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Den Himmel anrufen.

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Saiyuki sowie dessen Derivate und Charaktere gehören Minekura Kazuya-sensei.
Hintergrundgedudel: "Strangers" vom Wolf's Rain OST und "Into the Trees RMX" von 13&God.

Ein großes Dankeschön an Ninjagirl fürs Betan! <3
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"Kon...zen..."
 

Unbewegt schwebte der Name im Raum, gesprochen mit gedankenverlorener Ruhe. Einen Moment war es still, dann setzte das Zirpen der Zikaden wieder ein, die in ihrem Musizieren kurz innehielten, als wollten sie dem Klang des Wortes lauschen. Beide Silben waren von ebenbürtiger Bedeutung, obwohl der Sprecher einen Augenblick auf der ersten verharrte – ein kurzer Stopp, als müsste die zweite zuerst ihren Weg zur Zunge suchen, welche sich ihrer Artikulation nicht sicher war.

Wie ein Nachbild verweilte der Laut kurz und schwand dann, einer Erinnerung gleich.
 

"Was hast du gesagt?"

Sanzo war hinter seiner Zeitung verschanzt, die er auf einem überschlagenen Bein gebettet hatte. Er saß entspannt zurückgelehnt auf dem einzigen Stuhl im Zimmer, der linke Arm, mit dem er die Zeitung festhielt, auf die Tischplatte gestützt, die rechte Hand wedelte dem Gesicht mit seinem Fächer Luft zu. Viel brachte es ihm nicht – die weit geöffneten Fenster taten wenig, um die Schwüle der Nachmittagshitze zu vertreiben. Schwer legte sich die Wärme über das Land, zwang alles zum Stillstand und erzeugte so eine Stille, die nur vom omnipräsenten Orchester der Insekten durchbrochen wurde. Der Aschenbecher blieb an diesem Tag selten frequentiert, und statt des üblichen Tees wusste Sanzo ein kühles Glas Cola in Reichweite.

Auf der anderen Seite des Tischs und das Gesicht dem Fenster in Sanzos Rücken zugewandt, lag Goku ausgestreckt auf dem Boden, ein Bein angewinkelt und den rechten Arm ob der gleißenden Sonne über die Augen gelegt, wo die Haut ein Stück des trotz der Hitze kühlen Diadems berührte. Im Rhythmus des ruhigen Atems der Welt hob und senkte sich sein Brustkorb.
 

"Woran denkst du?", fragte Sanzo, als Goku nicht antwortete.

"...an den Himmel."

"Den Himmel?"

Goku öffnete die Augen einen Spalt breit und lugte unter dem Arm hervor, um das fast wolkenfreie Blau jenseits ihres Zimmers zu betrachten. Der Anblick war ihm wohl vertraut – so weit oben im Gebirge, wie sie sich derzeit befanden, waren Wolken und Sonne so nah, wie er ihnen bisher nur während seiner Gefangenschaft gewesen war. Mit der Erinnerung an Gogyouzan, auf dem er 500 Jahre seines Lebens verbracht hatte, kam das Gefühl, etwas zu missen, das ihn damals so oft plagte – als erinnere der Anblick ihn an etwas lang Vergessenes, aus einem anderen Leben.

Hin und wieder nagte die Frage an ihm, woher er kam. Er war weder Mensch noch Youkai, doch unbedeutender als ein Gott – es war, als gäbe es für ihn keinen Grund, am Leben zu sein, als sei seine Existenz nur eine Laune der Natur. Die drei Aspekte nannten ihn ein häretisches Wesen, da er nicht dem höheren Willen der Götter entsprang – doch wenn die Natur das Leben birgt, wer waren dann schon diese Götter, so etwas zu behaupten?
 

Vier Jahre war es her, dass Sanzo ihm die Hand reichte und ihn von seinen Fesseln befreite. Vier Jahre, die ihm so viel mehr vorkamen als die vorangegangenen 500 auf dem Berg Gogyou. Sein Zeitgefühl heute stand in krassem Gegensatz zu den Wochen und Monaten, die damals ereignislos miteinander verschmolzen; seine Zeit in Isolation schien nun unendlich lang zurückzuliegen. Früher dienten lediglich die Jahreszeiten als Indikator voranschreitender Zeit, heute war jeder Tag etwas besonderes, trotzdem sie so viele von ihnen in immer gleichem Trott auf der Straße gen Westen verbrachten. Die Umgebung veränderte sich ständig, neue Eindrücke und Erlebnisse füllten seinen Kopf Stunde um Stunde wie eine unendlich lange Bahn weißen Papiers mit Erinnerungen, die er betrachten konnte, wann immer es ihm beliebte. Manchmal kam es ihm vor, als sei er erst seit diesen vier Jahren wirklich am Leben. Es war sowieso niemand dazu in der Lage, sein wahres Alter zu bestimmen, und die 500 Jahre, in denen die Zeit für ihn stillstand, waren nun beinahe vergessen.
 

Kanzeon Bosatsu sagte einmal, einst hätte er im Himmel gelebt. Vielleicht war das der Grund für Momente wie diesen, in denen sich Goku in Gedanken über seine Herkunft verlor – vielleicht hatte er damals noch gewusst, wer er war. Er war der Seiten Taisei, ein häretisches Wesen, und doch hatte er einst im Himmel gelebt.
 

***
 

Der Gesang der Zikaden begleitete die Bewohner im Himmel wie auf Erden. Selbst in seinem abgeschotteten Büro hörte Konzen das Musizieren, das sich mit den Geräuschen geschäftigen Treibens vor seiner Tür mischte und schließlich von unrhythmischen, schweren Schritten durchbrochen wurde, die sich dem Zimmer näherten. Konzen schob den Stapel Dokumente etwas zur Seite, den er gerade mit seinem Stempel versah, und wartete auf das unvermeidliche Klopfen.

"Konzen-dono, hier spricht Shao Feng. Erbitte Eintritt."

Konzen rollte die Augen ob des ungebetenen Gastes. Der Mann war Oberoffizier der Palastwache und betrat den Raum mit militärisch exakten Bewegungen, die ihm so ins Blut übergegangen waren, wie es nur bei einem langjährigen Militärbediensteten der Fall sein konnte. Sein stechender Blick kontrastierte mit seinem durch den ergrauten Schopf und untersetzten Körperbau unbeeindruckenden Äußeren. Eine Wache folgte ihm auf dem Fuß.

"Konzen-dono, ist es korrekt, dass Ihr Euch des Kindes annahmt, das der Reisende Egan vor kurzem in den Himmel brachte?"

Konzen war geneigt, einfach alles abzustreiten. Vor gut drei Wochen war der zottelige Affe in sein vormals ruhiges Leben getreten und stiftete seitdem Chaos, wo er ging, für das er, kurzerhand zu seinem Vormund ernannt, geradestehen durfte. Entsprechend war die Frage rhetorisch zu verstehen, da mittlerweile allgemein bekannt war, in welcher Beziehung der Junge zu ihm stand.

"Ich komme im Auftrag einiger Götter: sie wollen ihren Unmut über die Anwesenheit des Ketzers kundtun. Er bringt Unruhe in den Palast und, mit Verlaub, ein Kind mit so fragwürdiger Herkunft hat hier nichts zu suchen."

Konzen betrachtete den Mann ungerührt: "Und wo, würdet Ihr vorschlagen, sollte er stattdessen hin?"

Der Offizier blinzelte einige Male, offensichtlich hatten ihm die Götter, für die er sprach, keine entsprechenden Vorschläge geliefert. Um die Situation zu überspielen, fuhr er daher mit seinen Auskünften fort: "Die Götter wünschen, dass Ihr, Konzen-dono, als sein Vormund den Jungen gewissenhaft erzieht. Ihnen missfallen seine zahlreichen Streiche."

Konzen erlaubte sich ein höhnisches Lächeln. "Ist das so? Und das können besagte Götter mir nicht persönlich sagen? Feiglinge."

"Konzen-dono!", rief der Offizier erschrocken, doch Konzen nahm nur ungerührt seine Arbeit wieder auf.

"Ich werde mich darum kümmern", sagte er, den Palastwachen zu verstehen gebend, dass sie entlassen waren. Der Jüngere wandte sich auch tatsächlich eilends zum Gehen, doch Shao Feng blieb standhaft. Konzen hob den Kopf, gerade genug, um den anderen die Missbilligung in seinem Blick sehen zu lassen.

"Verzeiht, Konzen Douji, aber ich muss den Göttern Bericht erstatten. Was gedenkt Ihr, wegen des Jungens zu unternehmen?"

Konzen dachte kurz darüber nach, bis sein Blick auf einige Papierflieger in der rechten Ecke seines Büros fiel, die Goku dort am Tag zuvor gebastelt hatte.

"Wie wäre es mit Unterricht?", schlug Konzen vor, Gokus Neugierde und Wissensdurst vor Augen, und befand die Angelegenheit damit als geklärt. Als der Offizier noch immer nicht verschwand, fügte er hinzu: "Der Junge braucht ein Zuhause. Und wenn er etwas lernt, kann er sich nützlich machen. Ich bin sicher, das Militär würde sich sehr über seine überschüssige Kraft und Ausdauer freuen."

Shao Feng schien nicht sonderlich glücklich über die Aussicht des Jungen in seinen Reihen, doch Konzen schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit. Als die Tür hinter seinem Besucher ins Schloss fiel hielt er kurz in seinem Tun inne und atmete tief durch.
 

In einem anderen Teil der Palastanlage schlurfte der vermeintliche Unruhestifter ziellos durch die Gänge, die er schon so weit ausgekundschaftet hatte, dass er sich nicht mehr ganz so häufig in ihnen verlief. Eben war er noch draußen am Teich vor dem Nordeingang gewesen und wollte Frösche fangen, doch fast augenblicklich hatte ihn eine Wache mit großem Geschrei vertrieben und ihn beschimpft, er solle den „Teich der Reinheit“ – oder etwas ähnlich Hochtrabendes, Goku hatte den brüllenden Mann nur schwer verstehen können – nicht mit seinen dreckigen Fingern beschmutzen. Da Konzen ihn einige Zeit zuvor jedoch entnervt ob seines "unablässigen Geplappers" rausgeworfen hatte, blieb ihm nun nichts anderes übrig, als nach einer neuen Beschäftigung zu suchen.

Er solle doch ein Buch lesen, hatte die Wache ihm nach seiner Beschwerde, ihm sei langweilig, vorgeschlagen. Dabei konnte Goku doch gar nicht lesen.
 

In der Hoffnung, irgendwo auf Nataku zu stoßen – er hatte den Jungen erst vor einigen Tagen kennengelernt und musste ihn noch von seinem Namen unterrichten, den Konzen ihm kurz nach ihrem Zusammentreffen gegeben hatte –, verließ Goku den Palast, um den noch größeren und prachtvolleren aufzusuchen, der mitten im Zentrum Tenkais stand. Er war der Wohnsitz des Tenteis und Quartier des Militärs – als solcher schwieriger, ungesehen zu betreten, dafür aber um einiges spannender. Hier kannte er sich noch nicht aus und hatte seinen Spaß daran, die Flure und Räumlichkeiten zu erkunden, darauf bedacht, möglichst niemandem über den Weg zu laufen.

Gerade bog Goku um die Ecke von einem der breiteren Hauptflure in einen kleineren, in vielen Türen abzweigenden Nebengang, als er weit hinten eine ihm vertraute Gestalt eines der Büros rechterhand betreten sah. Von Neugier gepackt rannte er zu der Tür, hinter der die Person verschwunden war, öffnete sie leise und spähte in das dahinterliegende Zimmer.

Als erstes fiel Gokus Blick auf einen Berg von Büchern – so groß, wie er noch nie einen gesehen hatte (er hatte im Allgemeinen noch nicht allzu viele Bücher auf einem Haufen gesehen, aber er war dennoch bis aufs Äußerste beeindruckt) –, unter dem ein Tisch oder vielleicht sogar ein Regal versteckt sein mochte. Der Berg stand mitten im Raum und rechts davon die hochgewachsene Gestalt Kenrens, der etwas unschlüssig den Arm ausgestreckt hielt, als sei er nicht sicher, ob der Bücherstapel nicht zusammenbrechen würde, sollte er sich auf ihn lehnen. Kenren gegenüber erkannte Goku einen, konträr zum sehr auf sein Äußeres bedachten General, etwas zerzaust und zerknittert aussehenden, in Weiß gekleideten Mann. Er hatte ein weiteres Buch unter den rechten Arm geklemmt und schob gerade seine Brille zurecht, als er Goku eintreten sah.

"Ah!", machte er und beugte sich etwas zur Seite, um an Kenren vorbeisehen zu können. "Noch ein Besucher – du bist bestimmt Goku, nicht wahr?"

Goku schaute die beiden mit großen Augen abwechselnd an. Ein freudiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
 

Der Mann in Weiß, der sich ihm als Tenpou Gensui vorstellte ("Sag ruhig Ten-chan." – "Bist du für sowas nicht zu alt?" – "Mein lieber Kenren, du solltest nicht von dir auf andere schließen..." – "Was soll das denn heißen?!"), lachte herzhaft. "Konzen war schon immer etwas... sagen wir, unausgeglichen."

Goku hatte gerade damit geendet, von seiner Reise durch das Palast-Labyrinth zu erzählen, und schlürfte nun an seiner dampfenden Tasse. Nach seiner Ankunft hatte der Marschall schnell einen kleinen Tisch von seiner Bücherlast befreit und seine Gäste eingeladen, einen Post-Nachmittagsschläfchen-Tee mit ihm zu teilen. Kenren ließ es sich zwar nicht nehmen, ihn einen faulen Hund zu schimpfen, der ihm die ganze Arbeit aufbürdete, machte jedoch keine Anstalten, wieder zu gehen, um eben jene Arbeit auch auszuführen. Goku derweil freute sich über die Gesellschaft, verlor jedoch erneut schnell das Interesse an seinem noch viel zu heißen Getränk und dem Gesprächsthema der beiden Männer (sie erwähnten viele ihm unbekannte Namen und Rangbezeichnungen, einige Schimpfwörter, die er noch nie gehört hatte, und listeten sich gegenseitig all die Dinge auf, die sie eigentlich noch zu erledigen hatten).

Neugierig nahm der Junge stattdessen das Zimmer des Marschalls näher in Augenschein. Ihn faszinierte die schiere Masse an Büchern und Schriftrollen, die an jedem freien Platz des Raumes verteilt lagen; von Konzen war er nur ein paar über und über mit unkenntlichem Text beschriebene Schwarten gewöhnt – und die vielen Dokumente auf seinem Schreibtisch, die er noch nicht einmal zu Papierfliegern falten durfte –, doch hier entdeckte er welche, deren Einbände mit bunten Bildern verziert waren und auch sonst viel ansprechender auf ihn wirkten.

Als Goku schließlich Tenpous Aufmerksamkeit erregte, kam dieser zu dem Jungen herüber, der sich mit einem großen Buch voller Illustrationen verschiedenster Orte Gekais auf dem dünnen Trampelpfad zwischen Tür, Bad und Tisch breit gemacht hatte. Die Beine unterschlagen beugte sich Goku über die Seiten und betrachtete eingehend jede einzelne Zeichnung, ehe er mit größter Sorgfalt weiterblätterte, aus Angst, das Papier zu knicken – Konzens Wutausbruch am Tag zuvor hatte einen tiefen Eindruck auf den Jungen hinterlassen.

"Ist das deine Heimat?", fragte Tenpou, nachdem Goku bei einer Seite besonders lang verharrte. Der Junge wog unschlüssig den Kopf, mit einem Finger die Umrisse der markanten Bergkuppe des Gebirges entlangfahrend, das sich über die Doppelseite erstreckte.

"Es is' ähnlich", sagte er dann, den Hals ein wenig streckend, als versuche er, zu sehen, was hinter dem Berg lag.

Kenren hockte sich zu Gokus Rechten. "Huangshan, Anhuin", las er vor. "Da kommst du her?"

Goku schüttelte den Kopf. Wenn er ehrlich war wusste er überhaupt nicht, wo genau er eigentlich herkam. Kanzeon Bosatsu hatte gesagt, er sei weder Mensch noch Youkai – er hatte nun endlich einen Namen wie alle anderen auch, aber keine Bezeichnung für das, was er war, die auf seine Herkunft geschlossen hätte. Dann fiel ihm wieder das Wort ein, das die Wache zuvor am Teich benutzt hatte, bevor sie ihn fortschickte.

"Ten-chan, wo komm' Ketzer her?", fragte er, ein wenig stolz, dass er sich einen so komplizierten Begriff gemerkt hatte. Tenpou runzelte die Stirn, verschwunden sein freundlicher Gesichtsausdruck, und er tauschte einen Blick mit Kenren. Gokus Zuversicht schwand genauso schnell, wie sie gekommen war – das Wort schien nicht die Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft zu sein.

"Wo hast du dieses Wort gehört, Goku?" Das freundliche Lächeln war zurückgekehrt, doch Tenpous ruhiger Tonfall schien erzwungen.

"Die Wache", sagte Goku und deutete in die ungefähre Richtung, aus der er gekommen und von wo er zuvor vertrieben worden war. Der Mann hatte ihn Ketzer genannt und gesagt, er solle mit seinen dreckigen Fingern nicht das reine Wasser verschmutzen. Goku blickte auf seine Hände hinab. "Dabei sin' se gar nich' schmutzig, siehste?" Er hielt sie Tenpou hin, der nur weiter lächelte und nickte.

"Was die Wache damit meint, ist, dass du kein Teil der 'natürlichen' Schöpfung bist", erklärte Tenpou. Er wusste von den Umständen, die Goku in den Himmel brachten, und hatte nun Mühe, ihm die Situation mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt zu erläutern. Kein Mensch und kein Youkai, aber weniger als ein Gott.

Goku schaute ihn weiterhin verständnislos an.

"Das heißt, dass niemand wirklich erklären kann, wo du herkommst. Es war der Wille der Natur, der dich erschaffen hat, etwas, das weder von den Göttern noch den Menschen oder Youkai kontrolliert werden kann. Und das ist der Grund, warum sie, die Götter, deine Existenz fürchten und dich herabzusetzen versuchen, indem sie dich einen Ketzer, ein häretisches Wesen nennen."

Goku spielte nachdenklich mit der Seite, die er gerade aufgeschlagen hatte. Schon auf dem Kakazan hatte er nie wirklich dazu gehört, doch dort hatten die Menschen ihm trotz allem Freundlichkeit entgegengebracht. So wie Ten-chan und Kenren und Konzen. Er blätterte einige Seiten zurück und zeigte auf die dortigen Schriftzeichen: "Was steht da?"

Tenpou sah den Jungen überrascht an. "Du kannst nicht lesen, Goku?" Goku sah etwas verlegen drein. "Soll ich es dir beibringen?"

"Das kannst du?" Tenpou und Kenren lachten herzhaft, als hätte er etwas besonders Witziges gesagt. "Kann ich dann das hier lesen?", fragte Goku unbeirrt weiter und zog aus einem kleinen Stapel der Bücher, die er sich schon angesehen hatte, eines mit sehr kindlichen Zeichnungen, das Tenpou als ein altes Märchenbuch identifizierte, hervor. Es beeindruckte ihn, dass Goku es inmitten dieses Chaos' gefunden hatte.

"Oh!", machte Kenren und nahm Goku das Buch ab. "Das kenne ich, die Geschichte von der Mondfee hat mir immer gefallen."

Goku blickte ihn begeistert an. "Erzähl' sie mir!"

Kenren grinste und wuschelte ihm durch die Haare. "Sollte das nicht die Aufgabe deines Erziehers sein?"

"Aber Ken-occhan..."

"Hey, sehe ich aus wie ein Onkel?", unterbrach ihn der General und schnippte ihm gegen die Stirn. Goku klatschte die Hände auf die schmerzende Stelle und schmollte leicht.

"Ken-nii-chan?", sagte er probeweise. Kenren dachte kurz darüber nach und nickte schließlich: "Besser." Er schlug das Inhaltsverzeichnis des Buches auf, suchte die gewünschte Geschichte heraus und begann zu lesen.
 

Es war schon spät, als sich Goku von Tenpou und Kenren verabschiedete. Die beiden Offiziere hatten dank ihm erfolgreich den Nachmittag vertrödelt und beschlossen, darauf einen trinken zu gehen. Gokus Kopf war überfüllt mit den vielen Dingen, die er an diesem Tag gelernt hatte, und so lief er eine Weile, ohne auf den Weg zu achten – voller Eifer, Konzen mitzuteilen, dass er ihn, seine Sonne, nun auch schreiben konnte ("Beginnen wir mit dem Zeichen für Sonne oder Tag: Ein hochkant gestelltes Rechteck mit einem horizontalen Strich durch die Mitte. Das ist ein Dreieck, Goku.") –, bis er sich schließlich vollends verlaufen hatte. Es war pures Glück, das ihn auf Jiroushin stießen ließ.

Kanzeons Berater und Assistent balancierte gerade einen hohen, seine Sicht versperrenden Stapel Dokumente auf den Unterarmen und wäre beinahe über den Jungen gestoplert. Goku hatte sich mitten im Gang platziert und betrachtete ein an der Wand aufgehängtes Sumi-e mit eingehendem Interesse. Es bildete eine bergige Landschaft ganz ähnlich der in Tenpous Buch ab und war aus der Vogelperspektive gemalt. Goku stellte sich vor, dass so die Welt aussehen musste, wenn man sie von hier "oben" aus betrachtete.

Für einen Moment schwankte der Stapel gefährlich auf Jiroushins Armen und ein Blatt löste sich von ganz oben. Erstaunt beäugte Goku das Papiermonster, das sich ganz unverhofft an ihn herangeschlichen hatte, und beugte sich hinüber, um das Blatt aufzuheben, das neben ihm zu Boden gesegelt war. Die durchtrennten Ketten seiner Handschellen rasselten leise. Als er wieder aufsah lugte ein Gesicht hinter dem Stapel hervor.

"Du bist doch der Schützling von Konzen Douji, nicht wahr?", fragte das Papiermonster. Goku nickte stumm und hielt ihm unschlüssig den Zettel entgegen. "Hast du dich verlaufen?"

"Ich such' Konzen", sagte der Junge, wirkte aber nicht, als sei er in Eile. Er fragte sich, wie wohl der Blick auf den Kakazan von dieser Höhe aus sein mochte.

"Dann haben wir den gleichen Weg, ich habe ihn vorhin zu Kanzeon Bosatsus Büro gehen sehen. Du kannst dich mir gerne anschließen."

Goku riss sich endgültig von dem Gemälde los und nickte freudestrahlend.
 

"Konzen, mein lieber Junge", sagte die Göttin der Barmherzigkeit in einer Tonlage, die nicht verriet, ob sie ihre Worte ernst meinte oder Konzen nur aufzog. Ihr Neffe verzog unwirsch das Gesicht, doch die permanente Falte zwischen seinen Augenbrauen konnte die Bosatsu nicht mehr erschüttern.

"Der Offizier der Palastwache war heute bei mir." Konzen hielt nicht viel von Höflichkeitsfloskeln und wusste, dass seine Tante diese Einstellung durchaus teilte, wenn nicht gar in der Vergangenheit ein wenig beeinflusst hatte. Die Göttin lächelte undurchsichtig, den Kopf auf die Hand ihres linken Arms gestützt, dessen Ellenbogen wiederum auf der Lehne ihres Stuhls ruhte. So wie sie dasaß, ein Bein überschlagen und tief in ihren "Thron" gesunken, wirkte ihre Ausstrahlung sehr männlich dominant, wie sie es gerne anderen gegenüber zur Schau stellte, sich an den gemischten Reaktionen ihrer Besucher labend, auch wenn sie wusste, dass sie von Konzen keine solche zu erwarten hatte.

"Shao Feng", sagte die Göttin, mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie schien nicht allzu überrascht.

"Warum hast du Goku im Himmel aufgenommen?"

"Du warst dabei, als Egan ihn zu mir brachte, du kennst die Antwort."

„Und du weißt, was er ist." Es klang wie ein Vorwurf. "Was bezweckst du mit seiner Anwesenheit hier im Himmel?"

Kanzeon hob spielerisch die Hände. "Ich dachte, du hättest dich mittlerweile an Goku gewöhnt–"

"Das ist irrelevant", unterbrach Konzen sie barsch. "Er gehört hier nicht hin, er vermisst seine Heimat..."

"Ich dachte, er hätte hier eine neue Heimat gefunden?"

Konzen stieß geräuschvoll die Luft aus. "Ich will nicht, dass du den Jungen für deine Spielchen missbrauchst." Sein Tonfall war rau, fast drohend, doch Kanzeon ließ sich davon nicht beirren. Sie betrachtete ihr Gegenüber einige Zeit wortlos, als wolle sie ihn nur noch mehr in Rage versetzen.

Konzen ballte die Hände zu Fäusten. "Die anderen Götter wollen Goku nicht um sich haben", gab er wieder, wovon Shao Feng ihn unterrichtet hatte. Er konnte sich gut vorstellen, welche Feindseligkeit und Missgunst dem Jungen entgegengebracht werden musste. Er selbst hatte es zu seinem Grundsatz gemacht, sich aus solchen Angelegenheiten herauszuhalten, doch allein seine Verwandtschaft mit der Göttin, deren fraglicher Ruf ihr meilenweit vorauseilte, ersparte ihm nicht die Kommentare gegenüber seiner eigenen Person. Es behagte ihm nicht, Goku in so einer Umgebung aufwachsen zu sehen.

Kanzeon erhob sich und lief gemächlich zu der Terrasse hinüber, die von dem Zimmer abführte. Sie blickte auf den mit unzähligen Seerosen bedeckten Teich, an den sie sich zurückzuziehen pflegte, um die Geschehnisse Gekais zu beobachten.

"Die Götter sind hochmütig." Ihre Haltung machte sie zu einem perfekten Abbild ihrer Worte. "Sie fühlen sich allen anderen Lebewesen überlegen und das lässt sie glauben, darüber gebieten zu können, wer es wert ist, zu leben, und wer nicht. Goku steht außerhalb ihrer Befugnis, also versuchen sie mit aller Macht, ihn wieder loszuwerden."

Das Geräusch der ins Schloss fallenden Zimmertür schreckte beide auf. Zeitgleich wandten sie sich um und Konzen zuckte unmerklich zusammen, als er Goku in Hörweite stehen sah. Hinter ihm wankte Jiroushin mit einem Stapel Dokumente beladen auf Kanzeon Bosatsus Schreibtisch zu.

"Aber ich hab' doch gar nichts getan", sagte der Junge. Konzen presste die Lippen aufeinander.

"Ich hab' sogar gemacht, was die Wache gesagt hat!", fuhr Goku fort, als wolle er sich rechtfertigen.

"Was hat die Wache gesagt?"

"Sie hat mich weggeschickt und ich solle ein Buch lesen, wenn mir langweilig is', und die Hände waschen, obwohl sie gar nich‘ dreckig waren, und Ten-chan bringt mir Lesen bei und Ken-nii-chan hat mir von der Mondfee erzählt, und ich kann jetzt sogar schon die Sonne schreiben..."

Konzen unterbrach den Wortschwall mit erhobener Hand: "Ten-chan? Ken-nii-chan?" Trotzdem er nicht wirklich verstand, wovon der Junge sprach, spürte er, dass sich ein Lächeln auf seine Mundwinkel stahl, wie nur Goku es hin und wieder hervorzubringen vermochte. Er sah aus den Augenwinkeln Kanzeon zufrieden schmunzeln.

"Soll ich dir etwas tolles zeigen?", fragte die Göttin an den Jungen gewandt. Sie breitete die Arme aus und deutete auf den Teich. "Wenn du dort hinein siehst, kannst du die Erde sehen", erklärte sie. Augenblicklich erhellte sich Gokus Gesicht.

"Ich will sie sehen!", rief er und blickte zu Konzen hoch, als warte er auf dessen Einverständnis. Konzen nickte nur ergeben – er konnte dem Enthusiasmus seines Schützlings sowieso nichts entgegensetzen. Sogleich war Jiroushin zur Stelle, um seiner Herrin und Goku die Fenstertür zu öffnen. Kanzeon Bosatsu trat würdevoll in den kleinen Garten hinaus und an den Teich, an dessen Ufer ein Tisch und zwei Stühle standen, wo sie und Jiroushin regelmäßig ihre Shougi-Partien austrugen. Sie kniete sich ans Wasser und bedeutete Goku, es ihr gleich zu tun. Dann zeigte sie auf die Mitte des Teiches, wo die zahlreichen die Oberfläche bedeckenden Seerosen in größerem Abstand verteilt einen Blick in das klare Blau ermöglichten.

Zusammen betrachteten sie die Szenerie jenseits des Wassers und Goku wurde ganz still, als er sich in dem Anblick verlor.
 

Wenn man der Sonne so nah war, über den Wolken und in greifbarer Nähe der Sterne, konnte man leicht der Vorstellung verfallen, höher als anderen zu stehen, buchstäblich und metaphorisch gesprochen. Von oben hinabschauend glich die Erde einem Keilrahmen, bemalt in verschlungenen Mustern verschiedenster Abstufungen von Braun und Grün. Je weiter man seinen Blick schweifen ließ, desto verschwommener wurden die Formen; die Farben wechselten zu einem grauen Weiß und hellen Blau. Doch dann, am entfernten Ende des Horizonts, traf der Rand der Erde auf die Ufer des Himmels, der Boden verschmolz mit dem Gewölbe und vermischte sich mit dem Blau des Ozeans, in dem sich die Wolken spiegelten. Und darum konnten die Bewohner der Erde nicht umhin, nach ihnen zu greifen, wo sie so nah schienen und doch so weit entfernt waren, und würden egal, wie sehr sie sich nach dem Himmel sehnten, doch niemals in der Lage sein, ihn zu berühren, während die Götter von oben heraub ihre Mühen belächelten.

Als Goku so zur Erde hinabblickte befiel ihn ein bisher unbekanntes Gefühl der Melancholie. Er war ein Lebewesen geboren aus der Erde, das ihrer begehrte, aber gezwungen war, an einem Ort zu leben, an dem es sich hilflos fühlte im Angesicht der Bergspitzen, die so nahe schienen und doch so weit entfernt waren, und die er niemals in der Lage sein würde, zu berühren. Von so weit oben ähnelten die Wolken einer Schneelandschaft – so hell, dass sie Goku blendeten –, und wenn die Wolken hoch genug standen, türmten sie sich um ihn wie Berge aus Schnee.

In den Seen und Flüssen konnte er die Reflektion der letzten Sonnenstrahlen des Tages sehen, als halte jemand eine Lampe und leuchte ihm den Weg. Doch dann blickte er zu Konzen, seiner Sonne, und wusste, dass er die Quelle seines Lichts schon gefunden hatte.
 

Konzen beobachtete den Jungen, den Wechsel der Emotionen auf seinem Gesicht, bis Kanzeon neben ihn trat und seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Sie hatte wie er die Arme vor der Brust verschränkt – eine Ähnlichkeit, die nur von ihren Unterschieden übertrumpft wurde.

"Warum hast du mich als seinen Vormund gewählt?"

Die Göttin lächelte ihr undurchschaubares Lächeln und ließ Konzen selbst die Antwort finden: "Erinnerst du dich an seine Ankunft?"

Konzen erinnerte sich sehr gut daran – an die Fesseln, die dem Jungen angelegt worden waren, bevor Egan ihn in den Himmel brachte, wie einem Tier, das sie daran hindern wollten, auszureißen. Und er erinnerte sich an Gokus Blick, als er das erste Mal zu ihm aufsah und ihn mit der Sonne gleichstellte.

Absurd. Er, Konzen, die Sonne, um die sich die Erde dreht... Goku war es doch, der in so kurzer Zeit zum Zentrum seines Universums geworden war. Goku, der noch nicht einmal einen Namen besessen hatte. Goku, der mit seiner Unreinheit den Himmel befleckte. Sie waren sich ähnlich, der Junge und er. Sie beide hatten lange Zeit nach dem Sinn gesucht, den das Leben für sie vorgesehen hatte – und zumindest Konzen glaubte, seinen nun gefunden zu haben. Jetzt war es an ihm, Goku in seiner Suche zu unterstützen.
 

Gokus Anwesenheit brachte viele Veränderungen in Konzens Leben. Hatte er zuvor die Isoliertheit bevorzugt, fand er sich nun in ständiger Gesellschaft nicht nur des Jungen, sondern auch seines alten Bekannten Tenpou Gensui wieder, der regelmäßig vorbeikam, um Goku zu unterrichten, oft in Begleitung seines Untergebenen Kenren Taishou, auf dessen Bekanntschaft Konzen gut hätte verzichten können. Auch seine Tante schien ihn öfter als gewöhnlich zu besuchen, als wolle sie ihre Langeweile mit einem neuen Spielzeug vertreiben. Und selbst wenn Konzen mürrisch auftrat genoss er doch die Veränderung. Nie zuvor waren seine Tage so ausgefüllt und voller Leben gewesen.

Diese Idylle änderte sich abrupt, als Konzen die Bedrohung erkannte, Goku könnte als nächster Toushin in den Himmel gebracht worden sein. Er hätte es eher erkennen müssen – Nataku und Goku waren sich in so vielen Dingen ähnlich, und dann hatte Kanzeon Bosatsu auch noch alles in ihrer Macht stehende getan, den Jungen als erste zu Gesicht zu bekommen, damit sie entscheiden konnte, was mit ihm geschehen sollte. Er hätte erkennen müssen, was die Göttin plante. Immerhin war er ihr Neffe. Doch das gesamte Ausmaß der Angelegenheit wurde ihm erst bewusst, als Li Touten ihn kurz nach ihrem aufsehenerregenden Auftritt auf der Geburtstagsfeier des Tenteis aufsuchte.

Es hatte den Anschein eines gewöhnlichen Besuchs, als der Kommandeur um ein Gespräch privater Natur bat. Doch obwohl er es niemals explizit äußerte, klang es für Konzen wie eine Drohung.

"Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass sich Euer Schützling meinem Sohn schon einige Male annäherte", sagte er mit seinem üblichen gelassenen Gehabe, das er der Öffentlichkeit in jeder Situation präsentierte. Er war genauso gut darin, seine wahren Emotionen hinter einer Maske von Höflichkeit und wohl gewählten Worten zu verstecken wie Konzen hinter seiner Maske, die das genaue Gegenteil ausdrückte.

"Ich fürchte, ich kann es nicht zulassen, dass irgendetwas die wichtige und schwierige Aufgabe stört, der sich Nataku derzeit ausgesetzt sieht."

"Ihr meint Euren momentanen Aufstieg im Rang?"

"Ich meine natürlich die Auslöschung Gyuumaous. Wir wollen doch keine falschen Anschuldigungen aufstellen, Konzen-kiden?"

Konzens Gesichtsausdruck wurde mit jeder Minute mürrischer. Li Touten schien zufrieden, konnte jedoch durch seine Worte nicht die Angst davor verbergen, Konzen und Goku könnten seinen Plan, im Namen seiner Familie wieder an die Spitze der Hierarchie zu gelangen, vereiteln. Und obwohl Konzen keinerlei Absichten dieser Art hegte, würde er sich hüten, Li Toutens Unsicherheit zu mindern.

"Goku und Nataku-ouji haben vieles gemeinsam, in erster Linie fehlende Spielgefährten – warum sollten sie also keine Freunde sein können?", fragte Konzen mit aufgesetztem Unverständnis. Er wollte diese Maske Li Toutens durchbrechen, und wenn es nur für einen kurzen Moment war.

"Ich wüsste nichts, was die Jungen gemein hätten", sagte der andere mit einem Hauch von Abscheu in der Stimme. "Natakus Schicksal liegt darin, der Himmelsarmee zu dienen, doch welchen Sinn hält das Leben schon für diese ketzerische Kreatur bereit?"

Konzen zuckte mit keinem Muskel, nicht gewillt, Li Touten die Genugtuung zu geben, ihn beleidigt zu haben, wenn auch indirekt.

"Ihr wisst nicht einmal, was er ist oder aus welchem Loch er herausgekrochen kam."

Konzen konnte ein sardonisches Lächeln nicht komplett unterdrücken. Er hatte es geschafft, den Mann zu verärgern, indem er seinen Stolz angriff. Er war Li Toutens größte Schwäche: So berechnend er auch sein mochte, er ließ niemanden seine Errungenschaften herabsetzen, die er mit Natakus Schöpfung erhalten hatte. An die Herkunft Natakus zu denken, bereitete Konzen Magenschmerzen. Verglichen mit dessen Lebenssinn, aus dem er sich nie würde befreien können – war es da nicht besser, wie Goku nicht zu wissen, wo man herkam und warum man existierte?

Dieser Gedanke begleitete Konzen und erfüllte ihn mit Entschlossenheit, als die Armee kam, um Goku zu holen. Ihm war es egal, was der Junge war und wer ihm das Leben geschenkt hatte – er würde ihn nicht sterben lassen. Wenn er im Himmel nicht erwünscht war, würde er ihn zurück in die "Welt darunter", zurück in seine "Heimat" bringen. Das war es doch wert, dafür sein unnützes Leben zu opfern.
 

Kanzeon Bosatsu war eine durchtriebene Göttin. Sie machte sich einen Sport daraus, über alles und jeden Bescheid zu wissen und liebte nichts so sehr wie Manipulationen und Intrigen und zu sehen, wie sich ihre Opfer vor ihren Füßen in ihrer Misere wanden. Nichts – außer sich selbst. Doch diese Charaktereigenschaft brachte ihr oft genug das Unverständnis anderer ein, dabei waren ihre Intentionen doch so häufig fast schon selbstloser Natur (natürlich standen ihre eigenen Interessen an den Umständen trotz allem noch immer an erster Stelle).

Als sie das erste Mal von diesem äußerst bemerkenswerten "Tier" hörte, das in Gekai aufgelesen worden war und in den Himmel gebracht werden sollte, war sofort ihr Interesse geweckt. Der Junge besaß goldene Augen, hieß es – und die Göttin konnte regelrecht die nächsten Fischchen in ihrem Netz zappeln sehen. Zugegebenermaßen lief nicht alles nach Plan, und vieles auch katastrophal schief. Doch das gehörte zu dem Reiz, der ihr das ewige Leben versüßte.

Trotz allem würde sie nie den Anblick des vor dem Tor, das Himmel und Erde verband, zusammengekauerten Jungen vergessen. Sie war es gewesen, die ihm, wenn auch nur für kurze Zeit, das Gefühl gegeben hatte, irgendwo zu Hause zu sein, gebraucht zu werden – sie hatte ihn mit Konzen zusammengeführt und damit ihrer beider Schicksal vereint. Jetzt sollte sie es sein, die ihn wieder zurückbrachte, zurückführte in das Element, das ihn einst gebar, und ihm alles nahm. Verdammt zu 500 Jahren Einsamkeit, nachdem er gerade erst gelernt hatte, was es bedeutete, nicht mehr allein zu sein.

Sie erlaubte sich nur einen Funken Mitgefühl, als sie alle Erinnerungen, die Goku in seinem bisherigen Dasein gesammelt hatte, unwiederbringlich löschte. Alle bis auf eine.

Seine letzten Gedanken als jene gebrochene Version seiner selbst galten jenen, die seine Bedeutung des Wortes "Familie" definierten. Er vermisste und hasste, heiligte und verfluchte sie, denn sie hatten ihr Wort gebrochen und ihn zurückgelassen. Alles, was ihm noch blieb, waren die Erinnerungen, die ihm nun genommen wurden, wertlos im Angesicht der Dunkelheit, die nach seinem Tod Gokus gesamte Existenz erfüllte.

Konzen hatte es doch versprochen: Das nächste Mal würde er es sein, der ihm die Hand reichte.
 

500 Jahre zuvor ward Goku seiner Erinnerungen beraubt. Gerade, als er dachte, seinen Platz im Leben gefunden zu haben, wurde er verbannt, weggesperrt – verdammt, Tag und Nacht den Himmel zu sehen, als gäbe es keinen anderen Platz für ihn auf der Welt. Obwohl er nicht wusste, was ihm genommen worden war, fühlte er, dass etwas fehlte. Nichts konnte diese Leere, die Dunkelheit in seinem Inneren füllen.

Er konnte nicht sagen, warum, doch in ihm keimte eine Sehnsucht, wann immer er durch die Gitterstäbe seines Gefängnisses zum Himmel hinaufblickte – als hätte er etwas, oder jemanden, vergessen, von dem er glaubte, ihn dort oben zu finden. Er wusste, wie närrisch sein Wunsch war, war der Himmel doch zu weit entfernt, um ihn jemals mit seinen Händen zu erreichen, doch dann sah er einen Vogel von oben herabfliegen, als käme er direkt von der Sonne, und Goku dachte daran, wie grausam es war, dem Himmel zugewandt zu sein, wenn er nicht einmal Flügel hatte wie diese kleine Kreatur, die vermochte, zu was er niemals in der Lage sein würde. Doch es war in Ordnung, denn er kannte nichts anderes als dieses Gefängnis und konnte sich nicht daran erinnern, was ihn so einsam machte, und so verblieb er wartend, dass der Vogel zu ihm käme und ihm vom Himmel erzähle.

Wenn der Winter kam ähnelte der Schnee den Wolken – so hell, dass er ihn blendete –, und wenn er sich nur hoch genug um Gokus Gefängnis türmte, konnte der Junge manchmal nicht mehr sagen, wo die Erde aufhörte und der Himmel begann.
 

Die einzige Erinnerung, die ihm aus seinem alten Leben blieb, war sein Name: Son Goku. Er wurde zu dem, was seine Person ausmachte – warum also suchte er noch immer nach seinem Platz im Leben? Er hatte ihn doch längst gefunden. Ganz egal, was der Rest der Welt und des Himmels dachte: Er war ein Teil von ihr, vielleicht sogar mehr als alle anderen Kreaturen auf ihr – und war das nicht genug? Er war am Leben und sein Name Beweis, dass es jemanden gab, dem er etwas bedeutete. Er brauchte nicht die Erlaubnis anderer, auf dieser Erde zu wandeln, denn er besaß seine eigene Welt, die ihn, Goku, den Seiten Taisei, umgab.
 

***
 

Ein kühler Windstoß strich über seine Nase und Goku öffnete die Augen, nur um sie sogleich wieder zu schließen ob der gleißenden Sonnenstrahlen, die ihn begrüßten. Doch dann erkannte er seinen Fehler, denn was ihn blendete war das grelle Licht der Deckenlampe und die Sonne lediglich Sanzos goldener Haarschopf. Goku blickte eine Weile reglos zu ihm auf, während der Mönch und rechts und links von ihm Hakkai und Gojyo zurückstarrten.

"Wenn Sanzo die Sonne is'...", sagte Goku schließlich und verstummte kurz, den Kopf nach links drehend; "...dann is' Gojyo der Mond", er drehte den Kopf nach rechts, "und Hakkai das Firmament."

"Und was bist du? Goku?", fragte Hakkai.

Goku sah zu ihnen hinauf und lächelte.
 

Was mochte er wohl sein?



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