Der Rächer von Nifen ================================================================================ Kapitel 2: II. -------------- Tagesprophet 12. November 2009 „Zauberengland scheint einen neuen Rächer zu haben. Bereits zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen wurden Heiler des St. Mungos Krankenhauses zum Schauplatz eines Verbrechens gerufen, bei dem ein Mitglied der Zaubergemeinschaft körperlichen Schaden erlitten hatte. Und wieder gab der Verletzte, nachdem er von den Medimagiern stabilisiert worden war, an, er sei von einem Unbekannten angegriffen worden, den er aber aufgrund einer schwarzen Wolke, die den Angreifer umgeben habe, nicht erkannt hätte. Doch trotz der massiven Verletzungen, die das neuerliche Opfer des Rächers erlitten hat, fällt es einem auch in diesem Fall schwer, wirkliches Mitleid zu empfinden, weist doch die Tat einen nicht von der Hand zu weisenden Sinn für Gerechtigkeit auf. Wir erinnern uns an Gladys Nicklefield, die kaltherzige Vermieterin, die sich weigerte in ihren Mietswohnungen trotz eines mehrfach prophezeiten harten Winters die Kamine sachgerecht in Stand setzen zu lassen und somit ihren Mietern ein dem Mietpreis entsprechendes Umfeld zu schaffen. Das Argument den Mietern gegenüber war gewesen, dass diese ja die meiste Zeit des Tages eh auf Arbeit seien und daher die Kamine gar nicht wirklich nutzen würden. In der Tat wohnen in ihren Mietshäusern überwiegend Angestellte der Gringotts-Bank, welche die Nähe der Häuser zu ihrem Arbeitsplatz schätzen. Dennoch lässt einen der Gedanke die vor uns liegenden Winternächte in einem eisigen Bett verbringen zu müssen, weil kein Kamin im Haus ausreichend Wärme spenden kann, schon jetzt bibbern. Wer von den Hausbewohnern mag unter diesen Umständen nicht frohlockt haben, als der Rächer eines Nachts Ms. Nicklefield heimsuchte und ihr Erfrierungen 2. Grades fast am ganzen Körper bescherte? Unangenehm – ja –, doch dank der fähigen Heiler ohne bleibende Schäden und Ms. Nicklefield kann noch in dieser Woche aus der Obhut des Krankenhauses entlassen werden – rechtzeitig um noch vor dem Wintereinbruch die Kamine in ihren Häusern in Stand setzen zu lassen. Oder Henry Biggolow, den unehrlichen Apotheker, der mit seinen Praktiken weit besser im hintersten Winkel der Nockturngasse seinen Geschäften nachgegangen wäre, statt mit seinem Handeln die ehrlichen Bürger in der Winkelgasse übers Ohr zu hauen. Doch wie hätte der ehrenwerte Mr. Harper, langjähriger Inhaber der Apotheke in der Winkelgasse, die ihre Kunden stets durch gute Qualität überzeugte, auch wissen sollen, dass sich hinter der perfekten Fassade Biggolows mit seinen hervorragenden Zeugnissen und hinreichendem Ruf ein solch windiger, skrupelloser Geschäftsmann verbirgt, als Harper aus Altersgründen seine Apotheke verkaufte? Wer hätte ahnen können, dass Biggolow sich dazu herablassen würde, aus reiner Profitgier Standardtränke, wie man sie in der Hausapotheke eines jeden gut geführten Zauberhaushaltes in Groß-Britannien findet, mit billigem Zwiebelsaft zu verschneiden? Ethisch vielleicht verwerflich, jedoch nicht verboten, da an und für sich harmlos, solange man nicht, wie der junge Miles Chaffinch, gegen Zwiebeln allergisch ist. Nichtsahnend kaufte Margaret Chaffinch bei Biggolow Aufpäppeltrank gegen die allherbstlich kurierende Erkältungswelle, doch der allergische Schock, den ihr Sohn nach der Einnahme erlitt, hätte diesen beinahe das Leben gekostet. Das beherzte Eingreifen eines in der Nachbarschaft residierenden Medimagiers im Ruhestand verhinderte das Schlimmste, doch wird der junge Miles sein Leben lang an diesen Tag denken müssen, blieb doch als Folge seine linke Hand unrettbar steif. Eine besonders bittere Pille, war doch Miles gerade in der Junior-Quidditch-Liga als herausragendes Treibertalent mit guten Chancen auf eine spätere Profikarriere gefeiert worden, ein Traum, der nun so nie Wirklichkeit werden wird. Können wir vor diesem Hintergrund wirklich Mitleid mit Henry Biggolow empfinden, der nach einem Besuch des Rächers erblindete und somit nicht mehr seiner Tätigkeit als Zaubertrankmeister nachgehen kann? Des Rächers neustes Opfer ist Francis Wickford alias Brandon Crawby alias James Willope alias Lysander Thorham. Schon diese vielen Identitäten lassen bei diesem Mann Böses erahnen. Der ehemals wirklich gutaussehende Mann, der in seinen verschiedenen Erscheinungsformen mehrfach Gewinner des bestaussehendsten Lächelns der Hexenwoche war, entpuppte sich bei näherer Nachforschungen als notorischer Heiratsschwindler mit Opfern auf sämtlichen britischen Inseln. Obgleich nicht lebensbedrohlich verletzt, wird Wickford wohl auf ewig mit den Fluchnarben, die ihm der Rächer im Gesicht beigebracht hat, gezeichnet sein. Ich wage an dieser Stelle zu bezweifeln, dass er mit seinem neuen Aussehen noch Frauen betören und in trügerischer Absicht wie bisher aufs Glatteis wird führen können. Obgleich ich als betagte Kolumnistin wohl kaum zu den erlauchten Damen gezählt hatte, die Wickford als Opfer in Betracht gezogen hätte, kann ich nicht umhin, dem Rächer für diese Tat der vorsorgenden Gerechtigkeit zu danken. Und auch die anderen Taten lassen in mir ein Gefühl der Genugtuung aufkommen. Danke Rächer, wer immer du bist. Rita Skeeter P.S. Neuerdings meldet sich auch Augustus Bellamont wieder zu Wort und behauptet, das erste Opfer des Rächers zu sein. Wahrheit oder nur der verzweifelte Versuch, einen Weg zurück ins Rampenlicht zu finden?“ Überall in der magischen Gemeinschaft der britischen Inseln war der Rächer das Gesprächsthema schlecht hin. Ob in den Pubs oder bei privaten Teekränzchen im heimischen Wohnzimmer, auf der Arbeit oder in den verschiedenen Läden der Winkelgasse oder Hogsmeade, kaum zwei Menschen konnten aufeinander treffen, ohne sich nicht zu fragen, ob sie schon das Neuste über den Rächer gehört hätten. Insbesondere, da die Auroren des Zaubereiministeriums tatenlos zusehen mussten, wie die Zahl der Opfer – sofern man bei den betroffenen Menschen bereit war, von Opfern zu sprechen – stieg. Keiner der Betroffenen konnte den Angreifer näher beschreiben, alle sagten sie nur aus, er sei von einer sonderbaren schwarzen Wolke eingehüllt gewesen, wobei sie sich noch nicht einmal sicher waren, ob es sich bei dem Rächer tatsächlich um einen Mann oder nicht vielleicht doch eine Frau handelte. Auch gab es keine magischen Signaturen, die sich zurückverfolgen ließen, und das war vielleicht das Merkwürdigste überhaupt an der ganzen Geschichte. Denn für gewöhnlich hinterließ jeder Zauber, egal ob als Fluch oder im Guten angewandt, eine eindeutige Signatur, die ein entsprechend ausgebildeter Zauberer zwar entschlüsseln konnte – und somit in der Lage war zu identifizieren, welcher Zauber angewandt worden war –, die aber nicht gelöscht oder maskiert werden konnte. Und doch fanden sich bei den bisherigen Opfern des Rächers keinerlei Signaturen von Zaubersprüchen, selbst wenn sich die Betroffenen noch daran erinnerten einen Stupor oder ähnliches zu Beginn deutlich gehört zu haben. Doch je länger die Auroren im Dunkeln tappten, desto mehr gerieten sie unter öffentlichen Druck. Wenn sich die Bevölkerung nicht gerade über ihre Unfähigkeit beschwerte, feixte sie im nächsten Moment darüber, dass der Rächer ihnen ein weiteres Mal entkommen war. Der Tagesprophet war sogar dazu übergegangen, in einem der Fenster des Redaktionsgebäudes eine große, magische Anzeigetafel anzubringen, die sich stets von allein aktualisierte, wenn der Rächer wieder ein neues Opfer gefunden hatte. Ende November war die Zahl der Opfer bereits auf 8 angestiegen, 9 wenn man geneigt war, Augustus Bellamonts Behauptung das erste Opfer des Rächers gewesen zu sein, Glauben zu schenken. Die Situation in der Aurorenzentrale hatte sich dermaßen zugespitzt, dass der Leiter der Auroren bei der Einsatzplanung ungewöhnlich viele Gesuche seiner Mitarbeiter vorfand, für so stupide Dienste wie Weihnachtsflohverkehrsregelung, Apparierstellenaufsicht und ähnliches eingeteilt zu werden – Dienste für die normalerweise nur jene Auroren eingeteilt wurden, die frisch aus der Ausbildung kamen, es sich mit dem Chef verscherzt hatten oder deren Ego mal wieder dringend einen Dämpfer brauchte. Kurz, es waren eigentlich Strafarbeitsdienste, die niemand gerne machte. Doch keiner der Auroren wollte sich freiwillig für die alltägliche Strafverfolgung melden, hieß das doch zweifelsfrei an dem frustrierenden Fall um den Rächer arbeiten zu müssen. An diesem Punkt angelangt, intervenierte schließlich der Zaubereiminister höchstpersönlich. Kingsley Shacklebolt, der seit mehr als einem Jahrzehnt die politischen Geschicke der Zaubergemeinschaft Britanniens verwaltete – wie er es nannte – war selbst einst Auror gewesen und konnte daher sowohl den Druck seitens der Öffentlichkeit als auch die Frustration der magischen Ordnungshüter verstehen. Aber als Zaubereiminister hatte er einen entscheidenden Vorteil: Er hatte Einblicke in alle Abteilungen des Ministeriums und konnte damit abteilungsübergreifend agieren. Allein schon die Tatsache der fehlenden magischen Signaturen rechtfertigte ein solches Vorgehen und so befahl er dem Team Auroren, welches mit dem Fall des Rächers betraut war, einen Unsäglichen hinzuzuziehen. Schließlich war es unter anderem Aufgabe der Mysteriumsabteilung, zu ergründen, wie es möglich war, magische Signaturen zu detektieren, zu verändern oder auch zu verschleiern. Nicht gerade begeistert von seinem neuen Sonderauftrag meldete sich Blaise Zabini am 1. Dezember bei dem Chef der Aurorenzentrale und bekam – o Freude… – als Kontaktperson für die Auroren niemand anderen als Harry Potter, Auror zweiten Ranges und heiß gehandelter Kandidat für die Nachfolge des obersten Aurors, zugeteilt. Wie sollte er bitte mit einem ehemaligen Gryffindor an seiner Seite, noch dazu einem so medienwirksamen Helden des letzten Krieges – dem Jungen, der überlebt hatte und es nicht geschafft hatte, sich einen erwachsener klingenden Titel zuzulegen – vernünftige Ermittlungen anstellen? Gewiss, während der Schulzeit hatte Potter durchaus einen Hang dazu gehabt, Regeln zu missachten, aber es fehlte ihm an Raffinesse, die Missachtung der Regeln so darzustellen, dass er straffrei davon kam und konnte dies nur durch seine Der-Junge-Der-Lebt-Lorbeeren ausgleichen. Und auch wenn Blaise im Allgemeinen nicht dazu neigte, alle Gryffindors über einen Kamm zu scheren und solche drastischen Vorurteile wie viele seiner ehemaligen Hauskameraden zu hegen, konnte er nicht umhin zu erkennen, dass Potters Wesen bei diesen Ermittlungen kaum von Vorteil sein würde. Denn selbst wenn der Auror bereit wäre, die Regeln des Ministeriums zu umgehen – etwas, das nicht mit Sicherheit feststand, denn vielleicht war Potter ja ausnahmsweise wegen seiner Karriere auch darauf bedacht, sich an die Spielregeln zu halten, wo ihn doch sein Name schon so weit gebracht hatte –, fehlte es ihm sicher noch immer an dem notwendigen diplomatischen Geschick, das Ganze als unfehlbar und einzige Lösung darzustellen. Einer der Gründe, warum so überraschend wenig Gryffindors als Unsägliche arbeiteten. Und jene, die es taten, waren diejenigen, die man als letzte in der Mysteriumsabteilung erwarten würde, da sie es schon während ihrer Schulzeit geschafft hatten, für ihre Mitmenschen undurchschaubar zu sein, auch wenn diese glaubten, die Person gänzlich durchschaut zu haben. Andererseits konnte Blaise verstehen, weshalb der oberste Auror seinen medienwirksamsten Mitarbeiter an dem Fall wissen wollte, denn nur so könnte ein gänzlicher Ruin des Rufs der Auroren noch abgewendet werden. „Potter“, sagte Blaise grüßend, als er an dem mit Papieren überquellenden Schreibtisch des Nationalhelden ankam. „Zabini“, kam es ebenso neutral zurück. Ohne auf eine Einladung seitens des Aurors zu warten, ließ sich Blaise auf den Besucherstuhl neben dem Schreibtisch nieder. „Ist in diesem ganzen Wust auch irgendwo begraben, was ihr bislang über den Rächer zusammengetragen habt?“, fragte er mit einem skeptischen Blick auf das Papierchaos. „Nein“, erwiderte Harry gelassen, drehte sich kurz zu dem tiptop aufgeräumten Schreibtisch hinter sich um und nahm von dort eine Aktenmappe auf. „Die hab ich vorsorglich ausgelagert, damit ich sie wiederfinde. Seit sich vor zwei Monaten meine Partnerin in Mutterschutz verabschiedet hat, komme ich mit dem Papierkram einfach nicht mehr hinterher. Wenn sie nur Urlaub hatte, konnte ich die zwei oder drei Wochen ohne ihr administratives Geschick problemlos überbrücken, das Notwendigste erledigen und ansonsten den Eindruck erwecken, es wäre alles in Ordnung. Nun aber… ich hasse Papierkram!“ Blaise konnte sich ein Grinsen nicht unterdrücken. Die Abneigung Potters gegen Papierkram war nicht zu übersehen. „Und deine Partnerin hat immer freiwillig die ganzen Schreibarbeiten übernommen? Berichte, Listen, Protokolle?“ Er ahnte schon, was jetzt kam, wollte es aber aus Potters Mund selbst hören. „Natürlich! Schließlich bin ich Harry Potter, Held in den Erzählungen aller Mütter, Großmütter, Patentanten, Kindergärtnerinnen und so weiter. Da ist es doch fast schon eine Ehre, wenn man als meine Partnerin den Papierkram übernehmen darf.“ Blaise hatte schon immer vermutet, dass in Potter ein nicht zu verachtender Slytherinanteil verborgen war, und dass dieser seine Popularität nun dergestalt zu seinem Vorteil ausnutzte, bestätigte diesen Gedanken. Doch Blaise wertete dies durchaus positiv, war es so doch möglich, dass sich Potter auf einen Deal einlassen würde. „Doch ohne Partnerin und mit dem Rächer im Nacken, werde ich wohl nie dieses Chaos bewältigen. Was wiederum bedeutet, dass mein Chef mir den Weihnachtsurlaub streicht, damit ich stattdessen alles aufarbeiten kann. Zumindest hat er mir schon damit gedroht, wenn nicht wenigstens zwei Drittel der fälligen Berichte bis zum Heiligabend auf seinem Schreibtisch sind“, fuhr Harry fort. Das wurde ja immer besser. Noch mehr Argumente, weshalb Potter Blaises Vorschlag zustimmen sollte. Also hielt sich der Unsägliche nicht länger zurück. „Scheint als wäre ich dann gerade rechtzeitig als Retter in der Not auf der Bildfläche erschienen. Und bevor du auf falsche Gedanken kommst, nein, ich werde den Papierkram nicht für dich erledigen. Ich dachte mehr an eine Arbeitsteilung: Ich ermittle draußen und erstatte dir Bericht und du darfst alle Lorbeeren über mögliche Erfolge und Durchbrüche für dich verbuchen.“ „Aber…“, setzte Harry zum Widerspruch an. Zweifelsohne sein Gryffindor-Gewissen, das sich meldete und ihm mitteilte, dass er sich doch unmöglich nicht an der Ermittlung beteiligen konnte und dann auch noch den Ruhm einheimste, wenn sie Erfolg hatten. Man schmückte sich einfach nicht mit fremden Federn. „Kein aber. Sieh dir doch mal die Fakten an: Niemand außer meinem Chef, deinem Chef, dem Minister und dir weiß, dass ich an dem Fall arbeite. Es ist nun Mal so üblich, wenn man mit Unsäglichen zusammenarbeitet, dass wir unsere Tätigkeiten möglichst nicht an die große Glocke hängen. Ergo kann ich Fragen stellen, ohne gleich als ermittelnder Beamter erkannt zu werden und werde daher Antworten bekommen, die du so nie bekommen würdest. Darüber hinaus werde ich nicht wie du von einem Regelkorsett regelrecht stranguliert. Was im Klartext heißt, dass ich mir keine Gedanken darüber machen muss, ob meine Quellen nun vertrauenswürdig sind, was mein Chef davon hält, wenn ich mich bis weit nach Mitternacht in schäbigen Spelunken herumtreibe oder ob ich irgendjemandes Privatsphäre verletze. Gerade letzteres ruft, wenn es durch einen Auror geschieht, immer die Empörung der Massen hervor. Anders herum kann ich wegen all dieser Vorgehensweisen meine Ergebnisse nicht der Öffentlichkeit medienwirksam präsentieren. Du wiederum kannst als Vorzeigeauror mich als vertrauenswürdige Quelle, die aus gegebenen Gründen anonym bleiben muss, zitieren, betonen, dass es die qualifizierten Mitarbeiter des Ministeriums für Zauberei waren, die diese Ergebnisse zu Tage gefördert haben, und nebenbei deinen Papierkram erledigen, während ich die Laufarbeit mache. Klingt doch nach einem fairen Deal, oder?“ Für den Moment sprachlos, starrte Harry seinen ehemaligen Schulkameraden an. So, wie Blaise die Situation präsentierte, klang es durchaus einleuchtend und die Chance, dass er Ginny nicht gestehen musste, dass sein Urlaub gestrichen würde, war mehr als nur verlockend. Schließlich nickte er zögernd. „Doch wie wollen wir das meinem Chef erklären?“ Blaise schüttelte innerlich den Kopf. Trotz allem war Harry eben kein ausgewachsener Slytherin. „Gar nicht. Wir treffen uns einfach jeden Mittag zum Essen, ich erstatte Bericht, du gibst das hier als Ermittlungstätigkeit außer Haus an und die Schreibtischarbeit deklarierst du als Recherche, bzw. dass du darauf wartest, dass einer deiner mannigfaltigen Kontakte sich mit Neuigkeiten bei dir meldet.“ Obgleich er Potter mit seinem Vorschlag regelrecht überfahren hatte, nahm dieser, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, den Deal an und Blaise fand sich keine halbe Stunde später auf dem Weg in die Winkelgasse – allein. Er hatte auch schon ein bestimmtes Ziel vor Augen, ein Ziel, dass Potter nie offiziell um Unterstützung hätte bitten können: Weasley's Wizard Wheezes. Denn gerade weil der Laden Potters Schwager gehörte und obendrein ein weiterer Schwager und zudem bester Freund aus Schulzeiten in dem Laden arbeitete, war das nicht mit der Geheimhaltungsklausel gegenüber Familienangehörigen zu vereinbaren, der alle Auroren und ihre aktuellen Ermittlungen unterlagen. Nach dem Tod von Fred Weasley während der Schlacht von Hogwarts vor über zehn Jahren hatte der Laden für eine Weile einer ungewissen Zukunft entgegen geblickt. Zu tief saßen Schock und Trauer in dem überlebenden Weasley-Zwilling George, als dass in ihm neue Ideen für Scherze heranreifen wollten. Dann aber waren zwei Ereignisse eingetreten, die dem Laden die entscheidende Wendung gegeben hatten: Die Zeitkapsel der Zwillinge öffnete sich zum Jahrestag des Falls des Ministeriums und Ron Weasley fiel durch die Auroren-Aufnahmeprüfung. Bei der Zeitkapsel handelte es sich um eine magische Kapsel, die Fred und George am Abend von Bills Hochzeit angelegt hatten, jenem Tag, an dem das Zaubereiministerium in die Hände Voldemorts gefallen war. An jenem Abend hatten die Zwillinge sich geschworen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Voldemort und für eine freie Zauberwelt zu kämpfen. Sie hatten all die Gründe aufgelistet, warum sie sich in diesen Kampf begaben: Weil sie für ihre Familie eine lebenswerte Welt wollten, weil sie ihre muggelstämmigen Freunde schützen wollten, weil sie ihren Nichten und Neffen, die sie dank Bill vielleicht eines Tages haben würden, eine friedvolle, offene, tolerante Zaubergemeinschaft präsentieren wollten und nicht Angst und Schrecken. Sie listeten jeden einzelnen ihrer Freunde auf, jedes Familienmitglied, sogar Charlies Drachen und Bills ungeborene Kinder, die sie einfach mit Scherzkeks 1-7 betitelten. Und jeder von ihnen legte einen Brief für den anderen in die Kapsel, für den Fall, dass einer von ihnen im Kampf fallen sollte. Genau jener Brief Freds an George hatte diesen daran erinnert, dass die beste Art, das Andenken seines Bruders zu wahren darin bestand, die Menschen zum Lachen zu bringen. Denn die Menschen brauchten Lachen. Egal, ob während düsterer Kriegstage oder während des Wiederaufbaus, wenn Trauer allgegenwärtig war, oder um einfach dem Alltag für ein paar Augenblicke zu entrinnen, um dann wieder erfrischt weiterzumachen. Alleine aber den Laden zu leiten, war schier ein Ding der Unmöglichkeit. Einfach aus dem Grund, dass George sich nicht zweiteilen konnte. Er konnte nicht gleichzeitig in der Werkstatt Scherze erfinden und vorne im Laden Kundschaft bedienen, die Scherze erklären und ein Auge auf die Kinder haben, die es leider nicht immer mit der Ehrlichkeit so genau nahmen, und gelegentlich glaubten, einen heimlich eingesteckten Scherzgegenstand ohne Bezahlen aus dem Laden schmuggeln zu können. An dieser Stelle brachte sich Ron ins Gespräch. Nachdem er bei der Aufnahmeprüfung gescheitert war, und er sich weigerte, aus seinem Heldenstatus Profit zu schlagen und auf diese Weise die Aufnahme zur Auroren-Ausbildung zu erschleichen – er war schließlich ein Gryffindor und kein Slytherin – war er auf der Suche nach einem neuen Job. Und auch wenn George ihn zuerst nur als ‚Ladenhüter’ einstellte, erwies sich diese Entscheidung als wahrer Glücksgriff. Denn auch wenn Ron Weasley nicht über die Scherzgene von Fred und George verfügte, besaß er strategisches Geschick und eine gewisse Kreativität, wenn es darum ging, Lösungen zu finden. Eigenschaften, die sich hervorragend mit der zweiten, bis dahin eher nebenher laufenden Produktlinie von Weasley's Wizard Wheezes vereinbaren ließ – Schutzzauber und entsprechende magische Gegenstände. Gemeinsam entwickelten George und Ron in der Folge den Werwachhundzauber (ein Zauber, der, einmal über ein zu schützendes Haus gelegt, sich mit Einbruch der Dunkelheit selbstständig aktivierte und bei Bewegungen einen riesigen Werhund erscheinen ließen, der jeden Einbrecher in die Flucht schlug – Hausbesitzer konnten ein Passwort festlegen, dass es Familienmitgliedern erlaubte, auch nach Einbruch der Dunkelheit ungehindert zum Haus zu gelangen), welcher zu einem wahren Kassenschlager wurde, und diverse andere Dinge, so dass heute die Wach- und Schutzzauber einen ebenso großen Anteil an dem Geschäft hatten, wie die Scherzartikel. Es verstand sich von selbst, dass Weasley's Wizard Wheezes das bestgeschützte Geschäft der ganzen Winkelgasse war – vielleicht sogar noch besser geschützt als Gringotts, aber das war schwer abzuschätzen, unterschied sich doch die Koboldmagie wesentlich von der menschlichen Zauberei. Aber während die Schutzzauber der Bank sich ausschließlich auf die Gewölbe unter der Erde richteten, wo all die Schätze der Bank und Verliese der Kunden lagen, waren Weasley's Wizard Wheezes dazu übergegangen, nicht nur ihren Laden zu schützen, sondern auch präventiv die nächste Umgebung des Geschäftes zu überwachen. Und da zumindest der Angriff auf Francis Wickford in der Winkelgasse verübt worden war, erschien es Blaise nur logisch, sich zu erkundigen, ob einer der Überwachungszauber der Weasley-Brüder vielleicht etwas aufgezeichnet hatte, das ihm weiterhelfen konnte. Blaise grinste zuversichtlich, als er oberhalb des Eingangs etwas sah, das entfernt an eine Muggelüberwachungskamera erinnerte, auch wenn man es nur dann als solche erkennen konnte, wenn man sich hinreichend in beiden Welten auskannte, und die wenigsten Zauberer und Hexen taten dies. Für diese war jenes merkwürdige Ding über dem Eingang nur eine kuriose Dekoration, wie man sie eben bei einem Laden wie dem Weasley's Wizard Wheezes erwarten konnte. Ron Weasley, der gerade dabei war, die Regale für den bevorstehenden Weihnachtskundenansturm am kommenden Wochenende zu bestücken, zunickend, ging Blaise zum Tresen und bat dort die Aushilfe George Weasley für ihn zu holen. George war einer der wenigen Menschen, die wussten, dass Blaise als ein Unsäglicher arbeitete, so dass Blaise ihm gegenüber ein wenig offener sprechen konnte, wenn er um Einsicht in die Überwachungsaufzeichnungen bat. Nachdem er seinerzeit Freds Brief gelesen hatte und der Laden wieder florierte, hatte George bei Kingsley Shacklebolt persönlich um eine Genehmigung ersucht, dem Schleier in der Mysteriumsabteilung einen Besuch abstatten zu dürfen. Auch wenn er nicht wusste, ob Fred auf der anderen Seite des Schleiers auf ihn wartete, wollte er versuchen, ihm dadurch eine Nachricht zukommen zu lassen, indem er einen entsprechenden Brief durch den Schleier warf. Überrascht, aber wohl in erster Linie amüsiert über dieses Ersuchen, hatte Shacklebolt die Erlaubnis erteilt und es war Blaise zugefallen, George zum Schleier zu führen und sicherzustellen, dass sich der Weasley nicht in einem Anfall nostalgischer Verzweiflung selbst durch den Schleier stürzte. Nichts dergleichen war geschehen – George hatte den Brief in Ballform gezaubert und aus sicherer Entfernung mit einem Treiberholz durch den Schleier geschlagen, Blaise anschließend gedankt und das Ministerium verlassen. Seitdem hatte Blaise jedes Jahr eine schier unsägliche Weihnachtskarte von George bekommen – er war sich sicher, dass der Weasley mit Absicht Muggel-London auf der Suche nach den gräuseligsten Weihnachtskarten durchstreifte, aber Blaise erkannte den Humor hinter dieser Geste und wusste diese entsprechend zu schätzen – und so war er ziemlich sicher, dass George bereit wäre, ihm bei seinen Ermittlungen weiterzuhelfen. „Zabini? Was führt dich in meinen bescheidenen Laden?“, fragte George, der beinahe augenblicklich im Verkaufsraum erschien. „Das würde ich dir gerne hinten in der Werkstatt erklären. Es ist wie mit deinen Weihnachtskarten...“ George verstand augenblicklich und bedeutete Blaise ihm zu folgen. „Kein Freundschaftsbesuch, um sicherzugehen, dass du auch in diesem Jahr wieder deinen ganz besonderen Weihnachtsgruß erhältst?“, wollte er grinsend wissen. „Nein, leider nicht. Ich bin eher beruflich hier. Natürlich nicht wirklich, aber schließlich sind wir Unsäglichen ja nie in offizieller Funktion irgendwo außerhalb des Ministeriums unterwegs.“ George grinste. „Und wie kann ich dir also inoffiziell helfen? Ich gehe mal davon aus, dass du meine inoffizielle Hilfe brauchst und nicht bloß deinem Chef zu Weihnachten ein paar Stinkbomben im Schreibtisch verstecken willst... Dafür hättest du nicht so geheimnisvoll um eine Unterredung hier hinten bitten müssen.“ „Brillante Analyse, wie immer“, gab Blaise mit einem leisen Lachen zurück. „Ich bin seit neustem mit der Rächer-Sache betraut. Zumindest ministeriumsintern und natürlich wissen nur die direkt davon Betroffenen etwas. Kennst unseren Laden ja zumindest dem Hörensagen nach. Erstaunlich viel Wahres an diesem Hörensagen. Jedenfalls darf ich nach Herzenslust ermitteln und kann die ganze Geschichte mit den Regeln meinem Partner aus der Auroren-Abteilung überlassen. Weshalb ich also ungeniert fragen kann, ob ihr mit euer Zauber-Wachkamera oder wie auch immer ihr das Ding draußen über dem Eingang nennt, eine brauchbare Aufnahme von dem Rächer habt.“ George lachte. „Ja, ja, während der betreffende Auror erst einmal wissen müsste, dass wir einen Aufzeichnungsüberwachungszauber einsetzen, dann seinen Vorgesetzten von der Glaubwürdigkeit dieser Aufnahmen überzeugen müsste, ehe ihm gestattet würde, die Aufnahmen zu beschlagnahmen, etc... Aber ich muss dich enttäuschen. Wir haben den Rächer zwar ein paar Mal aufgezeichnet – eigentlich ist er uns jedes Mal, wenn er irgendwo einen Anschlag verübt hat früher oder später in dieser Nacht vor die Kamera gekommen –, doch kann man darauf nichts als schwarze Schemen erkennen. Wir haben schon alles mögliche versucht, das Bild zu verbessern, aber selbst wenn wir mittels Tageslichtsimulationszauber die Helligkeit bearbeitet haben und alles andere gestochen scharf zu erkennen ist, bleibt der Rächer selbst schwarz und verzerrt. Wie von einer Wolke umgeben, um seine Opfer zu zitieren.“ Blaise lächelte. „Es geht mir auch weniger darum, die Identität des Rächers mittels der Aufzeichnungen herausfinden zu wollen, sondern mehr darum, etwas über die ‚Wolke’ zu erfahren. Ich bin Unsäglicher und daher gewöhnt, andere Dinge in den Fokus zu stellen. In diesem Fall bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich erst herausfinden muss, was für eine Art Verhüllungszauber das ist, ehe ich darüber eine Liste erstellen kann, wer in der Lage sein könnte einen solchen Verhüllungszauber zu wirken, oder welche Mittel dafür notwendig sind und wer Zugang zu diesen Mitteln hat. Ein Umweg, ja, aber der direkte Weg hat schließlich bislang zu nichts geführt.“ „Klingt durchaus logisch... Darf ich dir bei der Analyse des Materials zur Hand gehen?“, fragte George, denn er hatte in seinem Beruf längst erkannt, dass er jede Art von Wissen für seine Erfindungen nutzen konnte. Und wenn er so die Möglichkeit bekam, Einblick in die Analysemethoden der Unsäglichen zu erhalten, konnte er vielleicht in Zukunft den ein oder anderen Entwicklungsfehler von vornherein vermeiden. „Ich bitte sogar darum“, erwiderte Blaise zu Georges Überraschung. „Ich habe es nämlich im Gefühl, dass Zeit hier von entscheidender Bedeutung ist, und da ich andernfalls erst euren Überwachungszauber sezieren müsste, um unerwünschte Nebeneffekte zu vermeiden, wäre es einfacher, wenn ich dir ankündigte, welchen Zauber ich als nächstes einsetzen will, und du mir sagst, ob das funktionieren könnte oder zum Desaster führt.“ George war begeistert. Er überließ Ron für den Rest des Tages die Aufsicht über den Laden und versiegelte die Werkstatt. Dann machten sich die beiden ungleichen Zauberer ans Werk. Der Laden hatte bereits für diesen Tag geschlossen und Ron war zu seiner Familie nach Hause appariert, ehe George und Blaise die Werkstatt verließen. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, doch es hatte sich gelohnt – so zumindest Blaises Ansicht. Denn die schwarze Wolke hatte sich als dämonische Schutzaura entpuppt, ließ sich aber nicht mit schwarzer Magie in Verbindung bringen. Was wiederum bedeutete, dass es sich um einen antiken Zauber handeln musste, differenzierte man damals doch noch nicht zwischen schwarzer und weißer Magie, sondern ging davon aus, dass jegliche Form von Magie, einschließlich der Dämonen, ihre Daseinsberechtigung hatte. Antike magische Artefakte – egal ob Zaubersprüche, Gegenstände oder ähnliches, und Blaise ging davon aus, dass sie es hier mit einem Gegenstand zu tun hatten, waren diese doch weit stabiler was das Überdauern von Jahrhunderten betraf – unterlagen aber speziellen Auflagen, wenn man sie erwerben, verkaufen oder sonst wie mit ihnen umgehen wollte. Sicher, es gab immer jene Mitglieder der Zaubergemeinschaft, die im Schatten der Gesellschaft lebten, die sich nicht an solche Regeln hielten, aber die Mysteriumsabteilung hatte ihre eigenen Methoden, diesen Schwarzmarkt zu überwachen. Hier würde Blaise am nächsten Tag die entsprechenden Nachforschungen anstellen können. Er war sich bewusst, dass die Bevölkerung alles andere als begeistert wäre, wenn sie wüsste, dass das Ministerium den Schwarzmarkt zwar mit Spitzeln unterwandert hatte, die so gewonnenen Informationen aber nicht nutzte, um den dort arbeitenden Hehlern das Handwerk zu legen. Die Öffentlichkeit war diesbezüglich recht kurzsichtig und konnte nicht begreifen, dass dem Ministerium viel mehr daran gelegen war, über die Hehler unauffällig an die Hintermänner, die wirklich schlimmen Finger, zu kommen und der Schwarzmarkt sich andernfalls wie eine Hydra verhielt: Schlug man ihr in Gestalt eines Hehlers einen Kopf ab, wuchsen sofort zwei weitere nach. Was wiederum erklärte, weshalb die Spitzel der Mysteriumsabteilung, welche über genug Geheimhaltungsmöglichkeiten verfügte, Bericht erstatteten und nicht den Auroren. Den folgenden Tag verbrachte Blaise im Ministerium. Er hatte die entsprechenden Schwarzmarktkollegen aktiviert und nahm nun Einsicht in die Listen derer, die offiziell für antike Artefakte beim Ministerium registriert waren. Zuoberst auf der Liste standen natürlich die Mysteriumsabteilung des Ministeriums selbst, sowie Gringotts. Danach folgten diverse alte Reinblutfamilien, die über verschiedene Erbstücke verfügten, die in diese Kategorie fielen. Dann noch ein paar Geschäfte – sogar Borgin und Burkes hatten sich registrieren lassen – und natürlich der magische Flügel des British Museums. Keinerlei Überraschungen in Blaises Augen. Und somit leider keine ausreichende Möglichkeit, den Kreis der Verdächtigen auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Denn er hatte keineswegs vor, jeden Museumsangestellten oder jene reinblütige Familie Britanniens aufzusuchen, um zu sehen, ob sie vielleicht ein Artefakt besaßen, dass eine dämonische Schutzaura heraufbeschwören konnte. Wenn er das tat, müsste er glatt bei seiner eigenen Mutter und der umfangreichen Sammlung, die diese über ihre verschiedenen Ehemänner zusammengetragen hatte, anfangen. Denn es war ja nicht einmal so, dass er die Suche auf neu erworbene Gegenstände einschränken konnte, es konnte sich bei dem Artefakt auch um etwas handeln, dass schon lange auf den britischen Inseln weilte und nur durch kürzlich geänderte Umstände aktiviert worden war. Nein, es musste noch mehr Hinweise geben – Hinweise, die bislang nicht in einen Zusammenhang gebracht worden waren. Hinweise, die mit dem Bildmaterial, das er von George hatte, zusammenpassten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)