Atemzug von TommyGunArts (Grey Mr. Grey) ================================================================================ Die Welt um mich herum versinkt im Nebel. Es ist dieselbe dickflüssige Suppe, durch die ich erst kürzlich flüchten musste. Und außer ihr gibt es nichts. Nur mich, der inmitten dieser weißen Leere steht, nicht wissend, wo er sich befindet. Ich gehe ein Stück, darauf hoffend, auf einen Anhaltspunkt zu stoßen. Auf etwas, das mir zeigt wo ich bin. Aber soweit mich meine Füße auch tragen, ich treffe weder auf Gemäuer, noch auf Bäume oder einen Fluss. Ich versuche das Weiß mit den Augen zu durchdringen, doch der Nebel denkt gar nicht daran, sich für mich zu lichten. Stattdessen scheint er sich nur noch mehr zusammenzuziehen, sich dicht an dicht zu kuscheln, wie weiße Kaninchen an kalten Wintertagen. Plötzlich vernehme ich ein Geräusch. Es ist leise, doch ich brauche nicht lange, um zu erkennen, dass es sich um Schritte handelt. Tapp, tapp. Ich schließe auf nackte Füße, die über rauen Boden huschen. Langsam. Aber sicher und gezielt. Der Gang der Person muss aufrecht und selbstbewusst sein. Kein Schlurfen, kein Humpeln, kein nervöses Tippeln. Tapp, tapp, tapp. Immer im Selben Rhythmus. Die Schritte kommen näher. Aufmerksam spitze ich die Ohren und nehme instinktiv eine Angriffsstellung ein. Ich drehe mich um die eigene Achse, darauf wartend, dass jeden Moment jemand aus dem Nebel tritt. Doch noch ist es ruhig. Tapp, tapp, tipp, tapp, tapp. Zu den ersten Schritten gesellen sich plötzlich zweite. Dann dritte und vierte. Es scheinen sich immer mehr Personen in meine Richtung zu bewegen. Es herrscht ein reges Getrappel. Unterschiedliche Füße und Gangarten vereinen sich, werden eins auf ihrem Weg zu mir. Und nun sehe ich die erste Gestalt aus dem Nebel schlüpfen. »Cip?«, frage ich erstaunt, als ich meinen Ex-Partner erkenne. Dieser hält sich den verbliebenen Arm an den Bauch und vermeidet somit, dass seine Eingeweide aus der riesigen Wunde fallen, die sich in einem langen Schnitt über den Bauch zieht. Er sieht erst an sich herunter, dann zu mir. »Rette mich«, flüstert er, sodass ich Schwierigkeiten habe, ihn bei dem Getrappel zu verstehen. Ich will zu ihm gehen, ihm helfen, tun, worum er gebeten hat und ihn retten, doch da hält mich etwas zurück. Eine kalte Hand legt sich mir auf die Schultern. Ich drehe mich um und sehe Vail, dem noch das Ende eines abgebrochenen Pfeils aus der Brust lugt. »Rette mich«, fleht auch er, während er auf die Knie sinkt. Von überall her strömen Menschen. Sie sammeln sich um mich herum und bitten mich, sie zu retten. Ich sehe die beiden Wachleute, die mir im Gefängnis begegnet waren und die jetzt nach meiner Hilfe verlangen. Ich sehe meinen Vater und meine Mutter und das kleine Mädchen – jetzt eine Frau – in das ich als Junge so unsterblich verliebt gewesen war. Ich sehe Weiber und Männer, Kinder und Jugendliche, Menschen, Elfen, Orks und Riesen, die im Chor zu singen scheinen. Fordernd, bittend, flehend, weinend. Es klingt, als würde die ganze Welt nach mir rufen. Nach mir, dem wahrscheinlich einzigen Menschen, der sie nicht retten kann. Ein ohrenbetäubender Knall ertönt und schlagartig verstummt die Menge. Zurück bleibt Stille, die nur von einem leisen tapp, tapp durchbrochen wird. Es ist dieselbe Person, die ich auch als erstes gehört habe. Der gleiche feste Gang. Aus dem Augenwinkel bemerke ich ebendiese Person, die sich aus der erstarrten Gruppe schält. Sie geht direkt auf mich zu und bleibt erst stehen, als nur noch drei Fuß Abstand zwischen uns bestehen – oder sollte ich besser sagen mir? Denn der Herr ist niemand anderes als ich selbst. Er hat meine grünen Augen, meine schmalen Lippen, meine Narbe am Auge, meine hohen Wangenknochen und meine pechschwarzen Bastardhaare. Er ist eine exakte Nachahmung meines ganzen verdammten Körpers. Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich will etwas sagen, will erkennen, dass dies nur eine meiner Sinnestäuschungen ist. Aber der andere löst sich nicht in Luft auf. Stattdessen lächelt er mir abwertend entgegen. Dann schaut er fasziniert auf seine Hand, in der ein Messer liegt. Ich weiche zurück, alle Muskeln angespannt und zum Kampf bereit. Mein Zwilling klimpert traurig mit den Augen und macht einen Schmollmund. Dann fragt er in übertrieben weinerlichem Ton: »Du glaubst doch nicht, ich würde dir etwas antun?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antworte ich ehrlich und entferne mich noch weiter, weil ich mir Angst mache. »Tzzz«, macht er und schüttelt ungläubig den Kopf. Ich stelle fest, dass in seiner Stimme ein dämonischer Unterton reift. »Du solltest nicht so schlecht von mir denken. Ich bin lediglich gekommen, um dir etwas zu sagen.« Ich sehe ihn fragend an. »Was willst du mir sagen?« Jetzt umfasst er das Messer mit beiden Händen und hält es mir drohend entgegen. »Rette mich!«, wispert er breit grinsend, dreht die Waffe, sodass die Spitze auf seine eigene Brust zeigt und sticht zu. Mir entgleiten die Gesichtszüge, als ich sehe, wie mein Spiegelbild sich selbst ermordet. Es geht alles so schnell, ich habe keine Chance zu reagieren. »Was zum H-«, beginne ich, kann den Satz aber nicht vollenden, weil statt Worten nur Gurgeln meinen Mund verlässt. Und dann ist da diese Wärme, die sich in meiner Brust sammelt. Die so wohlig in meiner Kehle brennt, wie ein harter Schnaps. Als ich mit den Fingern danach taste, treffen diese auf einen warmen Glibber. Eine organische Masse, aus der stetig Flüssigkeit suppt. Ich schiebe meine Finger tiefer hinein in das kleine Loch in meiner Brust, aus dem diese wundervolle Wärme kommt. Und es fühlt sich an, als würde man die Hand in den aufgeschnittenen Leib eines toten Tieres stecken. Mir wird schwindelig, also ziehe ich die Hand zurück. Ich schaue auf sie hinab, sehe das davon perlende Blut, das leise zu Boden tropft und das ewige Weiß besudelt. Dann halten mich meine Beide nicht mehr. Sie knicken einfach weg. Lassen mich neben die Blutstropfen fallen. Mein Spiegelbild, das nur ein paar Fuß von mir entfernt halb aufrecht sitzt, lächelt noch immer. Es zieht sich langsam das Messer aus der Brust. Ich keuche, weil ich es genau spüre. Die anfängliche Wärme weicht einer Eiseskälte, die mir die Beine hinaufkriecht, sich festbeißt und eine Decke aus Frost über mich legt. Mein Leben sickert aus mir heraus, formt sich rund in einer tiefdunklen Lache um meinen sterbenden Körper. Und das letzte, was ich sehe, ist das hämisch grinsende Gesicht meiner Selbst.   *** Ich schlug die Augen auf und erblickte nichts, als nackte Finsternis. Das genaue Gegenteil des alles verschlingenden Weißes, in das die Umgebung noch vor wenigen Augenblicken getaucht war. Mit dem schmutzigen Mantelärmel wischte ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Meine Brust hob und senkte sich, als hätte ich an einem Wettlauf teilgenommen. Ich hatte geträumt, das wusste ich. Und doch war mir dieser Traum so real, so grauenvoll echt vorgekommen, dass ich den Schmerz in der Brust noch immer spürte. Vorsichthalber tastete ich sie ab, fand aber keinerlei Verletzung. Dennoch saß mir der Schreck tief in den Knochen. Die gefräßige Dunkelheit hatte sich über alles Licht hergemacht, es spielerisch verschluckt, als sei es eine bunte Murmel, die Kinder sich so gerne in den Mund schieben. Die Tatsache, dass ich absolut nichts sehen konnte, half mir nicht gerade, mich zu beruhigen. Stattdessen schürte sie mein Unbehagen und brachte es zum Lodern, als ich ein Geräusch vernahm. War das gerade ein Knacken? Ich hielt die Luft an und lauschte in die Stille. Außer dem hämmernden Lärm meines Herzens konnte ich keinen Laut vernehmen. Vorsichtig setzte ich mich auf, peinlichst genau darauf achtend, lautlos zu handeln. Gewohnheitsmäßig suchte ich in der Manteltasche nach dem Traumpulver, um dieses Grauen besser ertragen zu können, wurde aber nur schmerzlich daran erinnert, dass ich es im Kerker vergessen hatte. Ich tastete über den Boden. Der Stein war kalt und glatt, aber trocken. Plötzlich glitten meine Finger über etwas Haariges, etwas, das sich zitternd bewegte. Blitzartig zog ich die Hand zurück und schloss sie stattdessen um die Kette, die zwar nicht den Rausch des Traumpulvers ersetzte, aber zumindest etwas Trost spendete. Was hatte mein Bruder früher immer gesagt, wenn wir darüber nachdachten, in den nachtschwarzen Zimmern alter Häuser eine Kerze zu entzünden? »Glaubst du, du willst sehen, was die Dunkelheit so krampfhaft versucht vor dir zu verbergen?« Wollte ich das? Schließlich lagen manche Dinge nicht ohne Grund versteckt im Dunkeln. Trotzdem hätte ich in meiner derzeitigen Lage eine Kerze entflammt und die Finsternis mit ihrem Licht vertrieben, ganz einfach aus dem Grund, dass mir die Ungewissheit weit mehr Angst einjagte als alles, was ich bei Helligkeit hätte erblicken können. Nur hatte ich keine Kerze. Und auch nichts, womit ich sie hätte anzünden können. Eigentlich hatte ich gar nichts, abgesehen von meiner Kleidung und einem rasenden Herzen, das sich um nichts in der Welt beruhigen wollte. Und natürlich der Kette, die mir hier aber so wenig nützte, wie eine Salatgurke im Kampf gegen eine Horde Riesen. Dennoch klammerte ich mich an sie, als sei sie der rettende Felsvorsprung, der mich vor dem endlosen Fall in die Tiefe schütze. Als sei sie der letzte Funken Wahrheit in einer Welt voller Lügen. Ich saß noch einige Augenblicke still und reglos da, mich an längst vergessene Zeiten zurückerinnernd, die so verschwommen und unklar waren, als hätte ich sie nur geträumt. Zeiten, die so unbeschwerlich und einmalig gewesen waren und die dich letzten Endes nur zu der Erkenntnis treiben, dass sie für immer verloren sind. Da waren diese Bilder von schönen Sommertagen, an denen ich als Kind am Fluss spielte. An denen ich versuchte, die Fische mit bloßen Händen zu fangen, was mir nur selten gelang. Die kleinen Biester waren einfach zu glitschig gewesen, als dass ich sie hätte festhalten können. Ich erinnerte mich an Momente, an denen die Sonnenstrahlen wohlig warm auf meine Haut trafen und an denen ich noch spüren konnte, wie sie mich mit neuer Kraft beschenkten. Tage, an denen ich das Leben gespürt hatte. Es waren die kleinen Dinge gewesen, die mich damals so glücklich gemacht hatten. Die kleinen Dinge, für die ich mit der Zeit den Blick verloren hatte. Schweren Herzens ließ ich die Vergangenheit ruhen und konzentrierte mich wieder auf meine derzeitige Lage, die mindestens genauso unvorteilhaft war, wie die dreißig anderen Schlamassel davor. Da mir nichts Besseres einfiel, krabbelte ich auf allen Vieren über den Boden, mit der Hand blind vor mir hertastend. Als erstes stieß ich auf eine Wand. Ich strich an ihrer aalglatten Fassade entlang und folgte ihr, wie dem roten Faden in einer Geschichte. Dabei huschte etwas über meinen Handrücken und hinterließ darauf eine dicke Schleimspur. Angewidert wischte ich diese am Mantel ab. Als nächstes stieß mein Tastorgan auf etwas großes Kaltes. Ich strich vorsichtig über die weiche und glatte Oberfläche, die mich ein wenig an Papier erinnerte. Wären da nicht die vielen Höhen und Tiefen gewesen, so hätte ich es tatsächlich für Papier gehalten. Aber so wusste ich sofort, dass es sich um ein Gesicht handelte, als ich mit den Fingern die beiden Augen und die Nase passierte. Ich erstarrte. »Vail?«, wisperte ich. Doch ich erhielt keine Antwort. Ich überlegte kurz, ob ich es darauf anlegen sollte, das Wesen vor mir zu wecken und womöglich herauszufinden, dass es sich nicht um den Assassinen handelte, oder ob ich mich klammheimlich davon machen und das Geschöpf schlafen lassen sollte. Ich war ein vorsichtiger Mensch, deshalb wählte ich die zweite Option. Leider war ich nicht nur vorsichtig, sondern auch tollpatschig. Und weil ich in der letzten Zeit ohnehin viel Pech hatte, wunderte es mich nicht, dass folgendes geschah: Ich fasste mit der rechten Hand, mit der ich mich beim Rückwärtskriechen abstützend wollte, in eine Schleimspur, die die Tiere in diesem Tunnel nur allzu gern hinterließen. Die Hand rutschte weg und ich krachte mit dem Rücken zu Boden. Dabei verlor ich die Kontrolle über meine Beine, die sich nun eifrig daran machten, dem Schlafenden einen deftigen Tritt in die Seite zu verpassen. Der Schlafende schlief nicht mehr. Das wusste ich spätestens, als zwei Hände aus der Dunkelheit schossen. Die eine schloss sich fest um meine Kehle. Giftgrüne Funken umspielten die andere, die der Angreifer auf den eigenen Oberarm presste. Das giftige Licht durchfuhr seinen Arm und erreichte dann seine Finger, die meinen Hals in einer tödlichen Umarmung umschlossen. Das Grün sprang auf mich über, trat in meine Adern und breitete sich vom Hals über meinen gesamten Leib aus. Es floss, begleitet mit stechenden Schmerzen, durch meine Brust, den Bauch, die Beine, hinab zu den Zehen und schließlich hinauf zu den weit aufgerissenen Augen. Mein Inneres brannte. Brannte aus. Verwandelte sich in einen Haufen Asche. Im hellgrünen Schein erkannte ich Vail, der diese vernichtende Magie durch meinen schreienden Körper jagte. Als unsere Blicke sich trafen, stoppte er seinen Zauber und überließ meine leergebrannte Hülle ihrem Zusammenbruch. Das Grün erlosch und um mich herum wurde es wieder schwarz. Schwärzer noch als jede mondlose Nacht.   Einige Augenblicke später war der Tunnel wieder in eisblaues Licht getaucht. Ich lag nicht am Boden, wie ich es vermutet hatte, sondern stand sogar relativ fest auf beiden Beinen. Ungläubig sah ich an mir herab, davon ausgehend, nur noch ein Häufchen Staub zu erblicken. Aber entgegen all meinen Erwartungen war ich unversehrt. »Alles in Ordnung?« Vail musterte mich besorgt, konnte aber, genau wie ich, keine äußeren Verletzungen erkennen. Verwirrt drehte ich mich im Kreis. Dabei entfuhr meiner Kehle ein hysterisches Lachen, das deutlich zeigte, wie kurz ich davor stand, das letzte bisschen Verstand zu verlieren. »Ich bin ok«, sagte ich, ging ein paar Schritte den Tunnel entlang und wiederholte es noch einmal. »Tut mir leid, wenn ich dir nicht glauben kann, Grey, aber dieser Zauber-« Ich unterbrach ihn, indem ich mich ruckartig umdrehte, ihn am Kragen packte und anschrie: »ICH FÜHLE MICH PRÄCHTIG!« Aber das war gelogen. Wenn mein Körper auch wiedererwartend unversehrt geblieben war, so war zumindest ein Teil meiner Seele zersplittert. Gevatter Tod lauerte hinter jeder Ecke auf mich und es war schwer, ihm jedes Mal aufs Neue entgegen zu treten. Ich wusste nicht, ob ich beim nächsten Zusammentreffen noch genug Kraft haben würde, um ihn erneut zu besiegen. Früher oder später würde er den Kampf gewinnen, da war ich mir sicher. Vail begegnete mir ruhig. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und riet mir, mich zu setzen. Und als ich erst einmal saß, den Kopf an die glatte Wand gelehnt, da wanderte meine Hand in die Manteltasche und suchte nach dem Traumpulver, das mir so sehr fehlte. »Ich kann das nicht«, keuchte ich verzweifelt. »Dieser Tunnel führt direkt nach Fyr«, antwortete der Assassine, nicht weiter auf mein Selbstmitleid achtend. »Die Stadt ist klein, liegt im Norden des Königreichs und bietet Einlass für jedermann. Wir werden dort in drei Tagen eintreffen und fürs erste bist du dort sicher.« »Fürs erste!«, höhnte ich. »Und was dann?« Vail zuckte die Schultern und entgegnete: »Im Weglaufen bist du ziemlich gut.« Das bitterste an dieser Aussage war, dass sie wahr war. Mein ganzes Leben lief ich schon davon. Immer dann, wenn es schwierig wurde. Ich hatte noch nie den Mut gehabt, mich mit ernsthaften Problemen auseinander zu setzen. Und vermutlich würde sich daran auch nichts ändern. »In Fyr werden wir auf ein paar Freunde von mir stoßen. Gemeinsam finden wir schön eine Lösung.« Vail war zuversichtlich. Ich  nicht. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich schlaff am Galgen hing. Und ich fragte mich, ob das nicht besser und vielleicht sogar einfacher wäre, als diese wirre Flucht, die mich womöglich auf ewig begleiten würde. Es war nur so: Ich liebte das Leben, mit all seinen Facetten, seinen Farben, seinen Schönheiten, seinen Tränen und seiner Heuchelei, mit all seiner Verzweiflung, seinen grausamen Wundern und seiner Angst. Mit den vielen schwarzen Tagen, seiner ganzen Lustlosigkeit, seinem Hass und seiner Zerrissenheit. Und vor allem liebte ich seine unerfüllten Wünsche und all die wunderschönen Träumen, die einem das Leben belustigt unter die Nase hält, weil es weiß, dass du sie nicht wahrmachen kannst. »In Ordnung«, willigte schließlich ein. » Gehen wir nach Fyr.« So erhob ich mich und wir gingen schweigend weiter. Vail schlenderte voraus, doch mir entgingen die besorgten Blicke nicht, mit denen er immer mal wieder zu mir zurücksah. Der Tunnel wurde immer schmaler. Und jedes Mal wenn ich dachte, wenn es noch schmaler wird, dann bleiben wir stecken, mussten wir uns durch einen noch engeren Abschnitt zwängen. Irgendwann war auch die Decke so niedrig, dass wir kriechen mussten. Und erst, als meine Knie aufgeschürft waren und meine Ellenbogen bluteten, wurde der Gang wieder breiter. Wir waren lange unterwegs. Insgesamt hatten wir fünf Pausen eingelegt (wenn ich richtig gezählt hatte) und zwei Mal geschlafen. Solange wir gingen fiel es mir nicht auf, aber sobald ich mich hinlegte und versuchte zu schlafen, da begann die Kälte, die hier unten herrschte, meine Knochen zu zerfressen. Wäre Vails Umhang nicht gewesen, von dem ich nicht weiß, wo er ihn mitgeführt hatte, denn gesehen hatte ich ihn bis dato nicht, dann wäre ich bitterlich erfroren. Ich hatte das Zeitgefühl völlig verloren, aber es kam mir vor, als steckten wir schon mehrere Wochen in diesem Gang. Zu essen hatten wir nur ein bisschen Pökelfleisch, das Vail irgendwo in den Tiefen seiner Beutel mit sich trug. Und allmählich wurde das Wasser knapp. Doch das schlimmste war, das dieser elende Tunnel kein Ende zu haben schien. Es war, als würden wir uns kein Stück fortbewegen. Das Plappermaul hatte die meiste Zeit über den Mund gehalten und sich zusammengerissen, doch spätestens jetzt konnte er nicht mehr an sich halten und meinte möglichst beiläufig: »Dieser Zauber von mir …« »Schmerzhaft!«, fasste ich diese Erfahrung in einem Wort zusammen und bat ihn, diesen nicht noch einmal an mir zu testen. »Nun ja, es ist nur so«, druckste er und verlangsamte seinen Gang (zu meinem Glück, denn ich war ziemlich aus der Puste), »ebendieser Zauber hätte dich töten müssen. Nicht, dass ich dich töten wollte, versteh das nicht falsch, aber diese Magie … die überlebt man normalerweise nicht.« Jetzt wurde ich hellhörig. »Es ist ein Angiffszauber, der jede noch so kleine Zelle deinerseits hätte töten müssen und-« »-und doch bin ich am Leben«, vollendete ich. Ich verstand nicht ganz, was hier vor sich ging. »Wie hat es sich angefühlt?«, wollte der Meuchelmörder wissen. Inzwischen ging ich dicht hinter ihm. »Es war …« Ich überlegte kurz. »Es war, als würde ich brennen«, kam ich dann zu dem einzig ehrlichen Ergebnis, denn nur dieses Feuer in mir war in meinem Gedächtnis geblieben. Vail nickte nachdenklich. Dann blieb er abrupt stehen, drehte sich zu mir um und fragte: »Wie konntest du überleben?« Ich zuckte die Achseln. »Du bist der Magieexperte, nicht ich! Eigentlich müsstest du mir das erklären können.« »Nun«, begann er zögerlich, »vielleicht kann ein Teil von dir Magie absorbieren? Der Zauber scheint dich zumindest nicht gänzlich getroffen zu haben, denn dann wären von dir nur noch ein paar Zähne übrig.« »Ein Teil von mir?«, fragte ich mit spöttischem Unterton. Er hob unwissend die Arme, drehte sich um und ging wieder ein paar Schritte voraus. »Es war nur eine Vermutung. Wahrscheinlich irre ich ohnehin.« Daraufhin schwiegen wir wieder. Doch die Stille wurde jäh von einem ohrenbetäubenden Knall durchtrennt, auf den ein langatmiges Zischen folgte. Ich warf Vail einen fragenden Blick zu. »Ich will dich nicht beunruhigen, Grey«, sagte dieser, »aber ich rate dir: Lauf!« Ohne zu zögern setzte ich meine klapprige Gestalt in Bewegung und versuchte mit dem agilen Meuchelmörder mitzuhalten, der mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit voranpreschte. Nach den ersten dreihundert Fuß setzten die Seitenstiche ein. Im Anschluss daran bildete sich Schweiß auf meiner Stirn, der einen riesen Spaß daran zu haben schien, mir in die Augen zu laufen und darin zu brennen wie verrückt. »Was … ist … das?«, keuchte ich so laut ich konnte, um das Krachen, das von weit hinter uns kam, zu übertönen. Nach jedem Wort musste ich eine kurze Atempause einlegen. Vail hatte damit keinerlei Schwierigkeiten. »Um es kurz zu sagen: Ich weiß es nicht. Aber es klingt gar nicht gut.« Diesen Eindruck hatte ich auch. Der Boden hatte zu beben begonnen und das Rauschen wurde stetig lauter. Das konnte nur bedeuten, dass das, was auch immer sich da auf uns zu bewegte, schnell näher kam. Und dann beging ich den dümmsten aller Fehler: Ich sah zurück. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich erkannte, was da auf uns zukam. Ich spürte die Hitze lange bevor ich das flammende Inferno sah, das sich durch die Enge presste. Es verwandelte alles Leben, das es wagte, sich in seinen Weg zu stellen skrupellos in Asche. Das Feuer war gefräßig. Es verschlang das blaue Licht an den Wänden und hüllte alles in seinen gefährlichen Schein. Dieser Anblick fesselte mich, ließ meine Füße mit dem Boden verschmelzen und machte es mir schwer, mich davon loszureißen und weiter zu laufen. Doch es gelang mir. Ich rannte mir die Seele aus dem Leib. Rannte, als gäbe es ein Entkommen aus dieser ausweglosen Situation. Rannte, obwohl ich wusste, dass ich nicht schnell genug sein würde. War dies die nächste Begegnung mit Gevatter Tod, an die ich erst vor kurzem noch gedacht hatte? Auch Vail hatte erkannt, dass wir nicht schnell genug sein würden. Er war stehen geblieben und starrte hinauf zur hohen Decke, gegen die er nun beide Hände erhob. Zunächst glühten seine Fingerkuppen schwach, doch dann schoss ein grellblauer Strahl nach Oben und bohrte innerhalb weniger Augenblicke ein Loch hinein. Erstes Tageslicht strömte durch einen kleinen Spalt, der sich zunehmend vergrößerte. »An meinem Gürtel sind zwei Beutel, siehst du die?«, fragte Vail, als ich neben ihm stehen blieb. Ich nickte heftig, bemerkte dann, dass er meine Reaktion nicht sah, weil er sich voll und ganz auf die Decke konzentrierte und bejahe. »In dem Oberen findest du vier silberne Plättchen. Die kannst du dir jeweils an Hände und Füße kleben und damit die die Wand hochklettern.« Gesagt getan. Ich durchwühlte hektisch den Beutelinhalt und fand, was ich suchte. Die Plättchen waren kreisrund und etwa haselnussgroß. Als ich sie auf die Hände legte, verwuchsen sie mit dem Fleisch und bildeten dann dünne, klebrige Fäden, die sich bis zu den Fingerkuppen erstreckten. Selbiges geschah auch mit den Stiefeln. Für das Ankleben hatte ich kaum mehr als die Dauer eines Wimpernschlags gebraucht. In Stresssituationen war ich noch immer am besten. Gerade setze ich zum Klettern an, da erreichte uns das Inferno. Seine Hitze war schier unerträglich. Trotz des Schildes, den Vail erschaffen hatte, konnte ich spüren, wie die Haare an meinen Armen verglühten. Ich nutze die Chance, die der Assassine mir bot und kletterte um mein Leben. Das Loch war nicht breit, aber meine ausgemergelte Gestalt passte mühelos hindurch. Schweißgebadet fand ich mich auf einer sonnenbeschienenen grünen Wiese wieder. Erleichtert ließ ich mich auf den samtenen Rasen fallen, der so weich war, dass ich mich am liebsten darin eingekuschelt hätte. Aber Vail war noch unter der Erde und kämpfte gegen die mordlustigen Flammen. Ein kurzer Blick durch das Loch genügte, um mir des Geschehens bewusst zu werden und zu reagieren. Ich entfernte die Plättchen von Handflächen und Füßen und warf sie zu dem Magier hinunter, der schon versuchte, die glatte Fassade ohne Hilfsmittel zu erklimmen. Der Schild flackerte bedrohlich unter der Marter des Feuerballs, hielt aber stand. Das ermöglichte Vail die rettende Zeit, die er brauchte, um sicher nach oben zu gelangen. Das letzte Stück zog ich ihn hinauf. Er setzte sich zu mir ins Gras und sah mich mit müden Augen an. Auch er konnte seine Anstrengung nun nicht mehr verbergen. Da war der Assassine doch glatt an seine Grenzen gestoßen. »Danke«, sagte er, als mit einem krachenden Geräusch der Schild zerbarst. Eine kleine Feuersäule schoss aus dem Loch empor und versengte die Grashalme im nahen Umfeld. Ausgelaugt legten wir uns auf den weichen Rasen, den Blick auf den wolkenlosen Himmel gerichtet und blieben eine Weile so liegen. Dann zogen wir weiter. Hosted by Animexx e.V. 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