Federschwingen von RhapsodosGenesis ================================================================================ „Ray!“, ertönte eine Stimme hinter ihm, als er gerade das Vorlesungszimmer verließ, „In letzter Zeit hast du es so eilig, dass man glauben könnte, der Teufel wäre hinter dir her, Mann! Wo ist der gelassene Ray nur hin?“ Er wandte sich zum Sprecher um. Es handelte sich um Ted Dickston. Er überragte Ray um gut zwei Köpfe und hatte extrem kurz geschnittenes, dunkles Haar, welches beinahe wie eine Glatze wirkte. Dazu hatte er zwei stechend grüne Augen, die etwas Gefährliches anhaften hatten – doch er war ganz in Ordnung. Er hatte sich mit ihm angefreundet. Manchmal unternahmen sie abends zusammen etwas – und in den Pausen verbrachten sie auch recht viel Zeit miteinander. Man konnte sie fast als Kollegen bezeichnen. „Ich muss nach Hause. Das Essen brennt an“, gab er trocken zurück. Ted lachte. „Warum? Hast du um sieben den Backofen eingeschaltet, um dir dein Essen beim Heimkommen warm zu halten?“ Er grinste feixend. Ray schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Heute sind wir doch sowieso später dran, oder? Da darf ich mich wohl noch mehr beeilen als sonst.“ „Wartet irgendwo da draußen etwa ein heißer Feger auf dich, von dem du mir nichts erzählt hast?“, fragte Ted ungläubig – dann lachte er lauthals los. „Nein, aber jemand, mit dem man sich besser unterhalten kann, als mit dir“, antwortete Ray sachlich, machte auf der Stelle kehrt und eilte davon. „Was – Was soll das heißen!?“, erklang Teds laute, überraschte Stimme hinter ihm. Morgen würde er sich bei ihm entschuldigen müssen. Aber der Rechtswissenschaftsdozent hatte heute überzogen – das bedeutete, dass er wohl nach Kyrie ankommen würde. Ray konnte es selbst kaum fassen, dass er sich schnell auf den Nachhauseweg machte. Immerhin war er schwer bemüht, diesen Weg zu meiden und so lange wie möglich vom Haus fernzubleiben. Entsprechend hatte Ted wohl Recht – er hatte sich verändert. Er schlenderte nicht mehr so sehr. Immerhin hatte er jetzt wichtige Termine einzuhalten. Und die Gespräche mit Kyrie waren so erfrischend, so auflockernd, so wohltuend, dass er auf keinen Fall eine Sekunde davon verschwenden wollte. Aber er konnte Leuten wie Ted nichts davon sagen – sie würden es alle falsch verstehen. Sie würden Romanzen sehen, wo keine waren. Sie würden Kyrie unbedingt kennenlernen wollen und sie würden sie bedrängen. Er kannte ihrerlei. Kylie hatte auch immer mit seinen alten Freunden zu kämpfen gehabt. Zuerst war sie in Frieden gelassen worden, weil jeder sie für ein Paar gehalten hatte – als sie ihm schlussendlich geglaubt hatten, dass da zwischen ihnen nicht mehr war als pure Freundschaft, war sie ständig von ihnen belästigt worden. Kylie war immerhin nicht hässlich. Nein, eigentlich das Gegenteil. Und klug obendrein. Zu klug. Ein Wunderkind - wortwörtlich. Er verließ das Universitätsgebäude. Rechtswissenschaften wurde an der vordersten Front unterrichtet, sodass er es zu ihrem Treffpunkt immer sehr nah hatte – darum war er meistens wohl der Erste, der dort erschien. Außer heute. Als er sich durch die Massen an Studenten und Arbeitern drängte, die hier tagein, tagaus vorbeiliefen, ohne ihn wahrzunehmen, erkannte er bereits das schwarze Haar von Kyrie, welches ihr bis zur Taille reichte. Heute trug sie einen aufbauschendes, weißes, kurzes Kleid, welches kurze Ärmel besaß und mit Rüschen verziert war. Und dazu ihre weißen Stiefel. Sie wirkte wie ein Engel, wie sie ruhig da saß und verträumt in den Himmel starrte. Weiße Federschwingen würden perfekt zu ihrem Antlitz passen. ... Warum dachte gerade er an Engel? ... Scheinbar unterhielt er sich eindeutig zu oft über ihr Studiengebiet! „Hallo, Kyrie!“, begrüßte er sie, „Hast du heute besser geschlafen als gestern?“ Er lächelte freundlich, als er sich neben sie setzte und sie darum wieder ziemlich überragte. Sie schaute aus ihren dunklen, braunen Augen zu ihm herauf und schenkte ihm ein erfreutes Lächeln. „Ray, da bist du ja! Ich habe gut geschlafen, danke.“ „Tut mir leid, der Dozent hat überzogen. Da bin ich dann nicht so schnell wie sonst.“ Er grinste. Wenn er bei ihr war, fühlte er sich viel fröhlicher als sonst. Wenn er hier war, konnte er so vieles ausblenden. Sie nickte. „Ich verstehe! Hat sich seit gestern etwas verändert?“ Ray schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht merklich viel. Neben dem ganzen Lernen bleibt kaum Zeit für anderes. Habt ihr auch bald Prüfungen?“ „Ja, haben wir. Aber verglichen mit dir muss ich ja nichts dafür tun!“, brachte sie hervor. Ihre Augen nahmen wieder diesen begeisterten Glanz an, der immer auftauchte, wenn sie davon sprach, dass er gleich drei Studiengänge auf einmal belegte. Mal sehen, wie lange das gut gehen würde. „Du musst bestimmt auch genug büffeln“, entgegnete er beschwichtigend. Sie nickte und seufzte daraufhin. „Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie du das hinbekommst.“ „Mir auch“, gab er lachend zu. Sie grinste. „Ich hoffe, du fällst nicht durch. Das wäre schade.“ Er nickte. „Erinnere mich bloß nicht daran! Das wäre eine sehr tragische Enttäuschung.“ Kyrie tätschelte plötzlich seine Schulter und sagte beruhigende Worte. Bei ihrer Berührung ging es ihm kalt den Rücken runter. Aber weshalb? Eigentlich hatte er nichts gegen Berührungen – vor allem von einem Freund. Er schüttelte kurz, kaum merklich den Kopf. Vielleicht war es nur ein Windstoß. Und so sprachen sie weiter – und als Kyrie in das Auto ihrer Eltern stieg und sich verabschiedete, wobei er ihr zuwinkte und sich bereits auf den nächsten Tag freute, fiel ihm auf, dass ihre Eltern eine halbe Stunde Verspätung hatten. Und ihm war es dennoch viel zu kurz vorgekommen. Er wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Mit diesen Gedanken schlenderte er seinen Weg übertrieben langsam nach Hause. Nachdem Kyrie sich versichert hatte, dass ihre Jacke noch an dem Ort lag, an dem sie sie letzte Nacht zurückgelassen hatte, dematerialisierte sie sich und empfing das heilende Licht des Himmels. Sie erschien an dem Ort, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten. Doch die Treppe stand leer. Vielleicht hätte sie sich doch nicht so beeilen müssen und das Essen ein wenig länger genießen können – doch lieber zu früh als zu spät, wie sie immer zu sagen pflegte. Manchmal. Sie setzte sich auf die Treppe und schaute sich um. Hier war wie immer wenig los. Kaum einmal ließ sich ein ihr fremder Engel hier blicken. Diejenigen Engel, die vorüber kamen, waren wunderschön. Wenn Kyrie ihnen in die Augen sah, verlor sie sich in einer seltsamen Welt. So viel Grazie und so viel Weisheit vereinte sich auf ihren Gesichtern – und sie alle waren so viel älter als sie selbst und das, obwohl einige jünger aussahen als sie. Zwei Zyklen und achthundert Jahre … Das war das Leben eines Engels. So viel länger als ein Menschenleben. Es betrübte sie, zu wissen, dass nur so wenig Zeit im Leben ihrer Engelsfreunde beanspruchen würde. Sie würde ja kaum Zeit haben, sie richtig kennen zu lernen … Engelsfreunde … Nathan hatte ihr gesagt, sie wären Freunde … Ein Seufzten entrann ihrer Kehle. Sie hatte sich so lange schon richtige Freunde gewünscht – Freunde, die sie jetzt gefunden hatte. Und trotzdem dachte sie schon an die Zeit der Trennung … Ihr war wohl einfach nicht zu helfen! „Du schaust drein, als hätte man dich ein Hochhaus runter geworfen und wieder hochgehoben, nur um dich noch einmal runter zu werfen“, erklang eine Stimme über ihr, „Muss echt weh getan haben!“, fügte Thierry hinzu, als er am Wolkenboden vor ihr aufkam und sich umschaute, wobei er seinen muskulösen Hals ein wenig reckte. „Sind die anderen noch gar nicht da? Solche unpünktlichen Chaoten!“ Er grinste, wodurch sein breites Gesicht ein wenig schief wirkte – und umso niedlicher. Er musste ein wahrer Frauenschwarm sein. Allein sein Oberkörper … „Nein, ich denke, wir sind bloß zu früh!“, antwortete Kyrie fröhlich und erhob sich, wobei sie das Flügelpaar auf ihrem Rücken kurz durchschüttelte, wodurch ihr einige der weißen Federn abhanden kamen. Die erste Feder, die ihr abgefallen war, stand noch immer bei ihr zuhause herum. Mittlerweile hatte sie bestimmt schon sehr viele Federn verloren. DIe hatte sie liegen lassen. Im Himmel lösten sie sich mit der Zeit auf. Auf der Erde nicht. Aber in der kurzen Zeit, die sie sie auf der Erde trug, verlor sie nicht so viele Federn. Sie umarmte Thierry fröhlich – wobei sie mehr seine Hüfte umarmte als ihn, was ihr allerdings auch schon schwer viel. Der Mann war breit, groß und schien nur aus Muskeln zu bestehen! Er legte seine Hände ebenfalls um sie und drückte sie für einen Moment – dann ließen sie wieder voneinander ab. „Wie war deine Woche?“, wollte sie von ihm wissen, als sie sich wieder auf die Treppe setzte. Er pflanzte sich auf den Boden und konnte ihr dadurch direkt ins Gesicht sehen. So groß! „Ha – ganz gut. Unser Verein hatte drei Freundschaftsspiele und wir haben alle drei gewonnen.“ Sein Tonfall verhieß: „Ich habe alle drei gewonnen und die andern haben ein bisschen geholfen.“ Aber bei seiner Statur konnte sie ihm das irgendwie aufs Wort glauben … „Und in die Meisterschaften nächstes Jahr sind wir auch eingetragen – ich hoffe, du wirst dabei sein!“ Er grinste. „Das klingt alles sehr gut!“, lobte Kyrie ihn, „Ich würde sehr gerne einmal zusehen – wenn ich keine Prüfungen habe, werde ich bestimmt vorbeischauen.“ „Ich werde Nathan die Termine geben – er soll sie dann an dich weitergeben.“ Thi grinste höhnisch. „Ans Springen und Nachtragen ist der Junge eh gewöhnt!“ Kyrie lachte kurz. „Sei nicht so gemein – er ist immerhin fast eine Todsünde!“ Fast eine Todsünde … Ob die Todsünden viel Zeit für Freunde hatten? … Vermutlich würde sie seine Zeit als Todsünde sowieso nicht mehr erleben. Was waren schon hundert Jahre? Thierry stimmte in ihr Lachen mit ein. „Er wird’s verkraften! Ist ja ein starker Junge! War immerhin auch einmal mein Schüler!“ Kyrie blinzelte überrascht. „Ach wirklich? Das wusste ich gar nicht.“ „Du weißt vieles nicht, Schätzchen“, ertönte eine Stimme hinter ihr, was sie erschrocken herumfahren ließ. Deliora stand auf der Treppe, was bedeutete, dass sie von oben gekommen war, „Thierry und Nathan haben aber nur etwa achtzig Jahre miteinander gespielt. Es war während ihrer Zyklen.“ Deliora grinste. „Für alte Männer und Kinder haben sie gar nicht so schlecht gespielt.“ Erstaunt sah Kyrie wieder zu Thi. „Ach ja? So lange spielst du schon?“ Er nickte stolz. „Natürlich! Seit nunmehr fünfhundertelf Jahren!“ Er zuckte danach mit den Schultern. „Nathan hat dann aufgehört. Wenn er weitergemacht hätte, wäre er heute bestimmt genauso beeindruckend wie ich.“ Kyrie versuchte, sich Nathan so arg muskulös wie Thierry vorzustellen, was ihr aber nicht wirklich gelang – ihre Gedanken von einem überfetteten Nathan entlockten ihr ein kurzes Lachen. „Natürlich“, sagte sie daraufhin kichernd. Deliora ließ sich neben ihr nieder. „Thierry spielt aber wirklich gut“, stellte Deliora sachlich fest, „Ein Spiel mit ihm zu sehen, ist wirklich spannend.“ Der große Mann errötete leicht. „Das ist zu viel der Ehre!“ Deliora lächelte berechnend. „Keineswegs.“ Thierry schaute dann – mit seiner normalen, bräunlichen Gesichtsfarbe – zu Kyrie: „Wie läuft es mit deinem Training?“ Überrascht darüber, angesprochen zu werden, zuckte sie kurz zusammen, fing sich dann aber gleich wieder. „Einen Moment“, bereitete sie ihre Freunde vor und konzentrierte sich dann fest. Sie benutzte die Magie und zwang sie in die Form eines bewegenden Ablaufs. Sie formte das Licht, das ihr entsprang in die Richtung, dass sie die gestrige Stunde mit Nathan und Joshua wieder hervorrief. Thierry klatschte daraufhin erfreut. „Wow! Du bist echt gut!“ Von Deliora erhielt sie ein anerkennendes Nicken. „Ich kenne sonst keine Halbengel, also weiß ich nicht, wie ich deine Leistung bewerten soll – aber sie ist nicht schlecht.“ Sie schenkte ihr noch dazu ein zufriedenes Lächeln, wobei sie ihre Brille zurechtrückte. Plötzlich dämmerte Kyrie etwas: „Soll ich versuchen, Nathan zu rufen?“ „Den Ruf beherrschst du auch schon?“, rief Thi überrascht aus, „Genial – du übertriffst dich!“ Sie lächelte höchst erfreut, doch errötete auch ein wenig obgleich des vielen Lobs. Währenddessen ließ sie die Magie des Ablaufs in sich zusammenfallen und benutzte die Magie, um einen leichten, sachten Ruf, wie sie ihn gelehrt bekommen hatte, zu erschaffen. Es wäre zwar die Zeit für einen Magneten gewesen, doch das war nicht ihre Aufgabe. „Mal sehen, wie er darauf reagiert“, murmelte Deliora schmunzelnd. „Was machst du eigentlich immer so?“, wollte Kyrie von Deliora wissen. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin Assistentin eines Siebten Ranges.“ Kyrie staunte nicht schlecht, als sie das hörte. Schon eine zweite wichtige Persönlichkeit – Thi gezählt, eine dritte! „Was kannst du denn erschaffen?“, wollte sie interessiert wissen. Der Siebte Rang erschuf, das wusste sie. „Ich helfe meinem Boss dabei, Bücher und Zettel herzustellen, die unter anderem Nathan verwendet“, antwortete sie kühl. „Habt ihr euch dabei kennen gelernt?“, hakte Kyrie weiter nach. Deliora kicherte belustigt. „Schlaues Mädchen.“ Dann nickte sie. „Ja. Es war ziemlich am Anfang seiner Zeit als Assistent. Nathan hatte sämtliche Blätter, die Acedia besessen hatte, zerstört – wie genau er das geschafft hat, hat er nie jemanden erzählt.“ Kyrie kicherte obgleich dieses Einwandes. Irgendwie hörte sich das total nach dem Nathan an, der ihr Freund war – und passte überhaupt nicht auf den beliebten Schuljungen, den sie solange kannte. „Er musste jedenfalls alle Treppen zu Fuß nach unten laufen. Wir produzieren im Erdgeschoss des Turms. Er benötigte eine so große Ladung Papier, dass mein Chef mich um Hilfe bitten musste. Dabei habe ich ihn das erste Mal verflucht. Als er dann alleine zu schwach war, alle Treppen wieder hochzusteigen, musste ich ihm helfen.“ Sie lächelte. „Ich denke, dadurch sind wir Freunde geworden. Aus Kulanz und Mitleid bin ich nämlich auch dieTreppen zu Fuß hochgestiegen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es waren sehr viele Treppen, bis ich nicht mehr weiter konnte. Da habe ich ihn das zweite und dritte Mal verflucht. Er war der Erste, der mir meine Grenze gezeigt hat." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich wollte sie eigentlich nie kennenlernen." Kyrie starrte Deliora an. So … sozial und nett war sie? Wow … „Das ist ja total nett von dir gewesen! Also ohne das Fluchen … Aber … Moment, bitte … Bis du als Siebter Rang nicht mehr hoch kannst …? Grenze?“ Thierry kicherte belustigt. „Nathan ist einfach Nathan, oder? Weißt du, es gibt nicht nur Sieben Todsünden und sieben Assistenten, die stark genug sind, so weit nach oben zu fliegen. Einige sind sogar stark genug, die vorletzte Treppe zu erreichen. Aber der schwächste Assistent kommt eine Treppe weiter. Nur weil man weiter unten zugeteilt ist, heißt das nicht, dass man, wenn es einen Engel weniger gäbe, nicht weiter nach oben käme!“ „Und die meisten Stockwerke gehören sowieso den Siebten Rängen“, fügte Deliora informativ hinzu. Sie nickte verstehend. Zumindest verstand sie halbwegs. Also konnte Deliora bis direkt unter das Stockwerk der sechsten Ränge fliegen … und war damit ziemlich beeindruckend stark! … Oder? Aber … das war zu hoch für sie … Sie selbst würde vermutlich nicht einmal ein Stockwerk hoch kommen, also … Gerade als sie fragen wollte, wann Liana zu ihnen gestoßen war, erschien Nathan vor ihr. „Hallo Leute! Tut mir leid – ich bin spät dran! Aber ich musste ja noch einige Rufe beantworten.“ Er grinste Kyrie frech an. Plötzlich fühlte sie etwas, das in ihr hoch kam. Es war das Gefühl, wieder vollständig zu sein. Ihre Magie war wieder zu ihr zurückgekehrt. Dieses Gefühl war seltsam … prickelnd. „Ich übe noch, okay?“, wehrte sie sich unernst, „Wie war es?“ Er nickte zufrieden. „Du hast dich ziemlich gebessert!“ Danach beugte er sich ein wenig in Thierrys Richtung. „Schau lieber zu, dass sie dich niemals rufen muss.“ Dazu machte er eine Halsabschneider-Gestik. Kyrie zog einen Schmollmund – und das brachte Nathan zum Lachen. „Nein, ernsthaft!“ Er grinste. „Du bist gut!“ Eine schwarze Gestalt näherte sich ihnen dann gemütlich – und Joshua stellte sich neben Nathan, wobei er jedem einmal kurz zu nickte. Sogar Kyrie erhielt eines. Hatte sie es also tatsächlich geschafft, ihn als Freund zu gewinnen? „Oh, Joshua! Gut – dann sind alle anwesend!“, rief Thierry erfreut, „Gehen wir los!“ Deliora nickte. „Ja. Wohin gehen wir dieses Mal?“ „Moment …“, unterbrach Kyrie schüchtern, „Fehlt nicht noch … Liana?“ Thierry starrte sie verständnislos an. „Ja?“ „Sollten wir nicht auf sie warten?“, schlug sie vorsichtig vor. „Nein?“, mutmaßte Thi stirnrunzelnd, „Sie kommt nicht. Wieso sollten wir da warten?“ „Oh, wo ist sie denn?“, wollte Kyrie wissen. Sie erntete einen weiteren fragenden Blick. „Keine Ahnung“, antwortete er wahrheitsgemäß. Nun war es Kyrie, die ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog. Was war nur passiert? Waren sie etwa keine Freunde mehr oder …? „Oh!“, ertönte Nathans Stimme plötzlich, „Tut mir leid, das habe ich vergessen, euch zu sagen, Leute.“ Er räusperte sich kurz. „Die Menschen sind etwas seltsam. Sie erwarten, dass man sich meldet, wenn man nicht kommt.“ Thierry blinzelte verwirrt. „Macht das Sinn?“ „Sie hoffen und beten eben gerne“, erwiderte er lachend. „Nathan?“, mischte sich Kyrie verwirrt in das Gespräch ein. Er sah sie belehrend an. „Engel kennen ihre Freunde, Kyrie. Eine pünktliche Person wird nicht unpünktlich kommen – wenn sie nicht kommt, kommt sie gar nicht. Ist doch logisch.“ „Und auf Nathan und Joshua haben wir gewartet, weil sie beide einen etwas unpünktlichen Charakter haben. Wenn sie aber noch viel länger fortgeblieben wären, wären wir einfach ohne sie gegangen“, klärte Deliora sie auf, „Und ihr meldet euch wirklich vorher? Was würdest du dann tun, wenn du zum Beispiel dringend lernen müsstest? Erst noch einen Abstecher machen, dich ablenken lassen und dann die Zeit nicht zum Lernen nutzen? Man kann doch wirklich darauf vertrauen, dass man seine Zeit sinnvoll nutzt, ohne sich dafür Erlaubnis einholen zu müssen.“ Ihre Tonlage drückte Verständnislosigkeit aus. Kyrie nickte vorsichtig. „Ich … ich denke, es ergibt Sinn … Wenn ich also einfach so nicht erscheine …?“ Nathan beendete ihren Satz: „Werden wir einfach ohne dich Spaß haben!“ Ein Grinsen zierte sein Gesicht. Kyrie lächelte. „Nun gut … Wenn ihr das so seht … werde ich mich wohl daran halten?“ Es war mehr als Frage gedacht. „Aber in deiner Welt solltest du es lieber nicht ändern“, wies Nathan sie hin – und er erschauderte. „Ich weiß noch, damals, bei meiner ersten Verabredung …“ Thierry kicherte und klopfte Nathan freundschaftlich auf den Rücken. „Du Held!“ Kyrie beobachtete Joshua, dessen Miene sich für einen kurzen Moment verfinsterte. Aber er wandelte sie sofort wieder in Gleichgültigkeit um. Er passte einfach nicht zu diesem fröhlichen Haufen. Aber er war sehr nett. Jedoch verschlossen … „Nun – alle Ungereimtheiten geklärt?“, wollte Thierry erneut wissen, „Dann gehen wir! Ich habe Hunger!“ Liana war wirklich den ganzen Tag nicht aufgekreuzt. Was sie wohl Wichtiges zu tun hatte? Aber es stimmte schon, dass es manchmal wichtigere Dinge gab, als seine Termine mit Freunden einzuhalten. Wenn Acedia ihn plötzlich rufen würde, würde er auch nicht noch schnell absagen können. In dem Fall waren die Telefone der Menschen wohl ganz praktisch. Im Himmel aber kannte man die Leute mit denen man Umgang pflegte – man wusste sehr wohl, ob diese Person sich um Pünktlichkeit bemühen würde oder nicht. Der erste Eindruck war hier einfach der wichtigste. Außerdem gab es keine Straßenstaus. Und kein Telefonnetz, um im Fall der Fälle doch anzurufen. „Ist es nicht ziemlich schwierig, auf einen Termin so viel zu lernen?“, wollte Deliora von Kyrie wissen, während sie ihr Getränk aus Licht herumwippte. Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein, es geht. Man muss sich nur Zeit nehmen. Ich habe ja nur ein Fach zu lernen. Einige studieren ja mehr auf einmal.“ „Welcher Idiot würde sich das denn antun?“, fragte Nathan frech, „Mir war der eine Studiengang schon zu hart! Ich beneide dich ja fast darum, dass du es so weit bringst.“ „Er ist kein Idiot“, murmelte Kyrie kaum hörbar, „Und du bist faul.“ Sie verschränkte die Arme und sah ihn anklagend an. Er grinste jedoch triumphierend. „Endlich jemand, der es anerkennt!“ Thierry lachte laut los. „Ich bin schon gespannt, was für eine Acedia du wirst, Kumpel!“ Das fragte er sich auch. Keine Panik … Er sagte jedoch leichthin: „Die Beste von allen?“ Hoffentlich würde der Tag noch sehr weit weg sein. Auch wenn für ihn und Joshua … Die letzte Nacht zusammen mit ihm war einfach wunderschön … Sie hatten so viel Spaß … Er musste Kyrie noch dafür danken, dass sie ihm die Gelegenheit geschenkt hatte. Aber wie bloß? Lachen erschallte vom Tisch – und eine Geschichte nach der nächsten folgte. Sie tauschten Erlebnisse und Ergebnisse aus … Und Nathan hoffte, dass Kyrie jetzt wusste, wie sich Freundschaft anfühlte – nachdem er sie ihr solange verwehrt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)