Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Keine Planänderung vorgesehen!“, hatte sie gestern Abend noch eine Nachricht erreicht – daraufhin war sie in den Himmel aufgebrochen und hatte die ganze Nacht lang geübt. Und wie sie geübt hatte … Es war die härteste Übungsstunde – Stunde war gut! – seit geraumer Zeit. Seit dem Kampf mit Thi, um genau zu sein. Auch die vom Samstag war anstrengend, doch die vom Sonntag extrem. Nathan hatte plötzlich ganz verändert gekämpft … gar nicht …wie er selbst. Im Nachhinein hatte er ihr verraten, dass er die Kampfstile anderer bestmöglich imitiert hatte. Dabei war ihr aufgefallen, dass sie total auf seinen konzentriert gewesen war – sie hatte bereits seine Angriffe erwartet, ihr Schwert so gehalten, dass sie seine Angriffe blocken konnte … und dann hatte er einfach etwas ganz anderes gemacht! „Kampfbewusstsein“, murmelte sie. So hatte er das genannt. Sie musste die Schritte aller Gegner antizipieren können – nicht nur die seinen. Denn eines hatte er ihr versprochen: Jeder könnte zu ihrem Gegner werden – bloß nicht er. Und das glaubte sie ihm. Hatte er damit also betont, dass all ihre Übungsstunden umsonst waren? Oder war es mehr so, dass sie endlich die erste Phase geschafft hatte und sich nun präziser auf andere Kampfstile vorbereiten konnte, sodass sie irgendwann gegen Joshua gewinnen konnte. Und dann gegen Thi … Und wenn es schlussendlich Hart auf Hart kam, würde sie Jeff, Milli, Drake und Xenon gleichzeitig gegenüber stehen und … Sie erschauderte. Besser nicht daran denken … Sie hasste den Gedanken an diesen Moment, wenn sie vor ihnen stand, sich verteidigen musste … und trotz aller Übung kläglich versagte … Ein Kämpfer war nur so stark, wie er sich selbst einschätzte – das hatte Nathan ihr ganz am Anfang zu erklären versucht, doch … sie konnte nichts dagegen ausrichten, dass sie in dieser Hinsicht ein verfluchter Realist war! Sie sah doch, dass die anderen ausgebildete Kämpfer waren – Engel, die seit über zweihundert Jahren ihr Training vollzogen! Vermutlich waren sie noch in irgendeiner Schwert-Sportmannschaft … Und sie? Was war denn ihr Ziel? Joshua in einem halben Jahr zu besiegen? Joshua morgen schon zu besiegen? Oder erst in achtzig Jahren, wenn es sowieso schon egal wäre, wo sie starb? Im Himmel wäre es zumindest schön zu sterben, da sie dort zu Gott gelangen könnte. Auf der Erde hingegen … Wenn sie so weitermachte, würde sie einfach einen ganzen Tag im Himmel verbringen und so ihr Ableben genießen können … Wenn sie dann aber im Himmel starb … würde Ray dann nach ihr suchen? Allein beim Gedanken daran errötete sie. Was glaubte sie denn? Dass er die Wohlfahrt war? Er hatte zwar zwei Wochen lang nach ihr gesucht, aber … nun … also … Wie sollte sie sich das jetzt erklären? Sie hoffte, dass kein Außenstehender ihr Mienenspiel jetzt beobachten konnte – es musste einfach lächerlich wirken, wie sie mit ihrer Herbstjacke und einem viel zu kühlen Kleid auf der Gartenbank saß und Grimassen zog! Dass sie erst wirkte, als wollte sie auf der Stelle zum Suizid aufbrechen und in der nächsten Sekunde errötete sie wie ein Schulmädchen! Aber was war sie mehr als ein zu altes Schulmädchen? Sie verschränkte ihre Arme auf dem Tisch und legte ihren Kopf hinein. Ein Schulmädchen, das aufgegeben hatte, verliebt zu sein, weil es wusste, dass es sowieso keinen Zweck hatte. Weil er ihre Gefühle sowieso nie erwidert hätte. Niemals in ihrem ganzen Leben … Und wenn sie an Joshua dachte, dann verstand sie auch warum. Hoffentlich würden die beiden irgendwann doch glücklich sein können … Es wäre einfach schön anzusehen … Vielleicht wäre das Schulmädchen Kyrie dann auch glücklich – wenn es Nathan wirklich so sehr geliebt hatte, wie es glaubte, dann würde es froh darüber sein müssen. Für den Moment war das eifersüchtige, deprimierte Schulmädchen in ihr aber schon zufrieden damit, dass Nathan Melissa und all ihre Vorgängerinnen nie wirklich geliebt hatte. … Das ließ aber die Frage zu … Wenn … wenn sie ihm damals ihre Gefühle gestanden hätte, damals, bevor er ihr auf diese grausame Weise klar gemacht hatte, dass sie nicht in seiner Liga spielte, hätte er sie dann auch einfach genommen? Einfach … als Zeitvertreib – bis diese zwanzig Jahre um waren. Und … im Himmel wäre dann die Enttäuschung ans Licht gekommen. Allerdings unter dem Vorschein, dass er als Assistent der Todsünden sowieso keine Zeit für sie gehabt hatte – oder vielleicht auch mit Begründung „Engel und Halbengel, das könnte nie funktionieren“ … oder doch mit der Version, dass Joshua … Egal welche davon … alles hätte ihr das Herz gebrochen. Alles hätte genau denselben Lauf genommen. Das Schulmädchen Kyrie wäre verbittert und hätte sich von der Liebe ein für alle Mal abgewandt – denn wenn nicht er, dann niemand. Wenn man sich mit ihr abgab, war man sowieso nur das Gespött der Menge. Entweder man wurde bloß ignoriert oder man wurde einfach fertig gemacht. Es wurde über einen gelacht, man wurde mit Worten getreten oder man wurde in seiner einsamen Naivität schamlos ausgenutzt, um an die einzige Person heranzukommen, die einen beachtete … Denn wenn man sich bei Kyrie aufhielt, dann schenkte Nathan einem einen Blick. Sie wusste nicht, ob Nathan davon wusste. Er hatte immer wieder seinen wachsamen Blick auf sie gerichtet, hatte sie von diesen falschen Freunden befreit und sie ein Leben in Isolation und Schadlosigkeit führen lassen … ein Leben ohne Fehl und Tadel … aber auch ein Leben ohne wahre Freundschaft. Als Kinder … als sie zusammen gespielt hatten, als er immer bei ihr war, damals, als sie festgestellt hatte, dass sie ihn lieb hatte, dass er der Einzige war, den sie jemals lieben wollte, da hatte sie seine Freundschaft gehabt. Keine andere. Sie brauchte auch keine. Sie hatte ihn … Und dann hatte er sich losgelöst. Sie zurückgelassen … Sie ersetzt. Und jetzt hatte er sie wieder zurück, verteidigte sie und … tat zumindest so, als würde er sich freuen, dass er sie wieder bei sich hatte … Und, als wäre sie zurück in diesen frühen Tagen der Jugend, gab sie sich damit zufrieden. So verzweifelt war sie, dass sie sich von ihm einfach wieder zurückholen ließ … Als würde sie erneut auf diese eine Chance hoffen … obwohl er in seiner nächsten Umgebung eine charismatische Frau wie Liana hatte, eine intelligente, zynische wie Deliora oder den geheimnisvollen, ruhigen Joshua oder den aufgeweckten, sportlichen, gut aussehenden Thierry! Und dann hatte er noch diese totale Durchschnittsperson, um die er sich kümmern musste, weil sie ein Engel werden wollte, die er wieder gehen lassen wollte und die noch am selben Tag wieder zu ihm zurückkehren musste, weil sie einfach nicht in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen, wie es Erwachsene an und für sich taten … Sie war einfach eine Versagerin … schlicht und einfach … schwach. „Schläfst du schon wieder?“, ließ eine Stimme sie hochfahren. Erschrocken starrte sie in Rays Gesicht, der sich gerade zu ihr runter gebeugt hatte – vermutlich im dumpfen Versuch, sie aufzuwecken. Er grinste. „Siehst du? Das kommt davon, wenn man am Morgen zu früh wach ist – alles holt einen wieder ein.“ Sie lächelte. „Hallo“, begrüßte sie ihn. Ihre ganze melancholische Stimmung war wie weggefegt. Sie konnte keinen trübseligen Gedanken mehr fassen. Er machte sie einfach … glücklich. „Wie war dein erster Ferientag?“ Er verzog sein Gesicht. „Na ja“, begann er lang gezogen, „Relativ unspektakulär – großteils auch etwas verschlafen.“ Erneut schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht. „Darum spekuliere ich auf den zweiten.“ Sie lachte kurz auf. „Ich habe gelernt“, ließ sie spontan verlauten – sie hatte keine Ahnung, warum sie das getan hatte. Aber … es war einfach so. Schockiert starrte er sie an. „Allen Ernstes?“ „Was tun wir heute? Hast du spannende Ideen mitgebracht?“, wollte sie wissen, wobei sie seinen Schock einfach genoss, ohne daraufeinzugehen, und erhob sich. „Komm, gehen wir schon los … Dann können wir auch meinem Va-…“ Als sie den schwarzen Wagen um die Ecke biegen sah, ließ sie den Satz unvollendet. Hoffentlich würde er Ray nicht böse anfahren. Und hoffentlich ersparte er sich seine Predigten über Nathan. Sie war nicht mehr das Schulkind, das auf ihn hoffte. Nein, egal war geschah, sie … akzeptierte ein Nein. Sie brauchte keine zwei Schläge ins Gesicht, um ihren Fehler einzusehen. Nicht sie. „Oh, das Auto kenne ich“, murmelte Ray unbegeistert, „Aber ja, ich habe eine Idee. Sie ist sehr unprofessionell und wirkte vielleicht undurchdacht – aber ich habe sehr viele Gedanken an sie verwendet!“ Sie schaute ihn an. „Lass hören!“ „Wir gehen in ein Café.“ Er sah sie erwartungsvoll an – und sie ihn ebenfalls. Sie erwartete ein „Und dann“ oder ein „Und danach“ oder zumindest ein „Oder wir …“. Aber es kam nichts. Sie blinzelte verwirrt. „Klingt … sehr kreativ …“, kommentierte sie. „Bessere Vorschläge?“ Er wirkte wirklich gespannt. „Nein …“, gab sie zu. Immerhin war sie auf genau denselben Vorschlag gekommen. Was wirklich peinlich war und auf ihre Unkreativität hinwies. Aber mit Liana und den anderen ging sie auch nur zum Trainingsplatz, auf die Treppe oder ins Café … Und in der Stadt war sie noch nie beim Sportplatz … John stieg aus dem Wagen und schaute zu Kyrie und Ray. Sie fühlte seinen unzufriedenen Blick bis hierhin und hatte beinahe den Wunsch, sich hinter Ray zu verstecken – aber das war wohl ihr Fehler … Immer suchte sie nur Schutz hinter anderen, ließ andere die Prügel austragen und suhlte sich in ihrer Angst, aber … Je näher ihr Vater kam, desto größer wurde das Bedürfnis. Er wusste doch, dass sie heute etwas unternahm, warum wirkte er dann so herrisch und unzufrieden? Warum konnte er nicht einfach „Hallo“ sagen und vorübergehen und sie ihr Leben leben lassen? Wie … wie ein gutwilliger Vater eben … Mit wem sie wegging, war doch egal … „Guten Tag“, begrüßte er sie. „Hallo“, antwortete sie zögerlich. „Guten Tag“, fügte Ray mit einem freundlichen Nicken hinzu. Und John ging an ihnen vorbei und ins Haus. Doch an der Tür hielt er noch einmal inne: „Deine Mutter kommt später. Ich hole sie gegen Fünf ab. Eine Dienstkraft ist krank, sie hat heute verlängerte Schicht.“ Dann war er dabei, die Tür zu schließen, doch ehe sie ins Schloss fiel, wünschte er noch: „Einen schönen Tag.“ Und das Klacken ertönte. Sie schaute überrascht zur Tür. „Danke“, murmelte sie, doch sie konnte ihren Blick nicht von der eintönigen Tür lassen. Er … hatte keinen Kommentar abgelassen, es einfach akzeptiert und … Ach … was führte sie sich denn so auf? Als wäre es etwas Besonderes mit einem Jungen aus der Universität etwas zu unternehmen? Als wäre da mehr dahinter, es war doch ganz normal, dass … Vielleicht war es für andere normal … für sie nicht. Für sie war es mittlerweile normal, mitten in der Nacht von einem Engel geweckt zu werden, um die Schwertkunst zu trainieren … In was für einer Welt lebte sie eigentlich? „Kyrie?“, holte Ray sie wieder in die Realität zurück, „Wir … sollten gehen … Denke ich.“ Sie errötete kaum merklich. „J- Ja!“, stimmte sie zu und ging mit ihm durch den Garten. „Und hast du dir das Zugticket schon bestellt?“, wollte er von ihr wissen, während sie so dahinschlenderten. „Zugticket?“, fragte sie, bevor sie darüber nachgedacht hatte. „Zu deiner Oma“, fügte er leicht amüsiert hinzu, „Du musst ja Zug fahren, außer du würdest auf Pilgerreise gehen … Was jammerschade wäre, dann könnte ich mich in den Ferien … und vermutlich auch im nächsten Jahr … nicht mehr mit dir treffen!“ Er grinste. Sie lachte leicht gezwungen. „Ja, Zug, natürlich, haha …“ Dann schluckte sie ihren Unmut hinunter. „Nein, noch nicht. Wie ich bereits gesagt habe – Spontane Fahrt.“ „Sehr spontan“, bestimmte er näher, „Spontan hat ja seinen Rahmen, aber du liegt damit wohl auf der untersten Grenze.“ Sie hoffte, dass das Thema bald ein Ende nehmen würde. Sie würde sich noch verplappern, das sah sie schon kommen … „In welches Café gehen wir überhaupt?“, vollzog sie einen schnellen Themenwechsel. „Ich bin da nicht so heikel, such du dir eines aus“, schlug er vor. „Ich bin kein großer Café-Geher“, gab sie zu, „Ich gehe da eher nach dir.“ Verblüfft schaute er sie an. „Ich aber auch nicht …“ Beide sahen sich erstaunt an. Seine grünen Augen stachen so unter seinem dunkelbraunen Haar hervor, welches noch immer unordentlich von seinem Kopf ragte – allerdings kein Vergleich zu Nathans Kopf-Disaster! – und ihn so verpeilt aussehen ließ … Wer würde da nur glauben können, dass dieser Mensch drei Studien absolvierte und vermutlich alle drei ausgezeichnet bestehen würde? Vor allem bei seiner heutigen Garderobe. Während der Uni achtete er zumindest darauf, adäquat gekleidet zu sein und eine Anzug-Jacke über ein weißes Hemd anzuziehen, doch heute hatte er besonders bequem wirkendes Shirt gewählt, welches mit einem chaotischen Muster durchsetzt war. Überaus … unernst. „Wenn du willst, können wir auch Shirts kaufen – du scheinst ja nahezu begeistert davon zu sein.“ Er grinste. Sie sah funkelte ihn erbost an. „Hey, ich betrachte dich nur eingehend.“ „Ach ja?“ Er wirkte ehrlich überrascht. Sie machte einen Schritt zurück … und errötete erneut. „Warum denn … nicht?“ Er schüttelte bloß den Kopf und lachte. „Los, suchen wir uns ein nettes Plätzchen zum Reden.“ Er ging los. Sie schaute ihm kurz nach. … Und fragte sich, was das war … Das gerade eben … Ihr Herz … schlug so schnell … Als würde sie einen Stern beobachten, der so unerreichbar fern war … So fern für sie, so nah für andere … Sie würde nie eine Chance bei diesem Stern haben … Sie sollte es doch gleich aufgeben. Doch sie lief ihm hinterher. Und er wartete auf sie. Bis sie ihn eingeholt hatte. Er … wartete tatsächlich. „Hast du schon gegessen?“, wollte Kyrie dann von ihm wissen. „Ja“, antwortete er, „Aber für unnötigen Süßkram habe ich immer Platz.“ Sie lachte. „Das ist gut. Ich nämlich auch.“ „Aber ich muss dich gleich vorwarnen: Viel Geld habe ich nicht!“ Er machte eine defensive Geste. „Ich kann dich einladen“, bot sie ihm unverschmäht an, „Heute zeige ich mich einmal von meiner spendablen Seite.“ „Ach, als wärst du jemals geizig“, ließ er verlauten, „Bei deiner Tugend könntest du ja fast ein Engel sein.“ Kyrie starrte ihn entgeistert an. „Was?“, fragte sie unsicher. Er lachte bloß. „Nichts, nur Blödsinn.“ Dann schaute er sie neckend an. „Als gäbe es so etwas.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)