Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Ray schlenderte die Straße entlang und ignorierte das schwarze Auto, das einfach an ihm vorbeifuhr, als gäbe es ihn nicht. Irgendwie fand er das amüsant, was John abzog – ihn einfach so auszugrenzen. Er wollte nicht wagemutig sein, doch er befürchtete beinahe, dass das etwas mit seiner Einstellung zu Gott zu tun hatte. Aber … eigentlich war es doch bedeutungslos. Viel bedeutender war sein akuter Schlafmangel. Er hatte die letzten Tage nicht zuhause verbracht. Nachdem er am Montag mit Kyrie in dem Café sein Eis gegessen, seinen Kaffee getrunken und sich mit ihr ausgiebig über – wortwörtlich – Gott und die Welt unterhalten hatte, hatte er sie noch nach Hause begleitet, um daraufhin von Ted abgeholt zu werden, der dann den restlichen Montag mit ihm verbracht hatte. Und Dienstag. Und da war dann Marc dazugekommen – darum hatte er auch am Dienstag keine Zeit für Kyrie gehabt. Es war eine spontane Verabredung mit Ted und Marc, also … wollte er sie eigentlich am Mittwoch treffen – aber da war sie beschäftigt gewesen. Und so hatten sie sich auf Donnerstag einigen können. Leider hatte er aber am Dienstag die Zeit übersehen, war deshalb bis Mittwoch bei Marc geblieben und hatte mit ihm die Nacht durchgemacht … Und entsprechend wenig Schlaf abbekommen. Aber zum Glück war er daran gewöhnt. Bloß dass diesmal der Uni-Stress wegfiel. Immer wenn er jemanden traf, dem er erzählte, dass er drei Studien auf einmal absolvierte, widmete dieser ihm einen blöden Blick – aber er ließ sich nicht abhalten. Er würde diese drei Studien zu Ende bringen, würde sie thematisch vereinen und damit die Welt verbessern. Und dann hätten diese Leute alle einen richtigen Grund, blöd zu starren. Vor allem, wenn er in den Ferien anfangen musste zu lernen. Ab morgen nahm er sich das wirklich vor! Dabei fiel ihm auf, dass Kyrie nicht blöd gestarrt hatte. Überrascht, aber nicht blöd. Sie schien ihn deshalb einfach nicht für verrückt zu halten. Das war ein schönes Gefühl. Wirklich … Was würden sie heute eigentlich machen? An ihm spazierten zwei große Männer vorbei. Gefährlich eng beisammen gingen die beiden – und seltsam wirkten sie. Vielleicht kamen sie aus dem Süden, wo sie solche Temperaturen nicht mehr für angenehm hielten, doch heute war eigentlich ein schöner Tag. Die Sonne lachte endlich wieder vom Himmel und wärmte die Stadt auf. Vom Wetterumbruch der letzten Tage war kaum mehr etwas zu spüren. Und trotzdem trug einer eine Kappe, der andere einen Mantel. Seltsame Gesellen liefen hier herum – aber sie waren bedeutungslos. Also setzte er seinen Weg bedenkenlos fort, solange bis er am Gartenzaun von Kyries Haus angekommen war. Heute saß Kyrie gar nicht im Garten. Seltsam. Daraufhin öffnete er das kleine Gartentor und schritt in den Garten ein. Er überquerte den Weg, der von dieser Grünfläche umgeben war, und klopfte an der Tür. Johns Auto stand am Parkplatz – ziemlich schief, aber es stand -, doch wenn er Glück hatte, würde Kyrie ihm öffnen und sie konnten gleich gehen. Sein Vorschlag variierte zwar nicht vom letzten, doch vielleicht war ihr etwas Neues eingefallen. „Hallo!“, ertönte Kyries fröhliche Stimme, als sie die Tür öffnete und zu ihm aufsah. Sie wirkte irgendwie blass. Blasser als sonst. „Hey“, grüßte er zurück, „Bist du bereit oder bin ich heute früh dran?“ Sie schaute auf eine imaginäre Armbanduhr. „Du bist sogar zu spät“, bemängelte sie ihn, lächelte ihm dann aber zu und schlug vor: „Willst du vielleicht zum Essen bleiben?“ Er blinzelte sie perplex an. „Mein Vater ist erst jetzt zurückgekommen“, erklärte sie, „Darum habe ich noch nicht gegessen.“ Er legte den Kopf schief. „Also würde das deinem Vater keinen Ärger bereiten?“, versicherte er sich. Sie schüttelte begeistert den Kopf und öffnete die Tür weiter. „Nein, keineswegs!“ Dann sah sie ihn verschmilzt an. „Um ehrlich zu sein, habe ich bereits für dich mitgekocht.“ „Hatte ich überhaupt eine Wahl?“, stellte er die rhetorische Frage und trat danach ins Haus ein. Es war eine verhältnismäßig große Halle. Natürlich war die bei seinem Vater zuhause größer und prunkvoller und … nicht sofort mit der Küche verbunden und auch das Wohnzimmer hatte einen eigenen Raum und … Irgendwie wirkte dieser untere Stock mehr wie eine Wohnung als wie ein richtig abgetrenntes Haus. Das wiederum erinnerte ihn an sein Zuhause, wo sie ebenso gemütlich dahinvegetierten und sich nichts aus unnötigen Verzierungen und möglichst vielen, großen Räumen machten. Er sah sich genauer um – das ganze Wohnzimmer war nett dekoriert. Vor allem Fotos dominierten den Raum. Fotos von einer kleinen Kyrie und einem anderen Kind auf Ponys und mit Schultaschen, die viel zu groß für die Kinder wirkten. Man konnte Kyries ganzes Entwicklungsstadium aus den Bildern erkennen – scheinbar liebte jemand in ihrer Familie Fotos. Doch auch Bilder von John und Magdalena waren dabei, die diese in jungen Jahren zeigten. Sie schienen sich ja schon ewig zu kennen. Doch auch andere Gegenstände verliehen dem Raum Leben. Wirklich ein nettes Haus. Bei seinem Vater zuhause gab es keine Bilder von Kindern, keines seiner Mutter … und auch keines von Kim. Das waren eben die Unterschiede. Zudem erkannte er, dass eine Treppe noch nach oben führte. Doch das obere Geschoss konnte – in Anbetracht der Gesamtgröße des Hauses – nicht allzu groß sein. Aber es würden bestimmt noch tausende Fotos herumlungern. Kyrie kicherte belustigt und bedeutete ihm dann, ihr zu folgen. Sie steuerten direkt auf die Küche zu, die man bereits von der Eingangstür aus sehen konnte, da sie in keinem versteckten Winkel lag. Aber die Küche an sich war relativ modern. Nicht, dass er sich allzu gut mit Küchen auskannte. Doch ihm fiel auf, dass alles schön sauber war. Dann stieg ihm der Geruch von Essen in die Nase. Es duftete nach frisch Gekochtem, Würzigem … Er hatte keine Ahnung, was genau es werden würde, doch allein der Geschmack sorgte dafür, dass er Hunger verspürte. Bei Marc und Ted existierte wirklich nichts zu essen, was es nicht um wenige Aran in einem Imbissladen zu kaufen gäbe. So gesehen, sollte er Kim wirklich dankbar dafür sein, dass sie jeden Tag für ihn mitkochte, doch … Er würde es auch ohne sie überleben. Das war unnötig. „Das riecht ja besonders lecker“, lobte er, „Hast du das gekocht?“ „Mein Vater und ich zusammen“, verbesserte sie ihn lächelnd, „Ich hoffe, dass es … annehmbar sein wird. Religionslehrer sind keine Köche.“ Er lachte. „Das kann ich mir vorstellen. Ist deine Mutter nicht da?“ Sonst saß diese ja auch immer im Wagen. Kyrie schüttelte den Kopf. „Nein, sie arbeitet noch“, klärte sie ihn auf, „Aber bitte setze dich.“ Sie deutete auf einen Stuhl. Es war wirklich für drei Leute gedeckt! Sie hätte ihn tatsächlich nicht gehen lassen. Aber er war irgendwie froh darum. „Hallo“, begrüßte er John, als er diesen beim Kühlschrank stehen sah. John drehte sich um und starrte ihn an. Aber er wirkte gar nicht so feindselig wie sonst. „Grüß Gott“, erwiderte er streng, „Bist du gut angekommen?“, informierte er sich, „Ich wollte dich mitnehmen, aber es ist etwas dazwischen gekommen.“ Ray winkte ab. „Bitte, es nichts passiert“, entgegnete er locker, „Die paar Schritte habe ich noch geschafft.“ Er grinste. „Aber danke für den Gedanken.“ „Hm“, machte John und schloss den Kühlschrank, wobei er ein Getränk herausholte und auf den Tisch stellte. Kyrie ging wieder zum Herd und bearbeitete dort das Essen. John füllte sein Glas auf. „Willst du auch etwas davon?“, bot er ihm an. Ray nickte. „Ja, danke.“ John nahm das Glas und ließ auch dort den Saft hineinfallen. Als er es zurückgab, nickte Ray noch einmal dankbar. „Es dauert nicht mehr lange“, versprach Kyrie. John lächelte Kopf schüttelnd, Ray schaute zu ihr. Sie wirkte höchst unprofessionell, als würde sie nicht allzu oft kochen. Aber er wollte gar nicht wissen, wie er selbst dabei aussehen würde. Oder Kylie. Dieser Herd würde vermutlich nicht lange stehen. Sie war auch mehr wie Ted oder Marc, dass sie den Imbiss bevorzugte. „Erholst du dich in den Ferien?“, begann John plötzlich einen Smalltalk. Das überraschte Ray doch sehr. Er hätte nicht gedacht, dass der Mann Kontakt zu ihm aufnehmen würde – auch wenn sie sich gegenüber saßen. „Ja“, antwortete er wahrheitsgetreu, „Es ist schon etwas anderes.“ Dann grinste er. „Aber langsam werde ich mit dem Lernen auch wieder starten müssen.“ John nickte. „Das wäre wohl besser“; meinte er, „Hoffentlich kommt Kyrie auch zu dem Entschluss.“ Ray blickte kurz zu seiner Mauerfreundin, die plötzlich ziemlich steif und ungelenk wirkte. „Ach? Sie lernt noch gar nicht?“, fragte er nach – schmunzelnd. Spielte sie also nur die fleißige Studentin und lag derweil wie jeder andere auf der faulen Haut? So eine war sie also! John wirkte verwirrt und schaute zu seiner Tochter. „Oder?“ Kyrie sah vom Herd auf und von einem zum anderen. Sie schien verlegen zu sein. „Ja, Lernen … Haha, das ist doch nur ein Rahmenbegriff. Definieren kann man ihn doch ziemlich breit, oder?“ Sie lachte nervös. Niemand stimmte mit ein. „Oder?“, wiederholte sie. „Was lernst du denn sonst, wenn du nicht fürs Studium lernst?“, wollte Ray wissen, „Wie man sich endlich einmal entspannt?“ Sie blinzelte ihn an. „J- Ja!“, meinte sie, „Genau … das.“ Das wirkte so nicht-überzeugend, dass Ray zu dem Schluss kam, dass sie ein Geheimnis vor ihm haben musste. „Das Tanzen kann es nicht sein“, sinnierte er laut, „Das kannst du nämlich ausgezeichnet. Im Kochen bist du auch ganz gut, wie ich das einschätzen kann, und im Nähen müsstest du auch ganz geschickt sein, wenn du das Talent deiner Mutter geerbt hast.“ Kyrie lief rot an, während John ein Lachen entfuhr. „Wenn das so wäre, mein Junge!“ Ray grinste. „Kein Talent im Nähen?“ Sie wandte sich wieder dem Herd zu. „Ausbaufähig.“ „Was übst du denn sonst?“, informierte er sich gespannt. „Geheimnis“, erklang von ihrer Seite. „Na gut, wenn du im nächsten Test versagst, offenbarst du es mir“, schlug er vor, „Dann wird dir bewusst, wie wichtig es ist, zu lernen!“ „Der Junge gefällt mir“, kommentierte John. Kyrie wandte sich um und trug zwei Teller zum Tisch. Dann pflanzte sie in die Mitte eine Schüssel mit Salat. „Mahlzeit, weniger Reden, mehr Essen“, wies sie sie an und holte danach noch ihr eigenes Essen. „Danke, Mahlzeit“, wünschte Ray ihnen. „Einen guten Appetit“, murmelte John und startete. Während sie aßen, verklangen die Gespräche allmählich – bis Ray seinen Kommentar zum Essen einfach nicht mehr verkneifen konnte: „Das schmeckt ja vorzüglich!“ Kyrie sah ihn erfreut an. „Wirklich? Dir schmeckt das?“ Sie wirkte überrascht. „Warum überrascht dich das?“, wunderte er sich laut, wobei er sein Essen skeptisch musterte, „Ist da etwas drin, das nicht drinnen sein sollte?“ Kyrie lachte kurz auf. „Nein! So war … Also, ich - …“ „Du bist nicht so gut im Kochen und freust dich“, übersetzte John, wobei er gemütlich weiter aß. Und jeden Bissen sichtlich genoss. Seine Tochter nickte. Ray schmunzelte und machte sich ebenfalls wieder über das Essen her. Das war also eine intakte Familienbeziehung. Sie ärgerten sich gegenseitig, sie lachten miteinander und sie aßen zusammen. So etwas entwickelte sich, wenn es keine Ärgernisse in der Vergangenheit gab, die einen Keil zwischen die Familie trieben. Einfach schön. Als das Essen beendet war, verräumte Kyrie die Reste und startete den Abwasch, wobei Ray ihr anbot, dabei zu helfen. Doch sie lehnte ab – was Ray auch nicht wirklich empörte. Er hätte auch abgelehnt, wenn das Angebot von ihm gekommen wäre. Also pflanzte er sich wieder vor John und starrte den eher kleinen Mann neugierig an. Dieser betrachtete ihn ebenfalls. Kyrie klapperte mit den Utensilien herum und verursachte damit Hintergrundgeräusche. „Was habt ihr heute vor?“, informierte sich John. Ray zuckte mit den Schultern. „Reden“, entgegnete er, „Auch wenn uns langsam die Themen ausgehen.“ Er grinste. „Dir fällt doch immer wieder etwas ein“, kommentierte Kyrie. Er hielt sein Grinsen aufrecht. Da fiel ihm ein, dass er ihr einen schönen Gruß ausrichten sollte – von Melinda. Der Melinda, die er beim Konzert durch Kyrie ersetzt hatte. Sie war zufällig bei Marc gewesen, als er ebenfalls dort war. Sie war ganz nett. Wenn auch etwas herrisch und vielleicht nervig. Aber was das Aussehen anging, hatte sie wirklich gewisse Ähnlichkeit mit Kyrie, wie Ken ihm berichtet hatte, nachdem Kyrie aus dem Auto gestiegen war – nach dem Konzert. Maggie war eine alte Freundin von Melinda. Diese hatte sich scheinbar für Nathan, der ins Blaue Dorf gezogen war, komplett verändert. Und zwar teuflisch in Richtung Kyrie, da diese Nathans Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Als er davon gehört hatte, war ein Stich der Eifersucht durch ihn gezuckt, auch wenn er sich sicher war, dass Kyrie ansatzweise davon erzählt hatte – bloß dass es damals anders geklungen hatte. Aber in Anbetracht des Fortlaufs der Geschichte, war er unsicher, ob sich Kyrie über die Erwähnung des Namens dieser Frau freuen würde. Er würde es für sich behalten, wenn sie nicht zufällig darauf zu sprechen kämen. „Und du studierst wirklich drei Studienrichtungen?“, fragte John interessiert nach, „Das klingt sehr schwierig.“ Ray nickte. „Ja, aber wenn man sich die Zeit nimmt und gut einteilt, dann läuft das schon. Ich habe ja sonst keine Hobbys.“ Er grinste. „Na ja, keine allzu wichtigen.“ John nickte. „Damit erinnerst du mich an meine Frau – sie hat auch Zeit für zehn verschiedene Dinge am Tag, wohingegen ich mich auf gerade einmal ein oder zwei konzentrieren kann.“ Ray hörte nicht auf zu grinsen. „Dann weiß ich ja, woher Kyrie ihr Multitasking-Talent hat. Sie kann nicht einmal schlafen und lernen gleichzeitig.“ „So früh steht sie auch wieder nicht auf“, verbesserte John ihn. Er sah belustigt zu Kyrie. „Was man hier alles erfährt.“ Dann lachte er. Und John stimmte mit ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)