Der Geist zwischen uns von june-flower ================================================================================ Vor ihr und Richter steht ein Geist. Genauer gesagt, zwischen ihnen, und Lia Pahnke lernt gerade dass es unmöglich ist, an einem Geist vorbeizureden. Nicht, dass Reden ihr normalerweise Schwierigkeiten bereitet. Sie ist, wenn man Annis Einschätzungen Glauben schenken kann, sogar ziemlich gesprächig. Lia würde einschränken dass dies nur der Fall ist, wenn sie die Leute auch kennt. Denn dann bereitet es ihr keinerlei Probleme, eine Unterhaltung aufrecht zu erhalten. Das Wetter, ein neuer Kinofilm, die Schule, die Lehrer – man muss nicht geschwätzig sein um ein lebendiges Gespräch führen zu können. Sie weiß auch, dass sie dazu tendiert, manchmal zu viel zu reden – zu oft schon sind ihr Details ihres Lebens herausgerutscht, die sie erst im Nachhinein wahrnimmt, Dinge, die mehr über sie verraten als vielleicht notwendig gewesen wäre. Aber sie lernt aus ihren Fehlern, oder zumindest versucht sie es. Dumm nur, dass Anders Richter etwas in sich trägt das sie dazu bringt, alle ihre Fehler noch einmal zu wiederholen. Als sei sie ein fünfzehnjähriges, naives Mädchen mit keinerlei Ahnung vom Leben. Wie das eine Mal, als er ihr ihr Handy vorbeibrachte und sie ihn nach einem Streit mit ihrer Mutter einfach hinter sich her schleifte. Und plötzlich stand sie am Ufer des Flusses und sah hinaus auf die Auwiesen und der schönste Sonnenuntergang, den sie je gesehen hatte, spiegelte sich am Himmel. Sie hätte ihm gar nichts zu sagen brauchen, wurde ihr hinterher klar. Sie hätte einfach sagen können ihre Mutter und sie hätten eine Meinungsverschiedenheit gehabt – mehr Informationen interessierten ihn gar nicht, mehr brauchte er nicht zu wissen. Aber ihr loses Mundwerk hatte sich bereits wieder verselbständigt, Mund vor Hirn, und prompt wusste Richter mehr über ihre Familienverhältnisse und Gefühle als er je zu wissen gebraucht hätte. Lia denkt einfach zu schnell, sie kann ihren Mund nicht der Geschwindigkeit ihrer Gedanken anpassen, denn sonst wäre all dies kein Problem. Aber geschehen ist geschehen und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Jedes gesagte Wort hängt vor ihr in der Luft wie ein Schleier aus Farben, schimmernd, glitzernd, und von der anderen Seite des Schleiers und des Geistes schaut Richter sie an und Lias Kopf ist wieder leer. Sein Blick lässt sie erstarren und gleichzeitig aufblühen. Und irgendwie ist dann da immer noch der Geist, der ihr irgendwie Angst macht und sie irgendwie auch traurig, und sie hat keine Ahnung, was sie tun soll. Einerseits redet sie zu viel, andererseits sind die Worte, die sie an ihn richtet, nicht von Bedeutung. Ob er Interesse an ihr hat? Dass sie ihn unhöflich findet? Dass er nicht allein ist? All das ist nicht das, was sie wirklich sagen will. All das sind Worte und Nichtigkeiten die aus ihr herausströmen wie aus einem Stausee ohne Wälle, die den Weg zwischen ihnen ebnen und doch ungangbar machen. Warum ist es nur so verdammt schwer, das zu sagen, was sie ihm wirklich sagen möchte? Es könnte so einfach sein. Es liegt nicht daran, dass es Gedanken und Gefühle sind, die sie aussprechen möchte, so etwas funktioniert eigentlich immer ohne Schwierigkeiten. Es liegt irgendwie an ihm und an dem, was er ist – wie er ist – und wie er dasitzt und sie anschaut ohne zu blinzeln und ihre Gedanken sind ein einziger Brei. Ihre Welt, seine Welt, sie könnten entfernter nicht sein. Auf derselben Treppenstufe, aber Lichtjahre voneinander entfernt. Egal wie viele verdammte Dimensionen ihre Welt nun haben mag, drei oder sechs oder elf, aus irgendeinem Grund ist es Lia unmöglich, Richters Dimension wahrzunehmen. Als könne sie nicht dreidimensional denken und er wäre es, nur dass es ein wenig komplexer ist. Oder viel mehr. Und alles in ihr schreit, schreit, schreit danach zu sagen was sie eigentlich sagen will, aber dann ist da dieser Schatten und alles bleibt ihr im Hals stecken, selbst ihr Atem und ihr Herzschlag. Als könne sie seine Wärme spüren und ihn doch niemals berühren. Und wenn sie aufwacht und er ist nicht da möchte sie weinen, aber es geht nicht. Teilweise weiß sie selbst ja nicht einmal, wieso. Aber eine Sache weiß sie, wenngleich sie es sich nur ungern eingesteht: Ihr Geist hat Konturen. Merkmale. Dinge, die ihn so völlig un-geistig machen, und trotzdem bleibt er nur ein vager Schatten. Lias Geist hat dunkle Haare und dunkle Augen, eindeutig asiatische Züge und eine schlanke, athletische Gestalt. Er spricht mit einer sanften, volltönenden Stimme, und seine Hände sind groß und weich. Selbst Lia, die, nach Annis Definition, nun wirklich nicht immer die Hellste ist, weiß genau wer der Geist ist. Und sie weiß, warum er da ist, aber sie weiß nicht, wie er wieder weggeht. Oder vielleicht will sie es sich einfach nur nicht eingestehen. Als Konsequenz ist er da, wann immer sie Richter ansieht, sie sieht einen großen, braunblonden jungen Mann mit randloser Brille und scharfen Augen, mit Händen, die aus irgendeinem Grund aussehen, als wüsste er, wie man hart arbeitet, mit schmalen Lippen und einem Gesicht das so selten lächelt und noch seltener lacht. Ein Gesicht, auf dem Einsamkeit aus jeder Pore strahlen kann und Verständnis und Hohn. Lia sieht Richter wie durch einen Dunkelschleier, durch den Geist den Sorimachi zwischen ihnen darstellt, aber was sie nicht erkennen kann ergänzt ihr Gedächtnis und so ist das Bild immer kristallklar. Er ist größer als sie und stärker, das weiß sie seit er sie bei dem Gewitter auffing und im Arm hielt. Er ist warm, und nah. Und die Nähe ist eine Illusion denn gleichzeitig ist er noch weiter entfernt als das blasse Geistwesen zwischen ihnen. Obwohl er direkt neben ihr sitzt. Steht. Geht. Drei Tische im Klassenraum und eine Welt, eine Treppenstufe und Lichtjahre und alles ist vergessen wenn er sie ansieht, aber die Schuldgefühle bleiben. Und der Schmerz. Verdammt, sieh mich an. „Was ist mit deinem Sorimachi?“ Der einzige, den sie haben will, ist Richter. „Willst du meine richtige feste Freundin werden?“ Oh, und Geister können nicht sterben, Geister schauen sie an mit einem Blick der ihr das Herz bluten lässt aber Geister wissen auch wann es Zeit ist, zu verschwinden. Es wäre so viel einfacher wenn er ein mieser Kerl gewesen wäre, jemand den man abservieren kann und dann nicht mehr zurückschaut. Aber mit Schuldgefühlen zu leben hat sie in diesem Sommer mehr als ausreichend gelernt, und Sorimachi wird jemanden finden der für ihn perfekt ist, der auf ihn wartet und mit ihm weg geht und ihn anhimmelt und vielleicht auch nicht. Sorimachi wird auch glücklich werden, glücklicher, als sie ihn machen könnte. Und Lia rennt und rennt und rennt. Richter wartet nicht auf sie aber er wartet. Auf irgendwas, irgendwen, und wahrscheinlich hätte es viele bessere Möglichkeiten gegeben als sich einfach in seine Arme zu werfen aber in dem Moment erscheint es Lia als die einzige richtige Handlung. Sein Körper ist steif als sie sich an ihn klammert, Schock und Überraschung in Einem, und sein Griff an ihren Schultern ist fest. Und sie versucht es zu erklären und wartet nicht ab ob er versteht, aber seine Hände zittern als er sie das nächste Mal von sich wegschiebt, als er sie festhält als könne er es nicht glauben. Und oh, Lia ist es herzlich egal ob irgendwer zuschaut als er sie küsst. Warme Hände, warme Lippen und der warme Sonnenschein auf ihrer Haut, und wenn sie könnte würde sie ewig so dastehen bleiben und ihn einfach küssen. Der Himmel ist blau, der Sommer ist schön, und wofür ihre Worte niemals ausreichten versucht Lia mit ihren Lippen und ihren Händen und ihren Augen zu erklären, und aus Richters Gesicht strahlt langsam, langsam die Wahrheit zurück. Ich wähle dich. Im Schatten der Akazien verschwimmen die letzten Reste eines Geistes mit tanzenden Staubpartikeln, und vielleicht lächelt er dabei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)