkundigte. So als würden sie sie alle persönlich kennen und von ihrer Tadellosigkeit wissen. Der Saal des Höchsten Gerichts befand sich im untersten Bereich des Turms der Ränge, sodass auch der schwächste Engel ihn erreichen konnte. Und entsprechend nutzten die Engel jene Chance. Natürlich musste ihr Anliegen zuerst von den dafür zuständigen Engel des Siebten Rangs kontrolliert werden, danach wurden sie dem jeweiligen Rang zugeteilt, doch mit der Zeit wirkte es auf Ira so, als würde die Hälfte von diesen Leuten nur lügen, um sie über Luxuria auszuquetschen. Seit das Geheimnis an die Öffentlichkeit geraten war, vermehrten sich die Leute, die Tag für Tag hier hereinspazierten und nichts vorzutragen hatten. Vielleicht schwindelten aber auch die unteren Ränge, um etwas herauszubekommen. Acedia hatte verlauten lassen, dass ihr Assistent herausgefunden habe, dass auch in den anderen Rängen Engel plötzlich abhanden gekommen wären. Vielleicht waren die Verbliebenen also besorgt. Eine erschreckende Wendung. Die Todsünden hätten sich einfach für eine Seite entscheiden müssen. Und sie sollten wirklich eine Engelsversammlung einberufen – doch das funktionierte erst mit der Zustimmung der anderen Partei. Also lauschte er den Worten der Bittsteller. Nathan hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, nachdem er und Kyrie von ihrem anstrengenden Ausflug zurückgekehrt waren. Wirklich sehr. Aber Fortschritte hatte er deshalb keine gemacht – vor allem im Fall Luxuria nicht. Aber dafür hatten er und Kyrie beim Kämpfen eindeutige Verbesserungen gezeigt. Kyrie wirkte viel sicherer, beinahe professionell! Na gut, so gut auch wieder nicht, aber sehr wohl passabel! Noch ein paar Ferien, in denen sie wirklich ganze Tage zum Trainieren opfern konnten, dann würde sie tatsächlich meisterhaft werden. Doch heute war kein Training angesetzt – heute war Mittwoch. Und die letzten beiden Mittwoche hatten sie es geschafft, keine vierundzwanzig Stunden im Himmel zu verbringen. Liana, Deliora und Thierry waren erleichtert gewesen, dass Kyrie nichts passiert war und sie hatten wieder viel miteinander unternommen und das so unbekümmert, als sei tatsächlich nichts vorgefallen. Bloß Joshua war ruhiger geworden. Zu ruhig. Es musste die Enttäuschung sein. Diese bittere Enttäuschung. „Seid ihr bereit?“, fragte Nathan seine Freunde, die vor ihm standen und denen eindeutig mulmig zumute war. Es würde ihr erstes Mal auf der Erde werden. „Wir werden uns sofort in Kyries Haus begeben. Nachdem wir alle voll ausgebildete Engel sind, sollte uns das möglich sein, auch wenn ihr den Raum nicht wirklich kennt.“ Bedeutungsvolle Blicke wurden ausgetauscht. „Sogar Kyrie schafft das. Also werdet ihr es wohl auch schaffen!“ „Also gut!“, meinte Liana dann mutig, „Fangen wir an.“ „Halten wir uns an den Händen“, schlug Deliora vor, „Damit gehen wir sicher, dass keiner sich von den anderen trennt.“ „In Kyries Eingangshalle“, erklärte Nathan, „lautet unser Ziel.“ Alle nickten, ergriffen die jeweiligen Hände des anderen und sprachen ihr Ziel laut aus. Nathan hielt Thierrys Hand – nicht Joshuas. Nein, er musste sich von Joshua trennen. Er durfte sich nicht immer in seine Nähe begeben. Nein, das konnte er nicht … Er stand mitten in der Eingangshalle von Kyries Haus. Er schaute neben sich – und erkannte schockiert, dass er Joshuas Hand hielt. … Scheinbar hatte es dieser Mann schon wieder geschafft, seine Gedanken so durcheinander zu werfen, dass … Er sah sich um. Liana grinste ihn an, Deliora schüttelte den Kopf und Thierry verkniff sich das Lachen. Joshua lächelte ihn bloß an, ließ dann aber freiwillig seine Hand los. „Und wo ist jetzt Kyrie?“, wollte Liana wissen, wobei sie sich umschaute. Plötzlich lachte sie. „Wie süß! Kyrie als sie noch im Zyklus war, schaut nur, schaut nur!“ Sie zeigte auf die Bilder, die überall herumhingen. „Nathan“, stellte Joshua fest, der ebenfalls zu den Bildern gegangen war. Nathan zog die Stirn kraus und ging zu Joshua. Das Bild, auf dem er und Kyrie auf einem zu klein geratenen Pferd saßen und wie kleine Ritter wirkten. „Ja“, meinte er. Joshua würde ihn einfach überall erkennen. Liana sah das Bild an und lachte los. „So hast du im Zyklus ausgesehen?“, fragte sie, „Du warst ja mal richtig süß!“ „Das war kein Zyklus“, verbesserte Deliora sie barsch, „Er wurde einfach zurückgesetzt, um hier nicht aufzufallen. Das von Kyrie ist auch kein Zyklus.“ „Apropos“, meinte Liana, „Sollte sie nicht hier irgendwo sein?“ Sie schaute sich um, wobei sie Delioras Zurechtweisung einfach überging. Deliora zog einen Schmollmund. „Zieht eure Flügel ein“, wies Nathan sie an, „Die haben hier nichts verloren.“ Joshua tat es ohne zu zögern, die anderen drei schauten ihn ungläubig an. Er selbst ließ seine auch verschwinden. „Ohne Flügel?“, sprach Thierry ehrfürchtig, „Wie aufregend!“ Seine verschwanden. Doch er wirkte immernoch riesig. Deliora tat es ihm kommentarlos nach, drehte sich aber forschend um, um zu überprüfen, ob sie jetzt tatsächlich weg waren. Nur Liana brauchte länger. „Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gemacht!“, rief sie laut aus, „Wie spannend! So spannend!“ Und schon waren ihre Federschwingen genauso verschwunden. „Und sie sind weg!“, wunderte sie sich, „Ach so!“ Sie strahlte Nathan an. „Darum hast du uns angewiesen, unsere Rücken frei zu halten! Sonst wären dort jetzt Löcher zu sehen!“ Sie nickte zufrieden. „Du denkst voraus.“ „Das Zeug, das die Ränge herstellen, wird sicher den ganzen Tag halten“, fügte Nathan noch hinzu, wobei er nicht umhin konnte, Joshua kurz anzugrinsen, „Also macht euch keine Sorgen. Außerdem solltet ihr ganz nach Menschenart gekleidet sein. Also unauffällig.“ Seine nächsten Worte richtete er vor allem an Liana: „Jetzt liegt es nur noch an euch, euch auch unauffällig zu verhalten.“ Er verschränkte die Arme. „Kapiert? Kein Himmel, keine Engel, kein Licht und keine Flügel!“ Alle nickten zustimmend. „Ihr seid schon da?“, ertönte Kyries Stimme von oben. Nathan wandte sich der Treppe zu, auf der seine Schülerin verwundert stand. „Natürlich!“, rief er, „Oder hast du erwartet, dass wir zu spät kommen würden?“ Sie rannte die Treppen nach unten und stellte sich vor ihre Freunde, welche sie überrascht anstarrten – und sie schaute genauso erstaunt zu ihnen. „Ohne Flügel“, murmelte Thierry vor sich hin, „kann man nicht fliegen …“ Nathan lachte. „Darum sollten wir jetzt losgehen!“ „Die Häuser sind riesig!“, rief Liana erstaunt aus, als sie am Gehsteig entlang lief und in den Himmel hinauf starrte, „Und diese Schaufenster! Und alles ist voller bunter Farben!“ Ein Glitzern war in ihren Augen zu sehen, das kindliche Freude andeutete. „Und es ist eiskalt“, murmelte Deliora, die die Hände verschränkte und sich beinahe im Gehen zusammenkauerte. „Ich kann dir immernoch meine Jacke leihen“, bot Kyrie ihr an. Es war eigentlich gar nicht so kalt. Während der Ferien war das Wetter wieder eingebrochen. Einige Leute redeten davon, dass es in diesem Jahr wieder einmal Schnee geben würde. Aber heute war zum Glück ein Ausnahmetag, die Temperatur war wieder ein wenig angestiegen. Die schaute sie an. Dann richtete sie ihre Brille. „Nein, danke, ich halte es aus.“ „Ich hätte ihnen Mäntel anfertigen lassen sollen“, murmelte Nathan vor sich hin. Er trug wieder eine Sonnenbrille und eine Kappe. „Hättest du“, stimmte Deliora zu, „Das ist wirklich sehr unverantwortlich von dir. Schande über dich.“ Sie klang total ernst. „Wir können in einem Geschäft auch eine Jacke kaufen“, bot Kyrie an. „Sie haben kein Geld“, entgegnete Nathan. „Das kann ich ihnen kaufen“, meinte Kyrie, „Im Himmel nützt es ihnen doch nichts, da kann ich die Jacken dann behalten.“ „Wozu benötigst du dann Thierrys Jacke?“, wunderte sich Nathan belustigt. Sie winkte ab und stellte sich neben Deliora, der sie den Vorschlag unterbreitete. Während sie einen Schaufensterbummel veranstalteten – wobei Liana und Thierry in jedes zweite Geschäft eintraten, um dort sämtliche Kleidung anzuprobieren und neue Gegenstände zu entdecken, wie etwa Spielzeug, - ging Kyrie neben Nathan her, der auffällig weit weg von Joshua ging. Es war wirklich traurig, diese beiden mitanzusehen … Sie liebten sich doch eindeutig und mussten voneinander getrennt sein, obwohl sie zusammen waren und … Kompliziert war es obendrein noch. Und das alles nur, weil Nathan ein Assistent war. Ob er sich manchmal wohl wünschte, abgelehnt zu haben? … Dann wäre ein anderer Assistent zu ihr gekommen. Eine andere Person. … Hätte derjenige andere Lösungen gefunden als Nathan? Hätte er sich nicht von ihr … losgelöst? Hätte sie nicht alleine gelassen … Hätte sie nicht angestarrt … Wenn der Assistent eine Frau gewesen wäre … Hätte Melinda sich dann überhaupt jemals dazu hinreißen lassen, sich mit Kyrie anzufreunden? Ein Plakat auf der anderen Straßenseite befreite sie von ihren trübseligen Gedanken. … Es war nicht zu ändern – weder für Nathan, noch für sie. Sie war einfach dankbar, dass Nathan und sie wieder Freunde waren. Denn … wer auch immer der andere Assistent gewesen wäre: Es wäre nicht sicher gewesen, ob er sie in ihren Zeiten der Not, als sie bereits ein freier Engel war, wieder aufgenommen hätte. Das hatte Nathan getan. Und dafür … empfand sie tiefsten Dank. „Liana, der da!“, rief sie Liana zu, die gerade wieder aus einem Geschäft stürmte, um ins nächste zu gelangen. Die Frau blieb stehen und schaute Kyrie fragend an. „Auf dem Plakat“, erklärte sie, „Das ist der Sänger der Sieben Sünden.“ „Ah!“, machte Liana, dann besah sie sich des Mannes. Sie wirkte nachdenklich, aber dann nickte sie. „Ja, den kenne ich. Nate, so heißt er. Den habe ich bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr gesehen! Jetzt weiß ich auch warum.“ Sie lachte. „Na ja, in gut fünfzehn Jahren werde ich ihm schon wieder begegnen, dann kann er mir vorsingen.“ Sie grinste. „Wir könnten auch gemeinsam auf ein Konzert gehen“, schlug Kyrie vor, „Falls sie einmal wieder hier auftreten.“ Sie würde sich informieren. Dann konnte sie auch Ray ihnen allen vorstellen! … Moment. Wollte sie das überhaupt? Das wäre nur fünf weitere Lügen, die sie ihm auftischte – und ob diese fünf ihre Klappe halten konnten? Und … Nathan … Wie sollte sie das mit Nathan erklären? Vielleicht würde ja nur Liana kommen wollen? „Warum kennst du eigentlich jeden?“, wollte Deliora wissen, die plötzlich neben Kyrie stand. Liana grinste. „Wer sich informiert, ist der Gewinner.“ „Was ist das für ein Spruch?“, murrte die andere. „Das passiert eben, wenn die Engel keine Aufgaben haben“, beruhigte Nathan sie, „Wir beide sind ja rund um die Uhr beschäftigt, Thi hat genauso seine Hobbys – nur Liana handelt mit Informationen.“ „So etwas nennt sich, glaube ich, Tratschtante“, gab Thierry hinzu, der hinter Liana aus dem Geschäft trat. Und alle lachten. Nach einer langen, ausgiebigen und besonders humorvollen Shoppingtour, deren Krönung darin bestand, dass Thierry ein übergroßes Frauenkleid anzog, das im Himmel auch für Männer akzeptabel gewesen wäre, führten sie ihre Runde durch die Stadt solange fort, bis sie in einem kleinen Café landeten, in dem ihre Freunde zum ersten Mal heiße Schokolade tranken, süßen Kuchen aßen und andere Snacks zu sich nahmen. „Das ist wirklich … ein Traum“, schwärmte Liana, „Ich will für immer hier bleiben!“ Sie nahm noch ein Stück Kuchen zu sich. „Jetzt verstehe ich, wieso Nathan so fest zugenommen hat“, murmelte Joshua, als er das letzte Stück seines Kuchens verschlang. Alle starrten ihn an. Ausnahmslos alle. Fassungslos. Überrascht. „W- warte mal …“, fing sich Liana wieder, „Du … hast geredet? Schlecht? Über …“ Sie deutete auf Nathan, der direkt neben ihr saß, weshalb sie ihren Finger in sein Gesicht bohrte, „ihn?!“ Nathan warf ihr einen bösen Blick zu und räumte ihre Hand aus seinem Gesicht. Dann schaute er Joshua unbegeistert an. „Was soll das jetzt wieder heißen?“ Thierry antwortete verträumt, als er die heiße Schokolade trank: „Hier würde ich alles aufgeben … Für das!“ Dann sah er zu Joshua. „Ich verstehe es jetzt auch.“ Liana klopfte beruhigend auf Nathans Bauch. „Keine Panik, alle haben das bemerkt.“ Kyrie lachte. „Ihr seid aber ganz schön kritisch. Er ist doch gut durchtrainiert!“ Nathan nickte zustimmend und hielt seinen Daumen hoch. „Sie hat es erkannt.“ „Du kanntest ihn früher nicht“, wies Thierry sie hin, „Als er … und …“ Er aß seinen Kuchen weiter und brach das Gespräch ab. „Ich liebe das Zeug!“, schrie er, „Ich komme von jetzt an jeden Tag hierher!“ Eine Kellnerin warf ihnen jetzt einen auffälligen, fragenden Blick zu. Vorhin hatte sie es noch kaschiert. „Du findest doch von selbst nicht einmal vom Himmel runter“, murrte Deliora leise. „Wie wäre es, wenn wir jedes Mittwochtreffen von jetzt an hier unten beginnen?“, schlug Liana vor, „Oder jedes zweite komplett hier verbringen?“ Plötzlich waren alle Blicke auf Kyrie gerichtet. Sie schaute verzweifelt zu Nathan. „Nein“, sagte er geradeheraus, „Ich lasse mich hier nicht als dick bezeichnen!“ „Dann wären wir alle dick“, versuchte Liana, ihn zu überreden. So wie sie dreinschauten, würden sie ohne Nathan wohl wirklich nicht vom Himmel runter kommen. „Meinetwegen“, stimmte er dann doch lächelnd zu und aß das letzte Stück Kuchen, das auf Lianas Teller gelegen hatte. Er wirkte zufrieden. „Und das war der Preis dafür.“ Sie sah ihn erzürnt an. „Das war mein Kuchen!“ „Stopft euch jetzt nicht zu voll“, meinte Kyrie dann. Sie hatte das Gefühl, eingreifen zu müssen, um Tote zu verhindern. „Meine Eltern haben für euch ein Abendessen vorbereitet.“ „Noch mehr Essen!“, freute sich Thierry, „Ich glaube, ich bin im Himmel!“ John hatte von Kyrie ein wenig über ihre Freunde erfahren können, doch als sie alle um den Tisch herum saßen und gierig auf das Essen starrten, fing seine Welt an, sich zu verschieben. Und das sollten wirklich Engel sein? Er hatte sie nicht kommen sehen, weil Kyrie bereits aus dem Haus war, als Magdalena und er zurückgekommen waren. Und sie waren erst jetzt wieder hier. Alle hatten sich bei ihm höflich vorgestellt. Es schien, als sei er der erste Mensch, mit dem sie gesprochen hatten. Und vor allem waren sie freundlich und schienen gutherzig! Und wunderschön waren sie. Auch Magdalena schien verzaubert von ihrem Anblick zu sein. Zwar trugen sie scheinbar gewöhnliche Kleidung, doch in ihren Gesichtern lag ein Zauber, der ihn anzog. Der ihn beeindruckte. Sie … machten ihn glücklich, als würde ein Licht ihn umarmen. Und als er die Freude in ihren Gesichtern sah, während er ihnen das Essen servierte, verstärkte das sein Glücksgefühl lediglich. Er liebte diese Engel bereits jetzt schon. „Und du kennst Nathan schon seit er klein war?“, fragte der Engel, der sich Liana nannte, „Und wusstest die ganze Zeit über von seinem Engeldasein?“ John nickte ehrfürchtig. „Und du hast Kyrie nie etwas davon gesagt?“, fügte sie noch verwundert hinzu, während sie aß, „Das ist wirklich erstaunlich. Sehr gutes Durchhaltevermögen. Das bewundere ich ziemlich. Ich meine – ich hätte das vermutlich nicht ausgehalten. Meine Tochter solange zu belügen!“ Sie lachte leise. „Na ja, meine Tochter ist gut, ich habe ja keine. Glaube ich. Und wenn, würde ich sie sowieso nie treffen.“ Sie aß einfach weiter. John starrte sie an. Er musste seine Gedanken erst ordnen. Wie konnte sie so schnell so viele Themen ansprechen? … Aber natürlich behielt sie Recht. Er hatte seine Tochter belogen. Oder eher – ihr etwas verschwiegen. Doch war das nicht auch eine Lüge? Eine berechtigte, denn sie war von Engeln befohlen worden, doch … eine Lüge ohne Zweifel. „Belästige ihn nicht so mit deinem Leben“, wies Deliora sie an. Der Engel trug eine Brille. John fragte sich, ob sie die wirklich benötigte – Kyrie hatte ihm erzählt, dass der Himmel eine heilende Wirkung besäße. Sie hatte es ja auch bewiesen, als sie ihren Arm wieder heil gemacht hatte. Warum brauchte der Engel dann eine solche Gerätschaft auf der Nase? „Nein, das macht mir nichts aus“, entgegnete John, „Ich rede gerne mit ihr.“ „Wie die Tochter, so der Vater“, stellte Thierry fest, „Zu gutmütig!“ „Was hat das mit Gutmütigkeit zu tun?“, wollte Liana empört wissen, „Ich führe ganz normale Gespräche!“ „Als seiest du normal!“, gab er zurück. Nathan grinste John an. „Hast du dir Engel je so vorgestellt?“ John schüttelte den Kopf. Sein Weltbild war … zerstört. In Trümmer gehauen. Wo war die Anmut der Sieben Todsünden? Wo war die Grazie aus den Geschichten? „Ich wollte dich vor der Wahrheit bewahren“, entschuldigte sich Kyrie dann, wobei sie ihm eine Hand auf die Schulter legte, „Aber … ich liebe sie genauso, wie sie sind.“ „Das war aber süß von dir!“, rief Liana, sprang von ihrem Stuhl auf, umrundeten den gesamten Tisch und umarmte Kyrie, „Ich vermisse meine Flügel!“ Kyrie lächelte. John lächelte zurück. „Ich glaube, ich verstehe, was du an ihnen findest.“ Auch wenn sie ganz und gar nicht dem entsprachen, was er sich vorgestellt hatte. Doch auch Kyrie war ein Engel. Und sie war ebenfalls … normal. Hatte einen guten Charakter, machte ausgefallene Sachen. Er vermutete, dass jeder das Recht darauf hatte, seine Eigenarten zu entwickeln – Engel wie auch Menschen. Er schüttelte den Kopf. Vielleicht würde er den gesamten Abend morgen beim Aufwachen aber auch für einen einfachen, verrückten Traum halten. „Ich muss leider lernen, sonst hätte ich euch gerne noch länger hier behalten“, entschuldigte sich Kyrie bei ihren Freunden. Sie hatte jedem eine Jacke geliehen, weil die Nacht doch um einiges kälter war als der Tag. Deliora hatte ihre eigene Jacke anbehalten. Kyrie hatte sie ihr geschenkt. „Dieser Fernseher war unglaublich“, rief Thierry aus, „Was für seltsame Sportarten ihr habt! Gut, dass dein Vater mir die Regeln erklärt hat. Ich werde eine Mannschaft im Himmel gründen.“ Liana hielt Kyries Mobiltelefon in der Hand und tippte darauf herum. „Oh, die Nachricht ging an Ray.“ Kyrie ging neben ihr her, um zu sehen, was sie geschrieben hatte. Doch es war sinnloses Geschreibsel. „Das ist nicht schlimm“, meinte sie, „Aber so ein Telefon ist doch praktisch.“ „Ja! Man kann jeden immer erreichen! Fast wie der Ruf. Nur praktischer, weil der andere nicht zu kommen hat und man keine Energie verschwendet. Man kann auf große Entfernungen miteinander reden!“ Sie grinste. „Das wäre doch etwas zum Erfinden!“ Sie starrte Deliora an. „Schon versucht“, mischte sich Nathan ein, der neben Thierry herging – und Joshua zu meiden schien, „Aber das funktioniert im Himmel nicht. Die Menschen haben ein Netz aufgebaut, mit dem das geht. Und das erreicht den Himmel nicht.“ „Schade“, jammerte Liana, „Oh!“, rief sie dann aus, „Eine Antwort.“ Kyrie nahm ihr das Handy und las lautlos: „Was soll das denn heißen?“ „Nur ein bedeutungsloser Versuch“, tippte sie, „Entschuldige. Gute Nacht, bis morgen!“ Sie sandte sie Nachricht. „Jetzt bitte nichts mehr schreiben“; bat sie ihre Freundin. Diese kicherte. „Tut mir leid!“ „Aber du hast wirklich freundliche Eltern“, meinte Deliora, „Du kleiner Glückspilz.“ Sie lächelte sanft. „Ich … ich frage mich, wer meine Eltern sind …“ Alle Engel richteten ihre Augen auf Deliora. „Was?“, fragte sie genervt, wobei sie von einem zum anderen blickte, „Ich bin berechtigt, diese Frage zu stellen!“ … Es musste wirklich … seltsam sein, ohne Eltern aufzuwachsen. Ihre Eltern waren immer für sie da, hatten sie immer unterstützt … Was hätte sie nur ohne sie getan? Sie wäre wohl sehr einsam gewesen. Bis auf Nathan, der sich ja so und anders mit ihr angefreundet hätte … „Ja, aber …“, entgegnete Thierry, „Wir sind doch deine Familie!“ Kyrie schaute Thierry überrascht an. … Waren Freunde eine Familie? So hatte sie das noch gar nie betrachtet. Wenn man keine Eltern hatte, dann … hatte man wohl Freunde. Also waren im Umkehrschluss auch Eltern Freunde. „Habe ich je das Gegenteil behauptet?“, verlangte Deliora zu wissen. Dann lächelte sie erneut. Und plötzlich war die Stimmung wieder locker und die letzten Schritte bis zur Dachterrasse des leer stehenden Hauses wurden neben Ächzen von Lachen begleitet. „Und das ist der Ort, an dem Xenon …?“, wollte Liana mitfühlend wissen, ehe sie ihre Flügel ausstreckte. Kyrie nickte und ließ auch ihre ausfahren. Liana schüttelte den Kopf und umarmte Kyrie. „Und du lernst heute noch ein wenig?“ „Ja“, antwortete Nathan ihrerstatt, „Nachdem ihr jetzt ein bisschen überzogen habt, wäre sie sowieso zu müde, wenn sie einfach zuhause schlafen würde. Wir trainieren jetzt.“ Kyrie nickte erneut. „Dann viel Spaß“, wünschten sie ihr von allen Seiten, bis nur noch sie und Nathan übrig blieben. Er ließ auch seine Flügel erscheinen. „Bist du bereit?“, wollte er wissen. Sie nickte. „Ja. Und danke für den schönen Tag.“ Sie lächelte glücklich. „Ich freue mich schon auf die nächsten Male.“ Und damit warpten sie sich in den Himmel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)