Leben lassen von Ixtli (Sommerwichteln '12 für -Pan) ================================================================================ Kapitel 1: Alle Flüsse münden ins Meer -------------------------------------- Machis Blicke waren auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne, noch weit hinter die letzte Biegung der Straße, geheftet, während sie mit angehaltenem Atem dem stetigen Rauschen lauschte, das dumpf an ihr linkes Ohr drang. Ihr Mund öffnete sich leicht, als wolle sie etwas sagen, schloss sich dann aber wieder, ohne ein Wort hervorgebracht zu haben. So etwas hatte sie noch nie gehört. Etwas Ähnliches vielleicht - den Regen etwa, wenn er im Herbst auf das Dach ihres Häuschens prasselte, aber selbst der war eintönig im Gegensatz zu dem rhythmischen Rauschen. Es klang ein wenig wie im auf- und abebbenden Wind wispernde Blätter oder wie die großen Weizenfelder, wenn im Sommer die Luft darüber hinweg wehte und die langen Ähren in Bewegung versetzte. "Was ist das?" Machis Stimme war nicht mehr als ein ehrfürchtiges Flüstern. "Das Meer", antwortete die Frau in der zerlumpten Kleidung unkonzentriert, während sie versuchte, das älteste ihrer beiden Kinder zu trösten, das sich gerade die Knie auf der Straße blutig gefallen hatte, und gleichzeitig den quengelnden Säugling auf ihrem Arm zu beruhigen. "Wollen Sie sie nun kaufen, oder nicht?", fügte sie ungehalten hinzu. "Ich habe Besseres zu tun, als hier auf der Straße herumzustehen..." Was natürlich nicht stimmte. Machi ignorierte die Frau vor sich, die ihrem immer noch brüllenden Kind in der Hoffnung, es endlich zum Schweigen zu bringen, eine Kopfnuss gab, woraufhin es allerdings nur noch lauter weinte. Machi presste die Muschel etwas fester gegen ihr Ohr und bedeckte ihr anderes mit ihrer freien Hand, so dass das Weinen des Kindes und das Schimpfen seiner Mutter nur noch gedämpft bis zu ihr hindurch drangen, und dachte nach. Das Rauschen, von dem die Fremde gesagt hatte, es sei das Meer, das sie hörte, war beruhigend. Manji würde sich darüber sicher mehr freuen, als über getrockneten Fisch. Und eigentlich war es fast das gleiche, denn schließlich kamen die Muscheln ebenso wie die Fische aus dem Meer. "Wie viel?", fragte Machi schließlich. "Wie viel habt Ihr denn?" Machi zeigte der Frau die Münzen, die ihr Bruder ihr heute morgen gegeben hatte, damit sie ihnen Essen auf dem Markt kaufen konnte. "Mehr habe ich nicht", entschuldigte sich Machi, die fürchtete, dass die Fremde ihr nun die Muschel entreißen würde. Doch als diese die Münzen in der ausgestreckten Hand ihres Gegenübers sah, die weit mehr wert waren, als sämtliche Muscheln, die in dem Korb neben ihr lagen, ließ die Frau augenblicklich von ihrer heulenden Brut ab und wandte sich mit einem breiter werdenden Lächeln Machi zu. Ihre Hand schoss flink nach vorne und noch ehe Machi zwei Mal blinzeln konnte, war ihre eigene Handfläche leer. "Das dürfte gerade so reichen." Die Frau steckte die Münzen hastig ein und ließ Machi dabei keine Sekunde aus den Augen, als erwartete sie, dass diese sich besann und das Geld wieder zurückfordern würde. "Vielen Dank, gute Frau." Machi verbeugte sich leicht vor der Frau, die sie irritiert ansah. Es war das erste Mal, dass ihr jemand eine ihrer Muscheln, die eigentlich nur nutzloser Abfall waren, der sich in den Fischernetzen verfing und mit an Land gezogen wurde, so bereitwillig abgekauft hatte, statt sie unter Androhung von Prügel wegzujagen. Und überhaupt war es das erste Mal, dass sich jemand vor ihr verbeugte. Vor ihr! 'Seltsames Mädchen', dachte die Frau und sah ihrer einzigen Kundin nach, die, die Muschel noch immer gegen ihr linkes Ohr gepresst, die Straße hinab schlenderte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Kleine, der seine blutenden Knie beim Anblick seiner verdutzt schweigenden Mutter vergessen haben musste, hörte endlich auf zu weinen. Er wischte sich mit dem Unterarm die Tränen aus seinen roten verquollenen Augen und verteilte mit einer zweiten Armbewegung die feucht glänzende Spur unter seiner Nase, so dass sie sich nun silbrig schimmernd quer über seine Wange zog. "Ich habe Hunger", murmelte er mit ersticktem Stimmchen und hoffte auf Verständnis. "Das hast du immer." Die nächste Kopfnuss traf das Köpfchen mit dem kurzgeschorenen Haar und zeitgleich setzte das Heulen wieder ein. Manji sagte überhaupt nichts zu der alabasterfarbenen Muschel, die ihm die aufgeregte Machi gegen das Ohr presste. Er schien sich weder zu freuen noch zu ärgern, sondern saß einfach nur schweigend da und überhörte so gut es ging das Geplapper seiner Schwester, das wie von weither zu ihm drang, während er auf seinem Ohr, das von der Muschel bedeckt war, lediglich sein eigenes Blut rauschen hörte. Gerade erzählte Machi ihm etwas über Ähren, Regen und getrocknete Fische und Manji rätselte, worin der Zusammenhang bestehen könnte. Irgendwann stieß ihn Machi, die mitbekommen hatte, dass ihr Bruder ihr nicht zuhörte, gegen den Oberarm und Manji hob den Blick. Offensichtlich war er von dem Rauschen genauso beeindruckt wie sie. "Hörst du das? Das ist das Meer", belehrte Machi ihren Bruder, der ratlos ihre Blicke erwiderte. Machis Augen glänzten. Hoffentlich bekam sie kein Fieber, dachte Manji und kratzte sich am Kinn. "Wo ist der Fisch, den du kaufen solltest?" Seine Stimme war leise und beherrscht. Noch, denn er hegte noch immer die Hoffnung, nichts falsches getan zu haben, indem er ihr heute das erste Mal diese eigentlich leicht zu bewältigende Aufgabe, Essen zu kaufen, übertragen hatte. Machi, die neben Manji kniete, sank auf ihre Fersen zurück. Die Muschel ruhte auf ihrem Schoß. Vorsichtig strich Machi über die langen leicht gebogenen Zacken, die den Rand säumten. Sie sah aus wie ein gezwirbelter Turm mit spitzem Dach. Das Innere der spiralförmigen Muschel schimmerte perlmuttfarben, genauso wie ihr Äußeres, das lediglich ein klein wenig matter schien, was, wie Machi sich dachte, sicher damit zu tun hatte, dass die Muschel die ganze Zeit im Wasser gelegen hatte. Sie wusste, was mit Dingen geschah, die man draußen im Regen liegen ließ. Yaobikuni hatte es ihr erklärt, nachdem sie einmal vergessen hatte, das bunte Papier, das ihr die alte Frau geschenkt hatte, mit ins Haus zu nehmen. In jener Nacht hatte es zu regnen begonnen und dann hatte es für fast eine Woche nicht mehr aufgehört. Als ihr dann das Papier wieder eingefallen war, war nur noch ein kläglicher Fetzen davon übrig, der auseinanderfiel, sobald man ihn den Händen hielt, und die hübschen Farben waren allesamt verblasst. Welche Farbe die Muschel wohl einmal gehabt hatte, bevor das Salzwasser und der Sand ihr Äußeres gebleicht und abgeschliffen hatten? Machi drehte die Muschel um und hielt sie von allen Seiten gegen das wenige Licht, das in dem Häuschen herrschte, und suchte nach verbliebenen Farbresten. Manji wartete noch einige Augenblicke, bis er seine Frage nach dem Fisch wiederholte; langsam und dabei jedes Wort deutlich aussprechend. Machi schien völlig in Gedanken vertieft zu sein. Sie hatte den Kopf leicht geneigt und betrachtete weiterhin stumm die Muschel, die sie in ihren Händen hielt. "Ich mag Reis", murmelte Machi nach einer Weile leise. Manji, der geduldig auf diese ersten, wenn auch enttäuschenden Worte gewartet hatte, seufzte leise. "Ich mag auch Reis", erwiderte er seiner Schwester. "Am liebsten mag ich Reis, wenn Fisch dabei ist. Also-", Manji machte eine kurze Pause, "wo ist der Fisch, für den ich dir das Geld gegeben habe?" Machis Mund wurde zu zwei dünnen Strichen. "Das Geld hat nicht für den Fisch gereicht", sagte sie so leise, dass Manji sich vorbeugen musste, um auch alles zu verstehen. "Du hattest genügend Geld dabei, das selbst für-", Manji unterbrach sich. Seine Blicke fielen auf die weiße Muschel mit den gezackten Rändern in Machis Händen und er verstand plötzlich, weshalb seine Schwester auf seine Fragen nach dem Verbleib des Fisches und des Geldes nicht antwortete. "Du hast dieses Ding gekauft und..." Manji schwieg einen verblüfften Augenblick lang, ehe er weitersprechen konnte. "Und du hast alles dafür ausgegeben?" Machis Wangen überzog ein beschämter Rotton und ihre ohnehin schon schmal aufeinander gepressten Lippen schienen nun völlig verschwinden zu wollen. Doch endlich zeigte sie eine erste Regung auf die Fragen ihres Bruders. Sie nickte mit gesenktem Blick. Ihre klammen Finger umschlossen weiterhin unnachgiebig die Muschel und mit flachem Atem lauschte Machi in die unbehagliche Stille, die sich in ihrer Unterkunft ausgebreitet hatte. Alles, was sie zwischen den Strähnen ihres ins Gesicht gefallenen Haars hindurch von ihrem Bruder sehen konnte, waren seine Hände, die auf seinen Oberschenkeln ruhten und welche sich nun langsam zu Fäusten zu ballen begannen. Warum nur freute sich Manji nicht? Dabei war es eine so besondere Muschel, anders als die kleinen schwarzen, die man im Fluss zuhauf finden konnte, und die nach einer Weile zu stinken anfingen, weil ihre beiden Hälften sich nicht immer öffnen ließen. Diese hier roch salzig und auf irgendeine Weise war das Meeresrauschen in ihrem Inneren gefangen, so dass man nur das Ohr an die Öffnung halten musste, um es hören zu können. Aber all das schien Manji nicht zu interessieren. Machi war enttäuscht. Sie wünschte, Yaobikuni wäre hier. Sie würde sicher die richtigen Worte für ihre eigenen aufgeregten und verwirrten Gedanken finden, die sich einem Windrädchen gleich, das tapfer einem Orkan zu trotzen versuchte, in ihrem Kopf umherwirbelten. Die Zacken des weißen Kalkgehäuses stachen schmerzhaft in Machis Handflächen, als sie sie so fest um die Muschel schloss, dass es nicht mehr viel benötigte, bis die Schale in ihren Händen zerbrechen würde, wie das aufgeweichte Papier nach dem Regen. Manji saß noch immer da wie versteinert, doch in seinem Inneren brodelte es siedend heiß und er spürte, wie sich die Hitze langsam ihren Weg an die Oberfläche zu fressen begann. Ohne darüber nachzudenken schob sich seine Hand unter den Stoff seiner Kleidung. Seine zitternden Fingerspitzen tasteten fahrig nach dem einzig wirksamen Mittel, das jetzt noch in der Lage sein würde, die aufkochende Wut zu kühlen. Machi hob den Kopf, als der Schatten vor ihr in die Höhe schoss. Sie musste ihren Kopf weit in den Nacken legen, um aus ihrer knienden Position heraus die im Halbdunkeln blass schimmernde und narbenübersäte Gestalt sehen zu können, die in dem schlichten Raum wie ein deplatzierter Wachturm aufragte. Auf Manjis Stirn hatte sich eine steile Zornesfalte zwischen seinen Augen gebildet; eine unüberwindbare Felsspalte, die immer tiefer wurde, je bewusster ihm wurde, dass es nicht um den verdammten Fisch ging. Er musste denjenigen suchen, der seiner Schwester eine nutzlose Muschel für viel Geld verkauft hatte, das dazu gedacht war, sie ein bisschen am normalen Leben teilhaben zu lassen, weil er sich, wenn er ehrlich war, davor fürchtete, dass Machi tief in dem Labyrinth, in dem sie wegen ihm fest stach, irgendwie wusste oder ahnte, dass all das, was geschehen war, einzig die Schuld ihres Bruders war. Er würde diese Person finden und dann- "Manji, nicht!" Machi sprang auf, als Manji einen Schritt in Richtung Tür tat. Ihr Fuß verhedderte sich in dem Saum ihrer Yukata, deren Nähte warnend krachten, als die junge Frau ungeachtet dessen ihr Tun fortsetzte und gleich darauf, wenn auch mit verrutschter Kleidung, mit tapfer gehobenem Kinn vor ihrem Bruder stand, die Muschel sorgsam gegen die Brust gedrückt, als wäre es etwas, das es zu behüten galt. Manji, dessen Gedanken sich gerade alleine damit beschäftigten, auf welche Art er den Verantwortlichen wohl zur Rechenschaft ziehen würde, zuckte zusammen, als etwas in seine Brust stach. Er senkte die Blicke und sah die Muschel in Machis Händen, die zwischen ihnen wie eine Barriere fest stach. Machi hielt sie so beharrlich fest, als wolle sie sie beide damit durchbohren, und obwohl die Spitzen auch in ihre eigene Brust drückten, blieb sie stur stehen, ehe sie ihren Bruder auch nur einen weiteren Schritt machen ließ. "Sie hatte zwei kleine Kinder." Machi sprach zwar so leise, dass es fast schon ein Flüstern war, doch Manji verstand sie ohne Probleme. In dem Häuschen war es so still, dass das Knacken in dem nach einem langen sonnigen Tag langsam abkühlenden Holzgebälk das einzige wahrnehmbare Geräusch war. "Ich möchte das echte Meer hören." Machis Stimme klang einen Moment lang so klar, wie früher. Sie gab Manji die Muschel, der dafür die stoffumwickelten Griffe seiner Waffen loslassen musste. Etwas ratlos hielt er nun das längliche Kalkgebilde in seinen Händen. "Und ich möchte wissen, welche Farben die Muscheln dort haben." Manji sah auf seine Hände hinab. Aus der Öffnung der Muschel rieselten winzige Sandkörner und verteilten sich in den Furchen seiner Handflächen. Einige der Körnchen waren farblos, so dass man sie kaum erkennen konnte, und andere wiederum waren milchig trüb. Es gab welche, die so groß waren, dass man ihnen die Ähnlichkeit zu ihren riesigen Vettern ansah, deren Gipfel in den Wolken verschwanden, während andere so fein waren, dass der leichteste Windhauch sie mühelos davontragen konnte. Und keines glich dem anderen. "Gehen wir", sagte Manji plötzlich in die Stille hinein. Manji hatte gehofft, Machi mit seiner Überrumpelungstaktik zum Einlenken zu bringen, doch anstatt sich zu Hause auf den anbrechenden Abend vorzubereiten - und Reis ohne Fisch zu essen -, stapften sie beide nun Seite an Seite durch die Straßen, die sich langsam mit denjenigen zu füllen begannen, die sich am liebsten nur nach Einbruch der Dunkelheit zeigten. Er konnte sich ein bedauerndes Seufzen nicht verkneifen. Hätte er doch nur seinen Mund gehalten – angefangen bei der Frage nach dem Fisch... Er könnte die Ruhe in seiner Hütte genießen, ohne von seiner staunenden Schwester am Ärmel im Zickzack-Kurs durch die Straßen gezogen zu werden, weil sie sämtliche Verkaufsstände und Garküchen augenblicklich in den Bann zu ziehen begannen, als wäre es das erste Mal, dass sie so etwas sah. "Es ist spät, Machi, gehen wir nach Hause." Manji kam sich schlecht vor, während er sich tief im Innern wünschte, dass Machi seinen halbherzigen Versuch, sie noch vor dem Ende der Stadt zur Umkehr zu bewegen, befolgte. Doch falsch gedacht. Machi lachte hell auf. "Großer, dummer Bruder, wir können noch nicht nach Hause. Wir waren doch noch gar nicht am Meer!" Sie reckte sich und tätschelte Manjis Wange, als wäre er ein kleines Kind und nicht der erwachsene Mann, der er nun einmal war. Sie - tätschelte - seine - Wange..! Manji gab sich Mühe, diese Schmach so gut es ging zu ertragen. Er verdrehte lediglich die Augen und sparte sich die Rechtfertigung darüber, dass er sehr wohl noch im Besitz seines Verstandes war. Bedauerlicherweise schien auch der Verstand seiner Schwester in den unpassendsten Momenten noch bestens zu funktionieren, anders konnte er sich nicht erklären, weshalb sie es nicht schaffte, an so einfache Dinge zu denken wie daran, im Winter nicht barfuß herumzulaufen, aber auf der anderen Seite plötzlich nichts mehr vergaß, wenn es um ein nicht ganz ernst gemeintes Angebot ging, kurz vor Herbstbeginn noch durch die Gegend zu rennen, um sich das Meer anzugucken. Es war wohl einfach so und er kam nun nicht mehr aus dieser Sache heraus. Widerwillig folgte Manji seiner Schwester durch das Gedränge auf der Straße, das weiter zunahm, und betete dabei inständig, dass Machi irgendwann so müde wurde oder es zu regnen begann, so dass sie von ganz alleine wieder umkehren wollte. Sie hatten die Stadt schneller hinter sich gelassen, als es Manji lieb war. Weder die hereingebrochene Nacht, noch die Einsamkeit und Dunkelheit auf der Straße außerhalb, hatten Machi abschrecken können. Sie fand immer etwas, das sie – wie in der Stadt die Stände der Händler – bestaunen konnte und sei es nur ein im feuchten Gras am Wegesrand träge vor sich hin quakender Frosch. Der Mond war bereits vor einer Weile aufgegangen und stand nun genau über ihnen, als Machi endlich müde zu werden schien. Obwohl sie den ganzen Weg über lebhaft und aufgeregt neben ihrem Bruder einher geschlendert war und ihm von mindestens zehntausenden unterschiedlichen Dingen erzählt hatte, wurde sie nun immer stiller und langsamer, bis sie irgendwann ein paar Schritte hinter Manji zurückgefallen war, der fieberhaft darüber nachdachte, was er nun tun sollte. Er könnte Machi, wenn sie eingeschlafen war, einfach wieder zurück nach Hause tragen. Und wenn sie am nächsten Morgen wach wurde und sich noch an ihre Reise erinnern sollte, könnte er ihr sagen, dass sie das nur geträumt hatte. Er müsste nur die Muschel verschwinden lassen. Und Fisch kaufen. Und keine Miene verziehen, sobald Machi fragte. Und sie dann belügen. Und dann damit leben, dass es offensichtlich absolut in Ordnung war, sie zu belügen, so lange sie bei ihm war. Das schaffte er. Kleinigkeit. Er war ein solch lausiger Versager, dass er es gar nicht anders verdient hatte, als in einer versifften und nach altem Kohl stinkenden Herberge zu landen. Und für sein Vorhaben, seine Schwester zu belügen, schien es nur eine angemessene Strafe zu sein, nun hellwach dasitzen zu müssen und ihre schlafende Silhouette zu betrachten, die sich dunkel gegen das von draußen durch das dünne Papier der Wand schimmernde Mondlicht abhob. Er hatte Menschen an allen möglichen Stellen aufgeschlitzt und zerteilt, ohne es großartig bedauert zu haben, aber Machi diesen Wunsch abzuschlagen – selbst der bloße Gedanke daran – ließ ihn auf einmal nicht mehr einschlafen. War das nicht lächerlich? Manji stützte das Kinn auf seine Hand und wartete darauf, dass seine Müdigkeit ihn schließlich doch noch übermannen würde. "Warum folgen wir nicht dem Fluss?" Machi hatte sich bei ihrem Bruder untergehakt und blickte ihn erwartungsvoll an. "Yaobikuni sagt, dass alle Flüsse ins Meer münden." Manji wollte zuerst antworten, dass die alte Vettel das wahrscheinlich eher als Redensart gemeint hatte, statt damit genaue Wegbeschreibungen für eine Reise liefern zu wollen. Doch wie sollte er seiner Schwester, die, selbst wenn sie einen guten Tag hatte, noch nicht einmal darüber nachdachte, wie ihre Kleidung richtig herum angezogen werden musste, klarmachen, was eine Redensart war? "Machi, weißt du noch, was die Leute in der Stadt manchmal mit ihren Abfällen machen?" Manji spürte, wie Machis Griff um seinen Arm fester wurde und wusste sofort, dass er den richtigen Punkt getroffen hatte. Machi schüttelte sich in Erinnerung der in das fließende Wasser gekippten unaussprechlichen und zum Himmel stinkenden Sachen. In manchen Stadtvierteln war es besonders schlimm und gerade im Sommer, wenn die Sonne heiß herunter brannte, verbreiteten die Flüsse, die die Stadt wie Adern durchquerten, ihren säuerlichen Gestank von einem Viertel ins nächste. Und überall wurde noch etwas hinzu gekippt, so dass es dort, wo der Fluss die Stadt verließ, besonders schlimm war. "Willst du immer noch dem Fluss folgen?" Manji musste sich anstrengen, seinen Triumph nicht allzu deutlich zu zeigen. Da Machi weiter schwieg, machte er kurzerhand einen bedeutungsvollen Schlenker zum Fluss hin. "Nein, nein!" Machi krallte sich fest in seinen Arm und zog ihren Bruder schnell wieder in die entgegengesetzte Richtung. Mit einem breiten Grinsen auf seinen stoppeligen Wangen folgte Manji seiner Schwester, die sich für einen schattigen Weg entschieden hatte, der sich weit genug vom Fluss entfernt am Rande eines Feldes entlang schlängelte. Machi hatte schon vor einer ganzen Weile mit dem Plappern aufgehört, doch Manji hatte keine Zeit, einen Gedanken daran zu verschwenden. Von Machi unbemerkt, die neben ihm herging und fasziniert das Spiel aus Sonnenlicht und Baumschatten auf der Muschel in ihrer Hand beobachtete, drehte er sich immer mal wieder in die Richtung um, aus der sie gekommen waren. Etwas saß ihm sprichwörtlich im Nacken und es war nicht nur das flaue Gefühl, in Begleitung seiner Schwester ein besonders einfaches Ziel für alles zu bieten, was sich außerhalb des Weges aufhielt und nur auf zwei scheinbar Reisende zu warten schien. Manji sah nachdenklich auf seine arglos an seiner Seite wandernden Schwester, die, als sie seine Blicke bemerkte, die Muschel hochhielt auf der die Schatten der Bäume tanzten, unter denen sie gerade gingen. "Schau mal, Manji, sieht das nicht schön aus?" Manji lächelte matt. Manchmal fragte er sich, wie seine Schwester all das wohl wahrnahm. Für ihn war es bloß eine nutzlose Muschel, selbst wenn Schatten darauf fielen oder das Licht sich in dem glänzenden Perlmuttinneren spiegelte. Es blieb eine Muschel. Nur für Machi schien es mehr zu sein und ein kleines bisschen beneidete er sie um ihre Gabe, etwas in den Dingen um sie herum erkennen zu können, was ihm für immer verborgen bleiben würde. Es machte ihr so vieles einfacher, was in Wirklichkeit unerträglich war. Die zweite Nacht verbrachten sie unter freiem Himmel. Manjis Vorschlag, den Weg am Fluss zu meiden, hatte sie weit weg von irgendwelchen Herbergen verschlagen und so hatten sie sich einen Platz etwas abseits des schmalen Pfades gesucht, der nicht sofort einzusehen war. Sollte seine Befürchtung, verfolgt zu werden, stimmen, boten sie immerhin nicht das leichteste Angriffsziel. Auch Machi war an diesem Abend unruhiger als sonst. Sie hatte lange gebraucht, bis sie endlich eingeschlafen war und hatte dabei ihren Bruder mit unzähligen Fragen gelöchert. Jetzt lag sie neben ihm, so dicht an seine Seite gedrängt, dass er ihr ruhiges Atmen hören konnte. Die Muschel hielt sie mit beiden Händen fest. Zwischen ihren Fingern ragten die Zacken wie Stacheln eines riesigen Insekts hervor. Vorsichtig löste Manji die stachelige Muschel aus den Händen seiner schlafenden Schwester und legte sie neben sich ins Gras. Die meisten von Machis Fragen hatte Manji bereits vergessen, nachdem sie sie ihm gestellt hatte, aber ein paar wenige beschäftigten ihn noch immer. Allen voran die, wie lange es noch dauerte, bis sie endlich am Meer waren. Von ihm aus konnte die Strecke nicht schnell genug geschafft sein. Machi davon abzubringen, war ja leider mehrmals gescheitert. Sie bewies einen unglaublichen Sturkopf, sobald Manji auf ein Ende ihrer Reise und die Rückkehr in die Stadt drängte. Deshalb ließ er es mittlerweile auch sein. Manji merkte nicht, wie er eindöste und wenige Augenblicke später fest schlief. Kaum war Manjis Kopf zur Seite gesunken, löste sich auch schon eine dunkle Kontur aus dem Schatten der Bäume und huschte geduckt zu den beiden Schlafenden hinüber. Er schlief viel zu tief nach der letzten durchwachten Nacht und dem darauf folgenden tagelangem Fußmarsch, als dass er sofort bemerkt hätte, was vorging. Machi musste kalt bekommen und sich an ihn gedrängt haben, so kam es ihm jedenfalls vor, als er die Berührungen spürte. Murrend befreite sich Manji aus der unbequemen Haltung und dem langsam nervenden hinauf und hinab Gekrabbel auf seinem Arm. Prompt verlegte es sich auf seine Brust und endlich wurde Manji wach. Er schlug die Augen auf und blickte direkt in ein Gesicht, das ein Spiegel seines eigenen, verwirrt dreinguckenden hätte sein können. Allerdings war Manjis Reaktion schneller und er packte die Hand seines Gegenübers, die unter seiner Kleidung stach. Schneller als der Fremde reagieren und seine Hand unter Manjis Yukata hervorziehen konnte, hatte Manji dessen Handgelenk auch schon gepackt und zur Seite gedreht. Der Mann gab einen erschrocken Ton von sich, während seine Hand nach Außen weggedreht wurde und ihm bald nichts anderes mehr übrig blieb, als dieser Drehung zu folgen. Eine unfreiwillige Rolle um sich selbst später lag er auf dem Rücken und sah einen Schatten, der sich auf ihn stürzen wollte. Der Tritt traf Manjis Knie, das daraufhin wegknickte und Manji zu Fall brachte. Manji spürte etwas Hartes unter sich zerbrechen und einen Schmerz, der gleich darauf aus dem Zentrum des Treffers in sämtliche Richtungen seines Rückens ausstrahlte. In diesem Augenblick erwachte Machi. Sie setzte sich langsam auf, rieb sich die Augen und gähnte ausgiebig. Dann sah sie, was um sie herum vorging und sog die Luft erschrocken ein. Manji wartete nur darauf, dass der Unbekannte eine falsche Bewegung in Machis Richtung machte. Der aber beachtete die junge Frau in keinster Weise, die nun mit schockgeweiteten Augen im Gras kniete und sich die Ohren zuhielt. Es schien, als wäre sie überhaupt nicht anwesend, was Manji im Augenblick mehr als lieb war. Der Mann hatte die Chance der Ablenkung nutzen wollen und war gerade dabei, so schnell es ging aus der Reichweite seines eigentlichen Opfers zu kommen. Auf allen Vieren kroch er eilig davon und gerade als er auf die Füße springen wollte, fiel ein Gewicht so schwer wie ein Felsen auf seinen Rücken und presste ihn zu Boden. Der Fremde hustete und spuckte Grashalme und Erdbrocken aus. Sein Gesicht schmerzte und er spürte eine beginnende Schwellung, wo es auf dem Boden aufgeschlagen war. Ihm blieb keine Zeit, etwas zu tun oder zu sagen. Manjis Hand krallte sich unnachgiebig in das Haar des Fremden und zog ihn daran so weit nach hinten, dass dessen Hinterkopf fast seinen Rücken berührte und sein Hals bloß und schutzlos lag. Manji warf einen schnellen Blick zu Machi hin, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Sie hatte mittlerweile die Hände von den Ohren genommen und beobachtete das Tun stumm. "Alles in Ordnung." Manji entspannte sich, als Machi zögerlich nickte. "Wie? Was hast du gesagt?" Der Fremde versuchte einen Blick auf Manji zu erhaschen, was dieser jedoch zu verhindern wusste. Er zappelte unter Manji wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber sobald er die kalte Klinge an seiner Kehle spürte, hörte der Mann auf, sich gegen Manji zu wehren. "Wer bist du?", zischte Manji. Der Unbekannte hatte die Nerven, zu lachen, was Manji mit einem festen Ruck an dessen Haar quittierte. Der Mann quiekte wie ein Ferkel und ruderte hastig mit den Armen, um Manjis Griff – und vor allem, der Klinge in seiner Hand – zu entkommen. "Wenn du mir nicht freiwillig sagen möchtest, wer dich schickt und warum, werde ich mir eben etwas überlegen müssen, wie ich dich überzeugen könnte, es mir doch noch zu verraten." Manji drückte die geschliffene Klinge so weit in die Haut des unter ihm Liegenden, wie er wusste, dass es ihm zwar weh tat, aber nicht so tief, dass er ihn töten würde, noch ehe er die geforderten Antworten bekommen hatte. "Meine Frau schickt mich." "Deine Frau?" Manji war verwirrt. Er konnte sich nicht erinnern, einer Frau etwas getan zu haben, das ihren Mann dazu brachte, ihn zu überfallen. Eigentlich war es bisher immer umgekehrt gewesen und statt eines Mannes, müssten ihm unzählige wütende Mütter, Ehefrauen oder Schwestern folgen, um Rechenschaft für die Tode ihrer Söhne, Ehemänner und Brüder einzufordern. "Was habe ich mit deiner Frau zu schaffen?" Der Mann räusperte sich vorsichtig. Seine Kehle war staubtrocken, doch zu schlucken getraute er sich nicht, so lange die Klinge noch gegen seinen Hals gedrückt wurde. Deshalb fiel seine Antwort auch leise und heiser aus und Manji dachte im ersten Moment, sich verhört zu haben. "Wegen der Muschel", gestand der Mann mit zitternder Stimme. "Wegen der Muschel?", wiederholte Manji verblüfft. Der Fremde wollte nicken, überlegte es sich aber schnell wieder und krächzte stattdessen nur ein knappes "Ja". Manji wusste nichts mit der Antwort anzufangen. Die Muschel war nichts besonderes. Sie mochte von Machi teuer bezahlt worden sein, was allerdings niemals ihrem Wert entsprochen hatte. "Was ist mit der Muschel?" Manjis Griff hatte nichts von seiner Beharrlichkeit verloren, was auch der Fremde bemerkte. Er antwortete zügig. "Meine Frau hat die Muschel an dieses Mädchen verkauft", er machte eine kurze Pause und Manji sah automatisch zu Machi hinüber, die den beiden Männern den Rücken zugewandt hatte und sie nicht mehr beachtete. Sie kniete im Gras und sammelte irgendetwas ein. "Dann bist du also nichts weiter als ein lausiger Dieb, genau wie das Weib, das sich deine Frau schimpft?!" Manji musste sich beherrschen, um dem Mann unter sich nicht auf der Stelle den Schädel einzuschlagen. "Die-die-die Münzen-", schluchzte der Mann nun vor Selbstmitleid und Angst. "Sie hatte so viel für die Muschel bezahlt, dass ich-" "Dass du dachtest, es wäre noch mehr zu holen, richtig?", beendete Manji den Satz des heulenden Häufchens unter sich, der die Klinge vergessen haben musste und nun doch zustimmend nickte. "Wie lange folgst du uns schon?" "Euch? Seit Ihr zu Hause aufgebrochen seid", stammelte der Fremde. "Ich-ich bi-bi-bin nur ein kleiner Fischer, verschont mich." Manji beugte sich zu dem zitternden Mann hinab. "Ja, jetzt wo du es sagst – du stinkst tatsächlich nach altem Fisch..." Der Mann riss die Augen so weit auf, dass das Weiß seiner Augäpfel große Ringe um die dunkel schimmernden Pupillen herum bildeten. Auf seiner Stirn glänzte ein Schweißfilm. "Bitte...", flüsterte er erstickt. "Bitte, Herr, lasst mich am Leben, ich habe zu Hause sieben ständig hungrige Mäuler zu stopfen..." Manjis Blicke gingen zwischen dem Mann und Machi hin und her. Er konnte den Kerl unmöglich auseinander nehmen, selbst wenn er es nicht besser verdient hätte, aber ihm graute davor, dies wieder unter den Augen seiner Schwester stattfinden zu lassen. "Wie schnell kannst du rennen?" Der Mann hielt in seiner Bettelei um sein ach so armseliges Leben inne und versuchte einen Blick auf Manji zu werfen, der noch immer über ihm kniete und ihn so unnachgiebig wie zuvor ins taunasse Gras drückte. "S-sehr schnell", beeilte sich der Fischer zu antworten. Manji schwieg einen Moment lang. Dann nahm er die Klinge von der Kehle des Mannes und ließ sie unter seiner Kleidung verschwinden. Seine nun leere Hand griff nach einem faustgroßen Stein in seiner Nähe. Er hielt dem Fischer den Stein vor die blasse Nase und sagte: "Wenn du schneller bist, als dieser Stein, lasse ich dich laufen. Trifft er dich und du solltest danach noch leben, erledige ich den Rest persönlich, verstanden?" Der Fischer nickte, so weit es Manjis Hand in seinem Haar zuließ. Erstaunt bemerkte er, wie gleich darauf das Gewicht auf ihm nachließ und auch das Haar losgelassen wurde, so dass er wieder nahezu völlige Kontrolle über seine Bewegungsfähigkeit hatte. "Na los, lauf!", befahl ihm Manji scharf, was der freigelassene Mann auch sogleich befolgte. Unglaublich flink sprang er auf die Beine und rannte wortwörtlich um sein Leben. Sein letzter Blick zurück fiel auf Manji, der den Arm, dessen Hand den Stein hielt, langsam nach hinten nahm, um ihn im nächsten Augenblick mit Geschwindigkeit nach vorne schleudern zu lassen. Ein leises Pfeifen näherte sich dem rennenden Mann, der instinktiv den Kopf einzog und so dem anfliegenden Stein gerade noch entkam. Er rannte einfach weiter und drehte sich auch nicht mehr um, bis er wie ein geprügelter Hund zu Hause angekommen war, wo ihn eine nicht weniger unbarmherzige Strafe erwartete. Traurig sah Machi auf das malträtierte Kalkgehäuse hinab. Durch den Tumult waren einige der langen, fingerartigen Zacken abgebrochen. Machi hob eine der Muschelspitzen aus dem Gras und hielt sie an ihre ursprüngliche Stelle. Sobald sie sie losließ, fiel die Spitze jedoch gleich wieder zurück zu Boden zu den anderen abgebrochenen Teilen. Manji, der da stand und misstrauisch die dunkle Umgebung im Auge behielt, wartete, bis er sich absolut sicher war, den Fremden tatsächlich vertrieben zu haben. Schließlich wandte er sich vom still daliegenden Waldrand ab. "Tut mir Leid um deine Muschel." Manji ging etwas unbeholfen neben seiner Schwester in die Knie. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn augenblicklich an genau den Stellen, mit denen er auf der Muschel gelandet war und sich die Spitzen in sein Fleisch gerammt hatten. Wie Dolche waren sie in seine Seite gedrungen und durch sein Gewicht abgebrochen. Eine hatte sich sogar soweit zwischen seine Rippen gebohrt, dass er Mühe gehabt hatte, sie herauszuziehen. Er spürte, wie das Blut noch immer unaufhörlich aus der offenen Wunde strömte und versuchte, sich nichts davon vor Machi anmerken zu lassen. Er hasste das Gefühl, wenn die Kessen-chu anfingen, die verletzten Stellen zu heilen. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber Manji meinte, die Würmer förmlich durch sein Fleisch kriechen zu spüren und jedes Mal überkam ihn Ekel, wenn er daran dachte, was gerade in seinem Körper vorging. Zum Glück war es dunkel, dachte Manji bei sich. So würde Machi wenigstens das Blut nicht sehen müssen. "Das wollte ich wirklich nicht", fügte Manji geknickt hinzu. "Ich weiß, großer dummer Bruder", murmelte Machi kaum hörbar. Sie hielt die Muschel im Arm und streichelte sie, als wäre sie ein verwundetes Tier. Manji wandte die Blicke in die Richtung, in die ihr nächtlicher Besucher verschwunden war. Einen Moment dachte er ernsthaft darüber nach, ihm doch noch zu folgen, bis Machi ihn aus seinen Gedanken riss. "Schau, das meiste ist noch ganz." Machi hob die Muschel zu ihrem Bruder empor. Die Spitzen waren zwar allesamt abgebrochen, doch das spiralförmige Gehäuse war unversehrt. "Man kann sogar das Meer noch hören." Wie zum Beweis drückte Machi die Muschel gegen das Ohr ihres Bruders, der zuerst verdutzt dreinblickte, dann aber erleichtert auflachte, als er das Rauschen seines Blutes in der hohlen Kalkschale hören konnte, mit dem diese ganze Sache erst angefangen hatte. "Alles ist in Ordnung, oder?" Machi sah ihren Bruder erwartungsvoll an. "Ja, natürlich, alles ist in Ordnung und morgen gehen wir weiter." Manji atmete tief aus. Die Kessen-chu hatten ihre Arbeit getan. Die Wunden waren verschlossen und das einzige, das davon zurückgeblieben war, waren die Löcher in seiner Kleidung und die Blutflecken, die langsam trockneten und morgen auf dem dunklen Stoff kaum mehr von gewöhnlichen Schmutzflecken zu unterscheiden sein würden – sofern man nicht wusste, was geschehen war. Den Rest der Nacht blieb Manji wach. Machi verlor kein Wort über die vergangene Nacht und Manji fragte sich, ob sie überhaupt noch wusste, was passiert war. Sie trug die lädierte Muschel und hielt sie sich ab und zu gegen ihr Ohr, um sich zu vergewissern, dass das Meeresrauschen auch tatsächlich noch da war. War es wohl, denn sie sah glücklich aus, jedes Mal wenn sie dem lauschte, was sie für brechende Wellen hielt. Manji war erleichtert, dass Machi den Überfall so gut verkraftet hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er befürchtet, dass sie, auch wenn niemand zu Schaden gekommen war, sich dennoch wieder an das erinnerte, was mit ihrem Mann geschehen war. Und dass sie natürlich auch wieder wusste, wessen Schuld es war. Etwas traf Manjis Stirn. Irritiert wandte er sich zu Machi um, die nichts bemerkt zu haben schien. Noch einmal traf etwas Manjis Gesicht und er sah zum Himmel hinauf. Dicke graue Wolken bedeckten das Blau und ein leichter Regen hatte eingesetzt, der zuerst nur verhalten vor sich hin tröpfelte. "Komm, suchen wir uns was, wo wir uns unterstellen können", rief Manji Machi zu, die den Kopf in den Nacken gelegt hatte und sich über die Tropfen, die immer zahlreicher auf ihr Gesicht trafen, amüsierte. "Und etwas zu essen wäre auch nicht schlecht", fügte Manji hinzu, woraufhin sein leerer Magen zustimmend knurrte. Schon bald regnete es nicht mehr tröpfchenweise, sondern in langen endlos wirkenden Fäden, die die beiden Wanderer in kürzester Zeit bis auf die Knochen durchweicht hatten. Nirgendwo fanden sie ein trockenes Plätzchen. Es gab keinen einzigen Baum, dessen Äste ihnen Unterschlupf hätte bieten können. Links und rechts von ihnen waren nichts als Felder, genau wie vor ihnen. Manji fluchte. Der Feldweg war schon nicht mehr als eine schlammige Rinne voll weicher Erde, die zäh an ihren Schuhen festklebten und ihre Kleidersäume schwer werden ließ. Der Regen wusch überall kleine Steine aus dem Boden und spülte sie auf den Weg, was ihnen das Gehen noch zusätzlich schwer machte. "Manji, schau mal, was ich für dich habe", erklang es hinter dem jungen Mann, der mit langen Schritten den Weg entlang eilte. "Später, Machi, wenn wir im Trockenen sind." "Bin ich doch schon." Manji hielt inne und drehte sich zu seiner Schwester um, die einige Schritte hinter ihm gegangen war. Sie beeilte sich, zu ihrem Bruder aufzuschließen. Mit einer Hand hielt sie sich ein riesiges Blatt über den Kopf. Es hatte einen etwa armlangen Stiel und sah aus wie ein etwas seltsam zusammengesetzter Schirm, dessen Ränder im Laufen lustig auf und ab wippten. Aber es erfüllte seinen Zweck. "Hier, für dich." Machi musste sich auf die Zehen stellen, um das zweite Blatt, das sie dabei hatte, über den Kopf ihres Bruders halten zu können. "Siehst du, jetzt bist du auch im Trockenen." Der Regen prasselte leise auf das Blatt hinab, das, von Machi festgehalten, über Manjis Kopf schwebte. "Da werde ich lieber nass wie ein Straßenhund, als dieses lächerliche Blatt auf dem Kopf zu tragen", grummelte Manji peinlich berührt und trat einen Schritt zur Seite, so dass er nun wieder im Regen stand. Machi lachte ihn aus. Sie drückte ihrem Bruder einfach den Blattstiel in die Hand, ließ ihn stehen und spazierte mit ihrem Rhabarberblatt-Schirm davon. "Dann können wir jetzt ja Ausschau nach einer Gaststätte halten", rief Manji Machi hinterher. Zufrieden rieb sich Manji über seinen gefüllten Bauch und betrachtete sich die leeren Schalen, die vor ihm auf dem niedrigen Tisch standen. Erst als das dampfende Essen vor ihm gestanden hatte und ihm der köstliche Duft von allerlei Frittiertem und Gegartem in die Nase gestiegen war, war ihm aufgefallen, wie ausgehungert er doch gewesen war. Er sah zu Machi hinüber, die an der offenen Frontseite der kleinen Herberge saß und unter den im Wind wehenden Stoffbahnen hindurch nach draußen sah. Es regnete immer noch und Manji verspürte nicht die geringste Lust, wieder rauszugehen und seine langsam trocknende Kleidung erneut durchnässen zu lassen. Machi schien anderer Meinung zu sein. Sie sah wehmütig auf die Straße, die sichtlich leerer war, als an einem sonnigen und trockenen Tag. Bis auf ein paar Viehwagen, die die Straße hinunter rumpelten, so dass das Wasser unter den Rädern hoch aufspritzte, und einigen Fußgängern, die sich beeilten, irgendwo ins Trockene zu kommen, waren kaum Leute unterwegs. Und doch konnte sie den Aufbruch kaum abwarten. "Vergiss es", unterbrach Manji die Gedanken seiner Schwester, als hätte er eben jene lesen können. "Vor morgen werde ich hier nicht mehr aufstehen. Und sollte es morgen noch regnen, bleiben wir, bis es wieder aufgehört hat." Machis enttäuschte Blicke ließen Manji beinahe weich werden und seine Worte widerrufen. Aber nur beinahe. Das Rhabarberblatt und der schlammige Feldweg waren ihm einfach noch zu gut in Erinnerung. "Ihr habt Euch also entschlossen, zu bleiben?" Manji wandte sich der Frau zu, die mit leicht geneigtem Kopf neben ihm kniete. Ihr sorgsam frisiertes Haar glänzte in dem hell erleuchteten Gastraum wie schwarzer Lack. Wo die Frau so plötzlich hergekommen war, war ihm allerdings schleierhaft. Er nickte auf die Frage hin. "Wenn Ihr noch ein freies Lager für die Nacht habt..." "Natürlich haben wir das." Die Frau nickte noch einmal, dann ließ sie Manji wieder alleine. Machi warf ihrem Bruder einen letzten giftigen Blick zu. Sie wusste genau, wie das ausgehen würde. Sobald es ihm irgendwo gefiel, blieb er so lange, bis ihm die dauernde Bequemlichkeit auch wieder zu öde wurde. Und nur er wusste, wie lange sich das hinziehen würde. Sie wandte sich von ihrem breit grinsenden Bruder ab und dem Regen wieder zu. Stolz, sich einmal seit langem seiner Schwester widersetzt zu haben, bestellte sich Manji gleich noch etwas zu trinken. Wenn er schon hier blieb, war es auch völlig egal, ob er es nüchtern tat oder nicht. Machi war längst eingeschlafen und bekam nichts von dem Gelächter mit, das aus dem Gastraum in den weiter hinten liegenden Teil der Herberge drang, wo sich die Schlaflager befanden. "Da ist doch ein Trick dabei!" Das geleerte Trinkgefäß klirrte leise, als Manji es auf der Tischplatte abstellte. Er beugte sich etwas zu der ihm gegenüber sitzenden Frau hin und wartete darauf, dass sie die vermeintliche List gestand. Sie lächelte lediglich undurchschaubar und schwieg sich weiter darüber aus, was Manji Kopfzerbrechen bereitete, seit sie ihn eingeladen hatte, den Abend in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Seit der letzte Gast gegangen war und auch das Küchenmädchen endlich seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, war bereits einige Zeit vergangen und nachdem der Gastraum sauber und aufgeräumt war, hatte sich die Frau, die sich als die Besitzerin der Herberge herausgestellt hatte, zu ihrem letzten Gast an den Tisch gesellt. "Noch etwas Sake?", fragte die Frau höflich und goss das Getränk in das weiße Schälchen, ohne Manjis Antwort abzuwarten. Manji verschränkte die Arme vor der Brust. Auf seinen Wangen hatten sich rote Flecken gebildet und in seinem Kopf drehte es sich immer schneller. Er hatte definitiv mehr getrunken als beabsichtigt und dachte kurz darüber nach, das Getränk abzulehnen. Aber da es schon mal eingegossen war und dieses eine Schälchen zwischen den vorausgegangenen auch nicht mehr großartig auffallen würde, trank er es kurzerhand aus. Die Frau hob bereits das schmale Sakegefäß, um Manjis Schale noch einmal zu füllen, doch dieses Mal war der junge Mann schneller. Er hielt die Schale in einer Hand und bedeckte sie mit seiner anderen. "Ich trinke erst wieder etwas, wenn Ihr mir verraten habt, wie das funktioniert." Manjis Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, die die lächelnde Frau vor sich versuchten zu fokussieren. Geduldig wartete er und sah der Wirtin zu, wie sie sich selbst ein Schälchen mit dem hochprozentigen Getränk füllte. Ohne den Blick zu heben führte sie das Schälchen an ihre Lippen und trank es leer. "Da ist kein Trick dabei, seht Ihr", erklärte sie Manji, der jede ihrer Gesten genauestens beobachtet hatte. Manji stieß den Atem durch die Nase aus. So ganz traute er der Frau nicht. Sie hatte so viel getrunken wie er, zeigte aber keinerlei Anzeichen davon, dass der Alkohol bei ihr wirkte, wie er es bei Manji tat, obwohl sie wesentlich kleiner und zierlicher war als er. Er wusste, dass er Schwierigkeiten bekommen würde, wenn er aufzustehen versuchte. Wenn er Glück hatte, schaffte er es noch in das schmale abgeteilte Zimmer, in dem eine bequeme Schlafstätte auf ihn wartete. Aber noch gab es etwas zu klären. "Dann verratet mir wenigstens, warum Ihr Euren Sake einfach so an Fremde verschenkt. Mir gefällt es nämlich nicht, bei jemandem Schulden zu haben." Manji versuchte, das Brennen in seinem Magen zu ignorieren, konnte sich allerdings nicht verkneifen, seine Hand von dem Schälchen zu nehmen, um einmal unauffällig über seinen Bauch zu streichen. Prompt wurde die leere Schale mit frischem Sake gefüllt. "Nun", begann die Frau, deren Lippen sich zu einem triumphierenden Lächeln bogen, das aber gleich darauf einem bitteren wich. "Ich werde die Herberge bald schließen und da ich dann niemanden mehr haben werde, dem ich etwas hinterlassen könnte, möchte ich alles loswerden, ehe sich all die darauf stürzen, die mich hinter meinem Rücken verspotten und verachten und denken, dass ich es nicht bemerke, wenn sie sich mit diesen Blicken hierher setzen und mein Essen und meine Getränke genießen. Und mir ist es lieber, meine letzten Sachen mit jemandem zu teilen, der nie erfahren wird, warum ich all das tun musste, und somit auch keinen Grund hat, mich zu verachten." Manji setzte das volle Schälchen auf dem Tisch ab, ohne einen Schluck daraus genommen zu haben. Die Worte der Frau hatten eine plötzliche Ernsthaftigkeit angenommen, die er so nicht erwartet hatte. Das schwummerige Gefühl in seinem Kopf ließ ein wenig nach, als er sich aufrechter hinsetzte und die Erklärung dieser ihm eigentlich unbekannten Frau zu verstehen versuchte. "Wieso?", war das einzige, das Manji einfiel zu fragen. Die Frau schüttelte den Kopf. "Keine Fragen, dann fühle ich mich auch nicht zu einer Antwort verpflichtet." Das erste Mal sah sie Manji direkt an, statt die Blicke demütig abzuwenden, so wie sie es ihren Gästen gegenüber stets tat. Sie stellte den Sake beiseite und setzte sich weniger förmlich zu Manji an den niedrigen Tisch. Der Schatten einer in einem Lampion über ihnen gefangenen Motte huschte über die Tischplatte. Ihre Kreise wurden immer enger, bis es irgendwann leise zischte. Die Kerze im Inneren des Lampions flackerte kurz, ohne aber zu erlöschen. "Gut, keine Fragen", willigte Manji schließlich ein. Jeder hatte Gründe, warum er etwas tat oder nicht tat und wer war er schon, dass er Antworten verlangen durfte. Manji griff nach dem Schälchen und hielt es einen Moment auf Augenhöhe. "Auf das Leben." "Und den Tod – wer immer auch gewinnen mag", fügte die Frau hinzu, die sich ein letztes Mal etwas von dem Sake eingeschenkt hatte und ihr Schälchen nun auf gleiche Höhe hielt, wie Manjis. Als der Morgen anbrach war Manji bereits hellwach. Trotz der nahezu durchzechten Nacht fühlte er sich so ausgeruht, wie schon lange nicht mehr. Machi war ebenfalls wach, jedenfalls ging Manji davon aus, denn der Platz, wo sie gelegen und geschlafen hatte, war leer. "Machi?" Manji empfing Stille in dem gestern noch so belebten Schank- und Gastraum der Herberge. Obwohl es an der Zeit sein musste, dass diese geöffnet wurde, waren sämtliche Türen und Fenster geschlossen und auch aus dem Küchenteil war nichts zu hören, was auf den baldigen Ansturm an Gästen hätte schließen lassen. "Machi?", wiederholte Manji nun etwas lauter, doch wieder bekam er keine Antwort. Das fehlte noch, dachte Manji erschrocken. Er streifte durch das fremde Haus, öffnete sämtliche Türen und in jedem Raum rief er nach seiner Schwester. In einem kleinen Zimmer, das in einen Hof führte, fand er sie schließlich vor einem Regal stehend. "Machi", rief Manji tadelnd, als er sah, dass sie in diesem Moment etwas von dem Regal nahm. "Guten Morgen, Manji." Machi schaute sichtlich schuldbewusst drein, während sie sich zu ihrem Bruder herumdrehte, der auf sie zugestürmt kam. "Was tust du hier?", schalt Manji seine Schwester. Er sah wie sie etwas hinter ihrem Rücken verbarg und versuchte einen Blick darauf zu erhaschen. "Was hast du da aus dem Regal genommen?" Machi senkte die Lider unter Manjis groben Worten. Langsam nahm sie ihre Hand hinter ihrem Rücken hervor und zeigte ihrem Bruder, was sie zu verstecken versucht hatte. Manji warf nur einen schnellen Blick auf das kleine Püppchen, das Machi in ihrer Hand hielt. "Stell das wieder dorthin, wo du es her hast!" "Aber schau mal, Manji, das Köpfchen." Machi wedelte mit der Puppe vor Manjis Gesicht herum, der ihre Hand ergriff und sie zum Einhalten zwang. "Sieh mal, ihr Kopf ist ein trockener Kürbis, aber er ist nicht leer." Sie schüttelte das Püppchen, aus dessen Kopf leises Plätschern drang. "Und da ist noch ein Püppchen", blitzschnell drehte sich Machi zu dem Regal um und präsentierte kurz darauf dem ratlos dreinguckenden Manji ein weiteres Püppchen. "Es ist kleiner, aber in seinem Köpfchen plätschert es auch, wenn man es schüttelt." "Mach es nicht kaputt!" Manji entriss seiner Schwester die beiden Puppen und hörte im gleichen Augenblick, was seine Schwester daran so fasziniert hatte. Ihre Köpfe waren tatsächlich kleine getrocknete Kürbisse, bei denen sich jemand, ob ihres einfachen Materials dennoch die Mühe gemacht hatte, ihnen hübsche Gesichter aufzumalen. Auch die Kleidung, die die beiden Püppchen trugen, war alles andere als schlicht. Sie bestanden aus feinen Stoffen, deren Muster bis ins kleinste Detail ausgearbeitet waren und die ihren menschlichen Vorbildern in nichts nach standen. Manji versuchte sich in Erinnerung zu rufen, ob die Gastwirtin etwas über Kinder gesagt hatte, doch ihm fiel nichts ein. Er sah zu Machi hinüber, die frech grinsend seine verärgerten Blicke erwiderte. "Was geht dich das an?" "Richtig", erklang es neben Manji. Ihre Gastgeberin hatte unbemerkt den Raum betreten und stand nun neben ihm. Sie nahm Manji, dessen Gesicht eine feuerrote Färbung angenommen hatte, lächelnd die Püppchen aus den Händen und setzte die Große zurück auf ihren angestammten Platz. Die kleine Puppe hielt sie fest. "Keine Fragen, keine Antworten", fügte sie leise hinzu. "Außer: Ihr müsst hungrig sein, habe ich Recht?" Manji sah zu Machi hin, die den Kopf schüttelte. "Ja", antwortete Manji auf die Frage und folgte der Frau aus dem Zimmer. Hinter sich hörte er Machi lachen. "Sagten Sie gestern nicht, dass das Restaurant bald schließen würde? Wieso also schon heute?" Manji legte die Essstäbchen beiseite. Statt des Sakes stellte die Frau eine Tasse mit Tee vor Manji auf den Tisch. "Ich wusste nicht, dass es so schnell gehen würde, aber heute morgen kam die Nachricht, auf die ich die ganze Zeit schon warte." Die Frau unterbrach sich. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. "Jetzt haben wir uns doch nicht an die Abmachung gehalten..." Manji zuckte mit den Schultern. "Ich schätze, dann können wir uns auch weiter unterhalten, oder?" Sie seufzte leise. "Haben Sie keinen Ehemann?" "Einen Ehemann?" Die Frau lachte hell auf. "Viele hatte ich – aber für sie war ich nicht mehr als eine Ehefrau für eine Nacht." Ihr Lachen verstummte und sie sah noch einmal hinab auf das beschriebene Stück Papier in ihrer Hand, das ihr ein Bote heute morgen noch vor Sonnenaufgang gebracht hatte. "Es tut mir leid, aber das war die letzte Mahlzeit, die ich Ihnen anbieten kann, aber wenn Sie möchten, können Sie noch eine Nacht hier bleiben. Morgen soll es weniger regnen – der beste Zeitpunkt, um weiter zu reisen." Sie zerriss das Papier, stand auf und verließ den Schankraum. "Ich möchte bitte noch bis morgen bleiben." Machi kniete neben Manji nieder und lehnte ihren Kopf gegen seinen Arm. Sie klang erschöpft. Wahrscheinlich, weil sie, seit sie aufgebrochen waren, kaum etwas gegessen hatte. Nein, eigentlich hatte sie schon länger nichts mehr gegessen, korrigierte sich Manji in Gedanken. "Morgen reisen wir ab, ich will endlich wieder nach Hause." Machi schlief den ganzen Tag und die ganze Nacht, ohne ein einziges Mal aufzuwachen. Im Morgengrauen erwartete ihre Gastgeberin sie am Eingang ihres ungewohnt stillen Restaurants. Es regnete noch immer, allerdings – genau wie sie gestern vorhergesagt hatte – weitaus weniger. Aus den langen Fäden waren über Nacht feine Tröpfchen geworden, die mehr vom Himmel rieselten, statt zu strömen. "Vielen Dank für die gute Verpflegung und die Unterkunft." Manji deutete eine leichte Verbeugung an, was die Wirtin etwas beschämt mit einer abwehrenden Handbewegung quittierte. "Ich muss mich für die unterhaltsame Gesellschaft bedanken", erwiderte sie und schickte ihren Worten ein herzliches Lächeln hinterher. Manji ging zu Machi, die am Straßenrand gebannt dem vorüber fließenden Wasser nachsah. "Können wir gehen?", fragte Manji. Er erwartete keine großartige Reaktion von Machi, außer, dass sie sich in Bewegung setzte, weil sie es kaum noch abwarten konnte, endlich am Meer zu sein. Doch Machi drehte sich ein letztes Mal zu der Herberge um. Sie hob die Hand und winkte ihrer Gastgeberin zu. Verdutzt, als sehe sie Machi gerade das erste Mal, hob die Frau im Türrahmen die Hand und winkte ihnen nach. Sie wartete, bis sie außer Sichtweite waren und verschwand wieder in ihrem Haus. Nur schweren Herzens hatte sie ihren letzten Gast gehen lassen. Aber er hatte seine Gründe und einer davon, vielleicht der wichtigste, hatte heute morgen draußen auf der Straße auf ihn gewartet. Sorgsam schloss sie die Schiebetür hinter sich. Vor dem Regal, auf dem nur noch das große Püppchen stand, blieb sie stehen. Sie nahm die Puppe und ging zu dem niedrigen Tisch an der Stirnseite des Zimmers. Dort, von wo man den schönsten Blick in den von Außen verborgenen Hof hatte, kniete sie sich zu Boden. Sie legte die Puppe auf die spiegelblanke Tischplatte, öffnete die Kleidung und legte den aus Lappen zusammen genähten Körper darunter frei. Im Nacken der Puppe befand sich eine sorgfältig geschlungene Schleife, die sie langsam löste. Der Kopf der Puppe rollte auf die Tischplatte und blieb, das lächelnde Gesicht der Frau zugewandt, liegen. Ihre Bewegungen waren fließend, als sie den Stoffkörper zur Seite legte und nach dem Kopf griff. Im Inneren des getrockneten Kürbisses plätscherte es dumpf. Sie drehte den Kopf um und entfernte den kleinen Korken an seiner Unterseite. Dann setzte sie den Kürbis an ihre Lippen und trank alles, was in dem bemalten Kürbisköpfchen gewesen war, bis auf den letzten bitteren Schluck aus, ohne einmal zu zögern, weil sie wusste, dass es dort, wo der junge Mann hergekommen war, ihr jemand gleich tat – die, mit der sie sich ihre eigene Freiheit erkauft hatte, in dem sie sie dort gelassen hatte, wo sich die Türen der Vogelkäfige nur öffneten, wenn man den Preis zu zahlen bereit war. Sie schafften nahezu den ganzen letzten Rest ihrer Reise dank eines Bauern, der sie auf ihrem Viehwagen hatte mitfahren lassen. Froh über diese Geste, fiel ihnen der letzte Abschnitt nun auch mehr als leicht. Machi schien in Vorfreude auf das Meer ihre gewohnte gute Laune zurückbekommen zu haben. Sie lief fröhlich singend vor Manji her, dem die Dauerbewässerung von oben mittlerweile fast egal war. Unvermittelt blieb Machi stehen. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und das Gesicht dem Himmel zugewandt. "Wir sind gleich da", sagte sie zu Manji, als der neben ihr ankam. "Woher willst du das wissen?" Machi schloss die Augen und verharrte einen Moment lang still als lausche sie etwas, das nur sie wahrnahm. "Der Regen schmeckt nach dem Meer", verkündete sie schließlich und ließ ihren verblüfften Bruder einfach stehen. "Er schmeckt nach – Meer?" Manji entglitten die Gesichtszüge. Er sah seiner Schwester nach, die trippelnd den Weg entlang lief und dann und wann eine Drehung machte. Manji hob das Gesicht dem Himmel zu wie er es bei seiner Schwester gesehen hatte. Er öffnete seinen Mund, ließ den Regen auf seine Zunge rieseln und gab sich Mühe, einen Unterschied zum üblichen Geschmack des Regens zu finden. "Habe ich Recht?", rief Machi, die ihren Bruder beobachtet hatte. Ertappt schloss Manji seinen Mund. Seine Wangen brannten vor Scham und er beeilte sich, zu seiner lachenden Schwester aufzuschließen. "Manji schau, wie schön." Machi war auf einer leichten Anhöhe stehen geblieben und Manji, der nur wenige Schritte hinter seiner Schwester gegangen war, sah gleich darauf, was sie gemeint hatte. Vor ihnen erstreckte sich das Meer tiefblau bis zum Horizont. Manji konnte nicht anders, als Machi zuzustimmen. Es war wirklich schön, wie das Meer sich wie eine riesige blaue Landschaft vor ihnen ausbreitete und man nicht erkennen konnte, wo das Meer endete und der Himmel begann. Weißer Schaum tanzte auf den an den Strand rollenden Wellen, die rauschend brachen. Machi ließ Manji wortlos stehen. Die Muschel an ihre Brust gedrückt, eilte sie durch den nassen Sand dorthin, wo das Meer den Strand berührte. Bald schon stand sie bis zu den Fußknöcheln im Wasser und lauschte ehrfurchtsvoll mit einem Ohr dem Rauschen in ihrer Muschel und mit dem anderen Ohr dem Rauschen des echten Meeres. Die Frau hatte nicht gelogen. Es hörte sich gleich an. Machi drehte sich zu ihrem Bruder um, der auf der Anhöhe geblieben war und sich erschöpft in den Sand niedergesetzt hatte. Sie rannte zu ihm. Der nasse Saum ihrer Yukata klebte an ihren Beinen und Sand flog unter ihren Füßen auf, so sehr beeilte sie sich, um Manji auch an ihrer Entdeckung teilhaben zu lassen. "Bist du jetzt zufrieden?", empfing sie Manji. Er lächelte müde, aber glücklich über die Freude seiner Schwester. Machi nickte eifrig. Sie beugte sich zu Manji hinab, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. "Vielen Dank, großer Bruder Manji", sagte sie leise und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Machis Kuss war so zart wie die Berührung des leichtesten Insekts der Welt und doch traf er Manji härter als jeder Schwertschlag des besten Kämpfers es je vermocht hätte. Er schloss die Augen und fühlte mit schwerem Herzen wie der Kuss sich auflöste und ihn mit dem rauschenden Meer alleine ließ. Eine Weile noch ließ Manji die Augen geschlossen, immer in der Hoffnung, so die Erinnerung an diese Berührung halten zu können. Als seine Lider sich endlich wieder hoben, war alles, was von Machi zurückgeblieben war, die Muschel mit den abgebrochenen Zacken. Manji nahm die Muschel, betrachtete sie sich kurz und legte sie neben sich. Dann erhob er sich, klopfte sich den Sand von der Kleidung und verließ das Meer, die Wellen, den Sand, die Muschel und Machi und ließ all das hinter sich – dort, wo Geister eigentlich hingehörten, während er mit jedem Schritt nach Hause wieder zu den Lebenden zurückkehrte. ~ Ende ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)