Unter den Apfelbäumen von maidlin (Prequel zu Drachenkind) ================================================================================ Kapitel 3: Die 3. Begegnung --------------------------- Er ging das Geschehene in Gedanken oft durch und doch sah er keinen Fehler in seinem Handeln. Vielmehr kam er zu der Überzeugung, dass er sich von Anfang an nicht zu sehr auf sie einlassen hätte sollen. Jonathan war der festen Meinung, dass der Bruch mit Mary ihn nur Gutes bringen konnte. Die wenige Zeit, die er bei seinen Eltern verbrachte, sollte er schließlich mit ihnen verbringen und nicht damit ein blindes Mädchen im Garten zu treffen. Solange er in seinem Elternhaus war, sah er Mary nicht wieder. Er vermied es. Er machte lange Ausritte, begleitete seinen Vater oder leistet seiner Mutter Gesellschaft, ja er vertiefte sich sogar freiwillig in die Hausarbeiten die er verfassen musste. Jonathan blieb einen Monat und diese Zeit erschien ihm unendlich lang. Aber niemals hätte er sich eingestanden, dass Mary sein Leben ein wenig interessanter machte. Er war entschlossen sie zu einem Mädchen seiner Vergangenheit zu machen, die keine weitere Rolle in seinem Leben spielen würde. Dieser Vorsatz gestaltet sich als durchaus schwierig, denn auch wenn er Mary nicht mehr sah, so schienen ihre Worte ihn regelrecht zu verfolgen. Die Unternehmungen mit Robert und Nikolaus brachten Jonathan nicht mehr den Spaß, wie sie es vorher getan hatten. Wenn die beiden an Markttagen wieder darüber sprachen, als Beweis ihres Mutes und ihrer Geschicklichkeit Früchte oder andere Dinge zu stehlen, konnte Jonathan nicht umhin sich die Marktleute genauer anzusehen. Der Großteil von ihnen erschien ihm abgehärmt. Wenn sich keine Kundschaft an den Ständen einfand, sah er die Sorgen auf den Gesichtern der Händler, er sah plötzlich Kinder und Frauen, die ebenfalls - den oftmals weiten - Weg bis in die Stadt unternommen hatten und versuchten ihre Ware zu verkaufen. Hatten sie wirklich das Recht, so zu handeln, wie sie es taten? Auch, wenn er Nikolaus und Robert noch oft begleitet, so konnte er sich nicht mehr für ihre Ideen begeistern. Auch das Springen in den Fluss kam ihm unreif vor. Was hatten sie auch schon davon? Außer, dass sie vielleicht jedes Mal mit dem Leben davon kamen. Sollten sie es dafür riskieren? Wohl kaum. Selbst wenn sie sich über die ältere Dame lustig machten, konnte er nicht mehr richtig mit lachen. Immer hatte er ein schales Gefühl dabei. Ebenso erging es ihm auch mit den Momenten, die er mit anderen Damen verbrachte oder sogar seine Studien. All das konnte ihn nicht mehr recht erfreuen. Jonathan konnte ihre Worte einfach nicht abschütteln. Wenn er an ihre Worte dachte, dachte er auch an ihr Gesicht. Und damit auch immer an den steinernen Ausdruck und ihre Tränen, an jenem Nachmittag unter den Apfelbäumen. Er hatte auf ihre Frage mit nein geantwortet. Er hatte sie in die Küche geschickt. Er hatte ihr einen Befehl erteilt. Es hatte sich nicht so angefühlt, wie bei den anderen Dienstmädchen. Es hatte irgendwie wehgetan, obwohl das nun ganz und gar albern war. Trotzdem konnte er kein anderes Wort dafür finden. Es dauerte ein ganzes viertel Jahr, bis er endlich darüber nachdachte, ob seine Handlungen und Worte nicht vielleicht doch zu viel gewesen waren. Vielleicht hätte er nicht so heftig reagieren sollen? Doch konnte er sich bei ihr entschuldigen? Sollte er sich entschuldigen? Ausgeschlossen! Es bestand vielleicht die Möglichkeit, dass sein Verhalten nicht angemessen gewesen war, aber ihres ja wohl auch nicht, sagte er sich. Auf einmal spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf und sah erschrocken auf. „Ah, du bist wach, wie nett! Wiederhole, was ich gerade gesagt habe!“, sagte sein Lehrer für Philosophie, Mister Alley, mit einem sarkastischen Unterton, den Jonathan beinah greifen konnte. Jonathan blinzelte verwirrte und es dauerte, ehe er wusste, was eigentlich los war. Er hatte gerade seine tägliche Diskussionsrunde mit Mister Alley und sollte… Was sollte er noch mal tun? „Recht und Unrecht! Was ist deine Meinung dazu!“, blaffte ihn sein Lehrer an. Richtig, darum war es gegangen und das hatte ihn wieder zu Mary und ihrer letzten Begegnung gebracht. „Ich weiß nicht“, sagte er unsicher. Was war nur los mit ihm?! Noch nie war er um Antworten verlegen und noch nie hatte er sich so vor einem anderen blamiert und schon gar nicht vor einem Lehrer. Mister Alley stöhnte und warf das Stück Pergament, mit dem er ihn gerade geschlagen hatte, zur Seite. „In Ordnung, andere Frage, was geht in deinen Kopf vor, wenn du so wie gerade eben, vor dich hinstarrst.“ „Nichts. Können wir jetzt weiter machen? Ich treffe mich heute Abend noch mit Nikolaus und würde bis dahin gern fertig werden“, antwortete er schnippisch. „Es liegt doch nur an dir. Also, was ist recht und was ist unrecht?“ Jonathan atmete schwer aus. Diese Diskussionen ermüdeten ihn oft, aber es war noch nie so schlimm, wie an diesem Tag gewesen. Er versuchte doch gerade selber herauszufinden, was Recht und Unrecht ist. Oh, aber möglicherweise würde Mister Alley ihm einige Antworten können. Schließlich war das ja auch seine Aufgabe und wurde dafür gut genug von seinem Vater entlohnt. „Ist es Recht oder Unrecht, wenn ein Mädchen einem Jungen etwas … übel nimmt, an dem sie doch eigentlich die Schuld trägt?“ „Nun das kommt wohl auf die Situation an. Präzisiere deine Frage“, forderte sein Lehrer ihn auf. Damit hatte er nun nicht gerechnet. Stumm überlegte Jonathan wie er es noch anders formulieren konnte, doch ihm wollte nichts einfallen, was die Sache auch wirklich richtig dargestellt hätte. Da ihn diese Angelegenheit nun schon so lange verfolgte, hatte er die Hoffnung bereits aufgegeben, dass er es irgendwann vergessen würde. Seine Freunde brauchte er erst gar nicht um Rat fragen. Sie würden es nicht verstehen. Eine Freundschaft existierte für sie nur unter Männern und Frauen waren Objekte der Lust und Begierde, etwas womit man sich schmückte. Auch Jonathan hatte so darüber gedacht, doch seitdem das mit Mary geschehen war, wollte er keine rechte Freude mehr an dem Gedanken finden. „Ich verlange, dass sie stillschweigen wahren“, zischte er schließlich und funkelte seinen Lehrer drohend an. „Ich verspreche es dir.“ „Also schön… Ich habe ein Mädchen geküsst und sie… war nicht erfreut.“ „Inwiefern?“ „Sie hat die ganze Zeit vom Küssen erzählt, da muss sie sich doch nicht wundern, wenn ich es dann auch tue“, erwiderte er heftig. Schon wieder hatte er das Gefühl seine Handlung zu rechtfertigen. „Aber hat sie denn gesagt, dass sie dich küssen möchte?“ „Nein“, gab er zu. „Warum hast du es dann getan? „Na, weil sie die ganze Zeit davon erzählt hat! Ich wollte es einfach!“ „Und sie fand es nicht gut“, sagte Mister Alley sachlich. „Nein!“, stieß Jonathan frustriert aus. „Sie fragte mich, warum ich das getan habe und ich habe ihr das gleiche gesagt wie ihnen, darauf hin wollte sie davon gehen und ich habe ihr befohlen zu bleiben.“ „Befohlen? Das heißt sie ist ein Dienstmädchen?“ „Ja. Nein! Sie ist…“ Jonathan brach ab und stand plötzlich auf. Er konnte nicht ruhig sitzen bleiben und davon erzählen. Seine Gefühl und Gedanken waren so widersprüchlich, dass es ihn ganz kribbelig machte. „Jonathan was hältst du davon, wenn du wirklich von vorn beginnst und mir etwas über das Mädchen erzählst. Vielleicht kann ich dich dann besser verstehen und sie auch“, sprach Mister Alley ruhig. Jonathan lief ein paar Mal im Zimmer auf und ab, wägte das für und wider von Mister Alley Vorschlag ab. Er wollte sich niemanden anvertrauen, er kam sich schwach und dumm dabei vor. Andererseits brannte er darauf zu erfahren, was ein erfahrener Mann, ein verheirateter Mann, davon hielt. Was sollte auch schon groß passieren? Er kannte Mary nicht und sollte er gedenken, etwas von dieser Unterhaltung auszuplaudern, würde Jonathan der letzte Schüler gewesen sein, den er je hatte. „Von mir aus“, knurrte er endlich. Also erzählte Jonathan Mister Alley von Mary. Er erzählte ihr von ihrer Freundschaft, dem Kuss und wie es dazu kam und welche Worte danach zwischen ihnen gesprochen wurden. Nachdem Jonathan geendet hatte, sagte Mister Alley etwas, was ihm gar nicht gefiel: „Sie hatte alles Grund wütend auf dich zu sein. Du hattest nicht das Recht dazu sie zu küssen. Vor allem nicht, um deine Neugier zu befriedigen oder dir gar einen Spaß daraus zu machen. Du hast die Gefühle eines jungen, keuschen Mädchens mit den Füßen getreten. Ein Kuss ist für jedes Mädchen etwas Besonderes. Sie träumen heimlich davon, wie sie den ersten Kuss von demjenigen bekommen, dem sie ihr Herz schenken werden und nicht von einem reichen, verwöhntem Kind, der nur seine Triebe ausleben will.“ „Passen sie auf, was sie sagen“, warnte Jonathan ihn mit knurrender Stimme. Er hatte ihn zwar um seine Meinung gebeten, aber deswegen ließ er noch lange nicht so mit sich reden. „Das Gute ist, dass du deinen Fehler bereits eingesehen hast und es dir offenbar leid tut, sonst würdest du wohl nicht Mitten im Unterricht daran denken“, fuhr Mister Alley fort, als hätte er das andere gar nicht gehört. Jonathan knirschte mit den Zähnen, sagte aber nichts. Er brauchte eine Antwort und Mister Alley war der einzige mit dem er darüber sprach und auch jemals sprechen würde. „Offenbar bedeutet dir dieses Mädchen viel.“ „Wie meinen sie das? Wie kommen sie denn darauf?!“, fragte Jonathan aufgebracht. Er hatte den Eindruck, dass Mister Alley mehr in diese Frage implizierte, als eigentlich zwischen ihm und Mary war. Mister Alley musterte ihn einen Moment stumm, sagte dann aber: „Die Freundschaft zu ihr bedeutet dir viel, sonst würdest du nicht so intensiv darüber nachdenken. Gehe ich richtig in der Annahme, dass du ihre Freundschaft gern zurück hättest?“ Stumm nickte Jonathan und sah nach unten. Er ärgerte sich ein wenig über sich selbst, wo er doch wirklich jeden anderen zum Freund haben könnte. Er war beliebt bei den Frauen und Männern und manchmal erhielt er so viele Einladungen, dass er nicht wusste, welche er annehmen sollte. Doch in Marys Gesellschaft fühlte er sich auf unerklärliche Weise am wohlsten. „Du solltest vielleicht etwas für sie tun, was sie vollkommen überrascht und womit sie nie gerechnet hätte - natürlich neben der ausgesprochenen Entschuldigung. Gibt es etwas, was sie besonders mag?“ Jonathan runzelte die Stirn. Er sollte Mary eine Entschuldigung aussprechen? Er sollte es in Worte formulieren? Das war doch das gewesen, was er unter keinen Umständen tun wollte. War ihm Mary wirklich so viel wert? Wann musste er sich das letzte Mal für irgendwas entschuldigen? Er konnte sich nicht so recht erinnern. Musste er das jemals tun? Es widerstrebte ihn ein wenig und er zweifelte daran, ob er sich dazu überwinden konnte. Aber die Gespräche mit Mary fehlten ihm und ihr verletzter Gesichtsausdruck ließ ihn manchmal schlecht schlafen. Also blieb ihm wohl nichts anderes übrig, fügte er sich stumm. „Sie mag Blumen“, begann er schließlich. „Sie kann sie nicht nur berühren, sondern auch riechen, sagt sie. Ansonsten gibt es glaube ich nichts, was sie überhaupt nicht mag. Selbst Spinnen und Mäuse findet sie im Gegensatz zu anderen Frauen faszinierend.“ „Warst du schon mal in den Feengärten?“ „Was? Nein, was soll das sein?“ „Es sind Gärten, die eine ältere Frau anlegen ließ. Man nennt sie so, weil sie einem Ort aus einem Märchen gleich kommen. Es gibt verschlungene Wege, traumhafte Statuen, exotische Pflanzen und extra angelegte Reiher und Teiche. Es ist wirklich sehr schön dort.“ „Aber was nützt es mir? Ich kann keine Statue oder Blüte mitnehmen und sie ihr bringen. Bis ich zu Hause wäre, wäre sie längst verwelkt.“ „Das stimmt, lass mich darüber nachdenken“, Mister Alley schwieg einen Moment und Jonathan setzte sich wieder. „Sie ist blind, sagtest du?“ „Ja“, erwiderte Jonathan etwas genervt. Er hatte gedacht, dass dieses Gespräch sehr viel kürzer sein würde. „Oh, du könntest ihr ein Bild von den Gärten mitbringen! Mit Hilfe des Bildes könntest du ihr die Gärten zeigen. Mit dem Finger kann sie die Wege entlanggehen und auch Blüten nachzeichnen. So könntest du ihr die Pflanzen erklären.“ Jonathan dachte darüber nach. Es wäre eine Möglichkeit, schließlich hatte er schon oft Dinge für Mary beschrieben. „Vielleicht würde ihr das zeigen, wie ernst es dir ist.“ „Und woher bekomme ich so ein Bild?“ Jetzt lächelte Mister Alley ihn an. „Nun, ich denke, damit es wirklich den Wert erhält, den es haben soll, wirst du es selbst zeichnen müssen.“ „Ich?!“ „Ja, außerdem kenne ich niemanden, der von diesen Gärtenschon Bilder angefertigt hat, obwohl es sie zweifellos gebe wird.“ „Aber ich habe in meinen ganzen Leben noch nie gezeichnet. Ich kann so etwas nicht.“, sagte Jonathan perplex. Allein die Vorstellung sich die Finger mit Kohle einzuschmieren oder vielleicht noch seine Kleidung hatte etwas Grusliges für ihn. „Ich kann dir helfen, aber machen musst du es am Ende allein. Es ist auch nur ein Vorschlag gewesen, vielleicht fällt dir noch etwas anderes ein. Im Grund besteht alles was du siehst nur aus Linien. Du musst versuchen diese Linien aufs Papier zu bringen, dann hast du schon einen kleinen Teil geschafft.“ „Aha.“, erwiderte Jonathan bloß. Er fühlte sich leicht überfordert. Jonathan ließ sich wirklich Zeit darüber nachzudenken. War ihm Marys Freundschaft wirklich so viel wert? Aber wollte er das nächste Mal zu seinen Eltern zurückkehren und nicht mit Mary sprechen? Den letzten Monat, den er in seinem Elternhaus verbrachte, war ein wenig langweilig und bedrückend gewesen. Er vermisste die Gespräche mit ihr und ihm fehlte Marys seltsames Kichern, so sehr es ihn auch nerven konnte. Innerlich seufzte Jonathan. Er konnte es ja versuchen und wenn es ganz furchtbar wurde, konnte er das Ergebnis immer noch verbrennen und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Er teilte Mister Alley seinen Entschluss mit und am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg zu den Gärten. Einen halben Tagesritt waren sie entfernt und als Jonathan die Feengärten sah - er, der den prächtigen Garten seiner Mutter steht‘s vor Augen hatte - konnte auch er nur noch staunen. Nicht nur Mary würde dieser Ort gefallen, sondern auch seiner Mutter, dessen war er sich sicher. Er musste ihnen beiden davon erzählen und wenn er ihnen vielleicht ein Bild würde zeigen können… Mister Alley gab ihm einen Bogen Pergament und ein Stück Zeichenkohle, zeigte ihm, wie man es mit einem Messer spitzte und wies Jonathan an, mit dem vorderen Weg und den Bäumen die entlang wuchsen anzufangen. Zuerst einmal sollte er nur grobe Skizzen machen und ein Gefühl dafür bekommen. Äußerst skeptisch machte sich Jonathan ans Werk. Dies war der Tag an dem Mister Alley Jonathans künstlerische Begabung entdeckte. Jonathan erfasste die Formen der Blumen und Bäumen sofort genau und es gelang ihm schon nach wenigen Versuchen sie beinah naturgetreu auf das Pergament zu bannen. Vielleicht trugen die vielen Beschreibungen, die er für Mary immer gemacht hatte, dazu bei. Auch da hatte er sehr genau beobachten müssen. Jonathan selbst war fasziniert von dem was er tat. Es schien ihm manchmal nicht real, dass er etwas so wunderschönes wie eine Blumenblüte nachzeichnen konnte und es auch noch so aussah, wie die Vorlage. Es bereitet ihm Freude, dass er mit wenigen Strichen etwas lebendiges, was er direkt vor sich sah, für immer auf dem Papier festhalten konnte. Sie verbrachte immer mehr Stunden in dem Garten und so kam es, dass Mister Alley, der eigentlich Jonathans Philosophielehrer war, ihn bald auch in Kunst unterrichtete. Mister Alley hatte selbst eine Ausbildung genossen und konnte Jonathan gut in seiner Entwicklung helfen. Es war aber keineswegs so, dass Jonathan nur noch zeichnete. Er traf seine Freunde weiterhin, besuchte Feste und lernte ganz unterschiedliche Menschen kennen. Doch seine freite Zeit verbrachte er nicht mehr mit Langweile oder üblen Späßen, sondern er griff zum Pergament und Kohle und versuchte seine Fertigkeiten zu verbessern. Er wechselte seine Motive häufig, kehrte aber doch immer wieder zu seinem Ausgangsmotiv, dem Weg mit dem Bäumen an den Seiten, zurück. Er hatte den Ehrgeiz entwickelt Mary erst dann gegenüber zu treten, wenn er ihr wirklich eine, in seinen Augen annehmbare Kopie des Gartens zeigen konnte. Und was das anbelangte, war Jonathan äußerst selbstkritisch. Viele Bilder hat er zerrissen und begonnen, wenn auch nur ein Strich nicht so saß, wie er es wollte. Erst ein Jahr später war er recht zufrieden mit seinem Werk. Damit im Gepäck machte er sich auf den Rückweg zu seinen Eltern. Neben dem Bild hatte er auch einen Brief von Mister Alley an seine Eltern bei sich. Darin legte sein Lehrer ihnen eine künstlerische Ausbildung für ihren Sohn ans Herz. Jonathan war unschlüssig, ob er so etwas überhaupt wollte. Künstler waren oft arm und standen in den Diensten anderer. Niemals würde ihm das wiederfahren. Aber die Aussicht fremde Länder zu bereisen und andere Techniken und Möglichkeiten des Zeichnens und Malens kennenzulernen fand er sehr aufregend. Nach all den Jahren hatte er etwas gefunden, was ihn wirklich interessierte. Doch den Brief wollte er ihnen erst geben, wenn er mit Mary gesprochen hatte. Er traf sie nicht im Obstgarten wieder, wie er gehofft hatte. Erst nach einigem Suchen fand er sie vor dem Hinterausgang, auf einem kleinen Hocker sitzend, mit einem großen Bottich Kartoffeln vor sich. Eine Kartoffel hatte sie in der Hand und schälte sie sicher mit dem Messer. Dabei drehte sie die Knolle immer wieder zwischen den Fingern, um sie auf Reste der Schale zu überprüfen. Mary summte sie eine Melodie vor sich hin und schien in ihren eigenen Gedanken zu sein. Jonathan war aufgeregt und die Situation behagte ihm ganz und gar nicht. Trotzdem ging er auf sie zu. Die Worte, die er zu ihr sagen wollte, hatte er sich schon lange zu recht gelegt. Nun wiederholte er sie in Gedanken. Er musste sie dazu bringen, sich allein mit ihm zu treffen - wenn sie ihm überhaupt zuhören würde. Inzwischen hatte er nämlich gänzlich eingesehen, dass sein Verhalten falsch gewesen war. Er hätte sie nicht küssen dürfen, nicht gegen ihren Willen und doch… bereute er es nicht. Den Blitz, den er in diesem Moment empfunden hatte, hatte er bei keiner weiteren gespürt. Nach Mary hatte er noch einige Frauen geküsst. Plötzlich hielt Mary inne in ihrem Lied und hob den Kopf. Sie runzelte die Stirn und schien angestrengt zu lauschen. „Ist da jemand?“, fragte sie und hielt das Messer ein Stück höher. Es sah fast bedrohlich aus. Musste sie einen Übergriff fürchten? „Wer ist da?!“, fragte sie noch einmal. Jetzt musste er schmunzeln. Es war wie beim ersten Mal ihrer Begegnung und auch beim zweiten Mal. Doch dieses Mal würde er gleich die richtigen Worte finden müssen. „Jemand, der dich um Verzeihung bitten möchte.“ Ihr Mund formte ein stummes „Oh!“ und sie ließ vor Überraschung das Messer fallen. Ihre Überraschung währte jedoch nur einen kurzen Moment. Die Kartoffel, die sie in der Hand hielt, legte sie in eine weitere Schüssel ab, die Jonathan vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Sie erhob sich und machte einen Knicks vor ihm. Wieder spürte er diesen kurzen Stich in seinem Herzen. „Sir“, sagte sie schlicht und schien auf seine Anweisung zu warten. Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Ich habe von eurer Ankunft gehört und freue mich, dass ihr wohlauf seid. Eure Mutter wird sicher erfreut sein, euch wieder bei sich zu haben. Wie lange werdet ihr uns mit eurer Anwesenheit beehren?“ „Was, willst du mich so schnell wieder loswerden?“, fragte er spitz und sah, wie sie zusammenzuckte. „Nein, doch da euer Besuch so überraschend kommt, werden einige Vorbereitungen in der Küche zu treffen sein, Sir.“ Jetzt hatte er genug! Mit großen Schritten ging er zu ihr. Mary hörte es und ihr Körper versteifte sich. Sie wusste nicht, was er tun würde – er wusste es nicht einmal selbst. Er zügelte die Ungeduld, die in ihm aufkeimte. Er musste sich zusammenreisen und ruhig bleiben. Sonst würde er es wieder verderben. Langsam nahm Jonathan ihre Hand in seine, so wie er es immer getan hatte. „Nenn mich nicht Sir!“, blaffte er sie dennoch an. Es klang schärfer, als er beabsichtig hatte. „Wir wünscht ihr angesprochen zu werden?“ Jonathan schüttelte heftige den Kopf. Noch nie hatte er jemand so stures getroffen, außer sich selbst vielleicht und das machte es wohl auch so schwer. „Mary, was passiert ist, tut mir wirklich leid. Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich weiß ja selber nicht einmal, warum ich es getan habe. Ich war wohl einfach neugierig, das ist alles. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Mir ist bewusst, dass es das nicht besser macht, aber ich meine es wirklich, wirklich ernst. Nie wollte ich dich verletzen oder dich in deiner Ehre kränken. Bitte Mary, verzeih mir.“ Mary schwieg lange und Jonathan hielt ihre Hand fest in seiner. Er hatte dass sie sonst davon lief. „Ihre Worte klingen ehrlich und voller reue“, begann sie schließlich. „Es freut mich zu hören, dass ihr zu Einsichten fähig seid.“ Ihre Stimme hatte noch immer diesen demütigen Tonfall, doch ihre Augen schienen schon wieder ein wenig mehr zu funkeln. „Hin und wieder soll das vorkommen“, gab er zu und konnte die Erleichterung in seiner Stimme hören. „Ja, hin und wieder geschehen noch Wunder.“ Ihre Mundwinkel zuckten leicht nach oben und da wusste Jonathan, dass alles gut werden würde. „Heißt, dass du verzeihst mir?“, fragte er dennoch mit klopfendem Herzen. Mary legte den Kopf schief und seufzte dann. „Ich war sehr wütend auf dich und habe mir fest vorgenommen, dass wenn du dich jemals bei mir entschuldigen solltest, ich es dir nicht leicht machen werden. Aber…“, sie holte tief Luft, währen Jonathan fast vor Anspannung umkam, „ich kann dir einfach nicht lange böse sein. So bist du nun einmal und ich habe das schon lange akzeptiert.“ „Wie, so bin ich nun einmal?“, fragte er irritiert, „Du bist es gewohnt alles zu bekommen, was du möchtest und wenn nicht, dann nimmst du es dir. Es ist kein böser Wille, du weißt es nur nicht besser.“ „Soll das heißen, ich bin verwöhnt und egoistisch?!“ „Wenn du es so ausdrückst…“ „Mary!“ „Jonathan, wir wissen beiden, dass es stimmt und das ist in Ordnung. Deswegen habe ich die Nachmittage und Gespräche trotzdem mit dir vermisst. Ich genieß es bei dir zu sein und mit dir zu reden oder mir von dir vorlesen zu lassen, schon immer. Dein Denken und Verhalten ist nun mal ein Teil deiner Persönlichkeit, so wie es ein Teil von meiner ist, dass ich erst rede und dann denke und dabei oft nicht den richtigen Ton treffe.“ Bei ihren letzten Worten wurde sie leicht rot und sah nach unten. „Nein… Nein, das tust du nicht“, gab er zu. Jonathan sagte nichts zu ihren anderen Worten. Wenn er etwas aus ihrer Auseinandersetzung gelernt hatte, dann das er über ihre Worte nachdenken würde, bevor er überhitzt darauf reagierte. „Wir sind beide nicht vollkommen.“ „Nein“, stimmte er ihr zu. „Aber ich bin nah dran.“ Da war es wieder: Marys Kichern. Erleichterung und Freude durchströmte ihn. Vergessen waren all ihre anderen Worte. Ihr Kichern war so unschuldig, so echt und befreiend, nie würde er sich daran satthören können. Manchmal verstand er zwar immer noch nicht, warum sie eigentlich lachte, aber es war ihm egal. Dann stimmte eben etwas mit ihrem Kopf nicht und mit seinem wohl auch nicht, wenn er sich daran erfreute, aber dann war es ebenso. Es war genau jenes Kichern, welches ihm das Gefühl gab zu Hause zu sein. Plötzlich wurde Mary wieder ernst und Jonathan fragte sich einen Moment, was nun schon wieder in ihrem Kopf vorging. „Ich verzeihe dir, unter einer Bedingung“, sagte sie unerwartet. „Aber du hast mir doch schon verziehen!“, erwiderte etwas genervt. Er würde sie nie verstehen. „Oh stimmt ja. Dann hab ich eben eine Bitte an dich.“ „Und die wäre?“, fragte er skeptisch. Bei ihr konnte man nie wissen. „Darf ich dich wieder Jonie nennen?“ Ihre grauen Augen funkelten ihn an und obwohl er diesen Namen nicht mochte, wusste er, dass er ihr diese Bitte nicht abschlagen konnte. „Muss das sein?“, versuchte er es wenigstens. Jetzt grinste sie breit. „Ja, weil du immer mein Jonie sein wirst.“ Er stieß einen Seufzer aus, der tiefe aus seiner Kehle kam. „Wenn es sein muss“, gab er sich schließlich geschlagen. Marys Gesicht erhellte sich sofort, fiel aber wieder zusammen, als er seine nächsten Worte sprach: „Aber dafür verlange ich etwas von dir.“ „Was ist es?“ „Triff mich heute Nachmittag unter den Apfelbäumen. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Allein bei der Vorstellung ihr das Bild zu zeigen, schlug sein Herz schon schneller und er zweifelte nicht zum ersten Mal an dieser Idee. Mary runzelte die Stirn, als sie ihm antwortete. „Ich weiß nicht, ob ich es einrichte kann. Der Sohn des Hausherrn ist zurückgekommen und es gibt viel zu tun. Es soll heute Abend ein Festmahl serviert werden.“ „Ich bin sicher, wenn ich ihn darum bitte, wird er den Küchenchef davon überzeugen können, auf dich zu verzichten.“ „Ich weiß, dass du das könntest, aber lass es bitte“, erwiderte sie ernst. „Ich werde es versuchen, kann dir jedoch nicht versprechen wann.“ „Das macht nichts, ich warte auf dich.“ „Dann solltest du mich jetzt besser allein lassen, damit ich auch wirklich pünktlich fertig werde und nicht noch Wäsche waschen muss zur Strafe.“ Jetzt war er es der lachte. Jonathan führte sie an der Hand zum Hocker zurück und legte ihr anschließend das Messer wieder in die Hand. Schon griff Mary in den Bottich und begann eine weitere Kartoffel zu schälen. „Du verlierst wirklich keine Zeit.“, stellte er amüsiert fest. „Geh jetzt, ich versuche mir vorzustellen, was du mir wohl zeigen möchtest.“ Lachend und kopfschüttelnd gleichzeitig ging Jonathan davon. Während er auf Mary wartete begann Jonathan Skizzen vom Obstgarten zu machen. Er wusste nicht warum, aber das Bild wie Mary unter den Apfelbäumen saß kam ihn in den Sinn und damit der Wunsch es zu malen. Er hielt in seiner Bewegung inne und sah zu dem Apfelbaum herüber, dessen Zweige besonders tief hingen. Früher, als sie noch Kinder gewesen waren, war das sein Lieblingsversteck gewesen. Aber egal, wie oft er im Kreis gegangen war, um sie zu verwirren, Mary hatte ihn immer gefunden. „Jonie?“, hörte er eine Stimme fragen und sah Mary zwischen den ersten beiden Apfelbäumen stehen. „Ich bin hier.“, antwortete er und schob die Skizze in seine Mappe zurück. Dann stand er auf und ging zu ihr herüber. Vorsichtig nahm er sie bei der Hand und führte sie in die Mitter der Bäume, wo sie ebenfalls als Kinder schon oft gesessen hatten. Ihre Haare waren nun offen und nicht mehr unter der strengen Haube versteckt. „Ich mag es, wenn du deine Haare offen sind“, sagte er laut und bewunderte einmal mehr die Locken und ihre Farbe. „Ich auch“, erwiderte sie und fuhr sich mit den Finger noch einmal hindurch. „Diese Haube ist einfach furchtbar!“, schimpfte sie. „Obwohl es sich nicht gehört die Haare offen zu zeigen, aber ich ertrage das Gefühl auf meinem Kopf nicht mehr.“ Es war nicht das erste Mal, dass sie sich darüber beschwerte und Jonathan konnte es ihr nicht verdenken. Ihre Locken waren so füllig und auch prächtig, dass die Haube für sie viel zu eng schien. Keine andere Frau, die er getroffen hatte, hatte Haar gehabt, das ihn auf vergleichbare Weise fasziniert hatte. „Also, was wolltest du mir zeigen?“, fragte sie ihn gerade heraus, nachdem sie sich gesetzt hatte. Die Neugier war eindeutig zu hören. „Oh, das…“ Jetzt war es ihm peinlich. Was, wenn sie es nicht mochte oder es sich gar nicht vorstellen konnte? „Nun sag schon!“, drängte sie ihn. Wieder kam Marys unheimlich neugieriges Wesen zum Vorschein, dass sei einfach nicht verbergen konnte. Er musste schmunzeln und nahm schließlich seine Mappe zur Hand, die neben ihnen lag. Die Mappe hatte er sich gekauft, nachdem er bereits ein paar Skizzen angefertigt hatte und es ihn immer mehr gestört hatte, dass die Bilder lose in seinem Zimmer gelegen hatten. Außerdem ließen sie sich so sehr viel praktischer transportieren. Jonathan schlug sie auf und zog das Bild des Feengartens heraus. Es zeigte den Hauptweg, der links von Kamelien gesäumt war. Auf der rechten Seite wuchsen Haselnusssträucher, Holunderbüsche und Fliederbäume. Die Bäume und Büsche blühten, während die Kamelien gerade erst dabei waren Knospen auszubilden. Die Kamelienblüten hatte er auf einem weiteren Blatt skizziert. Jonathan setzte sich ein wenig neben sie und er spürte wie sie sich dabei versteifte. Er sagte nichts dazu, doch das dumpfe Gefühl in seiner Brust konnte er nicht abschütteln. Es tat ihm weh und kränkte ihn ein wenig. „Gib mir deine Hand“, sagte er und bevor sie antworte konnte, nahm er die rechte auch schon seine eigene Hand. „Was machst du?“ „Als ich darüber nachgedacht habe, was geschehen ist und wie… ich dir zeigen könnte, dass es mir wirklich leid tut, hat mein Lehrer, Mister Alley, vorgeschlagen dir auf ganz besondere Weise die Orte zu zeigen, die ich besucht habe. Er sagte, ich solle sie zeichnen und dir dann zeigen.“ Mary runzelte die Stirn. Er würde es ihr zeigen müssen. „Streck deinen Zeigefinger aus.“, wies er sie sanft an und sie tat es. Dann setzte er ihren Finger auf dem Papier an, in der Mitte des Weges. „Mister Alley ist mit mir zu einem Garten geritten, der noch prächtigere und seltenere Pflanzen enthält, als der meiner Mutter. Wenn man hineinkommt steht man an der Stelle, an der dein Finger jetzt ist. Der Weg nimmt erst eine leichte Biegung nach rechts und dann nach links. Was danach kommt sieht man nicht, da zu viele Pflanzen die Sicht versperren.“ Als er gesprochen hatte, hatte er Marys Finger den Weg entlang geführt, so dass sie nachvollziehen konnte, wovon er sprach. Dann setzte er ihren Finger wieder an den Ausgangspunkt an. „Wir gehen hier los und schauen zuerst auf die linke Seite, einfach weil ich immer zuerst nach links schaue. Dort wachsen Kamilien. Sie sind noch jung und nicht so groß, doch reichen sie mir bereits bis an die Hüfte. Sie haben die Form eines Busches, aber man kann den Stamm deutlich erkennen.“ Mit dem Finger fuhr Jonathan den Stamm nach und anschließend die Blätter. „Die Blätter sind länglich, schmal und laufen nach oben hin spitz zu. Möchtest du näher heran gehen und die eine Blüte genauer anschauen?“ Stumm nickte Mary. Aus seiner Mappe zog Jonathan das Bild mit dem Kamilienblüten und setzte Marys Finger in der Mitte der Blüte an. „Bei diesen Pflanzen sieht man den Kelch kaum, da die Blütenblätter so zahlreich sind“, erklärte er und berührte mit ihrem Finger nur einen kleinen Punkt. „Die Blüten sind oval und manche fast rund. Sie sind eng angeordnet und bildet eine dichte, volle, große Blüte.“Geduldig zeichnete er mit dem Zeigefinger jedes einzelne Blütenblatt nach. Er hatte die Blüte in der Originalgröße auf das Papier gebannt, so dass es für Mary so echt wie möglich war. Als er geendet hatte, sah er auf. Marys Gesichtsausdruck erschreckte ihn. Tränen schwammen in ihren Augen. „Mary, alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. „Das… Das ist das schönste, was ich je erlebt habe“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Mit dem Handrücken der anderen Hand wischte sie sich eine Träne von der Wange. „Weiter… bitte“, sagte sie brüchig. Also beschrieb Jonathan ihr auch noch die andere Seite, ganz genau und detailliert. Immer wieder sah er aus den Augenwinkeln eine Träne, die sich aus Marys Augen stahl, doch sie unterbrach ihn nicht mehr und wischte sie auch nicht mehr weg. Trotz der Tränen leuchteten ihren Augen hell und ein Lächeln umspielte ihren Mund. Nie zuvor hatte Jonathan sie für schöner befunden. „Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst.“, flüsterte sie ehrfurchtsvoll, als er geendet hatte und sie den Weg hinter den Büschen genommen hatten. „Ich habe es versucht, aber ich muss noch viel lernen. Diese eine Bild hat mich Monate gekostet, ehe ich damit zufrieden war und selbst jetzt finde ich noch viele Fehler“, sagte er selbstkritisch. „Das Zeichnen muss dir viel bedeuten.“, stellte Mary fest. „Wie kommst du darauf?“ „Es ist die Art, wie du davon sprichst. Noch nie habe ich dich so reden gehört.“ „Wie hört es sich denn an?“, fragt er verwundert. „Ich weiß nicht recht, aber irgendwie sanft und zärtlich.“ „Mister Alley würde mich gern weiter ausbilden, in der Kunst meine ich“, gestand Jonathan schließlich. „Oh ja!“, rief Mary sofort begeistert. „Und dann zeigst du mir alles, was du gemacht hast und erzählst mir von den Orten und Dingen, die du gesehen hast und ich kann so tun, als wäre ich mit dir zusammen dort gewesen!“ Ihre Augen leuchteten und Jonathan musste dabei lächeln. „Ich soll meine Eltern also um die Erlaubnis bitten?“ „Ja, unbedingt!“ „Ich würde wohl noch länger weg sein“, sagte er, mehr zu sich selbst, als zu ihr, doch Marys Reaktion entging ihm nicht. „Oh…“ Sie klang ernüchtert. „Ich werde dich schrecklich vermissen, das weiß ich jetzt schon, aber wenn ich daran denke, was du mir alles zeigen wirst, wenn du erst zurück bist, dann… Du solltest es tun! Du musst es tun! Hach, ich wünschte ich könnte so etwas“, sprach sie sehnsuchtsvoll. Mit den Fingern strich sie andächtig über das Papier welches noch vor ihr lag. Jonathan musterte sie einen Moment. Sie hatte recht, nie würde sie eine Kohlsteift oder gar Feder in der Hand halten und etwas zeichnen oder schreiben. Sie war zwar gut in der Arithmetik, doch alles andere würde ihr verschlossen bleiben. Wenn sie doch nur sehen könnte, dachte er nicht zum ersten Mal. Oder wenigstens jemand anderes für sie… Er hielt in seinem Gedanken innen. Natürlich, warum war ihm das nicht früher eingefallen? Es war so einfach. „Ich habe eine Idee“, sagte er zu Mary. „Vertraust du mir?“ Nur einen Moment zögerte sie, dann nickte sie. Jonathan stand auf und setzte sich schließlich direkt hinter sie. „Jonie, was-“, fragte sie erschrocken. „Vertrau mir“, sagte er noch einmal und sie schwieg. Mit der rechten Hand zog Jonathan die Mappe zu sich und suchte einen leeren Bogen Pergament heraus und das Kohlstück. Dann schloss er die Mappe. „Erschreck dich bitte nicht. Ich lege dir jetzt meine Zeichenmappe in den Schoß. Halt sie bitte fest.“ Jonathan tat es und Mary umschloss sie mit beiden Händen. Er sah, wie sie mit den Fingern über das Leder strich. Dann legte er den leeren Bogen Pergament auf die Mappe und auch dies berührte Mary vorsichtig. „Gibt mir deine rechte Hand“, flüsterte er leise in ihr Ohr. Er wusste nicht, warum, aber er hatte das Gefühl leise sprechen zu müssen. Jedes andere laute Geräusch wäre ihm falsch vorgekommen. Mary hob die rechte Hand und Jonathan platzierte das Kohlstück zwischen ihren Daumen und Zeigefinger. „Halte es so, wie du eine Feder halten würdest“, wies er sie an. Mary passte ihre Haltung dem an und dann legte Jonathan seine Hand auf ihre. Mit seinen eigenen Finger umschloss er ihre, die den Kohlstift hielte. Mit der anderen Hand hielt er ebenfalls die Ledermappe. „Wir skizzieren jetzt den Baum, direkt vor uns. Der Stamm ist gerade, hat jedoch auf der linken Seite ungefähr in der Mitte einen kleinen, hervorstehenden Zweig, mit genau fünf Blättern daran“, sagte er ihr. Dann setzte er ihre Hand auf dem Pergament an und begann mit kurzen Strichen den Stamm des Baumes zu zeichnen. Mary atmete erschrocken ein und ihr Mund stand vor Überraschung leicht offen. „Oh mein Gott…“, flüsterte sie ehrfürchtig. „Das ist… Ich kann es nicht beschreiben.“ Sie zeichneten noch ein paar weitere Striche, bis sie den Stamm fast vollständig auf dem Papier verewigt hatten. Doch dann sagte Mary plötzlich: „Jonie hör auf.“ „Was ist? War es nicht gut?“, fragte er verwirrt. Er hatte eigentlich den Eindruck gehabt, dass es ihr gefallen hatte. Sie schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil, aber merkst du nicht, wie meine Hand zittert und hörst du nicht wie laut mein Herz schlägt?“ Er ließ ihre Hand los und tatsächlich zitterte sie leicht. „Ich kann es einfach nicht glauben“, sprach sie weiter. „Das mir so etwas passiert. Ich bin so glücklich, ich glaube mein Herz zerspringt gleich vor Freude.“ Abermals sammelten sich Tränen in ihren Augen. „Danke, ich danke dir, dass du mich so etwas erleben lässt.“ Sie drehte den Kopf leicht, so dass er ihr in die grauen Augen blicken konnte. Oder waren sie doch blau? Jonathan handelte so schnell, ohne selbst darüber nachzudenken, ohne dass ihm klar war, was er eigentlich tun wollte. Die Finger seiner linken Hand verbanden sich mit ihren, die rechten Hand legte er um ihren Körper und zog sie fest an sich. Mary stieß vor Überraschung einen Schrei aus und dieser war es auch, der weiteres verhinderte. Denn statt sie auf den Mund zu küssen, wie er es eigentlich wollte und wie sich alles in ihm danach verzehrte, küsste er sie auf die Stirn. Jetzt war es sein Herz, dass laut in seiner Brust hämmerte und nur die Erinnerung, an das was beim letzten Mal geschehen war, hielt ihn davon ab, sie nicht doch richtig zu küssen. Woher kam auf einmal dieser heftige Drang?, fragte er sich verzweifelt. Noch nie hatte er so empfunden. „Jonie?“, riss ihn Marys Stimme aus seinen Gedanken. „Geht es dir gut?“ Er lehnte die Stirn gegen ihre und schüttelte den Kopf. Dabei merkte er, wie gefährlich nah er ihr noch immer war, wie verlockend ihre Lippen aussahen. Und doch konnte er sich nicht von ihr lösen. „Es ist gleich vorbei“, wisperte er schließlich und wollte vielmehr sich selbst damit beruhigen. Was war nur in ihn gefahren?! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)