Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Und was ist jetzt mit diesen … Prüfungen?!“, fauchte Liana ihn an, „Ich dachte, sie würde himmelhoch jauchzend zu uns kommen, um uns mitzuteilen, wie toll sie ist? Wo ist sie jetzt? Bist du dir sicher, dass die Menschen nicht kurzfristig die Wochentage vertauscht haben? Es ist einfach nicht normal, so lange nicht zu kommen!“ Sie redete in einer Wurst durch – keine Möglichkeit, sie zu unterbrechen. Wenn sie in dem Moment keine Pause gemacht hätte, hätte er gar keine Möglichkeit gehabt, sie zurechtzuweisen. „Sie wird schon ihre Gründe haben“, entgegnete Nathan lässig, „Kein Grund, sich so aufzuregen.“ „Nathan, ich glaube es selbst nicht, aber … ich muss ihr recht geben.“ Thierry erhob sich und stellte sich mit seiner kurzen roten Weste mit dem Mannschaftslogo neben Liana, welche eine dazu passende rote Blume trug. Deliora trug eine rote Brille. Hatten die drei irgendeine Vereinbarung getroffen, die Joshua und er überhört hatten? „Ich wollte Kyrie heute persönlich zum morgigen Spiel einladen! Sie muss mich doch auch endlich in Aktion sehen! Sie wollte das doch – hat sie zumindest gesagt …“ „Vielleicht haben wir sie auch beleidigt“, kam Deliora dazu und stellte sich auch entsprechend neben ihre Verbündeten, „Vielleicht ist ihr auch etwas zugestoßen.“ „Ach Quatsch, sie ist Kyrie“, redete er gegen die Mauer an, die seine Freunde bildeten, „Und ich kenne sie …“ Seine Worte verklangen, als er Joshua dabei zusah, wie er sich auf die Seite der anderen schlug und ihn ziemlich kritisch betrachtete. Sogar Joshua! „Und was soll ich eurer Meinung nach tun?“, keifte er alle vier an, „Soll ich sie an den Flügeln hierher zerren?!“ Er verschränkte die Arme. „Ich kann sie nicht zwingen! Wenn sie Lust hat, wird sie schon wieder herkommen! Sie hat die Engelsfreiheit – und die will ich ihr nicht nehmen!“ „Und WENN ihr etwas passiert ist?“, maulte Liana ihn sehr laut an, „Wenn sie verletzt irgendwo liegt?!“ „Dann wird sie wohl in den Himmel kommen, um sich zu heilen!“, gab Nathan barsch zurück, „Sie ist zwar nur ein Menschenengel, aber sie ist dennoch klug, ob ihr das glaubt oder nicht!“ „Nathan … bitte! Ich werde morgen versagen, wenn sie nicht zusieht! Mein Gewissen lässt das anders nicht zu!“ Thierry schaute ihn gequält an. „Ich habe es ihr versprochen! Und so ein Versprechen unter Engeln bricht man nicht!“ Nathan verdrehte die Augen. „Soll ich ihr eine Einladungskarte schreiben?“ Er war genervt. Sehr genervt. Warum verlangten sie das von ihm? Er konnte ihnen auch die Adresse geben und sie würden sie finden! … Na gut … Nein. Vermutlich nicht. Als Engel war es einfach seltsam auf der Erde – alles war so ungewohnt und kompliziert und unpraktisch und … Ja. Vermutlich wäre er die beste Wahl, um auf die Erde zurückzukehren. Für einen minimalen Teil eines Moments heftete sich sein Blick auf Joshua. Er konnte diesen Mann einfach nicht vergessen! Nicht bei der Arbeit. Nicht in der Freizeit – und nicht auf der Erde! Wie wollte er je eine Todsünde werden, wenn er es nicht schaffte, loszulassen? Wenn er … wenn er Angst hatte, auf die Erde zu gehen, weil er glaubte, er würde sich nie mehr wieder überwinden können, zurückzukehren? Wieso hatte Joshua sich nicht einfach einen anderen gesucht? Manchmal war ein gebrochenes Herz besser zu verkraften als eine unerfüllte, greifbare Sehnsucht. „Ich gehe bestimmt nicht“, erklärte er ihnen dann bestimmt. Er konnte nicht auf die Erde, verflucht! Er hatte es sich selbst versprochen! „Dann sende einen Ruf aus“, schlug Deliora vor, „Wenn du es nicht tust, mache ich es – aber ich kann für nichts garantieren.“ Oh ja, die alte Ausrede – dass starke Engel ihre Magie besser balancieren konnten … Das war kein Grund, ihm die ganze Arbeit aufzubürden! Dass schwache Engel versehentlich Magnete aussenden könnten! Wer sowas wirklich glaubte, was ein Idiot! Und dass gerade Deliora schwach sein sollte. Ausreden! „Vielleicht hat sich ihre Unterrichtszeit ja geändert“, startete er einen neuerlichen Versuch, „Also werde ich einen Ruf aussenden, der sie darum bittet, noch am heutigen Tage zu erscheinen – wenn sie darauf nicht reagiert, schaue ich nach“, versprach er ihnen. Sie hatten ja Recht. Ein Ruf würde keinen umbringen. Er hoffte nur, dass sie auf den Ruf dann reagieren würde. Wenn nicht … Sie durfte doch nicht zulassen, dass er erneut auf die Erde musste! Liana nickte zufrieden. „Wenn du sie dann siehst“, bat Thierry, „lädst du sie dann für morgen ein?“ Er wirkte tief betroffen. Scheinbar ging es ihm wirklich ans Herz, dass er sie nicht hatte einladen können. „Ja“, keifte Liana, „Morgen beim Spiel wollen wir sie treffen. Wir kommen ja alle sowieso! Also verlegen wir das heutige Mittwochstreffen auf morgen.“ Sie schaute mit bedeutungsvollen Blicken in die Runde. „Keine Einwände?“ Jeder nickte. „Gut, abmarschieren!“, rief sie und erhob sich in die Lüfte. Dann deutete sie noch auf Nathan. „Und wehe, ich sehe sie morgen nicht!“ Und damit schwirrte sie ab. Alle schauten ihr nach. „Wieso sind wir gleich noch einmal befreundet?“, wollte Nathan leise murrend wissen. „Weil sie immer so abgefahren große Blumen am Kopf trägt“, beantwortet Thierry ihm begeistert die Frage, dann wendete sich seine Stimmung allerdings um 180 Grad. „Ich muss jetzt leider los“, teilte er ihnen bedauernd mit, „Wir sehen uns morgen! Mit Kyrie!“ Und damit machte auch er sich von Dannen. Plötzlich realisierte Nathan, dass Joshua schon wieder darauf warten wollte, bis sie alleine waren. Noch ehe Deliora den Mund aufmachen konnte, sagte Nathan: „Gut, ich erledige noch etwas. Arbeit und so – ihr wisst ja, Arbeit! Bis morgen.“ Und er erhob sich in die Lüfte, ohne eine Antwort abzuwarten. „Mit Kyrie“, fügte er noch murmelnd hinzu. Sie würde doch kommen, oder? Er flog durch den goldenen Himmel, kam an Trainingsgruppen vorbei, die den Schwertkampf übten, an einer Schule, die die Lichtpyramide aufbaute und an einigen alten Engeln, die wohl noch im Zyklus waren, sowie an kleinen, süßen Engeln, die ebenfalls noch nicht voll ausgewachsen waren. Keiner würde sich freiwillig in die zerbrechliche Gestalt eines Alten oder die lächerliche Gestalt eines Kindes begeben. Nun – kaum einer. Die Todsünde, die vor Avaritia geherrscht hatte, war freiwillig alt gewesen. Aber damit endete die Liste wohl. Als er vor dem Turm der Ränge angekommen war, ließ er sich zu Boden sinken. Er nahm ein wenig Magie und sandte sie Kyrie in Form eines leichten Rufes. Sie würde ihn nicht ignorieren können, aber er würde sie auch nicht auffallend erschrecken. Sie würde also Zeit haben. Bis zum Ende des Tages. Dann wollte er sie wieder sehen. Und bis dahin … würde er sich wieder seinen Nachforschungen widmen. Kyrie starrte erschrocken in ihre Bücher, die sie vor sich ausgebreitet hatte, um den heutigen Lernstoff zu wiederholen. Ein Ruf. Jemand, nein, nicht jemand … Nathan hatte sie gerufen. Er … hatte sie wirklich nicht einfach vergessen? Es war ein Ruf, für den sie sich Zeit lassen durfte. Solch einer, der gegen Mitternacht auslaufen würde … Was er wohl dazu sagen würde, wenn sie einfach nicht kam? Vermutlich würde er sich Sorgen machen. Aber sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte … Wobei … wenn er dann zu ihr kommen würde – dann könnte sie ihm alles erzählen … Von Xenon, Jeff, Milli und Drake … Dann … dann … Sie bemerkte, dass ihre Hand zitterte. Ob er mit ihr in den Himmel gehen konnte? Ob er … Nein … nein – was, wenn sie dann ihn auch noch angreifen würden? Konnten sie einen Assistenten überhaupt angreifen? Aber … sie … Wenn sie ihr auflauern würden? Ihren Eltern etwas antun würden? Wozu waren solche Leute nur fähig? Am liebsten hätte sie sich unter ihrem Bett verkrochen und wäre nie wieder herausgekommen. Was war in solch einem Moment zu tun?! Warum keimte Hoffnung in ihr auf? Wieder in den Himmel zu kommen … Nein. Nein – das war nicht möglich. Die Angst legte sich wieder auf sie. Sie bewunderte Ray ein wenig dafür, dass er Midas hassen konnte. Vielleicht lag es ja daran, dass er ihn kannte – vielleicht konnte er deshalb Wut empfinden. Sie schaffte es nicht, Xenon zu hassen. Er hatte immerhin seine Gründe für seine Taten. Seine schrecklichen Gründe … Warum war da keine Wut in ihr? Kyrie hatte einfach nur Angst. Schreckliche Angst, dass so etwas wieder passieren könnte. Dass sie … dass sie dann wirklich frühzeitig sterben würde und dass sie Ray und Nathan und ihre Eltern dann nie mehr wieder sehen würde und … Thierry und Liana und Deliora und Joshua … Sie waren doch jetzt Freunde! Aber sie würde sie ja sowieso verlieren … Sie rieb sich ihren gelähmten Arm. Es würde doch nichts nützen … Gar nichts … Der Himmel war unendlich groß – keiner konnte Xenon und seine Leute davon abhalten, anderen Halbengeln etwas zuleide zu tun. Sie war im Moment zum Glück der einzige aufgenommene Halbengel … da konnten sie ihr Ziel ja gehörig einschränken … Was … was wenn sie ihr immer auflauerten? Sie stetig beobachteten? Die Magie des Rufs in ihr machte noch immer auf sich aufmerksam. Er fühlte sich so warm an – richtig wie das lang ersehnte Licht, dem sie jetzt schon so lange nachtrauerte …das sie so vermisste … Diese Wärme, als würde Gott persönlich sie umarmen … „Nathan …“, murmelte sie, „Es tut mir leid …“ Aber sie würde nicht kommen. Sie würde nicht in den Himmel gehen. Alleine beim Gedanken daran, sich diesen Halbengelhassern wieder auszusetzen, versteinerten sich ihre Muskeln und ließen sie in allen Bewegungen inne halten. Gegen solche Attacken würden auch die Therapievorschläge aller Ärzte nichts nützen. Die Angst war schon immer ein Teil von ihr gewesen … die unterschiedlichsten Ängste eines kleinen, einsamen Mädchens … Sie unterdrückte aufkeimende Tränen. Warum war sie nicht fähig, diese Hindernisse zu überwinden? Wann würde sie endlich groß genug sein? Kyrie hatte sich ihr Nachthemd angezogen und war zu Bett gegangen. Der Ruf war noch immer in ihr. Es war noch nicht Mitternacht, aber er würde dennoch einfach so auslaufen. Nathan würde wohl nicht um Mitternacht hier hinein geschneit kommen. Wenn er kommen wollte, dann wohl eher morgen … Hoffentlich blieb er fort … Es würde ihm so viel ersparen … und ihr selbst. Dann … dann bräuchte sie keine Entscheidung mehr zu treffen. Dann könnte sie einfach weitermachen, als gäbe es den Himmel nicht. Auch wenn die Feder, die nach wie vor neben ihrem Bett stand, ihre Gedanken Lügen strafte. Sie gähnte, als sie sich ihren Polster zurecht klopfte, um dann ihren Kopf auf dem weißen, feinen Kissen abzulagern. Sie schloss ihre Augen und fühlte sich einfach so ausgezerrt, dass sie beinahe sofort einschlafen hätte können – wenn da nicht plötzlich dieses Licht aufgeschienen wäre, welches den gesamten Raum erfüllte. Sämtliche Dunkelheit war vergangen – obwohl Kyrie ihre Augen noch geschlossen hatte! Als sie sie öffnete, blendete es sie so sehr, dass sie nur weiß erkennen konnte. Im ersten Moment ihres Dämmerzustandes rechnete sie mit Xenon, der ihren Aufenthaltsort entdeckt hatte und sie aus irgendeinem Grund letztendlich vollkommen unschädlich machen wollte – doch als sie ihr Sehvermögen wieder halbwegs zurückerlangt hatte, erkannte sie die große Gestalt mit dem strubbligen, braunen Haar und den frechen, blauen Augen, die ihr freundlich zu blitzten. „Schlafmütze“, begrüßte Nathan sie, „Was tust du? Wieso kommt du nicht?“ „Kannst du bitte deine Flügel einziehen?“, bat sie ihn mit hörbar müder Stimme. Dann gähnte sie betont. Eine Geste. Nur eine Geste. … Nathan … Er war tatsächlich hier … Hier, bei ihr … Er war gekommen. Hatte sie nicht vergessen! War ihr gefolgt, obwohl er es gar nicht müsste … Nathan … Erst jetzt wurde ihr klar, wie immens sie ihn überhaupt vermisst hatte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um ihm zu umarmen, ihm alles vorzuheulen, was geschehen war, aber … nein … Das … das konnte sie jetzt doch nicht wirklich tun … Sie wollte nicht mehr in den Himmel … aber sie wollte ihm das auch nicht mitteilen. Sie musste die Distanz wahren. Das würde alles einfacher machen. Für beide. „Oh“, machte er, „Tut mir leid!“ Und schon war die Lichtquelle verschwunden und ihr Zimmer lag in völliger Dunkelheit. Nur das aus Magie angefertigte, weiße Gewand, welches Nathan trug, hob sich von dem Dunkel der Nacht ab. Niemand sagte ein Wort, ehe Nathan das Schweigen durchbrach: „Und? Was ist deine Entschuldigung hierfür?“ „Wofür?“, fragte Kyrie. Sie konnte nichts sehen – also wusste sie nicht, worauf er wohl gedeutet hatte. „Nun … für das Ganze“, erklärte er schwammig, „Die Gesamtsituation – wo warst du denn die letzten drei Wochen?“ Sie antwortete nicht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte – wie sie es sagen sollte … Sie hatte heute den ganzen Tag über darüber nachgedacht, was sie wohl sagen würde, wenn er wirklich kommen würde, aber … aber … Sie hatte nicht geglaubt, dass er ehrlich kommen würde … Es wäre zu schön gewesen – und jetzt … Er war da … wirklich da … „Liana mault mir schon die Ohren zu! Sie hat dich jetzt schon seit einem Monat nicht mehr gesehen. Ich glaube, sie würde sogar auf die Erde kommen, um dich endlich wieder sehen zu können – und sogar Joshua vermisst dich!“ Er pausierte. „Du machst da oben einfach Eindruck!“ Kurz blitzten seine weißen Zähne auf. „Du hattest Prüfungsstress, nicht wahr?“ Er schien eine Antwort zu erwarten. „Nein“, sagte sie ehrlich, „Die Prüfungen kommen erst …“ Was sollte sie tun? Sie setzte sich auf, ließ die Decke aber auf sich liegen. „… Und weiter?“, forderte er sie zu sprechen auf, als sie nicht von sich aus weiter redete. „Ich werde nicht mehr in den Himmel zurückkehren“, klärte sie ihn auf. Sie versuchte, ihre Stimme fest und bestimmt zu halten, auch wenn sie am liebsten in Tränen ausbrechen wollte. Aber sie sollte nicht weinen. Nicht deshalb. Sie hatte doch eine Begründung … Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Und sie drängte die Bilder zurück, die sie quälend an die Geschehnisse zu erinnern versuchten. Als bräuchte sie mehr Erinnerungen daran! „Bitte – was?!“, fuhr er sie ungläubig an, „Du - … was?!“ Er klang wirklich schwer schockiert. Sie zuckte unter der Wucht seiner Stimme zusammen. Sie wollte das doch alles gar nicht! Was denn sonst sollte sie tun?! Was außer genau das, worum … worum diese Leute … Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Angst lähmte sie. … Aber … Sogar Joshua vermisste sie. Sogar … er … Sie konnte ihre Tränen kaum mehr zurückhalten. Bisher hatte sie nur Angst gespürt. Aber jetzt fiel die Verzweiflung, die Enttäuschung über sie her. Die Enttäuschung über ihre Angst, darüber, sie alle alleine zu lassen! Sie vermisste ihre Freunde dort oben auch. … Aber sie würde Thierrys Spiele niemals mit ansehen, würde Delioras Wissen niemals wieder mitgeteilt bekommen und auch auf Lianas Freundschaftlichkeit würde sie verzichten müssen … und auf Joshuas Anwesenheit. Und auf Nathan. Auf Nathan, den sie nach all den Jahren wieder zum Freund gewonnen hatte – wegen dieser Engel würde sie alles verlieren, was sie sich endlich hatte aufbauen können … „Ja ... je schneller ich mich von euch abwende, desto weniger werdet ihr mich in Folge vermissen …“ Ihre Stimme versagte ihr. Sie musste alles zurückhalten, musste kalt klingen … Als … als wäre sie sich so sicher, wie sie es gerne hätte … Sie schaute ihn an, auch wenn sie ihn sowieso nicht erkennen konnte – und so bemerkte sie auch nicht, dass er die paar Schritte zu ihrem Bett zurücklegte, ihre beiden Schultern packte und sie schüttelte, ehe es zu spät war. Sein Gesicht war ganz nah bei ihrem, sie konnte sogar seinen total ungläubigen Gesichtsausdruck erkennen. „Bitte was?!“, fragte er, während er sie im Takt schüttelte, „Was redest du da!? Hallo!? Kyrie?! Spinnst du!? Was soll das?! Bist du verrückt?! Das ist doch … nicht zu fassen! Deine – du – Hallo!?“ Und er schüttelte sie unentwegt. Und je weiter er solch wirres Zeug herumbrabbelte, je mehr von diesen sinnlosen Wörtern er in den Raum warf und je länger er sie schüttelte … desto weniger konnte sie es aushalten. Sie wollte in den Himmel. Sie wollte. Aber sie konnte nicht! Die Angst … sie lähmte sie … So unaufhörlich. Mit einem Arm umarmte sie Nathan, sodass dieser aufhörte, sie zu schütteln. „Bitte … was!?“, beendete er seine Tirade, als sie zu schluchzen begann. Nathan war wirklich perplex, als Kyrie ihn plötzlich umarmte und ihn an sich drückte. Er ließ von ihren Schultern ab und umarmte sie langsam und vorsichtig auch. Sie war so klein und zerbrechlich … und sie weinte. Aber ernsthaft … Was war los mit ihr? Weshalb war sie nicht einfach in den Himmel gekommen? Warum musste sie ihn herholen? In der Stille waren nur hin und wieder auf Aufschluchzen zu hören. „Was ist passiert?“, fragte er nach einer Weile, in der sie sich einfach umarmt hatten, sanft. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, wenn jemand ihn umarmte und dann zu weinen begann. „Ich …“ Sie brach ab. Dann versuchte sie es erneut: „Ich …“ Ihre Stimme zitterte, brach wieder ab. „Beruhige dich …“ Er drückte sie ein wenig fester. „Hey – was ist denn …“ Sie lehnte sich ein wenig zurück, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Er konnte ihre Augen nur schwach erkennen, aber er sah Angst in ihnen. Angst und Tränen. So würde das nichts werden. Er drückte sie wieder an sich, befreite sie von der Bettdecke und erhob sich – mit ihr. Sie wurde einfach gezwungen, aufzustehen. Da bemerkte er, dass sie bereits ihr Nachtgewand trug. Und ihn fragend anstarrte. „So etwas regelt man bei Mond- und Kerzenschein“, ließ er frei heraus verlauten und führte Kyrie zum Lichtschalter, welchen er dann auch betätigte. Und plötzlich war die Welt viel heller. Dann setze er Kyrie wieder am Bett ab, drückte sie also frei heraus darauf, nahm sich selbst einen Stuhl, hockte sich ihr gegenüber hin und starrte sie dann an. Die Zeit, die er starrte, fühlte sich unendlich lange an. Kyrie schaute nicht zu ihm auf – ihr Blick blieb am Boden haften. Sie wirkte, als bekämpfte sie sich selbst. „Du kannst mir alles sagen“, bot Nathan ihr an. Ihr Mund bewegte sich kurz, schloss sich dann aber wortlos wieder. „Sogar, dass du Joshua spontan geheiratet hast“, fügte er lockerlässig, des Spaßes wegen, hinzu – und erschrak dabei selbst bei dieser Vorstellung. Sein Magen verkrampfte sich für den Moment. Wehe, sie würde ihm so etwas beichten! „Niemals!“, brüllte sie beinahe und starrte ihn nun entsetzt an – mit offenem Mund. „Siehst du, du kannst ja doch vollständige Sätze … oder zumindest … sinnvolle Dinge von dir geben!“ Er grinste locker und vergaß seinen Witz auch gleich wieder, nun - drängte ihn zumindest zurück. Sie würde doch nicht einfach so unvermittelt einen Engel heiraten. Würde sie nicht. … Nein! Ihre Mundwinkel zogen sich sogleich wieder nach unten. „Es tut mir leid …“, gab sie nach einer weiteren Weile wispernd von sich, „Ich …“ Sie fuhr sich über das Gesicht, um die Reste der Tränen zu verstecken. „Du?“, wiederholte er ihre Worte, „Weiter?“ „Ich …“, begann sie erneut kaum hörbar. „Soweit waren wir schon“, kommentierte er – dann grinste er sie an, „Komm schon! Wie schlimm kann es schon sein?“ Nun – so schlimm, dass sie seit drei Wochen nicht mehr im Himmel war. Was konnte nur geschehen sein? Und nicht mehr dorthin wollte. Und sie sich ihm weinend entgegen gestürzt hatte. Sein Magen verriet ihm, dass es ziemlich schrecklich sein würde. „Halbengelhasser“, kam aus ihr hervor. Nathan horchte erschrocken auf. Oh nein – was würde bloß folgen? Sätze, die mit diesem Wort begannen, nahmen selten ein gutes Ende. Und plötzlich erzählte sie ihm alles, was sich zugetragen hatte – dass sie einmal einem Engel begegnet war, der ihr feindlich gesinnt war, der ihr allerdings nichts angetan hatte, dass sie daraufhin einmal alleine durch den Himmel geflogen war und dass sie am Nachhauseweg dann von zwei Engeln abgefangen worden war, die im Auftrag des Engels von damals gehandelt hatten, dass diese sie arg zurichteten und ihr mit dem Schwert und dem Tod drohten … dass sie einen Arm verloren hatte und dass sie sich dazu entschlossen hatte, um ihr Leben zu retten, den Himmel nie mehr wieder zu betreten, da dieser nur richtige Engel ein Lebensraum war – nicht für Dämonen wie sie! Was hatten diese Typen ihr da bloß erzählt?! Wie konnten sie es wagen!? Er umarmte Kyrie, als sie ihm völlig aufgelöst alles berichtet hatte, was geschehen war. Und Fassungslosigkeit überkam ihn. Wie konnten diese Halunken nur? Sie hatten die Vereinbarung gebrochen! Jede Vereinbarung! Sie sollten sie mit Güte behandeln – und nicht bestrafen für etwas, was sie hätte werden können! Wut stieg in ihm auf. Er würde Kyrie rächen. Nathan löste die Umarmung nach einer Weile. Kyrie fühlte sich schwach – aber auch seltsam erlöst. Endlich … endlich hatte sie jemandem die wahre Geschichte erzählt. Sie klammerte sich noch immer an den ungewohnt muskulösen Körper Nathans, wobei seine pure Anwesenheit schon eine Art Heilmittel gegen ihren Kummer darstellte. Es war einfach angenehm … und erlösend. Vor allem erlösend. Nathan saß auf ihrem Bett und behielt nur wenigen Abstand zwischen ihrem und seinen Körper. Sie spürte seinen Blick auf sich, wagte es allerdings nicht, ihn anzusehen – sie begutachtete den Boden, während ihr Arm noch immer um seine Hüfte geschwungen war. Wenn es ihn störte, konnte er es ihr sagen, aber … sie wollte ihn nicht loslassen … Es fühlte sich einfach gut an, bei ihm zu sein. Als … als wäre sie nicht mehr allein … als könnte sie jemand … beschützen … „Okay …“, murmelte er langsam, „Okay …“, wiederholte er dann noch einmal, „Es … es tut mir leid, Kyrie“, schwor er leise, „Es tut mir so leid! Liana hat schon die ganze Zeit gesagt, ich solle dich suchen – doch …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe faul in Ausreden gelegen, während du so gelitten hast …“ Langsam hob sie ihren Blick und beobachtete ihn dabei, wie mit seinen Kopf mit diesem traurigen Blick schüttelte. „Ich wollte nie, dass so etwas geschieht … Ich … Es tut mir leid.“ Er schaute sie nun direkt an. Seine blauen Augen spiegelten einen seltsamen Ausdruck wider. „Ich hätte dich besser vorbereiten sollen …“ Er schüttelte den Kopf – scheinbar, um die Fassung wieder zu erlangen. „Sie haben dich mit einem Schwert attackiert, oder?“, fragte er mit plötzlich harter und bestimmter Stimme. Kyrie nickte langsam. „Dann wird es Zeit, dich in die Schwertkunst einzuweihen.“ Hosted by Animexx e.V. 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