Unter den Apfelbäumen von maidlin (Prequel zu Drachenkind) ================================================================================ Kapitel 1: Die 1. Begegnung --------------------------- Unter den Bäumen saß ein Mädchen und zwirbelte ein Gänseblümchen zwischen ihren Finger. Ihre Augen waren geschlossen und Jonathan konnte sie leise ein albernes Kinderlied summen hören. Da niemand das Grundstück seiner Eltern ohne Erlaubnis betreten durfte, näherte er sich ihr neugierig. Vielleicht war sie gekommen, um die Früchte zu stehlen. Dumm von ihr, dachte er. Um diese Jahreszeit ist doch noch gar nichts reif. Vielleicht hatte sie sich auch einfach nur verlaufen. Als er näher kam, erkannte er, dass sie unheimlich viele Locken hatte. Braun waren sie, der Farbe eines gesunden Baumstammes gar nicht so unähnlich. Wirr standen ihr die Haare vom Kopf ab, was ihr Gesicht viel zu klein wirken ließ. „Wer ist da?“, fragte sie auf einmal erschrocken und riss die Augen auf. Die Farbe konnte Jonathan nicht gleich bestimmen, aber ihm viel auf, wie ungewöhnlich hell sie waren. Verwundert über ihre Worte, blickte er sich um, doch außer ihm und ihr war niemand im Garten. Er war genau auf sie zugegangen, sie musste ihn also sehen - und sicher erkannte sie ihn auch. Solche dummen Fragen mochte er gar nicht. Ohne ihr zu antworten, ging er also weiter, bis er fast direkt vor ihr stand. „Wer ist da?“, fragte sie noch einmal. Ihre Stimme zitterte leicht, das konnte er hören. „Kannst du mich denn nicht sehen?“, fragte er etwas barsch. Noch nie war ihm so jemand unhöfliches begegnet. Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte dann: „Nein, ich kann dich nicht sehen.“ „Aber ich stehe doch direkt vor dir!“, blaffte er sie an. Normalerweise machten ihn die Leute, kaum dass sie ihn sahen, Komplimente über sein Aussehen. Sie nannten ihn niedlich und hübsch und wohlerzogen. Das war das erste Mal, dass der jemanden traf, der nichts zu seiner äußerlichen Erscheinung sagte. „Ich bin blind“, erwiderte sie ruhig. Sprachlos starrte er sie an. Jonathan wusste nicht, ob er ihr glauben sollte. Er betrachtete sie genauer und blieb dabei an ihren Augen hängen. Er war sich nicht sicher, ob sie nun blau oder grau waren, aber sie erschienen ihm irgendwie anders. Fast wie Glas, dachte er. „Was ist?“, fragte sie ihn plötzlich und er zuckte zusammen. Jetzt nahm er auch den Rest ihres Körpers war. Sie hatte ein paar wenige Sommersprossen auf der Nase, fiel ihm als nächstes auf. Ansonsten gab es nichts Außergewöhnliches an ihr. Sie trug ein freudloses, braunes Kleid aus grobem Stoff gefertigt und an einigen Stellen geflickt. Noch nie hatte er einen blinden Menschen gesehen. „Warum?“, fragt er deswegen neugierig. Sie zuckte nur mit den Schultern. „Mama sagt, dass ich als Baby krank war und ich deswegen wohl blind geworden bin. So ganz genau weiß das aber keiner“, erklärte sie ihm. Ihre Ausdrucksweise amüsierte ihn ein wenig, aber das einfache Volk wusste es wohl nicht besser. „Wie hast du dann den Weg bis in den Garten gefunden?“, fragte er skeptisch. So ganz glaubte er ihr immer noch nicht. „Oh, ich bin dem Duft gefolgt. Es roch so gut, so süß... Du sagst es ist ein Garten? Was für einer?“ „Weiter vorn ist ein Rosengarten und einige andere Blumen. Hier sind wir im Obstgarten unter den Apfelbäumen. Sie blühen gerade. Wie hast du das Labyrinth umgangen?“ „Oh, wirklich?“ Ihr Blick schweifte umher, doch nirgendwo blieb er haften. „Wie sehen sie aus, die Blüten?“ Seinen letzten Kommentar überhörte sie. Oder sie wusste nicht, was ein Labyrinth war. „Uhm...“ Jonathan war ratlos. Noch nie hatte er Dinge beschreiben müssen. Es war doch selbstverständlich, dass man wusste, wie die Dinge aussahen. „Sie sind weiß und sehen aus wie Teller“, antwortete er ein wenig hilflos. Das Mädchen fing an zu kichern. „So groß?“, fragte sie und zeigte mit ihren Händen tatsächlich die Größe von Tellern. „Natürlich nicht!“, rief er entrüstet. Das hatte sie doch nicht ernst genommen. Wie einfältig war sie denn? Er hatte ihr damit nur die Form deutlich machen wollen. Jonathan sah sich kurz um. Wie konnte er es ihr sonst noch beschreiben? Er entdeckte einen Baum, an dem ein Ast tiefer hing. So tief, dass er ihn erreichen konnte. „Warte hier“, sagte er schließlich und ging zu dem Baum mit dem tiefhängenden Ast. Dort nahm er einen kleinen Zweig, der drei kleine, feine Blüten hatte, in die Hand und brach ihn ab. „Hier.“ Mit diesem Wort hielt er dem fremden Mädchen den Zweig unter die Nase. Sie hob die Hand und griff daneben. Jonathan verdrehte genervt die Augen. Er griff nach ihren Fingern, die sich klein und zart anfühlten und reichte ihr den Zweig. Behutsam fuhren ihre Finger den Zweig entlang, streichelten die Blätter und Blüten. Anschließend rieb sie diese vorsichtig zwischen ihren Finger. „So weich...“, flüsterte sie. Sie führte den Zweig langsam zu ihrer Nase und roch an den Blüten. Ein breites Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. „Wunderschön!“, rief sie schließlich begeistert. „Danke!“ „Wie kannst du sie schön finden, wo du sie doch nicht siehst?“, fragte er verständnislos. „Ich sehe sie doch mit den Fingern. Ich kann es fühlen und mir vorstellen. Mit den Augen sieht man auch nicht immer alles, sagt meine Mama.“ Darüber dachte Jonathan einen Moment nach, verstand es aber nicht. Deswegen zuckte er nur mit den Schultern, was sie natürlich nicht sah und vergaß es erst einmal wieder. „Wie heißt du eigentlich?“, wollte er dann wissen. „Mary“, erwiderte sie kurz. „Das heißt ‚Mein Name ist Mary‘. Und dann sagst du noch deinen Familiennamen. So stellt man sich vor.“ Wieder lachte sie. Jonathan wurde langsam wütend. Wie konnte sie es wagen ihn auszulachen? Dann viel ihm jedoch ein, dass sie wohl keine Kinderfrau und Anstandsunterricht hatte, bei dem man so etwas lernte. Sie konnte ihm eigentlich nur leidtun. „Und wie heißt du?“, fragte sie ihn schließlich, nachdem sie nicht mehr kichern musste. „Jonathan Mathew Semerloy, Sohn des Hausherren und Eigentümer dieses Landes“, antwortete er erhaben. Spätestens in diesem Moment hatte er erwartet, dass sie Erkenntnis zeigte und ihr unverschämtes Lachen bereute, doch stattdessen strahlte sie ihn weiterhin glücklich an. Er fragte sich langsam, ob mit ihrem Kopf etwas nicht stimmt. „Ich habe schon viel von dir gehört“, sagte sie bloß, machte aber keinen Versuch sich zu entschuldigen. Plötzlich streckte sie die Hand nach ihm aus und traf ihm am Bauch. Erschrocken wich er einen Schritt zurück und fragte scharf: „Was soll das?“ „Ich wollte wissen wie du aussiehst. Darf ich dich anfassen, Jonie?“ Er glaubte sich verhört zu haben. „Mein Name ist Jonathan. Niemand nennt mich Jonie“, korrigierte er sie streng. Doch abermals erntete er Kichern. „Ich finde Jonie viel schöner“, erwiderte sie und schien sich nicht an seinem Ton zu stören. „Darf ich also?“ Sie nervte ihn, aber weil er neugierig war, wie es wohl möglich sein sollte, dass sie durch Anfassen erfuhr, wie er aussah, stimmte er nuschelnd zu. „Meinetwegen.“ Erneut streckte sie die Hand aus und dieses Mal zuckte er nicht zurück. Noch nie hatte er so etwas erlebt. Noch nie hatte er einem fremden Menschen erlaubt, ihn zu berühren. Ihre Finger berührten seinen Arm und sie tastete sich langsam nach unten zu seiner Hand und seinen Fingern. „Deine Finger sind so dünn.“, merkte sie kurz an. Sie legte ihre eigenen darüber um einen Vergleich zu erzielen. Abermals lächelte sie. Dann fuhr sie seinen Arm wieder nach oben, bis zur Schulter. Schließlich nahm sie die andere Hand hinzu und berührte ihn auch an der anderen Schulter. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über seinen Hals, bis hin zu seinem Gesicht. Unangenehm zuckte Jonathan zusammen und Mary hielt einen Moment inne. Dann legte sie die Finger wieder auf sein Gesicht. Sie berührte seine Wangen, dann seine Nase und den Mund. Als sie seinen Augen immer näher kam, schloss er sie. Es war seltsam sich so von jemand fremdes berühren zu lassen. Es war beängstigend und gleichzeitig auch aufregend. Marys Finger waren weich, behutsam und kleiner als seine eigenen. Vielleicht ließ er es deswegen geschehen. Ihre Finger glitten über seine Stirn und fuhren schließlich in seine Haare. Wie schon das Gänseblümchen zwirbelte sie sie kurz zwischen ihren Fingern. Im nächsten Moment berührte sie seine Ohren und wohl eher durch Zufall auch die Stelle dahinter. Ohne es zu wollen, musste er plötzlich selbst kichern. Nur kurz und erschrocken über sich selbst, wurde er gleich wieder ernst, doch ein Grinsen erschien bereits auf ihrem Gesicht. Gleich machte sie es noch einmal und abermals musste er lachen. Sie ließ nicht von ihrem tun ab und Jonathans Lachen wurde stärker. „Hör auf!“, sagte er schließlich und schlug immer noch lachend ihre Hand weg. „Du bist der erste Mensch, der kitzlig ist an dieser Stelle“, sagte sie und lachte nun ebenfalls. Obwohl er böse auf sie sein wollte, konnte er nicht aufhören zu lachen. Es war ihm selbst merkwürdig und ihr Lachen wirkte auf einmal ansteckend auf ihn. Es dauerte eine wenig, ehe sie sich beide wieder beruhigt hatten. Aber dann lagen sie im Gras nebeneinander und Jonathan sah schwer atmend in den Himmel hinauf und versuchte Formen in den Wolken zu erkennen. Als er einen Hund entdeckte, zeigte er darauf und sagte: „Die Wolke sieht aus wie ein Hund.“ „Beschreib sie mir!“ „Uhm...“, wieder war er ratlos. Er hatte nicht daran gedacht, dass sie nichts sah. Offenbar hatte sie tatsächlich nicht gelogen. „Wie ein Hund eben, Kopf mit Schnauze und Ohren und ein Körper mit dünnem Schwanz.“, sagte er etwas unbeholfen. Mary lachte erneut auf. „Ich glaube, dass musst du noch üben.“ Er drehte den Kopf und sah sie verwundert an. Wieder ein „noch nie“. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihn so auf Missgeschicke oder Fehler aufmerksam zu machen. Normalerweise packten seine Lehrer und Erzieher die Dinge immer in vorsichtig ausgewählte Worte, damit sie ihn oder seine Eltern nicht vor den Kopf stießen. Selbstverständlich wurden sie alle begleitet von Schmeicheleien und Komplimenten. „Wie ist das, wenn man blind ist?“, fragte er sie schließlich. „Ich weiß nicht. Wie ist es, wenn man sieht?“ Darauf hatte Jonathan keine Antwort. Für ihn war das Sehen eine Selbstverständlichkeit. Er konnte es sich nicht einmal vorstellen, blind zu sein. Solch ein Leben erschien ihm vollkommen unmöglich und vor allem nicht lebenswert. „Ich sehe Hell und Dunkel und an guten Tagen erkenn ich auch Umrisse, aber nur, wenn es wirklich hell ist. Aber so richtig jemanden sehen, kann ich nicht“, antwortete sie schließlich doch noch. „Aber was machst du dann den ganzen Tag?“, fragte er verwundert. „Mama arbeitet hier in der Küche und sie nimmt mich immer mit. Ich helfe das Gemüse waschen oder Geschirr trocknen. Wenn sie mich nicht brauchen, dann spiele ich.“ „Allein?“ „Ja, natürlich.“ „Was kann man denn ganz allein spielen?“ Der Gedanke erschien ihm äußerst langweilig. Doch woher sollte er das wissen? Er hatte nie Zeit zum spielen und zu den anderen Kindern durfte er auch nur selten. „Meist habe ich meine Puppe mit. Aber heute ist sie krank und muss deswegen im Bett bleiben. Wenn sie nicht dabei ist, spiele ich mit Stöcken oder Blumen, was ich eben gerade finden kann. Am liebsten aber stelle ich mir vor, wie die Dinge aussehen.“ Er hatte recht, dachte er. Ihr Leben war tatsächlich langweilig. „Was spielst du denn?“, stellte Mary nun die Frage. Jonathan zuckte mit den Schultern. Erst als sie nichts darauf erwiderte, erinnerte er sich, dass sie ja nichts sehen konnte. „Ich weiß nicht. Ich spiele nicht.“ „Das tut mir sehr leid“, sagte sie ernst. „Warum hast du Mitleid mit mir?“, fragte er irritiert. „Es muss furchtbar sein, nicht spielen zu können. Es ist doch so schön und macht so viel Spaß! Am liebsten spiele ich Verstecken.“ „Was?“ „Ich erkläre es dir. Also, ich zähle bis zwanzig und du suchst dir in der Zwischenzeit ein Versteck. Wenn ich ausgezählt habe, muss ich dann versuchen dich zu finden. Eigentlich hält man sich ja beim Zählen die Augen zu, damit man nicht sieht, wo der andere sich versteckt, aber das ist bei mir ja egal.“ Wieder hatte sie dieses Lächeln auf dem Gesicht. Sie war nicht ganz richtig im Kopf, dachte er zum wiederholten Male. „Aber wie willst du mich finden, wenn du doch nichts siehst?“, zweifelte er. „Du wirst schon sehen. Ich zähle und du versteckst dich.“ Sie stand auf, drehte sich um und begann langsam zu zählen. Dann begann sie zu zählen. Jonathan sah sich kurz um und entschied sich dann für einen Baum in seiner Nähe. Dort stellte er sich hinter den Stamm und wartete bis sie zu Ende gezählt hatte. Bei Zwanzig rief sie „Fertig!“ und stand dann auf. Einen Moment blieb sie reglos stehen, dann ging sie zielstrebig in seine Richtung. Vor dem Baum, hinter dem er sich versteckte, blieb sie stehen und berührte den Stamm. Jonathan hielt die Luft an. Sollte sie ihn so schnell gefunden haben? Das war unmöglich! „Ich habe dich gefunden! Du bist hinter dem Baum“, sagte sie triumphierend und er zuckte zusammen. „Woher wusstest du das?“, fragte er erstaunt. Sie grinste ihn breit an. „Meine Ohren sind besser als bei anderen. Ich habe gehört wohin du gegangen bist und habe in Gedanken deine Schritte gezählt. Ich kann gut zählen“, grinste sie. „Aber dann wirst du immer gewinnen!“, protestierte er. Zu seiner Überraschung schüttelte Mary den Kopf. „Nein, das funktioniert nur, wenn wir vom gleichen Punkt aus starten. Also, wenn du neben mir stehst, wenn ich mit Zählen beginne.“ „Wirklich?“ Sie nickte als Antwort. „ Nochmal“, forderte er. „Du zählst und ich verstecke mich.“ Abermals lächelte Mary, doch dieses Mal dachte Jonathan, dass mit ihrem Kopf vielleicht doch alles in Ordnung war. Sie spielten sie fast den gesamten Nachmittag, bis Jonathans Verschwinden von seiner Kinderfrau bemerkt wurde und diese ihn schließlich fand. Sie schellte ihn für sein Verschwinden und besonders dafür, dass er seine Hose verschmutz hatte. Sie war von Grasflecken übersät. Dass sie eingeschlafen war, merkte er nicht an. Aber er würde seinem Vater auf jeden Fall davon erzählen. Dann würde sie es sein, die gerügt würde. Seine Kinderfrau führte ihn an der Hand zum Haus zurück, was Jonathan unsagbar peinlich war. Allein der Gedanke, dass Mary es ja nicht sehen konnte, tröstet ihn. Sie folgte ihnen in einigem Abstand. Fasziniert sah Jonathan wie sicher ihre Schritte waren und dass sie noch immer ein Lächeln auf dem Gesicht trug. Nein, er würde sich nicht an das Lächeln gewöhnen. Er verstand ja nicht einmal, warum sie ständig lächelte. Vielleicht lachte sie ihn ja auch aus? Von diesem Tag jedoch traf er sie sooft es möglich war. Er hatte einen vollen Tagesplan und Mary wurde auch in der Küche gebraucht. Marys Mutter war eines der vielen Dienstmädchen, arbeitete jedoch häufig nur in der Küche, weswegen Jonathan sie nur wenig sah. Er fand jedoch, dass Clara, Marys Mutter, nicht sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Tochter hatte. Was aber erstaunlich war, war Magdalena Einverständnis. Sie glaubte wohl, dass ein blindes Mädchen ihn nicht zu so viel Unfug anstiften konnte, wie ein sehender Junge. Dennoch schafften beide es mehr als einmal am Ende eines Tages vollkommen verdreckt vor ihren Eltern zu stehen. Selbst Jonathan, dem jede Art von Schmutz eigentlich zu wider war. Für sie war alles ein Spiel. Dabei waren es gar nicht immer Spiele, die sie unternahmen. Jonathan musste schnell zugeben, dass Mary wirklich gut mit Zahlen war. Das Zählen viel ihr einfach und trotz ihrer Blindheit hatte sie eine genaue Vorstellung von Mengen. Also begann er irgendwann ihr auch das Rechnen beizubringen. Er selbst war mit sieben Jahren bereits im Zahlenraum bis 1000 angelangt und beherrschte das Addieren und Subtrahieren sehr sicher. Und genau das brachte er auch Mary bei. Doch wenn er noch Feder und Pergament brauchte, um zu einem Ergebnis zu gelangen, konnte sie es im Kopf ausrechnen. Es beeindruckte Jonathan sehr und schon bald holte er sich Rat bei ihr, wenn sein Hauslehrer ihm mal wieder eine besonders knifflige Aufgabe gegeben hatte. Als die beiden schließlich gleich auf waren, brachte Jonathan ihr das bei, was er erst wenige Stunden zuvor gelernt hatte. Er las ihr auch vor. Mary war eine sehr gute Zuhörerin und unterbrach ihn nie. Sie sagte immer, er hätte eine sehr schöne Stimme. Hinterher sprachen sie oft über die Texte, amüsierten sich über die Ausdrucksweise oder versuchten zu ergründen, was Verfasser eigentlich beim Schreiben im Sinn gehabt hatte. Zu Beginn hatte Jonathan sicher Mitleid mit ihr und fühlte sich ihr ganz gewiss überlegen. In seinen Augen sollte sich Mary glücklich schätzen, dass er sich die Zeit nahm und vor allem die Geduld, ihr alles zu erklären. Erst als erwachsener Mann gab er zu, dass er von Mary ebenso viel lernte. Sie eröffnete ihm eine Sicht auf die Dinge, wie sie ihm sonst wohl verborgen geblieben wäre. Außerdem waren es seine Beschreibungen, die er für sie machte, die ihn gerade in seinen Sprachstunden sehr viel weiter brachten. Seine Lehrer lobten häufiger seinen Wortschatz und seine Genauigkeit. Auch sein Naturkundelehrer bemerkte die positiven Veränderungen in seiner Beobachtungsfähigkeit. Hatten Jonathan die feinen Dinge der Natur kaum interessiert, zeigte er in den kommenden Jahren gesteigertes Interesse. Er erkannte dadurch auch Zusammenhänge, die ihm vorher verborgen geblieben waren. Jonathan sagte mir, dass diese Zeit mit Mary wohl eine der schönsten in seinem Leben war. Immer wenn er von anderen nach seiner Kindheit gefragt wurde, nach seinem Elternhaus, waren es die Nachmittag im Garten, die er zusammen mit Mary verbrachte, die ihm zuerst einfielen. Erzählt hatte er aber nie jemanden von Mary. Er sagte, er wollte diese kostbaren Erinnerungen nicht mit anderen teilen. Ihre gemeinsame Zeit endete, als Jonathan zwölf Jahre alt wurde. Seine Eltern befanden, dass seine Hauslehrer ihm nicht mehr viel beibringen konnten und da sie nur die beste Ausbildung für ihren einzigen Sohn wollten, entschieden sie sich dazu, ihn in seinem dreizehnten Lebensjahr fortzuschicken. Er sollte zu einem alten Freund von Mathew, weiter südlich im Land und dort sein Wissen und Umgangsformen vertiefen. Es fiel Magdalena schwer sich von ihm zu trennen, doch sie wusste es war besser für ihn und so schickten sie ihn im Sommer allein auf eine lange Reise. Als erwachsener und reifer junger Mann sollte er zurückkehren. Es sollte drei Jahre dauern, ehe er Mary wieder sah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)