Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Ray saß auf der Mauer und besah sich der Menschen um ihn herum. Es gab viele Schwarzhaarige unter ihnen – und bei jeder sah er genauer hin, um Kyrie ja nicht zu verpassen. Falls sie ihn von nun an wirklich ignorierte, wollte er zumindest noch ein klärendes Wort mit ihr sprechen – nun … vermutlich würde es mehr ein Flehen werden, aber … Er vermisste sie jetzt schon. Sie konnte doch nicht von einem auf den anderen Tag verschwinden – und wenn sie eine Änderung der Vorlesezeiten unternommen hätte, so hätte sie das doch gesagt … Es sei denn, sie hätte es getan, um ihn zu umgehen. Hatte es ihr wirklich so viel Schreck eingejagt, ihn weinen zu sehen? Kyrie wirkte aber nicht so. Sie wirkte nicht so, als würde sie nicht verstehen. Viel mehr als hätte sie … total verstanden … Als … als … Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte sie nur wieder sehen. Nur ganz kurz. Nur um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Aber sie konnte auch wirklich einfach nur krank sein. Ganz normal. Wie ganz normale Menschen. Ein Fieber und sie würde für drei Tage nicht anwesend sein. So wäre das. Ja … vielleicht war es ein Fieber. Er wurde beinahe wahnsinnig! Sollte er sich jemandem anvertrauen? Aber wem? Ted bestimmt nicht. Wenn der an Frauen dachte, dann kamen ihm bloß gewisse Körperstellen in den Sinn. Wie wäre es mit Marc? Er war ein recht verständnisvoller Kerl. Immerhin war er Mediziner. Seine blauen Augen schienen alles in seiner Umgebung in sich aufzunehmen – er würde bestimmt von alleine merken, dass Ray nicht ganz so gut drauf war wie in den letzten Wochen. Da war er sich ziemlich sicher. Auch wenn es feige war. Vielleicht würde er Marc heute Abend ja sehen. Oder Ken? Was war mit Ken? Der alte Rechtswissenschaftler würde … würde was? Kyrie ausforschen und Ray vor ihrer Haustüre abliefern? Nein – das wäre doch … peinlich. Peinlicher als seine Heulaktion? Würde sie ihn dann komplett hassen? Nein … Er … er würde warten. Drei Tage. Dann war ihr Fieber bestimmt vorbei. Sie musste doch Fieber haben. Konnte doch nur Fieber haben … Kyrie … Plötzlich vibrierte sein Handy. Sofort zog er es heraus. Hatte Kyrie ihm etwa geschrieben? Als er die Nachricht öffnete und Kylie als Absender benannt war, war er beinahe enttäuscht. „Rate einmal, wer sich seine Lohnerhöhung redlich verdient hat? In zwei, drei Monaten kannst du fix mit mir rechnen! Mach dich auf was gefasst! Du schläfst auf dem Sofa. Nur, dass das klar ist“, schrieb sie. Ray blinzelte irritiert und las die Nachricht noch einmal. Kylie. Nach all der Zeit hatte ihm Kylie endlich wieder geschrieben! Und … sie wollte kommen? Aber … sie hatte doch kaum genug Geld! Sofort tippte er los: „Wie bitte? Du möchtest kommen? Hast du einen Milliardär geheiratet, während ich nicht da war?“ Er vollführte zwei Absatzschaltungen. „Und natürlich schlafe ich am Sofa. Wer denn sonst?“ Er sandte die Nachricht ab. ... Falls sie ihn nicht gerade auf den Arm nahm, würde er wohl Bescheid geben müssen, dass das Gästezimmer vorbereitet werden musste ... Er hatte keine Lust, am Sofa zu schlafen. ... Wobei ... wenn das Kyrie hierher bringen würde ... Aber das hatte nichts miteinander zu tun. War unmöglich. Er starrte sein Handy an. Keine neue Nachricht. Sie würde hoffentlich bald zurück schreiben. Er umklammerte das Gerät. Dann schaute er wieder in die Menschenmenge. Hoffentlich hatte er sie jetzt nicht verpasst. Sein Blick schweifte zum Parkplatz. Das Auto ihrer Eltern war nicht dort. Also war sie es vermutlich auch nicht. Sollte er sich wegen Kyrie vielleicht mit Kylie in Verbindung setzen? Nein – das würde sie doch nur zusätzlich belasten. Sie sorgte sich schon bereits genug um alles Mögliche … Zum Glück hatte Kylie Diane. Und umgekehrt. Ohne sie würde seine Schwester doch verzweifeln … Das Vibrieren erschreckte ihn erneut. Sofort las er die nächste Nachricht: „Apropos Hochzeit! Hast du schon das Neueste dazu gehört?“, wollte sie von ihm wissen, „Nun – ich hoffe jedenfalls, dass du dir jetzt keine Sorgen mehr um mich, Diane oder deine Mutter machst. Deine Mutter hat mir gesagt, ich müsse dir so dringend wieder schreiben, weil du verzweifelst. Wie ich dich kenne, hat deine Mutter Recht. Ohne meinen geistreichen Einfluss bekommst du doch nichts auf die Reihe – wobei. Sie hat auch verlauten lassen, dass du gleich DREI Sachen studierst? Du bist verrückt, Junge! Wehe, du fällst in nur einer Sache durch! Dann mache ich dich platt!“ Sie schrieb den Text ganz ohne Emoticons. Aber er konnte sich Kylies Tonlagen nur zu gut vorstellen – erst neckend, weil sie doch ganz genau wusste, dass er nicht wusste, von welcher Neuigkeit sie sprach. Und sie würde es ihm auch nicht sagen. Aber wenn sie schon so geheimnisvoll tat, konnte es dabei nur um seine Schwester gehen, die es endlich geschafft hatte, sich mit ihrem langjährigen Partner Mike zu verloben. Kein Wunder, dass Diane plötzlich nicht mehr die Zeit hatte, ihm zu schreiben. ... Ob Diane wohl vor hatte, ihn selbst darüber in Kenntnis zu setzen? Wann würde sie überhaupt heiraten ...? Wäre er erwünscht? Immerhin war Diane eine der engstirnigsten Verfechterinnen des "Ray bleibt in der Nördlichen"-Abkommens. Auch wenn sie dafür wohl eine Ausnahme machen konnte. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde - er würde die Kirche sowieso nicht betreten. Er las noch einmal über die geschriebenen Zeilen. … Warum kannte seine Mutter ihn nur so gut? Gaben Kylie und Diane vor ihr etwa damit an, dass sie ihm nicht schrieben? Zuzutrauen wäre es ihnen. Und ... woher wusste Kylie, dass er drei Fächer belegte? ... Er zog die Stirn kraus. Das war doch sein Geheimnis ... Misstrauisch tippte er die Antwort. „Nein. Aber Diane wird es mir schon noch mitteilen“, schrieb er zum einen, dann fuhr er fort: „Wenn ich mich immer auf dich verlassen würde, wäre ich schon seit dreißig Jahren tot“, fügte er hinzu, wobei er einen zwinkernden Emoticon hinzufügte. Dann stoppte er kurz. Wie sollte er das nächste formulieren? „Woher weiß sie das schon wieder? Ich habe euch doch gesagt, dass ich nur Medizin studiere … Oder war es Politik? Hab ich mich irgendwann verraten?“, wollte er wissen. Er hoffte, man bemerkte, dass er ungehalten war. Und wenn nicht war es ihm auch egal. Zu den Prüfungen schrieb er nichts. Vermutlich war ihre Mittagspause sowieso gleich wieder vorbei – dann würde er bis heute Abend auch keine Antwort mehr erhalten. Aber er war sehr froh darüber, dass sie ihm wieder schrieb. Es war also alles in Ordnung – alles war sogar besser geworden. Sie verdiente jetzt mehr Geld. Bedeutete das, dass sie ihre Lehre schon abgeschlossen hatte? Oder hatte sie eine zusätzliche Prüfung gehabt? Diese Umstände waren wohl per Telefonat einfacher zu klären. Er würde sie demnächst anrufen. Wenn er es nicht vergaß. Noch einmal schaute er die einzelnen Gesichter, die an ihm vorbei zogen genauer an. Und dann erhob er sich. Scheinbar kam sie auch heute nicht. … Hoffentlich würde sie morgen wieder herkommen. Das Telefon klingelte. So schnell wie jetzt hatte er dieses Teil vermutlich noch nie abgenommen. John meldete sich sofort. „John Kingston, grüß Gott!“, rief er durchs Telefon. Es mussten die Ärzte sein. Sie mussten es sein. Er hatte ihnen gesagt, sie sollten ihn anrufen, wenn Kyrie erwachte. Sie musste erwacht sein. Sie durfte nicht noch schlafen! „Krankenhaus Nördliche Hauptstadt, Elisabeth Priceton, guten Tag“, meldete sich eine Stimme. John glaubte, die sanftmütige Stimme der Informationsdame von gestern wieder zu erkennen. „Bin ich hier bei den Eltern von Kyrie Kingston angelangt?“ „Ja. Ich bin John Kingston, ihr Vater“, stellte er sich vor, „Ich bin es.“ „Ihre Tochter ist erwacht. Derzeit wird sie noch von Fachärzten untersucht, doch bis in etwa einer Stunde können Sie Ihre Tochter besuchen, falls die Ärzte keine Einwände erheben – aber im Moment sieht es gut aus. Herzlichen Glückwunsch.“ Die Frau klang ehrlich froh. „Ja, ja!“, brüllte er aufgeregt, „Ja! Danke! Danke! Vielen, vielen Dank!“ „Auf Wiederhören“, verabschiedete sich die Frau und legte auf. Er behielt den Hörer noch kurz am Ohr, um erleichtert aufzuatmen. Dann schmiss er ihn aufs Telefon. „Magdalena!“, rief er, „Magdalena!“ Ein leises „Ja?“ erklang aus dem Badezimmer. „Kyrie ist erwacht! Kyrie ist wach!“ Er lächelte und ein Kampf, der seit gestern in ihm wütete, verschwand. Er fühlte sich erleichtert, losgelöst ... Er musste sie sehen! „Kyrie ist erwacht …“ Ein Arzt hatte sich vor John und Magdalena gestellt, als sie – nachdem sie von Elisabeth Priceton die Zimmernummer 20 im dritten Stock erfahren hatten – aus dem Lift gestiegen waren. Der Arzthelfer von gestern war bei ihm. „Ihrer Tochter geht es entsprechend der Umstände gut“, sagte der Arzt, der durch seine Brille ziemlich vertrauenswürdig wirkte. Er hatte dünne, graue Haare, wobei er schon ziemlich eine Glatze aufwies. Er war bestimmt zehn Jahre älter als John, „Sie hat ein leichtes Trauma. Sie scheint nur Gedächtnislücken vom Tathergang aufzuweisen, ihre sonstige geistige Gesundheit ist erwiesen. Allerdings hat sie ziemliche Schmerzen.“ Er schaute sie streng an. „Dürfen … dürfen wir sie besuchen?“, fragte Magdalena zögerlich, wobei sie sich an John klammerte. „Ich denke, ein Besuch ihrer Eltern sollte nicht schaden – solange nicht eine ganze Horde von Leuten auf sie hereinströmt.“ Er machte eine kurze Pause. „Umarmungen sollten Sie allerdings sein lassen. Kingston Kyrie hat uns erlaubt, Ihnen über ihren Zustand mitzuteilen – die meisten Brüche sind gut operiert worden. Es werden wohl einige Therapien auf sie zukommen - vor allem wegen ihrem Arm. Das Studium wird sie für eine Weile beiseite schieben müssen“, prophezeite der Arzt ihnen, „Ihr linker Arm bereitet uns am meisten Sorgen – sie kann ihn nicht mehr spüren. Das liegt daran, dass bestimmte Teile darin durch den heftigen Sturz, an den sie sich laut eigener Aussage nicht erinnern kann, zerborsten sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass Therapien wirken, liegt bei ... drei Prozent." Magdalenas Augen hatten sich geweitet. Sie wirkte zutiefst erschrocken. Johns Herz hämmerte gegen seine Brust. Er fühlte sich leer. Unwohl. Ihm war schwindlig. Seine … seine arme, kleine Tochter … „Muss sie im Krankenhaus bleiben?“ „Vier Tage zur Überwachung. Und dann dem Zustand entsprechend“, beantwortete der Arzt seine Frage, „Ist alles geklärt?“ Er klang geschäftsmäßig. John überleget kurz – und nickte dann. Er wollte seine Tochter sehen. Magdalena rührte sich nicht. „Schönen Tag“, erklang es nacheinander von Arzt und Arzthelfer, ehe sie in den Aufzug einstiegen. John sah seine Frau an. „Kyrie …“, murmelte er. Sofort eilten sie zusammen zum Zimmer Nummer 20. Hier gab es kein Fenster. Es war also ein ganz normales Patientenzimmer. Er atmete tief durch und klopfte daraufhin kurz an – dann öffnete er, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür und trat ein. Die kleine Gestalt lag noch immer auf dem Bett und war stark verkabelt. Die Beatmungsmaske war verschwunden. Verschiedene Flüssigkeiten und Maschinen verursachten Hintergrundgeräusche, die John sofort ausblendete. Magdalena und er traten langsam zum Bett. Langsam. Unsicher. Ihre Augen waren geschlossen. Ihm schien es, als hätten ihre Prellungen sich schon ein wenig zurückgezogen. Aber sie waren noch zu sehen – sie war so aufgeschwollen … so unförmig … „Kyrie …“, flüsterte Magdalena – dann lehnte sie sich nach unten, um auf gleicher Höhe mit ihrer Tochter zu sein. Sie berührte ganz vorsichtig das Gesicht des Mädchens. Diese öffnete plötzlich die Augen. „Kyrie …!“, wisperte John, in der Hoffnung, eine Reaktion zu erhalten. „Mama …“, ertönte die leise Stimme seiner Tochter. Sie klang angestrengt. „Papa …“ Sie wandte den Kopf langsam zu ihnen. Dann lächelte sie. Und im selben Moment sammelten sich Tränen in ihren Augen. „Ich hatte solche … solche Angst …“ Sie hob einen verkabelten Arm – vermutlich ihren rechten – um ihre Mutter zu umarmen. Nach einigen Momenten schaute sie John an. Sie lächelte. Er ging zu ihr. Und sein Herz ging ihm auf. Er hätte beinahe vor Freude geweint. Ihr ging es gut. Ihr ging es wirklich gut. Seiner Tochter ging es gut! Sie lebte. Kyrie war lebendig! Ihr Zustand war zwar nicht wünschenswert, aber ... für den Moment erfüllt ihn trotzdem unendliche Erleichterung. Gott Lob – danke sehr! „Wie geht es dir?“, wollte John wissen, „Hast du viele Schmerzen?“ Magdalena hatte sich auf das Bett gesetzt, um ihrer Tochter über den Kopf streicheln zu können. John holte sich schnell einen Stuhl, der im ansonsten leeren Vierbettzimmer herumstand. Er setzte sich nah zu ihr. „Es geht bereits …“ Sie lächelte ein wenig unsicher. „Sie lindern die Schmerzen und …“ Ihr Blick huschte kurz zu ihrem linken Arm. Doch sie sagte nichts. „Darüber reden wir, wenn es dir besser geht, mein Liebling“, schlug John vor, „Du musst unbedingt zu Kräften kommen. Hast du schon etwas gegessen?“ Kyrie wirkte sehr erleichtert. Erleichtert darüber, nicht über diesen Vorfall, der dazu geführt hatte, reden zu müssen? „Nein, noch nicht“, antwortete sie, „Aber sie haben gesagt, ich würde bald etwas bekommen …“ „Ich bin so froh, mein Schatz“, sagte Magdalena. Sie klang seit vorgestern Nacht zum ersten Mal wieder stark und sicher. Wie seine Frau es eben war. „Ich auch … Langsam bekomme ich Hunger …“, nuschelte Kyrie. „Soll ich dir etwas aus dem Automaten holen, der unten steht?“, bot John an, „Tee?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Nein, danke. Die Schwester bringt bestimmt etwas mit. Ich möchte nur, dass ihr noch kurz bei mir bleibt, okay?“ Sie klang wirklich glücklich. Kyrie … Er war so froh … So unsagbar erleichtert … Seine Tochter war wieder da. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)