Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ Kyrie fühlte die Kälte auf der Dachterrasse kaum mehr – vermutlich, weil sie solch herzerwärmende Stunden hinter sich hatte, die ihr einfach ein Hochgefühl verschafften, das Eindrücke von Außen unwichtig erscheinen ließ. Es war einfach schön, endlich einmal im Leben zu wissen, dass man sich richtig entschieden hatte. Sie führte ohne Umschweife ein Warpen in den Himmel durch, sodass sie wieder von jenem goldenen Licht beschienen wurde, welches ihr so unendlich gut tat. Sie war an keinem bestimmten Ort gelandet – aber sie glaubte, es musste wohl irgendwo in der Nähe des Trainingsplatzes sein, auf dem Thi immer zu trainieren pflegte. Ein fröhliches Lächeln zierte ihre Lippen, als sie erfreut den Weg in Richtung der Trainingsvorrichtungen, welche nach wenigen Flügelschlägen bereits sichtbar wurden, einschlug, um zu überprüfen, ob sie einen ihrer Freunde vielleicht dort antraf. Das wäre doch eine schöne Abrundung eines Tages, der so schmerzhaft angefangen hatte und dann letztendlich noch so ... erleichternd geendet hatte, gewesen. Sie fühlte sich aus irgendeinem Grund mit Maria verbunden. Sie hatte eine Aufgabe übertragen bekommen – etwas, was sonst niemand erledigen konnte, da die anderen das Rote Dorf nicht verlassen konnten. Sie wollte diese Aufgabe unbedingt erledigen. Sie wollte Ray glücklich sehen – wollte, dass er verzeihen konnte. Mit seiner Vergangenheit fertig wurde – und ihm klar machen, dass er seine Mutter ohne Zweifel lieben und ehren konnte! Maria war eine tolle Frau. Eine Frau, die Bewunderung verdiente. In ihrer Situation noch solche Stärke aufzuweisen … Kyrie schüttelte gedankenverloren den Kopf, als sie letztlich vor den Spielfeldern aus Gold und Weiß zu stehen kam und sich nach bekannten Gesichtern umschaute. Thierry konnte sie nicht ausmachen. Also besaß er doch noch andere Hobbys, anders als er ihnen immer weiß machen wollte! Sie lächelte darüber. Oder er schlief einfach. Als sie ihren Blick noch einmal über die Anwesenden, die überall verstreut herumsaßen, -gingen, -flogen, -lagen oder –standen, blieb er auf einem paar eiskalter, blauer Augen hängen. Blondes Haar umrahmte das kantige Gesicht – es war der Engel, der durch die Tür gegangen war und sie angefahren hatte. Plötzlich wandte er den Blick vom Spielfeld, auf dem gerade einige Engel umherliefen – Kyrie konnte damit nichts anfangen –, ab und starrte ihr direkt ins Gesicht, wobei sich sein Gesichtsausdruck kurz verfinsterte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Hass. Dann schaute er wieder weg. Innerhalb weniger Augenblicke. Vielleicht hatte sie sich auch das nur eingebildet? Wieso sollte jemand etwas gegen sie haben? Sie hatte nichts getan … Nathan starrte sie nicht an und … und es waren keine Gruppen zugegen. Niemand tat ihr hier etwas. Sie war hier im Himmel. Hier war alles gut … Aber dieser Hass ... Sie konnte ihn doch deutlich spüren, aber ... Himmel! Hier war doch alles gut, oder? Warum sollten die Halbengelhasser heute auf sie losgehen? Nein … das würden sie nicht. Sie gingen nicht auf Halbengel los, die sich sittlich benahmen, die nicht unanständig und nicht frech waren – diejenigen, die sich integrierten … Sie hatte sich angepasst. Sie war unauffällig. Hatte niemanden etwas getan! Er konnte sie doch nicht einfach hassen, oder?! Kyrie atmete tief durch und zwang sich, auf das Spielfeld zu blicken, welches ein wenig unter ihr lag, da die Wolke, auf der sie mit einigen anderen, ihr unbekannten Engeln stand, etwas höher gesetzt war, um ein Stehpodium zu ergeben. Der andere Kerl stand direkt am Spielfeldrand. Als wäre er ein großer Fan. Vielleicht war auch nur seine Mannschaft gerade am Verlieren gewesen? Gab es hier überhaupt Mannschaften? Was machten diese Engel eigentlich? Sie könnte jemanden fragen. Hier waren bestimmt alle nett … Sie rührte sich nicht vom Fleck. Ihr Rücken war durchgestreckt, als hätte sie einen Stock verschluckt und vermutlich war es nur zu auffällig, wie sie verzweifelt versuchte, den anderen Mann nicht im Auge zu behalten. Trotzdem wagte sie noch einen Sicherheitsblick. Der Engel war verschwunden. Plötzlich löste sich die Anspannung in ihr. Vielleicht hatte sie ihn bloß verwechselt. Vielleicht hatte er gar nicht zu ihr geschaut. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal grimmig dreingeschaut! Alles war übertrieben. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Vermutlich war sie einfach paranoid. Sie baute gerade nur das überschüssige Adrenalin ab, das sie vor dem Gespräch mit Maria angesammelt hatte. Ja, so musste es sein. Sie sollte wohl besser nach Hause gehen. Sich in ihr Bett legen. Lernen. Die Prüfungen rückten immer näher. Nur noch wenige Wochen waren übrig. Sie hatte viel zu wenig getan. Ja – ja. Sie würde aufbrechen. Was wollte sie auch hier, wo Thi nicht anwesend war? Und auch sonst niemand? Vermutlich waren alle beschäftigt. Sie wollte keinen stören. Das war doch so. Sie würde ihnen hier nur im Weg stehen– sie hatte ihre eigenen Pflichten. Und morgen würde sie sie ohnehin wieder antreffen! Auf das Mittwochstreffen konnte sie sich dann wohl bereits freuen. Vielleicht würde sie ihnen schließlich von diesem Mann erzählen, der sie so angepöbelt hatte. … Sie würden sie beruhigen. Sie würden ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Und sie würde auf sie hören. Ja. Warum bekam sie nur das Gefühl nicht los, dass sie in Gefahr war? Dieses verfluchte Gefühl der Angst, das sie immer umgab, wenn sie an einer dunklen Gasse vorbeilief? Das Gefühl, dass sogleich eine Horde Mitschüler heranstürmen und sie anschreien würde? Ihr sagen würde, dass sie sich von Nathan fern halten solle … dass sie ihn nicht verdiene … dass er zu ihnen gehörte und sie sie nicht dabei haben wollten … dass sie ein Nichtsnutz war ... ein Außenseiter ... Sie schüttelte sich kurz. Nein. Sie war ein Engel. Sie war etwas Besonderes. Sie war nicht mehr die Kyrie von damals, die vor Angst in die Knie ging und ihnen nachgab. Die sich von Nathan abwandte, um sich selbst zu schützen. Die sich nichts sehnlicher wünschte als nur einen einzigen Freund! Sie würde niemanden mehr nachgeben. Sie würde Einsicht beweisen – aber sie würde sich nicht beugen! Sie hatte Flügel, die sie aufrecht stehen ließen! Und das würde sie tun. Zumindest nahm sie sich das jetzt vor … Und wenn sie dann zuhause ankam, würde sie wissen, dass alles in Ordnung war, sie umsonst einen Panikschub hinter sich hatte, und am Ende würde sie über ihre eigene Dummheit lachen! Mit diesem Gedanken konzentrierte sie sich auf das leer stehende Gebäude in ihrem Viertel, von dem aus sie immer den Nachhauseweg antrat. Als sie auf der Dachterrasse landete, zog sie ihre Flügel ein und schaute sich um. Es war so wie immer – und es war angenehm warm! Kein Vergleich zum Roten Dorf. Nun – dort hatte es auch geschneit. Ob sie ihren Eltern erzählen sollte, wo sie heute gewesen war? Sie wären bestimmt überrascht! Vielleicht würde sie eine Runde durch alle Dörfer machen – sie könnte ihren Eltern immer Ansichtskarten mitbringen! Sie würde ihre eigene Großmutter besuchen und es ihren Eltern mitteilen. Sie könnte als schnellerer Korrespondent dienen! So viele Ideen strömten in dem Moment auf sie ein. So vieles, was sie tun konnte. Wodurch sie sich nützlich machen könnte! Ein richtiges, unverfälschtes Lächeln trat erneut auf ihre Lippen. Ja – sie konnte ihren Eltern dienlich sein! Ihre Eltern mussten die Entscheidung, die sie getroffen hatte, dann nicht bereuen – würden all die Vorteile erfahren! Sie brauchten sich nicht mehr zu sorgen! Freude tat sich in ihr auf. Und Maria konnte sie dann auch besuchen. Vielleicht würde sie auch Diane und Kylie kennenlernen? Nur vor Ray müsste sie ihre Ausflüge dann geheim halten. Aber darüber konnte sie später auch noch sinnieren! Jetzt sollte sie sich erst an ihr Studium machen. Sie schritt den kurzen Weg zur massiven Tür und öffnete diese geübt – es war eine Brandschutztür, also hatte sie einen besonderen Mechanismus. Einen etwas veralteten vor allem. Hoffentlich würde dieses Haus noch lange bestehen bleiben. Es war immerhin schon abgesperrt. Abrissbereit. Das nächste leer stehende Hochhaus befand sich ein ziemliches Stück entfernt – also weitaus weniger praktisch. Auch wenn sie heute erfahren hatte, dass man auch problemlos bewohnte Gebäude erklimmen konnte. Die Krankenhäuser der Nördlichen Hauptstadt waren allerdings ein ziemliches Stück von ihrem Wohnort entfernt … Aber es gab dafür erhöhte Einkaufszentren! Und die Kirche. Sie stieg die Treppen nach unten, die sie mittlerweile sooft herunter gegangen war – und jedes Mal hatte sie den Tag, der hinter ihr lag, genossen. Und der heutige Tag war vermutlich der beste von allen! Sie würde … Plötzlich spürte sie einen abrupten Ruck auf ihrem Rücken. Er war schwer, hart und gezielt. Unangespannt wie sie war, fehlte ihr die Zeit zu reagieren – und wie in Zeitlupe musste sie dabei zusehen, wie ihre Beine nachgaben, da sie dem Übergewicht, das sich bildete, nicht gewachsen waren. Ihr Knie knickte quälend langsam ein und im letzten, erbärmlichen Versuch, die Balance zurück zu gewinnen, schlug sie wild mit den Armen um sich – und ein weiter Schubs gab ihr letztendlich den Rest. Sie versuchte, mit ihren Händen nach etwas zu greifen, das Halt gab, doch Geländer war keines in der Nähe und um sie herum befand sich nichts – was auch immer sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, konnte sie sich nicht erklären. Es fühlte sich zeitlich versetzt an, als der Schmerz in ihren Beinen sie erreichte, sobald sie auf den Treppen aufschlug und sich nicht mehr abfangen konnte – sie fiel schief und ihr Kopf … … Kyrie kam auf einer Zwischenstelle der Treppe zu sich. Brandschutzmaßnahmen schrieben vor, dass die Treppen nicht zu steil sein durften – und nicht zu lang … brauchten Zwischenebenen ... Sie benötigten ein Geländer … Das waren alles Details, die diese Stiege nicht erfüllte – vermutlich Gründe für die Schließung des Gebäudes … Immerhin war es alt … und … Ihr Kopf schmerzte. Ihre Gedanken strömten wild umher. Sie schlug ihre Augen auf. Es war hart. Sie sah verschwommen – die Nebelflecken verschwanden quälend langsam. Nach wenigen Momenten erreichte sie eine neue Dimension von Schmerz – am ganzen Körper zog es, überall drückte es, alles war zu eng, zu klein, zu schmerzhaft … zu … Sie atmete schwer. Jeder Atemzug schmerzte … Als ihr Blick sich klärte, erkannte sie, dass sie wirklich direkt vor der Treppe lag – und ihr Arm war seltsam von ihr gestreckt … in einem … unmöglichen Winkel … und der Schmerz, der von ihm ausging, war beinahe unerträglich! Es tat weh … höllisch weh … was … was war das? Wie hatte sie es geschafft, nach unten zu fallen …? Wie nur …? Im kläglichen Versuch, aufzustehen, gab sie ein ächzendes Geräusch zu sich, das ein unerbittertes Brennen in ihrer Lunge verursachte. Schmerzen … überall … Und plötzlich fühlte sie Druck. Druck an ihrer Seite. Sie bewegte ihre Augen in die Richtung – und starrte in ein wunderschönes, schmales Gesicht mit zwei glänzenden, grauen Augen, umrahmt von pechschwarzem, langem Haar, welches durch einen Pferdeschwanz zurück gebunden und gezähmt war. Der Mann schaute sie grimmig an – und plötzlich fielen ihr weiße Schwingen auf, die hinter ihm aufschienen. „Es lebt“, grollte er missmutig und wandte den Blick von ihr ab – er schaute Richtung Treppe. Als Kyrie seinem Blick angestrengt folgte, erkannte sie, dass dort oben jemand stand. In diese weite Entfernung wurde ihre Sicht unscharf, doch sie glaubte, ebenfalls zwei weiße Flügel zu erkennen … Engel … Engel … Sie waren hier, um ihr zu helfen … Sie waren hier, um sie in den heilenden Himmel zu bringen … Nathan … vielleicht hatte er Hilfe geholt? War er für sie hierher gekommen … Sie dankte ihm vom ganzen Herzen, als der Schmerz ihr erneut einen Strich durch die Rechnung machte und sie zusammenzucken ließ, wobei ihr ein Keuchen entkam. „Was bewegt es sich ohne Erlaubnis?“, erklang die grimmige Stimme des Mannes und er stieß etwas – seinen Fuß?! – gegen ihren Rücken. Dies strafte sie erneut mit einer Welle des Schmerzes, was sie laut ächzen ließ. Tränen des Schmerzes sammelten sich in ihren Augenwinkeln an … Nein … nein … sie wollte doch nicht weinen … sie … durfte nicht … „Das Mischwesen rührt sich“, erklärte der Mann mit dem Rossschwanz, „Soll ich es von seinem Leiden erlösen? Ich habe mal etwas von …“ Er stockte kurz. „Tierquälerei und damit verbundener Erlösung gehört.“ „Ich denke, das würde ihm mehr Gutes tun, als es wert ist“, ertönte die Antwort des anderen, „Es soll ruhig dafür büßen, was es und seinesgleichen uns antun.“ „Es … tut …“, begann Kyrie schwer atmend, „mir …“ So viel zu nicht mehr zurückweichen … Es waren Engel ... sie ... halfen ihr ... mussten ihr helfen ... Plötzlich wurde sie am Hals gepackt und in die Luft gehalten. Sie dachte, der letzte Rest an Luft würde ihr noch aus der Lunge gepresst. Atemnot machte sich in ihr breit. Ihr Blick wurde verschwommen. Warum? „Es spricht, ohne gefragt zu werden“, stellte der Mann fest, „Man sollte ihm Manieren lehren. Ich werde an Acedia weitergeben, dass sie ihrem Küken beibringen sollte, wie man mit Würmern umgeht!“ Der andere lachte laut auf. Kyrie schloss die Augen. Plötzlich ertönten Flügelschläge. Rettung. Nahte Rettung? Echte Rettung? ... Woher hatten diese Dämonen Flügel? Trugen Dämonen ebenfalls Engelsflügel? Es waren Dämonen. Es mussten Dämonen sein. Und jetzt würden Engel kommen. Richtige Engel, die ihr halfen. Voller Hoffnung öffnete sie ihre Augen wieder. Doch Enttäuschung übermannte sie. Der andere Engel war lediglich zu ihr geflogen. Er packte sie am Haaransatz und hob sie höher, als sie bereits zuvor war. Es schmerzte höllisch. Ihr Körper drückte nach unten. Ihr Genick musste alles halten. Alles … Würde sie jetzt sterben? Die Schmerzen … sie taten so weh … alles … alles tat so höllisch weh … Plötzlich wurde alles ganz locker – sie wurde losgelassen – und durch ihre Schwäche, schlug sie am Boden auf, ohne sich irgendwie abfangen zu können. Als sie aufprallte, durchzuckten die Schmerzen sie erneut. Dämonische Schmerzen ... zugefügt von ... ihnen ... Doch sie saß … sie saß dort … gebeugt … schwach … schwer atmend … Einige Momente ließen sie sie durchatmen … Einfach … Luft holen … Stärke sammeln … Ihr Blick klärte sich letztlich wieder … Doch der Schmerz … Jedes Gelenk … jeder Knochen … War etwas gebrochen? Sie schaffte es nicht, sich mit den Händen aufzustützen … Ihre Hände … was war mit ihnen? Ihre Arme … „Xenon hat mir erzählt, dass du ihn bereits zweimal belästigt hast“, begann der Engel ohne Rossschwanz, der rotes, zurückgekämmtes Haar hatte, wie sie jetzt erkannte, wobei er sich die Hände rieb, „Das können wir von einem Dämon leider nicht durchgehen lassen – in einem Moment starrt ihr, im nächsten fresst ihr. Ihr seid unberechenbar, Brut.“ Kyrie verstand seine Worte nicht. Dämon? Wie ... Er war es doch ... er war ein ... Sie beschäftigte sich damit, ihrer verschwindenden Atemnot komplett Herr zu werden und die Schmerzen davon abzuhalten, sie in die Bewusstlosigkeit zu treiben – auch wenn sie sich nicht sicher war, ob das nicht vielleicht doch angenehmer gewesen wäre … Doch es wäre genauso feige und schwach gewesen … wie sie früher ... Sie hätte auf sich selbst hören sollen … sie hätte … sie hätte Nathan rufen sollen … … Sollte sie Nathan rufen? Sie konzentrierte sich – und ihre Flügel sprossen hervor. Zumindest ansatzweise – im nächsten Moment hielt ihr der Rothaarige ein Schwert vors Gesicht. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. Ein resignierter Blick traf ihren. Ein Blick, der aussagte, dass es ihm egal war, was aus ihr würde, solange sie wusste, dass sie Abschaum war. „Wage es nicht, unser Heiliges Zeichen mit deiner Unwürdigkeit zu beschmutzen, Dämonenbrut.“ Er klang todernst. „Oder ich töte dich.“ Sie wollte leben. Sie wollte nachgeben. Sie wollte die Flügel einziehen. Aber die Flügel jetzt einzuziehen … würde sie dann nicht die letzten Wochen – die besten Wochen ihres gesamten Lebens – verleugnen? Würde sie nicht auch diese einziehen? Ihr Dasein als Engel beenden? Nur für diese Dämonen in Engelskörpern, die dachten, sie sei ein Dämon? Halbengelhasser. Das waren sie also. Glücklicherweise hatte sich ihr Atem erholt. „Es schaut dich an, Jeff. Achtung – sonst bekommst du noch Dämonenaugen!“ Der Mann mit dem Rossschwanz grinste vor sich hin. „Erledige es einfach. Niemand wird es vermissen.“ Jeffs Blick verfinsterte sich – doch diesmal war es gegen den anderen gerichtet. „Erteile mir keine Befehle. Versuch es gar nicht erst. Ich bin hier, um über es zu richten, um ihm seinen Platz in der Welt zu verdeutlichen. Einem Nichts, dem die Güte des Herren versucht hat, eine Chance zu geben. Einem Nichts, das alles weggeworfen hat. Einem Nichts, das schon immer unwürdig war und es auch immer sein würde.“ Seine Augen wanderten erneut zu Kyrie. Sie sah ihn immer noch an. Zwang sich, den Blick zu halten. Den Kopf oben zu behalten. Einmal in ihrem Leben wollte sie Stolz bewahren. Dieser Augenblick war wohl jetzt gekommen. Sie durfte nicht auf sie hören. Dieser Wille, ihr Gesicht zu wahren, drängte die hereinstürmenden Schmerzen zurück. Ließ sie für einige Momente verschwinden. Sie wollte ihm beweisen, dass sie ein Engel war. Ein Engel … kein Dämon … „Ich bin … kein Dämon …“, brachte sie hervor, „Ich bin … ein Halbengel … und ich …“ Plötzlich hob Jeff sein Bein und trat ihr mitten ins Gesicht. Kyrie verlor alles an Gleichgewicht, was sie noch hatte aufbringen können, und fiel wie ein Stein zurück. Ihr Kopf schlug am Boden auf. Alles sackte zusammen. Sie spürte, wie die Bewusstlosigkeit an ihr kratzte – viel stärker und attraktiver als zuvor. Aber sie hielt sich wach. Musste wach bleiben. Widerstand leisten … Sie wollte … sie wollte doch nicht mehr die Kyrie von früher sein … Nicht mehr das schwache, ängstliche Mädchen … Sie würde sich nie mehr wieder von Nathan trennen lassen … nicht … nicht nachdem sie ihn endlich für sich gewonnen hatte … Zwanglos … als … als Freund … „Es hat noch immer nicht gelernt, wie man sich vor Respektpersonen verhält“, kommentierte der Mann mit dem Rossschwanz, „Vielleicht …?“ Er beschwor nun auch sehr Schwert herauf. In dem Moment bemerkte Kyrie, dass sie es geschafft hatte, den kleinen Teil ihrer Flügel draußen zu lassen … Sie hatte … sie hatte widerstanden … war … war für einen kurzen Moment stark gewesen … „Soll ich ihm die Flügel abhacken? Es verdient sie ohnehin nicht. Soll es doch das Leder tragen, das ihm zusteht.“ Der goldäugige Mann schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Federn gehören bloß den Reinen und Guten.“ „Was … ist gut daran …“, zischte Kyrie schwach, musste sich dann aber eine Pause gönnen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie musste bei Bewusstsein bleiben … bei … Bewusstsein … „… einen … wehrlosen … Eng- …“ Ihre Kehle war trocken. Jedes Wort kratzte. Und doch wollte sie sprechen. Aber weiter kam sie nicht. Zwei Schwerter zielten auf ihre Kehle ab. Und zwei resignierte Blicke ruhten auf ihr. Resignierte Blicke mit der Bereitschaft zu töten. „Wage es nicht, uns anzuzweifeln, Dämon“, drohte der rothaarige Engel und seine Augen blitzten wütend, „Oder dein letztes Stündlein hat damit geschlagen.“ „Du bist zu gütig, Jeff“, knurrte der andere, „Nachdem dieser Dreckswurm sich nicht zu benehmen weiß. Ich denke …“ Der Mann mit Rossschwanz hob sie eine Arme – holte zum Stich aus. Kyrie starrte stur die Schwertklinge an. Wenn sie jetzt sterben würde … dann mit … mit gerecktem Kinn. Mit … mit Würde … Mit … Angst ... Das Öffnen der Tür erklang – die Gesichter der beiden wandten sich sofort zum Neuankömmling. Nathan … bitte – bitte ließ es Nathan sein! Dieses eine Mal … musste er ihr doch helfen können, oder? Sie hatte Angst … Angst! Sie wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht heute. Nicht unter diesen Umständen! Sie hatte doch noch so viel vor … so … so viel … Erneut sammelten sich Tränen in ihren Augenwinkeln. Die alten waren unverflossen vertrocknet. So viel zu Würde. So viel zu Stolz oder Stärke. Sie war ein Schwächling. Ein ängstlicher Feigling. Instinktiv hatte sie alles, was sie noch halbwegs lenken konnte, eingezogen. Sich klein gemacht - mit Rücksicht auf die Schwerter vor ihr. „Was treibt ihr beiden denn da?“, ertönte eine Frauenstimme. Sie kannte diese Stimme nicht. Als sie in Richtung der Tür schaute, ohne dabei ihre Kehle zu gefährden, um die Frau zu begutachten, löste sich eine Träne – doch die anderen hielt sie fest. Die Frau hatte silbernes Haar und dunkle Augen. In ihrem Blick lag etwas Ungeduldiges. „Ihr sollt sie nicht töten, hat Xenon gesagt, verdammt!“ „Es hat uns aufs Übelste beleidigt!“, verteidigte sich der Schwarzhaarige, „Wollte uns als gottlos bezeichnen, dieser Dämon!“ Die Frau runzelte missbilligend die Stirn. „Ich denke, ihr habt ihm einen Denkzettel verpasst. Sein Blick winselt doch schon förmlich um Gnade – und zu menschlichen Emotionen greift es auch schon! Ha!“ Sie lächelte zufrieden. „So viel zur unbändigbaren Stärke und Härte der Dämonen. Aber sie ist auch nur ein halber. Aber das ist auch schon genug, um die Welt ins Unheil zu stürzen.“ Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Aber kommt jetzt. Wir haben nicht ewig Zeit – und wer weiß, ob ihr Aufpasser nicht nach seinem entlaufenen Schoßhund schaut.“ Sie machte ohne Umschweife kehrt und verschwand hinter der Tür. Kyrie wandte sich wieder ihren Peinigern zu. Jeffs Gesicht wanderte nahe an ihres. Sie erkannte seine silbernen Augen, sein Gesicht, das wie das eines 30-Jährigen wirkte und ihr hasserfüllt und wütend entgegen starrte. „Nie wieder“, knurrte er, „Nie mehr wieder sollst du in den Himmel zurückkehren. Lebe deine verfluchten 25 Jahre auf der Erde – doch halte dich vom goldenen Glanz des Herren fern! Halte dich fern und verschmutze mit deiner puren Anwesenheit nicht unsere reine Luft. Jemand wie du gehört nicht in unsere Welt, Dämon. Also verschwinde.“ Er entfernte sich langsam von ihr. Bedeutungsschwere Blicke lasteten auf ihr. Erst jetzt nahm er sein Schwert von ihrer Kehle, ließ es verschwinden. Danach schritt er nach oben, wobei seine Flügel in den engen Gängen streiften. Er verlor wenige Federn, ehe er durch die Tür verschwunden war. Der Mann mit dem Rossschwanz stand noch genauso wütend da wie zuvor. „Beleidigung. Respektlosigkeit – und trotzdem sollst du noch so lange leben?“ Er verzog sein Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse. „Ein zu gütiger Mann. Sei ihm dankbar, Dreck.“ Er wandte sich ab – sein Schwert hing immer noch an ihrer Kehle. „Wenn ich dich noch ein einziges Mal im Himmel erblicke, so sei dir sicher, dass du von uns hingerichtet wirst, wie es sich gehört, Dämonenbrut. Ohne deinesgleichen wäre die Welt letztendlich ein schöner Ort. Gott wäre von all seinen Problemen erlöst. Und wir hätten keinen Grund, an diesen Ort zurückzukehren. Genauso wie du kein Recht hast, Fuß in unseren Lebensraum zu setzen.“ Er widmete ihr noch einen bedeutungsschweren Blick, ehe er ihr mit seiner Waffe über die Wange strich, was ein schmerzliches Brennen verursachte. Für diesen einen Moment, in dem das Schwert ihre Haut berührte und ihr Blut die Klinge beschmutzte, begann sie sich zu erinnern. Wie Melinda … und all die anderen zuvor und Nathan … und ihr Leben … All die schrecklichen Momente … Ihre Einsamkeit, die Isolation, nein – sie wollte nicht wieder so sein! Die Schmerzen, die der Verrat mit sich brachte. Die Tränen, die sie einsam vergossen hatte. Nichts davon hatte sie je erzählt. Alles hatte sie zurückgedrängt. Zurück, dorthin, wo sie es nie wieder sehen musste. Das schämische Grinsen ihrer Peiniger. Nathan, der sich von ihr abwandte. Wie er weg ging. Zu den anderen. Weg von ihr. Schmerzen, unsägliche Schmerzen, die ihre Seele zerschmetterten ... Als die Klinge sich von ihr entfernte, stoppte die Flut an Erinnerungen. Was war das!? „Stirb hier. Oder lebe hier. Aber halte dich fern – denn ein zweites Mal lasse ich mir deinen Anblick nicht gefallen.“ Er schaute sie hasserfüllt an. Die Tür wurde aufgerissen und die Frau erschien mit gehetztem Blick. „Drake, beeile dich! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, uns um Ungeziefer zu kümmern!“, knurrte sie. „Ja, ja“, wimmelte er sie ab und schritt langsam die Stufen nach oben, wobei er dasselbe Problem mit seinen Flügeln hatte wie Jeff zuvor, „Hetz nicht immer so, Milli! Die Menschen bauen alles viel zu eng!" Als Drake die Tür hinter sich schloss, fühlte Kyrie, wie die Stille um sie herum sie erdrückte. Und doch erleichterte sie sie. Sie hielt die Tränen weiter zurück. Sie wollte nicht weinen. Sie würde hier sterben. Aber sie wollte nicht mehr weinen. Die Bewusstlosigkeit erlöste sie von Schmerzen und Angst. Als Kyrie erwacht war, lag sie noch unbewegt am selben Ort. Sie war nicht gestorben. Und sie war kräftiger geworden. Sie schaffte es, sich aufzurichten, sich an die Wand zu lehnen. Dabei bemerkte sie, dass sie mit einem Arm gar nichts anfangen konnte – und mit dem anderen nur bedingt etwas. Ihre Beine trugen sie mehr schlecht als recht. Ihr Blick war zur Türe hinauf gewandert. Nur so wenige Meter nach oben auf die Dachterrasse. Nur so wenige Meter hinauf in den Himmel, der ihr Licht und Heilung spendete. Und doch überwog ihre Angst. Angst davor, was sie dort oben erwartete. Tod. Sie gefror auf der Stelle. Würden dieser Xenon, Jeff, Drake und Milli warten? Würden sie sie letztlich töten? Sie sehnte sich aufgrund der Schmerzen nach einem Ende – doch sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben. Ihre Zeit genießen. Glücklich sein. Sie ... sie musste weg hier! Weg ... weg vom Himmel ... nach unten, tief, tiefer nach unten ... Sie musste ... fort ... Ins Glück. Zu Ray … Ray war fünf Jahre alt, als er das geschafft hatte. Sie war besser weggekommen als Maria, welche sich gar nicht mehr bewegen konnte. Sie würde … sie würde wohl … heim … in ihr weiches … weiches Bett kommen … heim … wo sie sicher vor ihnen war … Nach … Hause … Sie brauchte keinen Himmel, musste glücklich werden ... zuhause ... auf der Erde. Sie stolperte die Treppen nach unten. Nur noch … viele, viele … Treppen … Kyrie glaubte an Wunder, als sie durch die Eingangstür des Gebäudes schritt und die Straße erreichte. Die … die Straße … nur noch … nur noch fünfzehn Minuten … fünfzehn … lange … quälend … lange … Minuten … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)