Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Es fühlte sich falsch an. Einfach falsch. Ray starrte auf den Nacken seines Vaters, der vor ihm saß. Völlig falsch. Auf Kims Hinterkopf. Sie fummelte geschäftig am Radio herum. Falsch. „Es verwundert mich wirklich“, murmelte sein Vater plötzlich. Ray gab vor, es nicht wahrzunehmen. Er beobachtete Kim dabei, wie sie ihn aufmunternd anlächelte – aber auch sie sagte nichts dazu. Und genau deshalb verlief die Fahrt auch schweigend. Vielleicht auch, weil es Sonntag war. Und dazu noch sechs Uhr morgens. Sechs Uhr morgens … Und Kyrie hatte wirklich die Nerven, jeden Sonntag um diese Uhrzeit aufzustehen, um sich in dieses Gebäude zu setzen und sich irgendetwas von wegen Glauben erzählen zu lassen …? Sein Magen zog sich zusammen, als er an die Stunde dachte, die jetzt unweigerlich folgen würde. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen und er würde dazu stehen müssen. Als er am Freitag völlig aufgelöst aus der Dusche gekommen war, hatte ihm ein abwesender Anruf das Gemüt wieder hochgezogen. Jemand aus der Familie Kingston hatte zurückgerufen. Weshalb hatte Kyrie sich dann so abweisend benommen? Vielleicht hatten sie auch nur angerufen, um ihm endgültig klar zu machen, dass er es lassen solle? Nervten seine Anrufe etwa? Eines konnte sie ihm glauben: Es nervte noch viel mehr, dass ihm keiner die Wahrheit sagte. Nachdem er also noch einmal zurückgerufen hatte, sein Anruf aber ins Leere geführt und er bloß die Worte „Bitte rufen Sie zurück“, hinterlassen hatte, hatte er das Telefonieren am Samstag ausfallen lassen – ohne je einen neuerlichen Rückruf erhalten zu haben. Er hatte den neuen Mut dazu genutzt, sich am Samstag auf diese Mauer zu setzen und zu erfahren, dass Kyrie erneut nicht zu ihm kommen wollte – und dann hatte er sich nach Hause bewegt, um Kim abzufangen, welche sehr erfreut reagiert hatte, als er ihr Angebot, mit ihnen zur Kirche zu gehen, angenommen hatte. Allerdings hatte er klar gestellt, dass dies ein einmaliges Erlebnis sein würde, das sich nicht wiederholen würde. Nun – nachdem er am Samstag seinem Vater trotzdem nicht begegnen wollte, war er mit Marc weggegangen, welcher ihn bis Mitternacht aufgehalten hatte. Entsprechend müde war er jetzt auch. Und entsprechend erschöpft. Vielleicht hätte er doch früher schlafen gehen sollen. Er war für solche Uhrzeiten einfach nicht geschaffen! Aber irgendetwas in ihm fuhr in seine Knochen und brachte ihn dazu, völlig vor Nervosität zu zerfließen. Er würde mit John Kingston sprechen. Nach der Predigt. Also würde er hinein gehen müssen. Zwangsläufig. In die Kirche. Es war schrecklich. Einfach schrecklich. Wenn Kyrie über Gott und ihre Dämonentheorien und ihren Glauben sprach, dann hörte er gerne zu. Es war interessant, wie sie alles beleuchtete und wenn sie so weitermachte, dann würde er ihrem Glauben zwangsläufig beitreten müssen, um sich mit ihr auf einem Niveau unterhalten zu können – dafür hörte sie ihm dabei zu, wenn er ihr erklärte, woraus der menschliche Körper bestand und wie er funktionierte, was Rechtswissenschaft beinhaltete und wie die Politik im Land aussah – seit Jahren herrschte Frieden zwischen den beiden Kontinenten, anders wäre es nicht möglich gewesen, dass Menschen aus der Südlichen in die Nördliche kamen und umgekehrt. Kyries alter Kumpel Nathan war einer jener Fälle, die die direkten Vorteile des Friedens bewiesen. Und dass es kein bis kaum Blutvergießen, Böses oder Anschläge gab, brauchte er wohl nicht erwähnen. Aber … das war jetzt nicht das Thema. Als sein Vater den Blinker des großen, dunkelblauen Autos betätigte, verspürte er schlagartig noch mehr Nervosität. Wenn er doch Kylie bei sich hätte … Kylie war einfach wie er – ungläubig und lässig. Wenn jemand ihr etwas von Religion erzählte, hörte sie zu, glaubte aber kein bisschen davon. Sie war der ungläubigste Mensch, den er kannte. Nun – wenn man in einem Dorf aufgewachsen war, dann war es auch schwierig, andere Atheisten zu finden. Die Menschen in der Stadt waren viel weniger steif, was den Glauben anging. Bis auf Kyrie. Dass er auch immer an die Falschen geraten musste … Oder an die völlig richtige. Plötzlich bemerkte er, dass er mit seinem Fuß die ganze Zeit am Boden herumtippte. Wie benahm er sich eigentlich? Als würde er bei Kyries Vater um ihre Hand anhalten. Das war doch schon seit drei Jahrhunderten nicht mehr üblich! Er wollte nur mit John sprechen – er wollte nur fragen, ob es Kyrie gut ging und ab wann sie die Universität wieder besuchen würde, weil er ihren schrägen Humor einfach vermisste. Nein. Das konnte er so nicht sagen. Er musste es lässiger herüber bringen … Oder verzweifelter? Es würde verzweifelt klingen, egal was er sich da jetzt vornahm. „Du brauchst nicht so nervös zu sein“, flüsterte Kim leise. Er schaute die Frau an, deren dunkles Haar kunstvoll hochgesteckt und mit vielen Perlen verziert war. Ihr junges Gesicht lächelte ihn aufmunternd an und sie bedeutete ihm ein „Daumen-Hoch“, welches allgemein als Talisman galt. Er brauchte keinen Talisman. Er brauchte einfach Mut. Und Stärke. Und Gelassenheit. Sehr viel Gelassenheit. Er atmete tief durch, als das große, Großteils schwarze Gebäude mit dem Spitzdach vor ihm sichtbar wurde. Die Kirche sah einfach alt aus. Und sein Vater und Kim machten sich wirklich jeden Dienstag, Freitag und Sonntag die Mühe, hierher zu kommen, nur um John Kingston beim Reden zuzuhören? Er musste wohl ungefähr so beeindruckend wie seine Tochter sein. Das Gebäude ragte hoch über ihm auf, als er aus dem Auto ausstieg. Aus der Nähe erkannte er die Verzierungen, die das Schwarz durchbrachen, überall schwang Gold mit, welches wirkte, als hätten sie es direkt aus dem Himmel gestohlen, und dazwischen glänzten schwarze Steine die einen argen Kontrast dazu bildeten, das Gesamte aber – wenn man es so sagen wollte - sehr edel aussehen ließen. Hier verzierten sie Kirchen mit Gold, während Leute im Roten Dorf gefangen waren, weil sie kein Geld hatten, um von dort wegzukommen. Das war dann der negative Teil der Politik – einer jener Punkte, die er unbedingt irgendwann ändern wollte. Die ungerechte Verteilung. Auch die Rechtswissenschaft besagte, dass dies unfair war und in der Medizin und Biologie fand sich kein Grund, weshalb dies genau so sein sollte – sein durfte! Alle waren gleich. Warum konnte dann nicht jeder gleich sein? Warum war ausgerechnet eine Kirche ein Punkt, der solch eine Ambivalenz aufzeigte? War das nicht ironisch? Gerade als er sich leise murmelnd über diesen Umstand beschweren wollte, entdeckte er es. Es war klein, unauffällig und schwarz. Tiefschwarz. Noch schwärzer als die Kirche – und dennoch strahlte es für ihn viel heller als das ganze Gold. Ein Auto. Und er war sich so sicher, wie sich ein Mensch nur sicher sein konnte: Dies war das Auto der Kingstons. John Kingston war also tatsächlich hier! Wenn das Auto hier war, würde John also zwangsläufig raus kommen müssen, um zum Auto zu gelangen – wieso war Ray nicht vorhin schon darauf gekommen? Sie befanden sich noch im nördlichen Teil der Stadt – sie lebten im Westen! Also würde John mit dem Auto fahren. Ganz logisch. Er brauchte diese Baut also nicht betreten! Er musste wirklich nicht in diese verfluchte Predigt sitzen und John dabei zuhören, wie er Märchen von Glück und Vernunft und Glaube und einem helfenden Gott erzählte! „Ich bleibe hier“, beschloss er, als sein Vater und Kim neben ihm standen. Kim warf ihm einen irritierten Blick zu. „Wolltest du nicht …?“, begann sie, wurde dann aber von ihm unterbrochen. Er nickte in Richtung des kleinen, schwarzen Autos. „Das ist Johns Auto. Ich warte hier.“ „Bist du dir sicher, dass es das ist?“, fragte sie nach, „Es gibt viele Autos dieser Art.“ Sein Vater schaute zwischen ihnen hin und her. „Ich bleibe hier“; beharrte er und ging dann auch schon auf Johns Auto zu. Er würde dieses Gebäude nicht betreten – immerhin bekam er auf diese Weise alles, was er wollte. Er brauchte keine Prinzipien über den Haufen zu werfen, brauchte all die Jahre, die er Kirchen gemieden hatte, nicht als verschwendet zu betrachten, und er konnte trotz alledem mit John sprechen. Vielleicht brachte ein Daumen-Hoch doch Glück? „Na gut. Bis dann“, gab sich Kim geschlagen, „Komm, Radiant. Gehen wir – dann bekommen wir noch einen Sitzplatz.“ Er hörte, wie die beiden sich entfernten. „Bis später, Ray“, verabschiedete sich sein Vater von ihm. Er antwortete ihm nicht. Während dieser relativ kurzen Fahrt war es Ray sehr unangenehm gewesen, sich in solcher Nähe zu seinem Vater zu befinden. Er wollte ihn meiden. Er wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er wollte ihn nicht mögen. Wie sich Ray bereits auf seine Fahrberechtigung freute. Die Leute strömten an ihm vorbei, um zur Kirche zu gehen. Es waren sehr viele Leute, die sich für diese Predigten interessierten. Weshalb auch immer – er hatte in der Politik gehört, dass Leute, denen es gut ging, kein Interesse an Religion und Gott mehr hatten … Scheinbar war das nicht ganz so wahr – seinem Vater ging es immerhin gut. Und Ray ging es im Moment schlecht, aber er glaubte trotzdem nicht an diese Lichtgestalt, die Wunder verteilte. So schieden sich wohl die Geister … Und je näher der Moment der Wahrheit – Ray hatte während der ganzen Zeit da draußen keine Zeitorientierung – rückte, desto unruhiger wurde er. Und nervös. Verdammt nervös. Kyrie umarmte ihren Vater noch, als dieser sich das traditionelle Predigtsgewand angelegt hatte und damit wirklich wie ein kleiner Professor aussah – zum Lesen benötigte er nämlich eine Brille, was ihm ein wahrlich klischeehaftes Aussehen verpasste. Magdalena umarmte ihn ebenfalls noch einmal. „Du machst das doch jedes Mal toll – sei nicht immer so nervös!“ Sie lächelte. „Das schädigt das Herz.“ Er schaute von einer zur anderen. „Und wenn schon … Es ist jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung und eine Freude!“ Plötzlich lächelte er voller Vorfreude. „Würde ich mich irgendwann daran gewöhnen, so würde es irgendwann langweilig werden, weil es irgendwann immer dasselbe sein würde.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich freue mich.“ „Wir sitzen in der ersten Reihe“, versprach Kyrie munter und motiviert. Dann schaute sie ihre Mutter an. Diese nickte. „Bis gleich“, verabschiedeten sie sich synchron und gingen auch zeitgleich durch die kleine Öffnung nach draußen. Der Prediger war der Letzte, der den Altarraum betrat. Das war Tradition. Kyrie setzte sich sogleich auf den Platz, den ihr eine ältere Dame auf ihre Bitte hin freigehalten hatte. Sie quetschte sich in die Bänke hinein und ihre Mutter gleich neben sie. Plötzlich setzte der Chor ein und im Takt kam ihr Vater dem Altar in der Mitte immer näher. Im richtigen Moment standen alle Gläubigen auf, um ihm damit die Ehre zu erweisen. Und damit begann seine Predigt. Kyrie kannte beinahe jedes Wort auswendig. Es kam nur sehr selten vor, dass sie die Sonntagspredigt verpasste – immerhin war es Wochenende und sie hatte nichts für das Studium – und früher eben die Schule – zu tun. Und dass sie heute hier war, bewies ihr, dass sie morgen bereits wieder zur Universität zurückkehren konnte. Und wenn ihr Vater sich weigern würde, würde sie sich ihm widersetzen. Sie wollte zurück. Sie musste sich versichern, dass Ray … dass Ray da war? Nicht da war … Was auch immer besser war – sie würde es sehen! Und sie würde sich seine Handynummer besorgen. Und wie sie das würde. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Nirgendwo war ein Abbild Gottes – aber überall um sie herum schwebten Engel. Dicke, dünne, große, kleine … Engel in allen Varianten. Aber sie erkannte keinen wieder. Also waren es frei erfundene Engel. Die Engel gab es auch im Statuenformat. Sie fand es schön, dass die Menschen hier an Engel glaubten, die so waren wie diese Figuren. Nett, freundlich, hilfsbereit, wunderschön – wie Engel es eben waren. Ob einer von ihnen an Engel wie Xenon hätte glauben können? Wohl eher nicht. Wenn man all die fröhlichen, aufmunternden Gesichter diese Flügelwesen begutachtete … wurde man glücklich. Und gleichzeitig stieg Sehnsucht in ihr auf. Sehnsucht nach dem Himmel. Fliegen … Ihre Flügel … Sie waren eingesperrt … Jetzt kam die Stelle, an der alle Gläubiger ihre Hände zum Gebet falteten und … Schockiert stellte Kyrie fest, dass sie es nicht konnte. Sie konnte … ihn nicht heben. Ihr Arm … Die ältere Frau neben ihr stieß sie an – scheinbar hatte sie bemerkt, dass Kyrie dem Ritus nicht ordnungsgemäß Folge leistete. Aber … aber … Sie wollte ihre Hand heben und … Schnell ergriff sie mit ihrer rechten die linke Hand und hob sie auf diese Weise hoch. Entsetzt starrte sie auf das Bild, welches sich ihr bot. Ihre Hände waren verschränkt. Ihre Hände … Aber … Das zweite – war das wirklich ihre Hand? Sie fühlte nichts. Nicht die Wärme die sie dabei sonst immer umfasste. Nicht sich selbst, wie sie vervollkommnet wurde … Nicht … Sie schloss ihren Mund unter Zwang. Es wirkte vermutlich sehr idiotisch, wenn sie mit offenem Mund auf ihre Hände starrte. Keiner der Anwesenden wusste davon. Keiner wusste, dass sich eine Einarmige unter ihnen befand … Es war … grauenhaft … Sie wollte nicht mehr ihre Hände gefaltet lassen! Sie wollte sie loslassen, aber … die Tradition … Plötzlich bemerkte sie den besorgten Blick ihrer Mutter auf sich lasten. Sie lächelte sie aufmunternd an. Sie musste ihre Mutter hierbei nicht einweihen. Ihre Mutter sollte weiterbeten. Sollte glücklich über ihre Hand sein … Sollte glücklich darüber sein, jeden Teil ihrer Welt betreten zu dürfen … Diese Engel sehen zu können, ohne Schmerz und Sehnsucht zu verspüren … Nathan … Was er wohl tat? Früher war Nathan oft in die Kirche mitgekommen, so viel früher, damals … als sie … Nein. … Sie musste ihre Flügel ausbreiten – aber … Was, wenn Xenon sie sah? Ihr Licht? Wenn er sie spürte? Wenn er sie … sie tötete … Sie wusste, dass Gott ihr nicht helfen konnte. Und doch wollte sie von ihm wissen, wieso er ihr Problem nicht einfach lösen konnte. Sie wollte nicht ängstlich sein. Aber sie hatte Angst. Angst und Sehnsucht. Wie sollte Kyrie je wieder zur Kirche gehen können, wenn es sie dabei so zerriss? Und zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben war sie erleichtert, dass die Predigt ihr Ende genommen hatte, sie ihre Hände einfach fallen lassen durfte und aus der Kirche heraustreten konnte – nun. Fast zumindest. Heute hatte ihr Vater wieder Zeit für persönliche Gespräche. Sie starrte zum Altar hoch. Einige Leute hatten sich bereits um ihn herum versammelt, um mit ihm zu sprechen. Wie sollte sie jetzt an die Autoschlüssel kommen? Sie wollte nicht mehr hier bleiben. Sie musste raus. Die Statuen schienen sie anzustarren! Ihr ins Gewissen zu blicken – wie konnte sie nur ihre Engelsfreunde alleine lassen? Wie konnte sie ihre wahre Persönlichkeit nur so unterdrücken und verbergen – und wieso konnte sie ihre Angst nicht einfach besiegen? Es ging nicht. Sie war zu schwach. Sie war … Ihre Mutter stand neben ihr. „Kyrie, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie nach einer Weile, „Geht es dir gut? Ist dir übel geworden? Du wirkst so blass …“ Übel traf es gut. „Nein“, antwortete sie allerdings, „Die Verletzungen sind alle weg … Die, die weggehen können zumindest …“ Sie lächelte. „Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen … Aber ich würde aber mich doch gerne ins Auto setzen.“ Schnell. Sie musste hier weg! „Wenn der erste Schwall vorbei ist, kannst du ihn um die Schlüssel fragen“, schlug Magdalena vor, „Ich leiste ihm Beistand.“ Sie lächelte verschmilzt. Beide wussten, dass John diese privaten Gespräche liebte, weil er es liebte, Menschen zu helfen und zu unterstützen. Er brauchte keinen Beistand – aber Magdalena war genauso von seiner Sorte, weshalb sie dabei ebenfalls gerne zuhörte. Kyrie tat es auch oft, aber heute … Sie fühlte sich von den Engelszeichnungen und –statuen mehr als nur verfolgt! Wo sollte sie denn noch hingehen, wenn sie überall verstoßen wurde, wo sie gerne war? Warum konnten sie sie nicht einfach in Ruhe ihr Leben leben lassen? War es zu viel verlangt, glücklich sein zu wollen? Schweigend stand sie neben ihrer Mutter, als einige Leute sich lächelnd von John weg begaben – und dann ihr noch ein Lächeln schenkten. Sie konnte sich kaum dazu zwingen, es angemessen zu erwidern. Aber sie tat es. Mit den nächsten Leuten, die an der Reihe waren, gesellten sich auch Kyrie und Magdalena zu ihm. Er lächelte ihnen zufrieden zu, wobei er der älteren Dame, die neben Kyrie gesessen hatte, die Hände rieb. Vermutlich hatte sie ihn darum gebeten. „Kann ich die Autoschlüssel haben?“, flüsterte Kyrie leise, um die anderen Leute nicht zu stören. Die alte Frau bedankte sich und verschwand in der kleinen Menge. John sah sie fragend an, schien sich dann aber selbst eine Antwort zu geben – vermutlich glaubte er, dass sie schwächelte – und sagte: „Für meine Tochter alles.“ Er lächelte, fuhr sich unter die Kutte und holte klirrende Schlüssel heraus, die er ihr in die Hand drückte. „Kyrie Kingston?“, ertönte plötzlich die Stimme eine Frau aus der Gruppe. Sie war wunderschön, hatte tiefschwarzes Haar, welche sie mit Perlen hochgesteckt hatte, welche farblich perfekt auf ihre Augen und ihre Kleidung und ihren Schmuck abgestimmt waren. Wer war diese Frau? Hatte sie sie schon einmal gesehen? „Ja?“, beantwortete sie die Frage. Warum musste sie jetzt mit ihr reden? Sie wollte raus! Die Frau schaute kurz auf einen Mann neben sich, lächelte dann verschmilzt und schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass es Ihnen wieder besser geht.“ Kyrie zog die Stirn verwundert kraus, lächelte dann aber einmal zurück, murmelte ein leises „Danke“ und wandte sich dann um. „Bis dann“, sagte sie zu ihrer Mutter, da John bereits wieder ein neues Gespräch angefangen hatte. Es wunderte sie, dass er sie alleine gehen ließ. Aber egal … Hauptsache, die Engel würde aufhören, ihr Vorwürfe zu machen! Sie war keine mehr von ihnen. Sie wollten sie nicht. Warum zogen sie sie dann wieder an? Ray saß am Boden vor dem rückwärts eingeparkten Auto der Kingstons. Nach einer Weile hatte er vor Nervosität schrecklich zu zittern begonnen und hatte sich deshalb an das Auto gelehnt und sich hingesetzt, um nicht wie ein Verrückter zu wirken. Nun – vermutlich war er verrückt. Wie lange hatte er jetzt um sechs Uhr morgens vor diesem Auto gesessen und gewartet – und das an einem Sonntag? Warum tat er das gleich noch einmal? Zum Glück erzählte er keinem davon – sie würden sich wohl wirklich fragen, was ihn erwischt hatte. … Und er selbst sollte damit wohl auch einmal anfangen. Seinen Blick wandte er zur Kirchentür, als diese aufging und einige Leute hinauskamen – wehe, Kim und sein Vater würden auf die Idee kommen, wegzufahren, ohne dass er vorher mit John gesprochen hatte. Er würde eiskalt zu Fuß zurückgehen. Eiskalt. Nachdem der erste Schwall vorbei war, waren lange nur vereinzelt Leute aus der Kirche gekommen. Wenn er an die Menge dachte, die da vorhin hineingegangen war, dann konnte es noch sehr, sehr lange dauern, ehe John herauskam – wenn die Geschichte mit diesen ominösen Privatgesprächen auch stimmte. Er würde es sehen. Er hatte ja Zeit. Der Tag war noch jung. Zu jung. Und sein Herzklopfen, sein Zittern und sein Schaudern waren endgültig erloschen und durch immer weiter aufkommende Ungeduld ersetzt worden. Nebenbei war er auch noch über den Gedanken gestolpert, dass es auch sein hätte können, dass John das Gespräch mit ihm – vielleicht auch auf Kyries Geheiß … - ablehnte und er all diese Zeit umsonst verschwendete. Dieser Gedanke hatte ihn für einen kurzen Moment dazu verlockt, aufzustehen und abzuhauen. Aber er war geblieben. Weil er glaubte, dass dieses Daumen-Hoch ihm Glück bringen würde – was wohl ziemlich grotesk war, da es Kim gehörte. Aber sie hatten in etwa zwei Autostellplätze neben John geparkt – wenn das kein Wink des Schicksals war? Er hatte die Knie angezogen und seinen Kopf darauf gelegt. Wenn John nicht langsam kommen würde, würde er einschlafen. Dann würde John ihn vermutlich überfahren, was weniger gut war … Und plötzlich riss ihn etwas aus dem Dämmerschlaf, dem er verfallen war. Das Klicken eines Schlosses in nächster Nähe. Sofort sprang er auf, befand sich auf seinen beiden Beinen. Und war kurz davor, wieder umzufallen. „Kyrie!“, schrie er, obwohl sie sich kaum drei Schritte vor ihm befand. Sie zuckte daraufhin sichtbar zusammen und schaute dann erschrocken und gehetzt in seine Richtung. Und er konnte beobachten, wie ihre Augen, ihre großen, dunklen Augen, größer und größer wurden. Und ihr Mund weiter auf ging. Und ihr Gesicht plötzlich ein überraschtes Strahlen annahm. „Ray!“, schrie sie plötzlich zurück, obwohl er sie leicht verstehen konnte. Als hätte es einmal nicht gereicht, wiederholte sie laut rufend: „Ray!“ Und ehe er sich versah, spürte er einen Arm um sich herum. Sie vollführte eine einarmige Umarmung … Das war die beste Umarmung, die er je in seinem Leben verspürt hatte … Sein Herzschlag flachte ab und wurde wieder normal. Kyrie war da … Sie war da … Verdammt! Sie WAR da! Als sie dieses Gesicht wieder gesehen hatte, diese Haare, diese grünen Augen … da fühlte sie einfach Glück. Pures Glück. Sämtliches ungute Gefühl aufgrund der Engel in der Kirche war verflogen. Vergessen. Unwichtig! Ray! Er war da! Er war da! Die Umarmung hätte eigentlich ein festes, beidseitiges Drücken sein sollen … aber ihr Arm … Sie fragte sich, ob es als Trost gelten konnte, dass Ray seinen rechten Arm nur bis zu ihrer Taille bewegen hatte können, während der andere sie ebenfalls freundschaftlich umarmte. Ungewollt dachte sie daran, dass sie jetzt wohl beide eingeschränkte Mauerfreunde waren. Sie schämte sich obgleich des Ausdrucks. Aber sie war einfach zu überwältigt! Was machte er bloß hier?! „Ich weiß nicht!“; gab er plötzlich von sich, „Ich wollte eigentlich mit deinem Vater reden! Über dich! Und dann warst du da – und …“ Plötzlich ließ er von ihr ab und trat einige Schritte zurück. Er lächelte leicht verlegen. Sie spürte, wie das Blut ein wenig in ihre Wangen schoss. Aber … sie konnte auch nichts dafür, dass sie sich so über das Wiedersehen mit ihrem Freund freute! Immerhin hatten sie sich jetzt seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Seit über einer Woche war nicht mehr gewiss gewesen, dass sie Freunde sein würden … Und dann … dann erzählte er, dass er ihretwegen zu einer Kirche gegangen war, obwohl er solche Stätten verabscheute? Ihretwegen … Er … er war einfach zu gut! Zu lieb! Warum hatte sie sich nicht schon früher bei ihm melden können? Plötzlich wurde ihr klar, WIE sehr sie ihn vermisst hatte. Ray … Er war da! „Haben sich Kylie oder Diane gemeldet?“, wollte sie sofort von ihm wissen. Ihr war klar, dass da ein abrupter Themenwechsel stattgefunden hatte, aber … hatte sich ihre Aktion zumindest ein bisschen etwas gebracht? Oder war dieser Tag umsonst? Etwas perplex bejahte er die Frage. Irgendetwas in seinen Augen veränderte sich, doch sie konnte nicht genau wissen, was. Aber … zumindest war ihre Aktion für ihn gut ausgefallen … Am liebsten hätte sie ihm erzählt, dass es seiner Mutter gut gegangen war … aber das hatten Kylie und Diane wohl erledigt. „Aber … also …“, begann er dann, „Um auf das Thema zurückzukommen: Wo warst du eigentlich? Was ist geschehen? Was war los? Ich habe mir Sorgen gemacht!“, gab er zu. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Kyrie lächelte darüber. War es ihm peinlich, so überstürzt zu reagieren …? Aber dann wurde ihr klar, dass er eine Antwort von ihr verlangte. Was sollte sie ihm sagen? Die Version ohne plötzlichen Überfall? Aber … das wäre dann doch eine Lüge … Konnte sie ihn tatsächlich anlügen? Das andere grenzte zumindest an eine Halbwahrheit, aber … „Nun …“, begann sie unsicher. Sie schaute kurz instinktiv in den Himmel hoch. Es war das erste Mal, dass sie unter freiem Himmel darüber sprach … Zum Glück bestand der Wolkenboden aus einem festen Material … Xenon konnte sie gar nicht sehen … Er würde auch nicht nach ihr Ausschau halten. Bestimmt nicht. Immerhin hatte sie keine Flügel. Sie wollte ihre Arme verschränken, aber es ging nicht. Dann war es eben ein einarmiges Verschränken. Ray schien irgendetwas seltsam vorzukommen. Plötzlich griff er nach ihrer linken Hand. Sie spürte es nicht. Ob er wohl gerade daran zog? Ob er ihr weh tat? Nein, bestimmt nicht … Er war sicher ganz sanft … Warum konnte sie diese Sanftheit nicht fühlen? Ihr Arm … „Was ist mit deiner Hand?“, fragte er schockiert, „Warum … gibt sie so leicht nach und …“ Er sprach nicht weiter. Er schaute sie lediglich fragend an, wobei er ihren Arm wieder vorsichtig nach unten führte und dort dann dort baumeln ließ. „Das Überbleibsel eines Sturzes von der Treppe …“ Sie lächelte entschuldigend. Das letzte Gespräch, welches sie hatten, handelte vom selben Thema … Sie hoffte, dass daraus jetzt kein Teufelskreis entstehen würde … „Sturz von einer …“, wiederholte er ungläubig, „Was?!“ Er starrte sie an. „Du hast mir das aber nicht nachgemacht, um … Keine Ahnung!“ „Selbstverständlich nicht!“; gab sie schockiert zurück, „Nein – da waren diese Kerle und- …“ Sie stockte. Das wollte sie doch gar nicht sagen! Sein Gesicht wurde seltsam fahl. „Was?“ Sie senkte ihren Blick zu Boden. Was sollte sie jetzt sagen? „Ich … bin beim Nachhauseweg … Dafür musste ich eine Treppe nach unten gehen. Da waren diese Leute und haben mich angerempelt worden, sodass ich gestürzt bin“, erklärte sie kleinlaut. „Wie bitte? Wer war das? Diese … Ich mach sie …“ Er klang richtig zornig. Als sie in sein Gesicht sah, wirkte es auch wutverzerrt. Und in seinen Augen las sie das Wort „Midas“. Es musste ihn genau an die Situation von damals erinnern. Reflexartig legte sie ihren funktionierenden Arm um ihn. „Beruhige dich …“, bat sie ihn. Und plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Aufgabe, die Maria ihr übertragen hatte … Sie sollte auf Ray aufpassen und ihm die Wahrheit vermitteln … Diese Wut … Er musste sie loswerden … Sie hatte es schon viel zu lange vernachlässigt! Beruhigenderweise spürte sie, wie sein Herzschlag sich verlangsamte. „Es … tut mir leid“, sagte er nach einer Weile – flüsternd. „Dir braucht nichts leid zu tun“, belehrte sie ihn, „Nichts von alledem hängt irgendwie mit dir zusammen …“ „Ich wollte nicht, dass irgendwem dasselbe passiert wie mir … schon gar nicht jemanden, den ich kenne …“ Er lachte kurz auf. „Jemanden, den ich mag.“ Dann löste er sich aus der Umarmung. Er lächelte kurz. „Ich bin froh, dass du zurück bist.“ Sie lächelte. Und ihr Herz schlug fest. Viel zu schnell. … Er mochte sie! Natürlich! Immerhin … Immerhin war er hier! Vor der Kirche! „Ich auch.“ Plötzlich fiel ihr etwas sehr Wichtiges ein. „Deine Handynummer!“, forderte sie abrupt. „Bitte“, fügte sie nach einigen Momenten entschuldigend lächelnd hinzu. Er lachte kurz amüsiert auf. Dann holte er sein Handy heraus. „Sag mir deine an“, verlangte er, „Und geh bitte ran, wenn ich anrufe.“ Er lächelte kurz wissend. Was meinte er damit …? Sie gab ihre Nummer preis. „Moment“, bat er schnell und hob sich das Mobilfunkgerät ans Ohr. Plötzlich läutete etwas in der Tasche ihres Kleides. Er rief sie an. Dann hatte sie seine Nummer automatisch … Darauf war er gar nicht gekommen. Er schaute sie überrascht an. „Sieben Sünden – Federschwingen?“, fragte er ungläubig. Erst verstand sie nicht. Dann lächelte sie. „Ja! Kennst du diese Band? Das hätte ich nicht gedacht …“, murmelte sie vor sich hin. Sieben Sünden hörte sie sehr gerne. Deshalb hatte sie diese auch als Klingelton ausgewählt. Immerhin … sangen sie Lieder, die in ihren Lieblingsthemenbereich fielen. … Vielleicht war der Titel des Liedes aber mittlerweile unpassend geworden. Er nickte. „Ich finde sie recht gut.“ Er lächelte. Und sie lächelte zurück. Allerdings fragte sie sich, weshalb Ray die Sieben Sünden mochte, obwohl der Großteil ihrer Lieder vom Göttlichen handelte … Oder was das bloß Interpretationssache? ... Aber eigentlich war es völlig egal! Sie drückte Ray noch einmal. ... Er war extra zu ihr gekommen. Einen Tag früher als erwartet! Er war ... Und plötzlich stand ihr Vater hinter ihr und keifte mit wütender Miene: „Weg da!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)