Unter den Apfelbäumen von maidlin (Prequel zu Drachenkind) ================================================================================ Kapitel 4: Die 4. Begegnung - Teil 1 ------------------------------------ Jonathan fragte seine Eltern nach diesem Tag im Garten tatsächlich nach ihrem Einverständnis, ihm eine künstlerische Ausbildung zu ermögliche. Seine Mutter konnte er recht schnell überzeugen. Sein Vater gab sein Einverständnis erst am Tag seiner neuerlichen Abreise. Jonathan war etwa ein viertel Jahr bei seinen Eltern geblieben und würde wieder an seinen alten Studienort zurückkehren. Bis zu diesem Tag hatte sich Mathew nicht zu Jonathans Bitte geäußert und Jonathan hatte erwartet, dass er ablehnen würde. Kunst zu studieren beanspruchte nicht nur mehr Zeit, sondern auch Geld. Selten konnte man mit der Kunst etwas verdienen. Nicht einmal zu den wenigen Bildern, die Jonathan seinen Eltern wiederstrebend gezeigt hatte, hatte er etwas gesagt, sondern sie nur angesehen und genickt. Es hatte Jonathan wenig Hoffnung gemacht. Umso überraschter war er also, als sein Vater seinen Segen dazu gab. Allerdings knüpfte er auch ein paar Bedingungen daran. Jonathan durfte seine anderen Studien nicht vernachlässigen und sollte sehr gute Ergebnisse erzielen. Außerdem forderte er, dass wenn Mister Alley beschloss mit ihm ins Ausland zu reisen, Jonathan die Sprache des Landes erlernte. Mister Alley würde ihn über alles ausführlich informieren. Das forderte Mathew von seinem Sohn und obwohl Jonathan nicht begeistert von der Aussicht war noch eine Sprache zu erlernen – die beiden, die er bereits beherrschte fand er vollkommen ausreichend – wollte er diese Bedingungen dennoch annehmen. Ihm war bewusst, wie viel diese Ausbildung seinen Vater kosten würde und er hegte auch den leichten Verdacht, dass Mathew ihn damit auf die Probe stellte, um herauszufinden, wie viel ihm wirklich an der Kunst gelegen war. Dann war da natürlich noch die Tatsache, dass Jonathan inzwischen sechzehn, fast siebzehn war und in das heiratsfähige Alter kam. Obwohl Mathew selbst erst recht spät geheiratet hatte, erhoffte er sich wohl eine Braut für seinen Sohn. Doch darüber wollte dieser noch gar nicht nachdenken. Bisher hatte er noch kein Mädchen getroffen, bei dem er sich hätte vorstellen können dauerhaft mit ihr zu leben und schon gar nicht solch eine innige Beziehung zu führen, wie seine Eltern es taten. Lieber genoss er seine Freiheit. Im Moment seiner Abreise blickte Jonathan seiner Zukunft mit freudiger Erwartung entgegen. Dennoch war sein Herz schwer von dem Gedanken Mary für unbestimmte Zeit nicht wiedersehen zu können. Mister Alley hatte ihm zuvor bereits gesagt, dass, sollte sein Vater sein Einverständnis geben, er wohl vier oder fünf Jahre nicht mehr nach Hause zurückkehren würde. Drei Jahre waren ihm als zwölfjähriger schon unendlich lang erschienen, auch wenn sie dann doch recht schnell vergangen waren, aber vier Jahre war etwas ganz anderes. Er würde das alles vermissen, dachte er, während er das Haus hinter sich ließ: den Garten, seine Eltern und Mary. Die Zeit bis zu seiner Abreise hatte Jonathan sooft es möglich gewesen war mit Mary verbracht. Er war jedoch immer sehr darauf bedacht gewesen, ihr nicht zu nah zu kommen. In dieser Zeit hatte er ihr noch zwei weitere Bilder gezeigt: Das Haus in dem er gelebt hatte sowie das Stillleben einer Vase, welches er als Übung gezeichnet hatte. Mary war jedes Mal richtig begeistert gewesen, doch Jonathan weigerte sich ihre Worte anzunehmen. Er selbst fand seine Werke nicht einmal annähernd so gut. Mehr als einmal vermisste Jonathan in diesen vier Jahren seine Heimat und auch der Briefverkehr konnten ihm seine Eltern oder das Land in dem er aufgewachsen war nicht näher bringen. Von Mary hörte er nur sporadisch etwas und auch nur dann, wenn er in seinen vorherigen Briefen nach ihr gefragt hatte. Die Antworten, die seine Mutter oder Vater schrieben reichten ihm bei weitem nicht, doch beklagte er sich nicht. Er hatte die Befürchtung, dass sie sonst wohl einen falschen Eindruck gewinnen würden. Nachdem Jonathan Mister Alley das Einverständnis seines Vaters überreicht hatte, waren sie so bald wie möglich in das Land gereist, das immer noch als Wiege der Kunst bezeichnet wird. Jonathan erlernte die verschiedenen Techniken der Farb- und Pinselherstellung. Er lernte wie man Leinwände aufzog und wie der Stoff dafür geschaffen sein musste. Er erlernte den Umgang mit Ölfarben und auf welche Art und Weise man sie auftragen musste und konnte, wollte man eine bestimmte Wirkung erzielen. Er lernte, wie er seine Skizzen, die er bisher nur mit Kohlstiften anfertigte, vergrößert auf eine Leinwand brachte. Begriffe wie Bildaufbau, Komposition und Schnittpunkte waren bald seine täglichen Begleiter. Bei den Meistern schaute er sich Techniken ab, um die ihn jeder andere beneidet hätte. Auch die ersten Kniffe der Architektur erlernte er. Jonathan entwarf auf dem Papier Häuser und Skulpturen. Für ihn waren das nur gedankliche Spielereien, nichts was er je in die Tat umsetzen würde, aber er arbeitete sehr gewissenhaft daran. Es faszinierte ihn, dass es ihm überhaupt möglich war. Am Anfang dieser vier Jahre übte Jonathan nur an unbeweglichen Objekten, Landschaften und so etwas. Erst später erlaubte ihm sein Meister – Mister Alley hatte die künstlerische Ausbildung an einen weitaus erfahreneren Mann abgegeben – an Menschen zu üben. Nicht, dass es Jonathan nicht vorher schon versucht hatte, aber er war nie zufrieden gewesen. Deswegen brannte er regelrecht darauf und stürzte sich voller Eifer in diese Übungen, die sein Meister oft anleitete. Jonathan Semerloy, der sonst immer sehr auf Standesunterschiede bedacht gewesen war, machte nun keine mehr. Mit dem Kohlstift zeichnete und skizzierte er Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: alte und junge, gesunde und krank, schöne sowie hässliche. Sehr viel später dann, als sein Meister mit Jonathans Ergebnissen zufrieden war, brachte er seine Beobachtungen auf die Leinwand. Am meisten war Jonathan von sich selbst erstaunt. Noch nie zuvor hatte er sich freiwillig so intensiv mit etwas befasst. Er verbrachte Stunden beim Zeichnen und Malen und auch wenn ihm am Anfang die Vorstellung seine Kleider zu beschmutzen ein Graus gewesen war, so störte es ihn nun nicht mehr viel. Dennoch trug er beim Malen meist einfache, oft alte Kleider. Ebenfalls etwas, was es vorher nie gegeben hätte. Selbst, wenn er bei seiner Arbeit ins Schwitzen geriet, fand er nichts störendes mehr daran. Er sah es mehr als Beweis, dass er an diesem Tag wirklich etwas geschaffen hatte. Aber auch, wenn Jonathan Menschen zeichnete, die ihm auf den Straßen begegneten, so zeichnete er doch immer wieder ein bestimmtes Mädchen. Sein Meister und Mister Alley fragten ihn oft, wer das denn eigentlich sei, doch Jonathan antwortete ihnen immer nur ausweichend, dass er sie von zu Hause kenne. Doch mit ihrem Bild war er nie wirklich zufrieden und er beendete kaum eines. Entweder waren es ihre Augen, deren Ungewöhnlichkeit er einfach nicht aufs Papier bringen konnte, oder ihre Nase oder gar die Locken. Die Versuche dieses Mädchen zu Malen trieben ihn mehr als einmal an den Rand der Verzweiflung – so wie dieses Mädchen es eben sonst auch immer tat. Natürlich handelte es sich um Mary und obwohl sich ihr Gesicht schon lange in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, wollte es nie gelingen. Irgendwann begann es Jonathan sogar zu frustrieren. Sein Meister spürte das und gab ihm den Auftrag, das Mädchen darum zu bitten für ihn Modell zu sitzen, so dass er sie richtig zeichnen konnte. Dann sollte er ein Ölgemälde von seinen Skizzen anfertigen und es ihm schicken. Er wollte unbedingt selbst sehen, wie dieses Mädchen denn nun wirklich aussah, wenn Jonathan sie so oft skizzierte. Trotz seines intensiven Kunststudiums vernachlässigte Jonathan seine anderen Pflichten nicht. Er erlernte die dritte Fremdsprache, ganz so wie es sein Vater gewünscht hatte, er nahm regelmäßig Unterricht bei Mister Alley und anderen Professoren, ging zu Empfängen und schloss Bekanntschaften. Er erlernte auch die Sprache dieses edlen Landes. Nur selten fühlte er sich unter Druck gesetzt, da es ihm jeder Tag Freude bereitet. Zwischen all den vielen Aufgaben fand er erstaunlicherweise immer noch Zeit für die Frauen. Schon sehr früh war Jonathan von der Frauenwelt bemerkt worden. Er sah wirklich gut aus - das mussten selbst die Männer zugeben - hatte gute Manieren und kam noch dazu aus einer angesehenen Familie. Für sehr viele der Damen war er der perfekte Mann. Das war in seiner alten Heimat so und auch in seiner neuen. In diesem südlichen Land, wo er sich so lange aufhielt, ist der Hautton der Menschen etwas dunkler, ebenso ihrer Haare und Augen. Jonathan stach also mit seinen hellen Haaren und den grünen Augen unter den übrigen Männern heraus. So ist es also nicht allzu verwunderlich, dass er mehrere Liebschaften hatte. Bei vielen dieser Begegnungen blieb es nicht nur beim Küssen. In diesem Land wurde Jonathan zu einem Mann, wie man so schön sagt. Sie boten sich ihm freiwillig an und obwohl keine davon für Jonathan als Braut in Frage kam, sagte er nicht nein zu ihnen. Es war ein Spiel und Abenteuer zugleich für ihn. Dennoch wollte er seinen Vater nicht enttäuschen. So ging er eine längere Beziehung mit einer Frau aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie ein. Sie hieß Valentina Angelica Montebello und war natürlich eine Schönheit, recht gebildet noch dazu. Auch sie malte Jonathan. Sie waren ein angesehenes Paar. Ihr Vater hätte einer Hochzeit sofort zugestimmt, war Valentina doch die jüngste seiner vierzehn Kinder. Doch Jonathan hielt nicht um ihre Hand an und erwähnte sie auch nur flüchtig in den Briefen, die er seinen Eltern zukommen ließ. Sobald jedoch das Datum seiner Rückreise feststand, löste er die Verbindung mit ihr. Er sagte ihr, dass er sich kein Leben in ihrer Heimat vorstellen kann und sie in seiner Heimat sicher nicht glücklich werden würde. Es gäbe noch eine andere Frau. Es war eine Lüge gewesen und doch behielt sie sehr viel Wahrheit, wie er später selbst merkten sollte. Je näher der Tag seiner Rückkehr kam, desto mehr dachte er auch wieder an Mary. In den letzten Jahren hatte er es geschafft, sie so oft wie möglich aus seinen Gedanken zu bannen und vor allem das, was er an diesem einen Nachmittag im Garten hatte tun wollen, als schlichten männlichen Impuls abzutun. Die ersten paar Tage nach der Ankunft in seinem Elternhaus verbrachte Jonathan im Beisein seiner Eltern. Nach vier Jahren der Abwesenheit genoss er es von seiner Mutter umsorgt zu werden und wieder gemeinsam mit seinem Vater auszureiten. Das Land war immer noch prächtig und die Ernten gediehen gut. Trotz der guten Ernten kaufte Mathew auch immer wieder Getreide ein. Er wollte sicher gehen, dass selbst in einem langen Winter jeder genug zu essen hatte und vor allem noch genügend für die Aussaat im nächsten Jahr vorhanden war. In diesen Dingen verstand Mathew sich wirklich gut und Jonathan bewunderte seinen Vater sehr dafür. Auf einem dieser Ausritte jedoch, sprach Mathew etwas an, was Jonathan gar nicht gefiel und was er auch nicht hören wollte. Es ging um ein Bankett, welches seine Eltern extra für ihn geben wollten. Es würden ein paar wichtige Leute kommen, deren Bekanntschaft Jonathan machen oder auffrischen sollte. Als sein Vater auf die anwesenden Damen zu sprechen kam und erwähnte, dass einige im heiratsfähigen Alter waren und auch eine gute Mitgift mitbrächten, atmete Jonathan genervt aus. Genauso ein Gespräch hatte er gefürchtet. „Möchtest du mir erklären, was dieses Geräusch zu bedeuten hat?“, fragte sein Vater. Seine Stimme klang nicht wütend, sondern viel mehr interessiert. Jonathan zuckte kurz zusammen. Er hatte nicht erwartet, dass es sein Vater hören würde. „Vater, ich denke nicht, dass ich schon bereit bin zu heiraten“, antwortete er dennoch. „Der Gedanke jemanden zu meiner Frau zu machen, stört mich.“ „Was genau stört dich?“ Sie ritten gemächlich weiter. Gerade erreichten sie einen kleinen Bach, der gemütlich vor sich hin plätscherte. Sie ließen den Pferden einen Moment Zeit, um davon zu trinken. „Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht weil ich erst einmal ein paar Jahre bräuchte, um sie kennenzulernen.“ „Hast du deswegen die Verbindung mit dieser Valentina gelöst?“ „Ihr wisst davon?“ Er hatte sie zwar erwähnt, aber nicht die Art ihrer Verbindung oder dass er sie gar heiraten würde. „Mister Alley hat weit mehr von ihr erzählt als du“, sagte Mathew ruhig. Natürlich, dass hätte er sich ja denken können, überlegte Jonathan. Mister Alley hatte nicht nur über seinen Unterricht geschrieben. „Was ist es dann?“, fragte sein Vater weiter, dem Jonathans Schweigen genug Antwort war. „Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich hatte bisher noch bei keiner Frau das Gefühl, dass ich den Rest meines Lebens mit ihr verbringen möchte oder könnte. Keine dieser Mädchen hat es geschafft mein Interesse zu halten, irgendwann haben sie mich früher oder später sogar gelangweilt“, gestand er ehrlich. „Und ihr Geld kann mich auch nicht reizen.“ „Weil du von uns genug bekommst.“ „Nein. … Vielleicht. Hast du Mutter damals des Geldes wegen geheiratet?“ „Das weißt du“, erwiderte sein Vater schlicht. „Genau das meine ich“, stieß Jonathan aus. „Du hast sie geliebt. Mutter hat mir oft von diesem Gefühl erzählt, dass sie damals hatte, als du um ihre Hand angehalten hast und genau darauf warte ich bisher. Stell dir vor du hättest dich nicht in sie verliebt, hättest du sie trotzdem geheiratet?“ Mathew sah seinen Sohn direkt an, als er ihm antwortet. „Ich habe mich das oft gefragt und die Antwort ist wohl nein, das hätte ich nicht getan.“ Dann kroch ein Lächeln auf seine Lippen. „Du bist mir recht ähnlich, deswegen haben wir dich noch nicht gedrängt.“ Diese Worte erfüllten Jonathan mit Stolz, doch das Gefühl verschwand mit der nächsten Frage seines Vaters auch so schnell, wie es gekommen war. „Willst du sagen, du hast noch nie so empfunden? Kein Herzklopfen oder schnelleres Atem, keine Aufregung in der Nähe eine Frau?“ Jonathan dachte über die Worte nach. Hatte er so etwas schon einmal empfunden? Ja, das hatte er, gestand er sich ein. Aber sollte er wirklich ehrlich zu seinem Vater sein? Jonathan schüttelte den Kopf. Wenn er nicht zu seinem Vater ehrlich war, zu wem dann? „Doch, das schon“, sagte er schließlich. „Bei wem?“ Jonathan schwieg. Er wollte nicht darüber reden. Zu lange hatte er gebraucht, sich diese Gefühle auszureden und er konnte sich denken, was sein Vater dazu sagen würde. Das gleiche, was er selbst dachte. „Mary?“ Sein Vater hielt sein Pferd und Jonathan sah erschrocken auf. „Wie kommst du auf sie?“, fragte er und versuchte seinen Schreck zu überspielen. „Ihr verbringt sehr viel Zeit miteinander, Jahre inzwischen, und bisher scheint sie dir nicht langweilig geworden zu sein. Du hast sogar in deinen Briefen nach ihr gefragt.“ „Aber das habe ich nach Misses Collest auch!“, erwiderte Jonathan schnell. Vielleicht etwas zu schnell, denn sein Vater hob eine Augenbraue. Misses Collest war die Haushälterin und kümmerte sich um alle Angelegenheiten, die Dienstmädchen betreffend und organisierte mit Jonathans Mutter den Haushalt. Jonathan kannte sie seit seiner Geburt und auch sein Vater hatte sie schon als kleiner Junge gekannt. „Deine Mutter und ich wissen es zu schätzen, dass du die letzten Tage nur mit uns verbracht hast“, fuhr Mathew fort, „aber wir sehen dich immer öfter am Fenster stehen und sehnsuchtsvoll in den Garten schauen.“ Jonathan sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er konnte nicht glauben, dass er so leicht zu durchschauen war. Er konnte sich nicht einmal bewusst daran erinnern! „Sei nicht überrascht“, sagte sein Vater lächelnd. „Wir sind deine Eltern, natürlich bemerkten wir so etwas.“ „Nur weil wir uns schon so lange kennen, heißt das nicht, dass ich mich in sie verliebt habe“, sagte Jonathan und klang fast ein wenig trotzig. Wie kam sein Vater auf diesen Gedanken? Einen Moment lang gewann Jonathan den Eindruck, als wollte sein Vater noch mehr sagen, doch er schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Dennoch sollte dir bewusst sein, dass eine Verbindung mit ihr nicht möglich ist. Sie ist ein nettes Mädchen, eine Frau, und sie ist fleißig, aber sie gehört in eine andere Klasse. Ihr Vater leert Abfallgruben und die Straßen von den Ausscheidungen der Leute. Ich will nicht sagen, dass es unüberlegt ist, was er tut, aber es ist das niederste was jemand tun kann.“ Jonathan schluckte. Er wusste, was Marys Vater tat, aber er bevorzugte es nicht, darüber nachzudenken. Ihm wurde jedes Mal schlecht davon. Aber noch schlimmer war wohl, dass Marys Vater, George, es freiwillig tat. Marys sagte einmal zu ihm, dass er es tat, weil sonst die Straßen im Dreck versinken und Seuchen sich rasend schnell ausbreiten würden. „Diese Art von… Arbeit wirft nicht einmal genug zum Leben ab, wenn Clara nicht bei uns arbeiten würde und wir Mary mit angestellt hätten, würden sie wohl schon verhungert sein. Würde Mary sich eine neue Anstellung suchen müssen, würde ihre Blindheit ihr im Weg stehen. Ich denke nicht, dass jemand sie anstellen würde, da sie nur eingeschränkt arbeiten kann.“ Nun war Jonathan mehr als verwirrt. Warum sollte sie sich eine neue Anstellung suchen müssen? Seine Eltern konnten es sich leisten noch zehn weitere Mädchen zu beschäftigen. „Sollten deine Gefühle für sie zu tief gehen, haben deine Mutter und ich schon überlegt, sie wohl aus unserem Dienst zu entlassen“, antwortete Mathew auf seine unausgesprochene Frage. „Was?! Ihr wollte sie auf die Straße setzen? Eine blinde Frau?“, fragte Jonathan und gläubig. Er musste sogar blinzeln, um ganz sicher zu gehen, dass wirklich sein eigener Vater vor ihm stand. „Das habe ich nicht so gesagt.“ „Aber-“ „Natürlich würde sie von uns eine Abfindung erhalten, eine großzügige. Damit könnte sie ihre Familie gut ernähren.“ Jonathan schüttelte abermals den Kopf. „Ich weiß nicht mehr, wer du bist. Ich hätte nie erwartete, dass du so etwas sagst“, gestand er. In dem Blick seines Vaters sah er, dass ihm diese Worte nicht leicht gefallen waren, doch das war Jonathan egal. Es änderte ja nichts an dem, was er gesagt hatte. „Jonathan, wir wollen das Beste für dich und wir glauben nun mal, dass sie das nicht ist. Auch wenn ihr euch für eure kurzen Treffen gut versteht, so heißt das nicht, dass es auch noch so sein wird, wenn ihr euch täglich sehen würdet oder gar ein Haushalt zusammen führt. Desweiteren gibt nun mal gewisse Regeln in unserer Gesellschaft an die wir uns halten sollten. Mary würde niemals in unserer Gesellschaft akzeptiert und du könntest niemals in ihrer leben. Wir werden dich zu keiner Hochzeit drängen und wir werden dir auch nicht den Umgang mit Mary verbieten. Das liegt uns wirklich fern. Du kannst sie treffen so oft du möchtest, aber sei dir bewusst, dass man euch im Apfelgarten sehen kann.“ „Was meinst du damit?“ Als Mathew ihm nicht antwortete, schloss Jonathan zu ihm auf. „Was soll das heißen?“ „Als du das letzte Mal hier warst, hat deine Mutter euch gesehen. Sie sagte du hättest Mary in den Armen gehalten und sie geküsst.“ Sprachlos starrte Jonathan seinen Vater an. Ihm fehlten schlicht die Worte, aber er musste etwas sagen! Es stimmte ja auch nicht, dass er Mary geküsst hatte – zumindest nicht das letzte Mal. Er hatte sie nur auf die Stirn geküsst und das auch nur weil sie so… Egal, er brauchte eine Erklärung. Und warum hatte ihm niemand vorher gesagt, dass man sie sehen konnte? „Das war ein Missverständnis“, platze er schließlich heraus. „So?“ „Jonathan überlegte fieberhaft. Was könnte er sagen, damit sein Vater ihm glaubte. Schließlich sprach er: „Es sah vielleicht danach aus, aber so war es nicht. Ich saß hinter ihr und habe ihre Hand beim Zeichnen geführt. Sie kann es ja nicht allein und wollte es unbedingt einmal selbst erleben. Plötzlich sagte sie, dass sie etwas in den Augen habe. Ich habe mich über sie gebeugt, um nachzusehen. Das muss es gewesen sein, was Mutter gesehen hat.“ Er sah seinem Vater fest in die Augen und hoffte, dass man ihm die Lüge nicht ansehen würde. Er hatte seine Eltern schon belogen, jedes Kind tut das, aber es war niemals eine so große Lüge gewesen. Mathew erwiderte seinen Blick einen Moment, dann ritt er weiter voran und sagte: „Es ist im Grund egal, was es war. Noch ist unsere Gesellschaft nicht so weit, dass wir uns gegen jahrhundertealte Traditionen hinwegsetzten können. Irgendwann wird es so kommen, doch nicht in den nächsten Jahren. Ich wollte nur, dass du es weist. Wir lieben dich und wollen dich nicht unglücklich sehen.“ „Ich weiß. Ich habe verstanden Vater. Aber, wenn es dich beruhigt, hege ich keinerlei zärtliche Gefühle für Mary. Sie ist eine Freundin, mehr nicht.“ Mathew lächelte traurig, sagte aber nichts mehr dazu. Den Rest des Weges ritt Jonathan weiterhin stumm neben ihn. Eigentlich hatte er vorgehabt noch an diesem Nachmittag Mary aufzusuchen. Doch das Gespräch saß so tief in ihm, dass er es nicht über sich brachte, sie anzusehen. Stattdessen vertiefte er sich in das Portrait seiner Eltern, dass er begonnen hatte anzufertigen. Die Skizzen waren fast fertig und die Leinwand konnte vorbereitet werden. Er arbeitete bis zum Abendessen und sank hinterher in einen erschöpften Schlaf. Bevor er einschlief, nahm er sich fest vor, Mary nicht mehr zu sehen. Es war besser für sie beide. Bereits am nächsten Tag durchkreuzte das Schicksal seine Pläne. Jonathan war an diesem Tag auf dem Weg zum Pferdestall. Um dorthin zugelangen musste er am Wäscheplatz vorbei. An diesem Tag war Waschtag und die Waschküche dampfte bereits seit den frühen Morgenstunden. Die erste Wäsche war aufgehangen oder zum Bleichen ausgelegt worden. Als er gerade vorbei ging, ließ ihn jedoch die schimpfende Stimme von Misses Collest innehalten. Sie musste mit einem ihrer Mädchen sehr unzufrieden sein, dachte er und hatte Mitleid mit dem Mädchen – wer immer es war. Misses Collest aufzubringen, war kein schönes Erlebnis und ihre Standpauken fanden selten ein Ende. Dabei gab es beim Wäscheaufhängen doch nun wirklich nicht viel falsch zu machen, dachte er bei sich und blieb neugierig stehen. Er ging ein Schritt auf sie zu, vermied es jedoch von Misses Collest gesehen zu werden. Er wollte sich nicht ausmalen, was ihm blühte, wenn sie ihn beim spionieren erwischte. „Was bist du nur für ein nutzloses Ding!“, schimpfte sie gerade. „Jetzt müssen wir das Ganze noch einmal waschen, weil du die Leine nicht richtig befestig hast.“ Jonathan hatte gehört, was er hören wollte und wollte gerade wieder gehen, als das Mädchen antworte. „Aber es war doch nur ein Bettlaken.“, erwiderte die Dienstmagd. Er hielt abrupt inne. Natürlich musste es Mary sein!, dachte er beinah ein wenig frustriert. Er haderte mit sich selbst. Selbstverständlich wäre es das Klügste zu gehen, dachte er. Doch sein Körper machte etwas ganz anderes. Er drehte sich um und schlich sich hinter Bettlaken verborgen, weiter an sie heran. „Na und?! Was glaubst du wie viel Arbeit es macht, diesen Grasfleck herauszubekommen! Den ganzen Vormittag werde ich damit zubringen und dabei ist das Menü für morgen noch einmal zu besprechen, die Lebensmittel zu überprüfen, das Besteck zu polieren und den Salon durchzuputzen. Du kannst ja nichts von dem machen!“ Jonathan schüttelte den Kopf. So wie sie es sagte, konnte man den Eindruck gewinnen, sie müsste wirklich alles allein machen. Dabei verteilte sie einen großen Anteil der Arbeit doch auch und nahm dann oftmals nur das Ergebnis ab. Mary schwieg und starrte nach unten. An der scharfen Kante ihres Kiefers konnte Jonathan sehen, dass sie sich auf die Zunge biss, um nichts zu erwidern. „Bring die Leine wieder in Ordnung und achte ja darauf, dass nicht noch mehr Wäsche schmutzig wird.“, sagte Misses Collest und stapfte mit dem Bettlacken unter dem Arm davon. Jonathan hörte Mary scharf ausatmen, aber sie bewegte sich erst, nachdem Misses Collest aus ihrer Hörweite verschwunden war. Dann streckte sie ihr die Zunge heraus. Jonathan biss sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken. Er beobachtet wie Mary sich nach unten beugte und nach der groben Leine tastete. Als sie es schließlich fand, hob sie sie an, um es an der Holzlatte festzubinden. Diese hatte in der Mitte ein Loch, durch das die Leine zweimal durchgezogen werden musste. Dann sollte das Leinenende verknotet werden. Auch für einen sehenden Menschen keine leichte Aufgabe, da das Seil ungeschmeidig war und sich auch so schon schlecht knoten ließ. Außerdem war die Holzlatte viel zu groß für Mary und das Loch viel zu weit oben. Mehrmals rutschte Mary die Leine aus der Hand und sie musste sie wieder am Boden suchen. „Warum muss ich die Leine auch noch festmachen!“, begann sie vor sich hinzuschimpfen. „Sie weiß doch genau, dass ich oben nicht dran komme! Kann ich nicht in der Küche Kartoffeln schälen? So schlimm kann der Fleck doch gar nicht gewesen sein!“ So leise er konnte schlich sich Jonathan an sie heran, dabei war er entsetzt und fasziniert zugleich, wie viel Schimpfwörter und Flüche Mary eigentlich kannte. Die meisten davon richteten sich gegen das Bettlaken oder direkt Misses Collest. Mary war so in ihre Schimpftriade vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Jonathan sich ihr von hinten näherte. So stand er schließlich direkt hinter ihr und nahm ihr wortlos die Leine aus der Hand. Augenblicklich erstarrte Mary. Aus den Augenwinkeln sah Jonathan wie ihr Gesicht eine tiefrote Farbe annahm. Er musste sich wirklich zusammenreisen um nicht laut loszulachen. So ruhig er konnte, band er die Leine fest. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, begann Mary eine Entschuldigung zu stammeln. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht, nicht… respektlos erscheinen. Ich habe mich selbst gemeint, meine eigene Unfähigkeit und Hilflosigkeit.“ Mary dachte wohl sein Vater oder Misses Collest selbst würden hinter ihr stehen. Er fing lauthals an zu lachen. Als er dabei ihren Gesichtsausdruck sah, wurde es nur noch komischer. Es war lange her, dass er so gelacht hatte, dachte er, während er krampfhaft versuchte sich wieder zu beruhigen. „Jonie!“, stieß sie überrascht auf. Sie drehte sich abrupt um, hob eine Hand und schlug nach ihm. Sie traf ihn sogar an der Brust. „Du kannst mich doch nicht so erschrecken!“ „Au“, keuchte er. Es tat nicht richtig weh, aber im Moment hatte er sowieso das Gefühl nicht genug Luft zu bekommen. Marys zufriedener Gesichtsausdruck erheiterte ihn noch mehr. Gerade wollte sie sich wütend umdrehen und ihre Wäsche weiter machen, als er sie an der Hand festhielt und in eine Umarmung zog. Sie roch immer noch nach Äpfel, dachte er obwohl sich auch der Geruch von frischer Wäsche darin vermischte. Mary reichte ihm gerade einmal bis zur Nasenspitze und ihre weiblichen Rundungen, die sie zweifelsohne bekommen hatte, schmiegten sich an seinen Körper. Bei dem Gedanken ließ Jonathan sie augenblicklich los, doch Mary berührte ihn weiterhin am Arm. „Das war nicht lustig.“, beschwerte sie sich und verzog den Mund. Erneut musste Jonathan grinsen. „Tut mir leid“, bemühte er sich um eine ernste Antwort. „Du hättest dein Gesicht-“ Er hielt inne, als ihm klar wurde, was er hatte sagen wollen. Jetzt war es Mary die lachte. „Was? Wir kennen uns nun so lange und du hast immer noch nicht akzeptiert, dass ich blind bin?“, fragte sie ihn spöttisch. „Nein, eher vergessen“, sagte er ehrlich. Jetzt lächelte sie ihn sanft an. „Ich dachte schon du kommst mich gar nicht besuchen“, beschwerte sie sich dann, drehte sich um und hängte ein weiteres Bettlaken über die Leine. „Du kennst meine Mutter“, sagte er, als genügte das zur Antwort. „Außerdem wollte ich sie nicht gleich wieder vor den Kopf stoßen, in dem ich dich treffe.“ „Du kannst ruhig zugeben, du es genießt wieder ihr kleiner Liebling zu sein.“, sagte sie gerade heraus und strich das Wäschestück glatt. Stumm starrte er sie an. Bei jeder anderen hätte er das nicht durchgehen lassen, aber aus ihrem Mund war es sogar ganz erfrischend die Wahrheit zu hören. Zu wenige trauten sich dies. „Kannst du das nicht lassen?“, fragte er jetzt irritiert, als sie schon wieder in den Korb voll Wäsche griff. „Nein. Es gibt nun mal Leute, die müssen für ihr Geld arbeiten“, antwortete sie und schwang es erneut über die Leine. „Aber ich rede mit dir! Sieh mich wenigstens an, wenn du mir antwortest!“, forderte er von ihr. Mary hielt tatsächlich inne und drehte sich um. Ein spöttisches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. „Dir ist klar, dass es für mich keinerlei Unterschied macht, ob ich dich ansehe oder nicht?“ „Es macht aber einen Unterschied für mich“, erwiderte er. Um ihren Mund zuckte ein Lächeln, dann kicherte sie leicht. Sie wusste sehr wohl, wie sehr sie ihn mit dieser Art nerven konnte. „Ich glaube, ich habe dich doch nicht so sehr vermisst, wie ich dachte“, brummte er und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten die Zunge abgebissen. Marys Augen schienen auf einmal noch größer zu werden. „Du hast mich vermisst?“, fragte sie ungläubig. „Also… uhm… nicht so, wie du denkst… also ich…“, stotterte er. Seit wann hatte er Schwierigkeiten mit Worten? Er wurde für seinen guten Ausdruck und Redegewandtheit gelobt! Mary kicherte, offenbar über ihn, doch statt wütend zu werden, spürte er, wie er rot wurde. Irgendetwas was definitiv anders, seit ihrer letzten Begegnung, stellte er mit klopfendem Herzen fest. „Ich habe dich auch vermisst“, sagte sie und ersparte ihn damit eine weitere Peinlichkeit. Sie legte den Kopf etwas schief und lächelte noch immer. „Kannst du mich heute im Garten treffen?“, fragte er sie unvermittelt. Er wollte mit ihr allein sein und ihre ungeteilte Aufmerksamkeit haben. Sie mit einen Stück Wäsche zu teilen, war einfach erniedrigend. Mary schüttelte traurig den Kopf und antwortete: „Ich glaube nicht, dass es möglich ist. Wir haben wirklich noch sehr viel zu tun und nachdem Misses Collest schon wütend auf mich ist, will ich sie lieber nicht darum bitten.“ Jonathan versuchte Verständnis dafür zu haben. Schließlich war es auch seine Schuld, dass im Moment so viel zu tun war. Seine Eltern gaben doch das Bankett zu seinen Ehren. „Gut, wann dann?“ „Wohl erst nach dem großen Fest, also übermorgen und auch erst dann, wenn wieder aufgeräumt und alles beseitig ist.“ Jonathan seufzte. Es würde also noch mal zwei Tage dauern. „Wirst du mir dann zeigen, was du gezeichnet hast?“, unterbrach sie seine Gedanken. „Ja, das habe ich dir doch versprochen“, erwiderte er sanft. „Nur weiß ich gar nicht, womit ich anfangen soll. Es sind so viele Skizzen.“ „Zeige mir dass, was dir selbst am besten gefällt, was du dir immer wieder angesehen hast.“ „Das werde ich.“ „Dann freue ich mich darauf und werde daran denken, wenn Misses Collest mich wieder ausschimpft.“, sagte Mary leichthin, als wäre der Umstand, dass Misses Collest sie schimpfte nicht weiter tragisch und etwas Alltägliches. Vielleicht war es das ja auch, überlegte er. Dennoch konnte er sich ein Schmunzel nicht verkneifen. „Du solltest jetzt vielleicht gehen“, riet Mary ihm plötzlich. „Ich darf dir keine Gesellschaft leisten?“ „Selbstverständlich habe ich nichts dagegen, aber ich fürchte du wirst mich nur ablenken. Außerdem würde das den anderen Mädchen ganz und gar nicht gefallen. Sie sind schrecklich eifersüchtig.“ „Eifersüchtig? Worauf?“, fragte er irritiert. Mary kicherte, als wäre die Antwort doch offensichtlich. Für ihn jedoch ganz und gar nicht. „Sie sind eifersüchtig, dass du mit mir sprichst. Sie siehst du offenbar kaum an.“ Jonathan schwieg einen Moment. Er behandelte die anderen Mädchen mit Respekt, aber es stimmte, dass er mit ihnen noch nie richtig gesprochen hatte, nicht mehr als es zwischen Herr und Dienstmagd sonst üblich ist. Mary war da die große Ausnahme. Vielleicht wäre es wirklich besser, er ginge. Schon allein der Warnung seines Vaters wegen. „In zwei Tagen dann?“, fragte er dennoch noch einmal. „Ich werde da sein.“, versprach sie. Erneut griff sie in den Wäschekorb und nahm ein weiteres Bettlaken heraus. Jonathan drehte sich kopfschüttelnd um und ging mit einem Lächeln auf dem Gesicht davon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)