Unausgesprochen von Felicity ================================================================================ Kapitel 1: Unausgesprochen -------------------------- „Kyouya!“ Entsetzt beobachtete Dino, wie der Junge quasi vor seinen Augen in die Knie ging und vor ihm zusammenbrach, während die junge Frau ihm gegenüber ein wahnsinnig klingendes Lachen ausstieß. Sie wirkte auf ihn kaum furchteinflössend, war eher klein und zierlich – auch wenn Dino es besser wusste, als sie deswegen zu unterschätzen – doch ihr Lachen ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, als er hastig auf beide zu rannte und schlitternd neben seinem Schüler zum Stehen kam. Kyouya war unverletzt, ebenso, wie die Frau. Das ließ nur einen Schluss zu – einen fast zu leichten. Wenn es eines gab, das Kyouya nie gelernt hatte, dann war es seine eigenen Grenzen und Schwächen zu sehen. Dinos Miene verdüsterte sich, als die Illusionistin, denn um eine solche musste es sich ohne jeden Zweifel handeln, ihn amüsiert musterte. „Na, wen haben wir denn da? Die Unterstützung?“, fragte sie erheitert und Dino hatte das ungute Gefühl, dass sie ihn mit ihren Blicken gedanklich auszog. Verdammt, dafür hatte er keine Zeit! Sein Blick huschte zu dem bewusstlosen Jungen herüber und… Als mit einem Mal sein Körper verblasste und die Frau a seiner Stelle stand, während sie anfing zu leuchten und ihr Schmetterlingsflügel wuchsen, verfluchte er seine Unachtsamkeit. Illusionisten attackierten die mentalen Schwächen und er war drauf reingefallen, indem er ihr eine allzu leichte Lücke auf dem Silberteller präsentierte. Dennoch… er hatte keine Zeit für ein gedankliches Kräftemessen mit ihr, denn auch wenn sie ihn verbarg, Kyouya lag noch immer dort auf dem Boden und… Plötzlich zerbrach das Bild vor seinen Augen in tausend Scherben, die rasant zu Boden fielen und endgültig zerbarsten. Aus den Augenwinkeln sah er etwas helloranges an sich vorbei und auf die Frau zurasen, doch er verschwendete keinen Gedanken daran, seit wann sein kleiner Bruder Illusionen zerstören konnte und vertraute darauf, dass er die Frau in Schach hielt, während er sich neben Kyouya auf den Boden sinken ließ und ihn sacht rüttelte (ein nicht ganz ungefährliches Spiel, weswegen Dino sprungbereit blieb). Der Junge murrte und zuckte leicht, wachte aber nicht auf. Das war… gelinde gesagt seltsam. „Er hängt noch in der Illusion.“, flüsterte eine leise Frauenstimme neben ihm und als Dino sich nun doch herumdrehte stand Chrome neben ihm und sah ihn fast entschuldigend an, als wäre es ihre Schuld, „Ich komme nicht hinein, um sie zu brechen…“, hauchte sie fast nur, woraufhin Dino leise seufzte. „Ist sie so stark?“, fragte er nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte. Was zeigte sie ihm, dass er – gerade er – dabei in die Knie ging? „Nein.“, war die kaum noch hörbare Antwort, die Dino nun doch aufblicken ließ, als Chrome auf Kyouyas andere Seite lief und sich herabbeugte, „Er blockiert es. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber er lässt mich nicht in die Illusion, um sie zu zerstören.“ Dino hätte fast ironisch aufgelacht. Das war so typisch Kyouya… wollte alles alleine erledigen, auch wenn es in diesem Fall vermutlich nicht mal eine bewusste Entscheidung war, er konnte nie wirklich mit Illusionen umgehen. Sein Wille allerdings war eisern… was wieder die Frage brachte, was bitte er gerade sah. „Ich könnte ihn zwingen, aber…“ Chrome musste den Satz nicht zu Ende bringen, Dino konnte es sich auch so denken. Es war, als würde sie brutal seinen Willen brechen. „Ich kümmer mich darum.“, mischte sich eine weitere Stimme gerade ein, „Nagi, geh doch bitte zu Tsunayoshi, ehe er sich auch fangen lässt, das wäre langweilig.“ Mukuro legte eine Hand auf Chromes Schulter und drückte sie sanft, bis das Mädchen zögernd aufstand, mit einem zweifelnden Blick aber langsam nickte und davoneilte. Mukuro hielt den Kopf gesenkt, aber für einen Augenblick sah Dino auch so das Stirnrunzeln, als der Nebelwächter Chromes Platz einnahm und in die Hocke ging. Kurz sah er auf und ihre Blicke trafen sich. „Sieh mich nicht so an, Cavallone, ich bin nicht hier, um zu helfen. Aber wenn jemand diesem Typ hier seine Schranken aufzeigt, dann bin ich es.“ Dino war schlau genug darauf nichts zu erwidern, konnte aber nicht verhindern, dass er zuckte, als Mukuro seinen Dreizack hob und Kyouya die mittlere Spitze brutal übers rechte Handgelenk zog. „Das ist kein Spaß, wenn du dich von jemand anderem fertig machen lässt. Ich hol dich jetzt da raus, ob du willst, oder nicht.“, murmelte er an der Grenze des Hörbaren, dann griff Mukuro die blutige Hand und ihre beiden Hände bildete sich eine dunkelblaue, wabernde Flamme. „Was tust du…?“, setzte Dino an, zu fragen, als Kyouya um sich schlug und er gerade noch die andere Hand zu fassen bekam, ehe sie in seinem Gesicht landete. Mukuro blieb ruhig, drückte Kyouyas Brust auf den Boden, doch sein Grinsen verschwand. „So schlimm, was? Das ist mir egal, du lässt mich jetzt…!“ Doch Dino hörte seine Worte nicht mehr, denn mit einem Mal verstummte die Welt und verschwand in einem gigantischen Farbwirbel. „Kyouya, Schatz, komm her zu mir.“ Dino blinzelte, als er sich in einem ihm vollkommen unbekannten Wohnzimmer im westlichen Stil wieder fand. Die Farben schienen verwaschen, als hätte er einen alten Fernseher vor sich und das Gesicht der Frau vor ihm, die gerade gesprochen hatte, war verschwommen. Huh? Dino rieb sich die Augen, doch es änderte nichts. So konnte er ihre Gesichtszüge nicht sehen, dennoch war sofort klar, dass er eine Europäerin vor sich hatte. Sie war nicht gerade klein, mit schönen, mittelbraunen Haaren, die zu einem Zopf geflochten worden waren und einer hellen Haut, um die sie sicher so mancher beneidet haben musste. Sie trug lockere Sportkleidung und ging gerade mit ausgestreckten Armen in die Hocke, woraufhin ein kleiner Junge in ihre Arme rannte. Dino brauchte einen Moment, um den Jungen mit dem Namen und dem Bild in Verbindung zu bringen, das er von ihm hatte. Kyouya war wirklich ein süßes Kind gewesen, auch wenn er der Frau, sollte sie denn seine Mutter sein, quasi nicht ähnlich sah. „Mama!“, okay, soviel dazu. „Wollen wir ein bisschen mit den Tonfa üben?“, fragte sie nun seltsamerweise auf Französisch und wuschelte ihm liebevoll durch die Haare, während sie aufstand und ihn dabei hochhob. „Au ja!“, quietschte das kleine Kind vergnügt und lachte glücklich. Allein dieses Lachen brachte Dino ins Zweifeln – er konnte sich den siebzehnjährigen Kyouya sich einfach nicht so lachend vorstellen. Eigentlich wirklich traurig… „Liebling, meinst du nicht, wir sollten lieber ein wenig Ball mit ihm spielen?“, fragte eine neue Stimme und ein Mann kam in den Raum, lief auf die beiden zu und drückte sie lächelnd an sich. Er wiederum war eindeutig Asiat und beantwortete die Frage, woher Kyouya seine schwarzen Haare und auch seine Größe hatte. Wo die Frau groß und nicht eben zierlich gebaut war, war der Mann es umso mehr. Er war bestimmt eine Handbreit kleiner als sie und wirklich zierlich. Abgesehen davon wirkte er absolut nicht so, als ob er mit Tonfa (oder Kampfsport im Allgemeinen) etwas anfangen konnte. Sollten das also wirklich Kyouyas Eltern sein, stand außer Frage, nach wem der beiden er eher kam. Oh, war das seine Erinnerung? War sie deshalb so verschwommen? War er zu jung, um sich deutlicher zu erinnern? Dino musterte das lebensfrohe Kind in den Armen der beiden. Was war nur geschehen? Wie um die Frage zu beantworten, fand er sich schlagartig im Freien wieder. Genau genommen auf einer Art Jahrmarkt, er hörte Musik und die Rufe von Verkäufern, sah bunte Lichter und ein Riesenrad, das über allem thronte, dazu der Duft nach Süßem und Glühwein und eigentlich war es klar, wo er sich befand. Er stand in einer schmalen Gasse aus Verkaufsständen, die wirklich voller war, als er als angenehm angesehen hätte. Und wären die Menschen nicht geradewegs durch ihn hindurch gelaufen, so hätte er sicher keine Wahl gehabt, als mit dem Strom mit zu schwimmen, so, wie die kleine Familie, die er nach kurzem Suchen wieder entdeckte. Kyouya lief in der Mitte seiner Eltern, jeweils an einer Hand gehalten, und wirkte alles andere als glücklich. Verständlich, Dino war noch groß genug, um über die Menge zu sehen, Kyouya nicht, für ihn musste das ganze eine undurchsichtige, ziellose, riesige Menschenmenge sein. Hasste er Menschenaufläufe deshalb so sehr? „Mama… Papa… ich will nach Hause.“, jammerte der Junge gerade, woraufhin sein Vater sich zu ihm herabbeugte und ihm sacht über den Kopf strich. „Gleich, Kyouya, wir brauchen nur noch ein Weihnachtsgeschenk für Opa F…“ Doch er brachte den Satz nicht fertig, denn auf einmal fiel irgendwo entfernt ein Schuss und mit einem Mal brach die Hölle los. Eine derart große, eingeengte Menschenmenge in Panik war mit das schlimmste, was geschehen konnte und wie erwartet stürmten alle los – rannten Kyouyas Vater schlicht über den Haufen und Kyouya selbst entging dem gleichen Schicksal nur deshalb, weil seine Mutter schnell genug reagierte und ihn hochhob. Sie sah sich eilig um, setzte ihn dann schnell auf das Dach des Standes neben ihnen und beging den Fehler sich zu ihrem Mann herabzubeugen, um ihm aufzuhelfen. Dinos Augen weiteten sich entsetzt, als er hilflos zusah, wie auch die Frau von den schieren Menschenmassen erfasst und mitgerissen wurde. Es war absolut unmöglich, dass sie das überlebten und ihr Sohn sah wimmernd auf dem Dach der Bude zusammengekauert und laut weinend auch noch zu! „Er hat es gesehen, er ist ein wichtiger Zeuge!“ – „Er ist erst vier, um Himmels Willen, du kannst nicht verlangen, dass er eine Aussage macht.“ – „Doch, das muss er. Er ist stark.“ „Was passiert jetzt mit dem Jungen?“ – „Wir konnten keine Verwandten ausfindig machen, er kommt erstmal ins Heim.“ „Verdammter Bengel, tickt aus, wenn mehr als drei Leute um ihn sind, wir bringen ihn ins Heim zurück!“ „Niemand hat uns gesagt, dass dieser Rotzlöffel ein Trauma hat! Wer will schon so ein Kind?“ Die Worte hallten durch die Dunkelheit, nur durchbrochen von Kyouyas Schluchzern und Angstschreien, bis es auf einmal leise wurde. Und Dino einen vielleicht achtjährigen Jungen zusammengekauert in einem halb geschlossenen Schrank sah. Er verstand nur langsam – oder eher, er wollte nicht verstehen, was das bedeutete. Durch welche Hölle die Pflegeeltern oder wer immer es war, Kyouya geschickt hatten. Wussten sie überhaupt, dass er sich erinnerte? Dass er sie gehört hatte? „Es tut mir leid, dass ich so spät bin, man hat mir erst jetzt gesagt, was geschehen ist…“, eine männliche, seltsam kindliche Stimme, die Kyouya langsam aufblicken ließ. „Geh weg, du willst mich eh nicht. Ich bin gestört! Und ich will… nicht mehr.“, kam es gebrochen und als der andere, der für Dino im Schatten lag, wohl weil Kyouya ihn nicht sah, die Tür vollkommen öffnete und somit das Licht hereinließ, zog Dino scharf die Luft ein. Kyouyas Gesicht war grün und blau geschwollen. „Du bist nicht gestört und ich möchte dich wirklich mitnehmen.“ Die Worte klangen beherrscht absichtlich neutral gehalten und Dino konnte nur hoffen, dass, wer immer es war, er der Heimleitung ordentlich was erzählte. „Ab nächste Woche kannst du in die Schule gehen.“ – „Ich will nicht, da sind mir zu viele Menschen.“ – „Oh, ich bin aber sicher, sie wird dir gefallen, ich habe eine sehr schöne Schule für dich ausgesucht. Und ich weiß, dass du stark genug bist, um es hinter dir zu lassen.“ – „Mmh…“ „Ah, hallo, du bist Hibari Kyouya, nicht? Willkommen an der Namimori Mittelschule, ich bin der Direktor, ich hoffe, du wirst dich hier wohl fühlen.“ Kyouya war vielleicht zehn, also eigentlich zu jung für die Mittelstufe, wenn Dino sich nicht vollkommen mit dem japanischen Schulsystem vertat. Und der Direktor kam ihm auch vage bekannt vor. Er hatte noch ein bisschen mehr Haare und diese etwas mehr Farbe, aber er dürfte noch immer im Amt sein. „Mmh…“, war alles, was Kyouya antwortete. Er war ein ganzes Stück größer geworden – und deutlich ernster. Er besaß bereits den kühlen, desinteressierten Gesichtsausdruck, auch wenn noch ein wenig unwilliges Schmollen darin lag, das heute eigentlich fast immer fehlte. „Hier ist dein Stundenplan und eine Liste der AGs, vielleicht…“ „Was ist denn ein Disziplinärkommitee?“, unterbrach Kyouya mit einem Blick auf die Liste, woraufhin der Direktor verwirrt blinzelte. „Es ist eine Schülerorganisation, die für die Einhaltung der Schulregeln sorgt, aber ich weiß nicht, ob du…“ Schulregel 32: Es ist den Schülern untersagt sich in Gruppen zusammenzufinden, die mehr als fünf Personen gleichzeitigg umfassen. „Hey, siehst du den da drüben? Das ist Hibari, er hat den Chef des Diszipliärkommitees besiegt.“ – „Gruselig… wie hat er das geschafft?“ – „Keine Ahnung, aber damit ist er der neue Chef… wir sollten tun, was er sagt.“ Dino kam langsam aber sicher nicht mehr mit bei den schnellen Wechseln und war fast erleichtert, als er Kyouya auf dem Dach der Schule sitzen sah. Er war nun so, wie Dino ihn kennengelernt hatte und hielt Hibird auf der einen Hand, während er es mit der anderen streichelte und hinab auf den Schulhof sah. Dino folgte seinem Blick und stellte fest, dass er Tsuna, Gokudera, Yamamoto und Ryohei beobachtete, die sich gerade aufgeregt zu unterhalten schienen. Kyouya wirkte ein wenig in Gedanken, aber die Ansätze eines Lächeln schlichen sich auf seine Züge, als er leise scheinbar zu Hibird murmelte: „Ich verstehe sie nicht… aber sie reagieren nicht wie die anderen…“ „Ah, Hibari, nein, tu uns nichts.“ „Der brutale Schläger, lauf weg!“ „Hibari… ich hab nichts getan, ehrlich!“ „Das könnte ja fast interessant werden.“ Eindeutig, nun lächelte er wirklich, als er sich zurücklehnte und in den Himmel sah. „Ich werde nie wieder zulassen, dass sie hinter meinem Rücken reden.“ Dino schlug ruckartig die Augen auf und fand sich wieder in seiner eigenen, echten Welt. Er blinzelte verwirrt und fragte sich noch immer, ob das ganze nun eine Illusion gewesen war oder eine Erinnerung… oder beides. Er blickte langsam auf und traf Mukuros Augen. Ihrem verwirrten Ausdruck nach, hatte er es auch gesehen und Dinos leckte sich nervös über die Lippe. „Hat er dich gelassen? Hast du was gesehen?“, fragte Mukuro leise und etwas gedämpft. Oh, hatte er doch nichts gesehen? Dino schüttelte dennoch automatisch den Kopf. Er musste erstmal selbst verstehen, was genau er da erlebt hatte und selbst wenn es die Wahrheit sein sollte. Das war Kyouyas Geschichte, nicht seine. „Mmh…“, erwiderte Mukuro nur und stand schlagartig auf, „Wie auch immer, er sollte gleich wach werden. Ich habe keine Lust gegen einen geschwächten Gegner zu kämpfen…“ Und damit war er fort. Einfach so, verschwunden. Dafür regte sich Kyouya, öffnete etwas verschlafen die Augen, traf Dinos Blick – und schlug ihm die Faust in die Magengrube. „Beug dich gefälligst nicht mehr so über mich.“ Dino zuckte zusammen, hielt sich den Bauch und verkrampfte sich. Konnte der Junge nicht endlich mal aufhören mit voller Kraft zuzuschlagen? Doch vielleicht war es diesmal aus einem anderen Grund, denn auch wenn Kyouya sich eilig aus dem Staub machte, so hatte Dino seine Augen gesehen. Den Schmerz und die Tränen… und vielleicht fing er an zu verstehen. Kyouya war nicht kaltherzig oder brutal… er wollte nur keinen mehr an sich heranlassen, damit niemand sein Trauma verstand… er würde mit ihm reden, aber nicht heute, vielleicht, nur vielleicht würde er irgendwann von selbst drüber reden und bis dahin… Langsam stand Dino auf und blickte herüber zu Tsuna und Chrome, die inzwischen die junge Frau unter Kontrolle hatten. Bis dahin schien der Junge ja langsam selbst zu verstehen, dass er nicht mehr wirklich allein war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)