DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 14: An den Fronten -------------------------- Aus dem angrenzenden Raum war Geschirrpinken zu hören und das Glucksen von Wasser. Bleigrau lugte die Feste des Himmels durch das beengende Fenster und verriet nicht, ob sie noch Tag oder bereits Nacht war. Gegeneinanderdrängende Wolken wirkten, als würden sie jeden Moment die Tränen aus sich wringen, und das matte Meer schien nicht zu wissen, wohin mit sich, so träge schwappte es vor sich hin. „Warum sagt Ihr nichts?“ Angelo hatte gar nicht zur Notiz genommen, wie dunkel es geworden war, bis Jessica aufstand, um die Lampe zu entzünden. Ihr Licht ließ die Welt jenseits der Scheibe noch düsterer erscheinen. Er versuchte, etwas zu sagen, doch ihm fiel nichts ein. Die junge Albert kniete sich vor ihn. Ihre Finger an seinem Kinn waren warm. „Tut es noch weh?“ Verdammt weh. „Nein.“ „Was werden wir jetzt tun?“ „Ich werde nach Ascantha gehen. Und dann nach Trodain. Dort werde ich die Könige um militärische Unterstützung ersuchen.“ „Angelo… Ist das wirklich das Richtige?“ „Ich habe es gespürt. Als Lilius gelächelt hat, habe ich seine Bosheit gespürt. Er ist kein aufrichtiger Mensch. Wir dürfen uns nicht länger von ihm blenden lassen.“ Er betrachtete die grauen Spitzen seiner Strähnen. „Kopf hoch, Angelo…“ Er war zu schwer. „Wollt Ihr nicht noch einmal versuchen, mit Lilius zu sprechen?“ Für die Dauer seines Zornes vermochte er, sie anzufunkeln. „Wie oft denn noch?! Der Kerl vergeudet keinen Gedanken an das, was ich sage! Weshalb beharrt Ihr darauf, dass ich mich mit ihm einige?“ „Ich mache mir eben Sorgen um Euch!“ Sein Gesicht rutschte wieder nach unten. „Ich will nicht mehr dahin. Ich will nicht in ihre Residenz treten und sehen, wie er die Uniform des Ordens trägt.“ „Wundert es Euch etwa, was er getan hat? Es war doch von Anfang an vorauszuahnen, dass er so etwas im Schilde führt. Oder habt Ihr geglaubt, er hätte sich verändert?“ „Es ist nicht seine Art, jemandem etwas vorzumachen. Nicht, wenn ich dieser Jemand bin.“ „Wahrscheinlich seid Ihr für ihn inzwischen auch nichts anderes mehr als der Oberste Hohepriester oder Rolo damals. Glaubt mir doch: Es ist gut, dass er jetzt weg ist und Ihr die Wahrheit kennt. Er ist es nicht wert, dass Ihr wegen ihm so deprimiert seid.“ „Ich bin nicht… deprimiert.“ Jessicas gerade noch bedeckte Brüste in seinem Sichtfeld erhoben sich, und kurz darauf gab die Matratze neben ihm unter ihrem Gewicht nach. Sie schob eine Hand unter seine Finger; die andere legte sie auf sie. „Manchmal ist es gut, zusammen zu schweigen… Natürlich bin ich auch bereit, Euren Worten Gehör zu schenken.“ Perplex musterte er sie. „Ich weiß, wie es ist, einen Bruder zu verlieren.“ Sie lächelte. Die ersten Tropfen trommelten gegen das Glas. Das Pinken und Glucksen im angrenzenden Raum hatte aufgehört, und stattdessen war das sich ziehende Stöhnen der Gastwirtin zu vernehmen. „Auch das noch! Erst hagelt es Monster – und jetzt Wasser! Was für ein scheußliches Wetter!“ Ob die Göttin das Ende dieser Geschichte vorhersah? Jessica neigte sich zu ihm, ohne ihre Hände zu lösen, schloss die Lider und vereinte ihre Lippen zu einem trösten wollenden, längst überfälligen Kuss. * „Angelo. Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei. Wenn ihr mich nicht durchlasst, zwingen mich die Umstände, mir den Zugang eigenhändig zu verschaffen.“ „Aber Seine Majestät hat befohlen…!“ „Sobald Seine Majestät im Bilde ist, wer um Einlass bittet, wird er mich gewiss herzlich empfangen. Los – richtet es ihm aus. Diese Wartezeit kann ich noch aufbringen.“ „Aber das… das geht nicht!“ Er zog den gleißenden Shamshir aus der Scheide. „Gut! Ich habe kein Problem damit, gegen euch Zypressenstöcke zu kämpfen. Über die Brücke bin ich schließlich auch nicht einfach geflogen!“ Auch die Schwerter der Wachen schleiften aus ihren Hüllen. „Halt!“ Auf einem der Balkons setzte sich Prinzessin Medea, mit den Händen vor dem Herzen ineinander geheftet, von der Nacht ab. „Bitte kämpft nicht! Er ist ein Freund! Lasst ihn eintreten, Soldaten!“ Der Templer und die trodainische Prinzessin trafen sich auf einem Korridor im ersten Stock des Schlosses. Die brünette Schönheit war blass, beinahe so weiß wie vor zwei Monaten als Pferd. „Angelo! Wolltet Ihr wirklich kämpfen? Was ist nur mit Euch?“ „Dasselbe wollte ich fragen, Eure Hoheit. Ist Euer holder Ritter nicht zugegen?“ „Nein… Er brach vor einiger Zeit zu einer Reise auf, um sich über sich selbst klar zu werden.“ Das vermochte er nachzuvollziehen. Die Entdeckung seiner Herkunft musste selbst den wackeren Halbdragovianer aus der Bahn geworfen haben, obgleich er sich nie irgendetwas hatte anmerken lassen. „Ich muss Euch um Verzeihung bitten, Prinzessin. Auf meinem Weg hierher habe ich – nun ja – Verständigungsprobleme mit ein paar Eurer Soldaten gehabt.“ „Ihr sprecht von der Blockade der Brücke nach Farebury, gehe ich recht?“ „Ja. Es tut mir Leid, aber ich habe keine Wahl gesehen. Sie leben natürlich noch…“ Was für eine Stimmung! Angelo erkannte sich selbst nicht mehr: Hier stand er vor einem adretten Mädchen, und es lächelte nicht einmal! Wo bist du verloren gegangen, Weiberheld? „Und Euer Vater, der alte Monstermonarch?“, erkundigte er sich mit aufhellender Stimme. „Ist der denn da? So wie ich ihn kenne, hat der das Oberkommando hier noch lange nicht an Euch abgetreten. Niemals. Dafür erteilt er viel zu gerne Befehle.“ Als die zarten Züge der Thronerbin daraufhin in eine Mutlosigkeit glitten, die ihrer ganzen Erscheinung etwas von der glänzenden Grazie raubte, wünschte er sich, er hätte das nicht ausgesprochen. „Mein Vater… liegt im Sterben.“ „Die Uniform steht Euch, Kommandant.“ Er legte sich die Kette um den Hals und justierte den ringförmigen Anhänger auf seine Brustmitte, auf den weißen Stoff des mit kostbarem Zierrat versehenen Mantels. „Das ist wohl wahr: Außen ist sie edel und in der Sonne blendet sie jeden, der sie ins Auge fasst, doch nun, da ich sie selbst trage, weiß ich, aus welch gewöhnlichem Material ihr Futter besteht.“ Großmeister Lilius bot ihm das Chaosflorett dar, welches er in die ornamentierte Scheide am breiten Gürtel versenkte. „Wo werdet Ihr mich einsetzen?“ „Dort, wo Eure herrlichsten, zugleich horribelsten Erinnerungen Eurer harren: Die Insel Neos.“ „Nicht Maella? Wenn Ihr Euch die Abtei auf unkomplizierte Weise aneignen wollt, solltet Ihr das jetzt tun. Ihr Hauptmann wird nicht lange brauchen, um sich zu erholen und zum Gegenschlag überzugehen.“ „Mitnichten fällt uns ein, diese Okkasion zu verpassen. Allerdings halte ich nicht dafür, Eure Qualitäten in jener marginalen Angelegenheit zu vergeuden. Unserem neuen Stützpunkt auf Neos gilt die oberste Priorität. Ich vermag mich nicht zu teilen – darob bedarf ich jemandes, dem an der Prosperität unseres Ordens seiner eigenen Interessen wegen ebenso viel liegt wie mir.“ „Wann fährt das nächste Schiff?“ „Morgen, sobald der Sturm schwindet. Ein Gemach für die Nacht ist Euch bereitet. Ihr findet fürderführende Instruktionen behufs Eurer Mission auf dem Bett in besagtem Zimmer.“ Auf dem Gang dorthin stellte Marcello fest, dass die Rolo zugeteilte Unterkunft am anderen Ende des Flures bewacht wurde, genau wie die ursprüngliche Privatkammer des Obersten Hohepriesters hinter dem Amtszimmer. Neos… Aus den Unterlagen las er, dass er auf der Insel kein Befehlshaber, vielmehr ein -Empfänger mit wenigen, unbedeutenden Privilegien sein würde. Seine Qualitäten wären dort auf jeden Fall verschwendet. Maella war sein Ziel. Wenn jemand die Abtei und ihre Bewohner behelligen sollte, dann verlangte er dies zu sein. Es klopfte an der Tür. „Wer ist da?“ Eine junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, trat herein. Sie war keine Magd – das war deutlich an ihrer Aufmachung zu erkennen. Trotzdem trug sie ein Tablett. „Herr Kommandant? Ich bringe Euch etwas, das Euch gefallen wird.“ „Was denn? Ein "Bitte draußen bleiben"-Schild?“ Bar einer Antwort stellte sie das Tablett ab. Ein in Papier gewickelter Zylinder stand darauf, den sie nun entflammte. Helle Schwaden stiegen empor, die ein exotisches Aroma verbreiteten. „Was soll das werden? Treibt Ihr Niedere Dämonen aus? Dann fangt Ihr besser drüben beim Obersten Hohepriester an.“ Sie machte keine Anstalten, die Glut zu löschen. Da er sich erheben wollte, kam sie ihm entgegen und drückte ihn zurück auf das Bett. „Was…?“ „Entspannt Euch.“ Sein Haupt lag auf dem Kissen und fühlte sich auf einmal sonderbar an. „Was… tut Ihr da?“ „Etwas Gutes. Entspannt Euch.“ Und – zu seinem Verdruss – entspannte er sich tatsächlich. Mit tiefen Atemzügen nahm er jenes würzige Odeur auf, welches zielstrebig sein Gehirn fand, es erkaltete und jeden scharfen Gedanken daraus vertrieb. Er spürte eine Hand, die über sein rechtes Bein strich, auf und ab, auf und ab, auf und ab… und nachdem er geblinzelt hatte, war es Maria, die an seinem Bett saß. Ihm blieb die Luft weg. Die Göttinnendienerin neigte sich seinem Gesicht zu, wobei ihre Finger nahe einer Region gelangten, die sofort darauf ansprach. Ein Heiligenschein umringte ihre Haube, der alles jenseits von ihr in sein intensives Strahlen tauchte. Dann löste sie mit ihrer freien Hand ihre Guimpe und streifte sie ab. Eine Haarpracht von dichten, goldenen Locken sprang unter dem grauen Tuch hervor und schmiegte sich um ihr rundes Konterfei, aus dem ihn zwei sehr blaue Augen liebevoll betrachteten. In seiner Körpermitte entwickelte sich ein seltsames, ein wahrhaft seltsames Empfinden. Und sein Atem ging angestrengt. Und ihm war schwindelig. Der Anblick Marias, das Spüren ihrer Berührungen – ihrer so selbstverständlichen, so selbstverständlich zärtlichen Berührungen – das Bewusstsein, dass sie begann, ihn von der schweren, engen Uniform zu erlösen, drohten, ihn über einen Abgrund zu stoßen. Eine verzehrende Sehnsucht rebellierte wider seine Kalkulation, seine Disziplin, wider alles, was ihn ausmachte, und schrie ihn an, mit allem, was er war, sie seinerseits zu berühren, sich an sie zu schmiegen, gegen sie zu drängen, sie sein Empfinden spüren, sie daran teilhaben zu lassen, sie glücklich zu machen, für alles zu entschädigen und für alles zu danken, sie so glücklich zu machen und ihr währenddessen wieder und wieder zu beichten, wie sehr er sie vermisst hatte, wie unerträglich sehr er sie vermisst hatte – und anschließend zu sterben. Die Welt schien nicht mehr zu sein, was sie vorher gewesen war, als die Wände wie Weinselige an ihre Stellen wankten und die drei Paravents verzweifelt versuchten, wieder einer zu werden. Das Mädchen flüsterte in sein Ohr: „Das nächste Mal geht es weiter, wo wir aufgehört haben.“ Er war unfähig, irgendetwas zu erwidern. Der Arzt schwenkte seinen Kopf. „Ihm ist nicht mehr zu helfen…“ Die Depression, welche auf dem erst kürzlich aus seinem Fluch erwachten Schloss Trodain lag gleich einer dicken Staubschicht, drückte auch auf Angelo, da er hinter Prinzessin Medea in das Gemach des Königs getreten war. König Trode war alt gewesen, aber nicht so alt, und darüber hinaus war er agiler denn das junge Staatsoberhaupt von Ascantha. In das inzwischen wieder menschliche Antlitz des einstigen grünen Monsters blickend, stand die Adäquanz der Dramatik um seine Krankheit jedoch außer Frage: Trode trug ja schon die Totenmaske. Seine Tochter setzte sich an das Bett auf einen Stuhl, dessen plattes Kissen Beweis dafür war, dass sie heute wenig anderes getan hatte. Auf ihre Berührung hin regte er sich aus seiner Dornröschenstarre. „Vater. Angelo ist hier.“ Der Erwähnte zuckte und ließ die Hände abwehrend emporfahren. „A-Augenblick! Vielleicht komme ich besser ein anderes Mal wieder! Ich schätze, hier bin ich gerade ziemlich ungünstig!“ „Angelo. Dies ist womöglich die letzte Gelegenheit.“ „Aber sicher nicht die Gelegenheit, um sich mit ihm über das zu beraten, weswegen ich eigentlich hier bin!“ „An…gelo?“ König Trode rollte sein Haupt auf jene Seite, zu der Medea saß. Seine Pupillen schienen durch sie hin zu sehen. „Ja, Vater. Er ist hier.“ „Angelo… Kommt zu mir…“ Er tat, wie ihm geheißen. „Eure Majestät… Ich… ich weiß, um ehrlich zu sein, nicht, was ich sagen soll. Es war mir nicht bewusst, dass Ihr…“ „Ja ja… Für jeden von uns… kommt einmal die Zeit.“ Der Tod musste ihm die Worte in den Mund legen; nach dem alten Trode klang das jedenfalls nicht! „Was… was soll ich tun?“ „Einfach bleiben… und friedlich mit mir schweigen…“ Oh Göttin! Er redete schon wirres Zeug! Angelo stürzte an sein Lager. „Ihr dürft nicht sterben! Das geht nicht! Denkt doch an die Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben! An unsere Reise! Die Hürden, die wir überwunden haben! Den Spaß, den wir hatten! Wir gehören noch immer zusammen, und keiner verlässt das Team!“ Der nicht mehr verwunschene König bettete die Hand auf seinen Schopf, welche sich farblich kaum noch voneinander unterschieden. „Ich erinnere mich… Und wie wunderbar wäre es, wenn es auf ewig so weitergehen könnte… Doch den Tod, mein Junge, interessieren derlei Sentimentalitäten nicht. Was ein Mensch oder ein Monster erlebt hat, was er oder es vermag oder wie viele ihn oder es lieben, das beeinflusst nicht, wann er seine Höllensense schwingt. Kein Geld, kein Gebet besticht ihn. Wann sie zuschlägt, ist uns allen unveränderlich vorherbestimmt, und deshalb, Angelo, sollten wir uns zeit unseres Lebens schon darauf vorbereiten… Glaube mir: Es ist sehr viel leichter, das Ende zu akzeptieren, wenn man nicht mit ihm ringt – weder der Vergehende noch die Verbleibenden. Während dieser letzten Atemzüge ist es das Wichtigste, sich zu besinnen – zu verzeihen und verziehen zu werden. Wenn auch nicht alle meine Lieben an meiner Seite sind: Ich bin so glücklich, in diesem Moment keinen Hass zu spüren. Es muss unerträglich sein, gehasst zu sterben, und sei es auch nur ein Hauch von Hass. Aus diesem Grund hat im Augenblick seines Todes jedes Geschöpf verdient, sämtliche Abneigung gegen es erlassen zu bekommen. Denn das Sterben entbindet von jedem Stand, jeder Tat, jeder Gesinnung… und wenn wir erst einmal ein wenig gelegen haben, sehen wir… doch ohnehin alle gleich aus. Was bringt es denn, jemanden zu hassen, der stirbt…? Warum ihn nicht… einfach in die Arme schließen…?“ Seine Lider sanken. Angelo war übel geworden. Eine imaginäre Schlinge schnürte seine Kehle zu. Mit starrem Blick auf das Fußende des Bettes, wo sich die Decke über dem leblosen Leib wölbte, wünschte er sich, zum gegenwärtigen Zeitpunkt überall sonst zu sein, bloß nicht hier, und vermochte dennoch keine einzige Rührung dahin zu unternehmen, nicht einmal zu blinzeln, als würde er Trodes Leben mit den Augen festhalten können. „Vater!“ Medeas Wangen benetzten unlängst Tränen. An ihrem Kinn fanden sie zueinander und tropften vereint in die Tiefe. „Keine Angst, mein Kind. Ich bin noch da.“ Er öffnete die Augen, und dieses Mal waren sie bemerkenswert klar. „Es tut mir so Leid, aber ich muss dir die Verantwortung über das Königreich übertragen… Dein Kopf ist noch zu klein, um die Krone halten zu können, doch du hast die Anmut deiner Mutter geerbt und die Tapferkeit, Stärke, Größe und Weisheit deines Vaters, und deswegen bin ich zuversichtlich, dass du und dein Sandkastenfreund… Trodain in eine glänzende Zukunft… führen werdet. Medea… Ich… ich spüre, dass die Zeit… naht… Ich… Medea, ich… liebe dich…“ „Vater, nein! Bitte nicht! Bitte! Oh, Vater! Warum?!“ Schluchzend brach das Mädchen über seinen Vater zusammen. Nun war es also vorbei. Angelo wurde klar, dass er hier fehl war. Er konnte nicht ersetzen, wer jetzt eigentlich an diese Stelle gehörte, und es fühlte sich wie ein Verrat an, es nur zu versuchen. „Ich verlasse Euch nun, Eure Hoheit.“ „Wartet.“ Just wirkte Medea wesentlich reifer, als wären rund um die Ruhestätte des alten Herrschers Jahre vorübergezogen, während der Templerhauptmann lediglich Sekunden wahrgenommen hatte. „Ich möchte Eurem Anliegen Gehör schenken.“ „Aber Prinzess… Ich meine: Eure Majestät!“ „Betrachtet es als meine erste Amtshandlung – als meine Probe. Ich bitte Euch um Eure Unterstützung, mich bewähren zu dürfen.“ Wie stark sie war. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Man kann nicht behaupten, dass es ihm gelang. „Also gut… Ich gehe davon aus, dass Ihr… vom Argon-Orden gehört habt.“ Sie nickte schniefend. „Er ist der Grund, aus dem wir die Zugänge nach Trodain blockieren, seit mein Vater krank war. Wir wissen, dass Großmeister Lilius ein beträchtliches Interesse an unserem Land hegt. Die Ohnmacht meines Vaters wäre ihm gelegen gekommen, daher durften wir nicht zulassen, dass eine Kunde über seinen Zustand nach außen schlüpft.“ „Gewissermaßen erfreut es mich, das zu hören, denn wir werden einen Krieg gegen den Orden führen. Ein Überraschungsangriff auf Argonia wird ihm… wird ihm erheblich schaden. Dorther bezieht er nämlich… sämtliche Ressourcen. Das ist hart, aber unumgänglich.“ „Was wird aus den Menschen, die dort leben? Aus der Königsfamilie?“ „Vertraut mir, Eure Majestät. Ascantha hat meinem Ersuchen bereits zugestimmt und seine Truppen versammelt.“ „WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS?!“ Angelo machte goldmonstermünzengroße Augen, und selbst Prinzessin Medea entglitten alle Züge! „POTZTAUSEND – VATER!“ König Trode hüpfte mir nichts, dir nichts in die Senkrechte! „Haben meine adeligen Ohren das gerade richtig vernommen?! Ascantha wird gegen Argonia in den Krieg ziehen?! ALLEIN?! Das darf unter keinen Umständen geschehen! Der Prinz von Argonia ist meiner Medea bereits versprochen! Wenn Ascantha, bevor die Hochzeit stattgefunden hat, Argonia ausplündert und marodiert, ist dort für uns doch überhaupt nichts mehr zu holen außer der Rechnung für den Wiederaufbau! Soooo nicht! Ich will gefälligst auch ein Stück von der Krone; das steht mir nach altehrwürdiger Tradition zu! WAAAAACHEN!“ In seinem Nachthemd flitzte er hinaus. „Wetzt Eure Waffen! Formiert unsere Truppen! Wir stürmen sofort in die Burgstadt Argonia! Schneidet ihnen alle Versorgungswege ab und lasst niemanden, der sich uns entgegenstellt, laufen! Es herrscht KRIEG!“ Erneut schwenkte der Doktor seinen Kopf. „Und alles wegen einer Grippe… Ihm ist echt nicht mehr zu helfen.“ Prinzessin Medea und Angelo blinzelten sich an. „Ich weiß nicht, ob ich nun erleichtert sein oder erst recht Angst um ihn haben sollte…“ „Tja… Manchmal gibt man jemanden schon auf, bevor er überhaupt verloren ist.“ Marcello kam zu sich, und wenn die Umgebung nicht so relativ frisch gerochen, so relativ hell und friedlich gewesen wäre, hätte er angenommen, in der Zelle nach der Schädelpresse aufzuwachen. Ein sich kontinuierlich ausbreitender Ballon schien von innen gegen seinen Kopf zu drücken, und seine Nasenhöhlen brannten. Jener rätselhafte Dunst aus dem Papierzylinder… Er hatte ihn gänzlich außer Gefecht gesetzt. Wie spät war es? Der fensterlose Raum ließ ihn sich nicht nach dem Himmel erkundigen. War es in Lilius’ Sinn geschehen? Die Tür ging auf, und abermals schob sich ein Tablett durch den Spalt, mit dem gleichen von Papier ummantelten Zylinder darauf. Nicht schon wieder! Er fluchte innerlich, als er feststellte, dass seine Glieder sich weigerten, ihm zu gehorchen. Eine junge Frau folgte dem Tablett, doch da sie ihn ausmachte, formte sie ähnlich überraschte Züge wie er. „Ihr?!“ „Ihr seid…“ „Marcello!“ „…Angelos Dirne.“ Jessica schepperte das Tablett auf den Tisch. „Ich bin nicht Angelos "Dirne", damit das klar ist!“ „Schweigt und schließt die Tür, ehe Euch jemand hört!“ Er zischte und fuhr sich an die Schläfe. Ihre Hüfte schubste das Türblatt in die Zarge, sodass sie die Pupillen nicht von Angelos Halbbruder abzuwenden brauchte, der in derangierter Montur auf dem Bett an Kopfschmerzen litt und derart zerwühlt, derart schlaftrunken nicht imstande, finster zu gucken, eine amüsante Ähnlichkeit zu seinem verhassten Verwandten aufwies. „Verzeiht mir, dass ich lache, aber der Anblick von Euch in Jammer und Verdruss ist einfach zu köstlich! So wie Ihr ausseht, seid Ihr also tatsächlich auf die Masche der Mädchen hereingefallen!“ „Was… tut Ihr hier?“ „Das geht Euch nichts an! Wir kennen uns zwar flüchtig, aber wir verfolgen grundverschiedene Ziele! Ich bin nicht wie Angelo – mir macht Ihr nichts vor!“ Er setzte sich vollends auf und musste seine müde Miene bemühen, halbwegs streng zu werden. „Wenn es mich nichts angeht, darf ich wohl verlangen, dass Ihr mein Zimmer auf der Stelle verlasst, um auf dem Flur von einem der streunenden Ritter gefragt zu werden, weshalb Ihr Euren Dienst bereits nach zwei Minuten für erledigt erachtet, infolgedessen Eure Tarnung – sofern man dieses Nötigste, was Ihr tragt, als "Tarnung" bezeichnen kann – auffliegt und Ihr in eine Gefängniszelle.“ Ohne Rücksicht auf den tiefblauen Zauberbikini, dem es schwer fiel, mit ihren beiden Schleimen zu jonglieren, schwellte Jessica eben jene und stemmte die Hände an die Hüfte. „Wisst Ihr, was sich in diesen unscheinbaren Papierrollen befindet?“ Sie haschte nach dem Zylinder, riss dessen Hülle ab und streute den Inhalt wie Salz in eine zu verderbende Suppe auf das Tablett. „Rauschgift! Setzt man dieses Pulver in Brand, entsteht ein Nebel, der den Körper stimuliert und Halluzinationen bewirkt! …Und einen heftigen Kater“, fügte sie, seinen Zustand taxierend, hinzu. „Lilius hat Euch unter Drogen setzen lassen. Es erstaunt mich, dass gerade Ihr in diese offensichtliche Falle tappen konntet.“ Er ignorierte den Insult. „So ist das also: Der Orden zerstreut jeden unwillkommenen Gedanken seiner Mitglieder durch junge Frauen, teure Speisen sowie Rauschgifte. Natürlich beschwert sich da niemand. Hm. Die Menschen sind so anspruchslos.“ „Ihr klingt nicht wie jemand, der dem Orden seine Treue geschworen hat.“ „Ich habe nie wieder irgendjemandem oder irgendetwas meine Treue geschworen“, erwiderte er scharf. „Das war eine Vermutung, kein Angriff“, beschwichtigte sie ihn. „Ihr habt gar keinen Grund, mir gegenüber so feindselig zu sein. Immerhin könnt Ihr von Glück sprechen, dass gerade ich Euch zugeteilt wurde. Wäre es ein anderes Mädchen, wärt Ihr dem Drogenkreis überhaupt nicht mehr entkommen.“ Die Albert ergriff das Tablett, und mit einem Schwung verteilte sich das Pulver über den gesamten Fußboden, auf welchem es ohne gezieltes Suchen nicht mehr auszumachen war. Der Zylinder rollte hinter den Paravent. „Dankt mir hierfür.“ Ergo vertraute Lilius ihm doch noch nicht. Trotzdem war er offenkundig an ihm interessiert. Weshalb? Dumpfe Schritte und Stimmen. Angelos Gefährtin wirbelte ihren kupferfarbenen Schopf Richtung Tür. „Oh nein! Die kommen doch nicht etwa hierher?“ „Womöglich möchte sich Lilius ein Bild vom Ergebnis Eurer Arbeit machen.“ „Sollen wir kämpfen?“ „Unklug. Selbst wenn wir ihren Anführer überwältigen können, sind es zu viele Handlanger, um lebend von Savella zu gelangen.“ „Dann also weiter im Text!“ Ehe sie sich ihm erklärt hatte, eilte sie auf das Bett zu, packte sein Hemd und riss es leichthin auf. Sie schubste ihn ins Liegen, hüpfte auf ihn drauf, befreite ihre Mähne von den Haarbändern – und da Lilius eintrat, wurde er Zeuge eines feurigen Kusses. Seinem Gefolge klappten die Kinnladen hinab. Er räusperte sich. Einem Kind gleich, das eine geringfügige Freveltat zu verheimlichen sucht, schnellte sie nach einem Schmatzlaut, der einem matschechten Schleim würdig war, in die Höhe und quietschte: „Jaahaaa?“ Die grau gefassten Pupillen des Großmeisters senkten sich auf das Antlitz seines Kommandanten, dessen Augen von wilden, graphitschwarzen Strähnen verdeckt wurden. „Ich nehme zur Kenntnis: Ihr beide habt Spaß.“ „Jaahaaa!“ „Hast du auch nicht versäumt, das Weiße Gold zu verbrennen? Ich rieche es gar nicht.“ „Hab’ ich nicht vergessen! Bin schon eine ganze Weile hier! Hat er alles bereits eingeatmet, der Lümmel!“ Marcellos Lippen spannten sich. Das leere Tablett befriedigte Lilius anscheinend. „Hat er noch etwas gesagt?“ „Ja! Er hat mich "Mami" genannt!“ Seine Braue zuckte. Diese Göre… Der Großmeister schnaubte spöttisch. „So dies alles ist: Fahre fort!“ Ohne Zögern warf sie ihr leuchtendes Haar über ihn. Hinter jenem lückenlosen Vorhang imitierte sie erneut einen ausführlichen Kuss und war sich bewusst darüber, wie albern sie für ihn aussehen musste. Im intensiven Jadegrün vermochte sie förmlich seinen Gedanken zu lesen: Euer Schauspiel ist wie jede Theatervorstellung: Zerstreuend, doch lächerlich überzogen. Jenseits von ihnen richtete sich Lilius an seine Begleiter: „Mögen wir die Problematik Marcello von unserer Liste streichen. Alsbald wird er vom Weißen Gold abhängig sein und uns buchstäblich aus der Hand fressen.“ Ich musste mich nun einmal dem Niveau eines typischen Barhäschens anpassen, verteidigte sie sich. Und die Luft küsse ich nur aus Rücksicht auf Euch, also schaut bloß nicht so. „Was ist mit der Maella-Abtei?“ Rücksicht auf mich? Seine Augen schmälerten sich. Dass ich nicht lache. Mir ist klar, dass Ihr mich nicht ausstehen könnt. Ich würde Euch doch niemals küssen. …Ist es das, was Ihr denkt? „Wir senden einen Trupp aus.“ Sie umfing seinen kalten Mund mit ihren heißen Lippen. Er schrak nach Luft. „Er möchte den Templern die Botschaft übermitteln, dass ihr Hauptmann Opfer eines tragischen Unglückes wurde. Der Argon-Orden erkläre sich gnädig einverstanden, die diffizile Leitung der irrenden Abtei zu übernehmen.“ „Was soll passieren, wenn Angelo aufkreuzt?“ Es gewährte ihrer Zunge Einlass in jenes Areal, in welchem all seine pathetischen, falschen Worte hausten, die ausgesprochen sie schon oft erregt hatten. „Ihn zeitig abfangen und sein tragisches Unglück werden.“ Sie fand alle und ließ nur Sprachlosigkeit zurück. „Verstanden.“ Als die Tür hinter Lilius’ Leuten zufiel, trennte sich Jessica japsend von ihm. Sofort rutschte Marcello Richtung Kissen und tastete dort über seine Lippen. „Was denn? Habt Ihr noch nie jemanden geküsst?“ Es bedurfte keiner Antwort, damit ihr bewusst wurde, dass er das wohl tatsächlich noch nicht getan hatte. „Was ist in Euch gefahren?! Seid Ihr noch bei Trost?! Das war doch überhaupt gar nicht notwendig!“ „Beruhigt Euch! Ihr steht noch immer unter den Nachwirkungen der Droge. Das allein Wichtige ist doch, dass wir nicht aufgeflogen sind, oder? Glaubt mir: Ich kann auch eine Liste von Männern aufzählen, die ich lieber geküsst hätte als Euch, und die ist lang. Lasst uns besser überlegen, wie es jetzt weitergehen soll. Wir müssen Angelo warnen!“ Der Ex-Templer hob die Beine von der Decke. „Angelo ist jetzt nebensächlich. Prinz Charmels. Er… er muss auf der oberen Etage sein. In der Schlafkammer des Obersten Hohe…“ Er stöhnte verhalten. „Lasst Euch doch Zeit! Ihr könnt ja kaum gerade sitzen!“ Er wies die helfenden Hände der Verärgerten ab. „Dann kämpft Ihr also wirklich doch auf unserer Seite.“ „Nicht auf Eurer Seite. Nur nicht auf der Seite des Ordens. Ich kämpfe für meine eigenen Ziele, Miss Albert, wie es zu keinem Zeitpunkt anders war.“ „Jessica.“ „Was?“ „Ich heiße Jessica, Ihr verlogener Bastard.“ „Nuuuun? Was habt ihr euch zu meiner Unterhaltung einfallen lassen?“ Belustigt betrachtete der Prinz von Argonia aus den Augenschlitzen zwischen seinen Pausbacken die ratlosen Ritter. Er lehnte sich im Bett zurück, welches unter ihm knartschte – er fand, es sollte sich bloß nicht so anstellen, immerhin ertrug es ja auch den dicken Obersten Hohepriester – und neben ihm stapelten sich Geschirr sowie einige ausgebrannte Papierzylinder. „Ähm… Was sagt Ihr zu Poker, Eure Hoheit?“ Vater würde schimpfen. Vater würde ihn zur Seeblase machen. Nur: Vater war nicht hier. „Poker? Klingt gut! Aber nur unter der Bedingung, dass wir um etwas spielen… Zum Beispiel um eure Gehälter!“ Ihm war bewusst, dass der Ritter erleichtert darüber war, das Zimmer verlassen zu dürfen, um einen Kartensatz aufzutreiben. Auch den anderen Jammerlappen entließ er auf die Suche nach etwas Essbarem – er war freilich kein Unmensch. „Prinz Charmels?“ „Was wollt ihr noch? Oh!“ Am anderen Ende seines Herrschaftsgebietes standen ein hochgewachsener Mann und eine spärlich bekleidete Frau. Den Mann kleidete die Uniform des Ordens; die Frau… kam ihm bekannt vor. „Ich FASSE es nicht!“, wetterte sie. „Ihr seid es TATSÄCHLICH! Ohne Fesseln! Ohne Knebel! Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, was Ihr hier anrichtet?!“ Der Ritter hob seine Hand vor sie. „Wir sind gekommen, um Euch sicher nach Hause zu geleiten.“ „Wer sagt, dass ich nach Hause will? Mir geht es vortrefflich hier! Besser als zuhause!“ Das Gesicht des Bikini-Mädels glich sich seiner Haarfarbe an. „Das ist ja wieder einmal typisch! Ihr habt keinen Schimmer, was außerhalb dieser Wände los ist! Die Monster werden wild und überfallen nach und nach alle Inseln und Kontinente, weil Ihr den Orden unterstützt!“ Würde ihm die Atmung nicht derart viel Kraft abverlangen, hätte er nun gelacht. „Ich unterstütze den Orden gar nicht! Und außerdem interessiert es mich doch nicht, was mit diesen blöden Monstern ist! Sollen sie doch alle in die ausgestreckten Schwerter der Soldaten laufen – ist doch gut so!“ „Ihr Volldepp! Hat Euch nie jemand das Märchen vom Knusperhaus der Hexe und den beiden Geschwistern erzählt, die sich dorthin verlaufen?!“ „"Knusperhaus", sagt Ihr? Ohh…! Neeein. Wie geht die Geschichte denn aus…?“ „Die fetteste Person landet im Ofen!“ „Prinz Charmels“, übernahm nun der schwarzhaarige Ritter das Wort. „Wir werden Euch mit uns nehmen, ob Ihr uns freiwillig folgt oder nicht. Es ist zu Eurem Besten.“ „Ihr fangt an, mich zu nerven!“ Er schniefte ausgiebig, wobei sein Wanst sich wölbte, seine Weste sich spannte, just ein Knopf von selbiger sprengte und – einem Geschoss gleich – das Mädchen wohl perforiert hätte, wäre es nicht noch zur Seite gesprungen. „Schon wieder gewachsen“, stellte er grienend fest. „Ich brauche neue Kleider.“ „Mir reicht’s!“ Die halbnackte Augenweide entwickelte einen Feuerball zwischen ihren Händen, und da identifizierte er sie. „Ihr seid das Hechelhechelhuihuihui-Mädchen von meiner Leibgarde, die mich zum königlichen Jagdrevier eskortiert hat!“ „Falsch! Mein Name ist Jessica!“ Es war der Ritter, der sie davon abhielt, die lodernde Kugel auf ihn abzufeuern. Sie zwang sich zur Zurückhaltung und ließ sie verpuffen. „Fein, Jessica! Ich komme mit euch! Wenn du meine persönliche Gespielin wirst!“ „WAAAAAS?! Seid Ihr schief gewickelt?! Nicht in Euren verrücktesten Träumen lasse ich mich darauf ein!“ Der argonische Thronfolger zog eine zerknautschte Schnute und zuckte mit den feisten Schultern. „Wenn das so ist, bleibe ich hier liegen und schreie laut nach den Wachen.“ „Wartet, Prinz“, bat Marcello ihn. „Ich möchte Euer endgültiges Urteil ungern beeinflussen, doch meint Ihr nicht auch, dass eine Gesellin von solchem Niveau jemandem wie Euch gar nicht entspricht? Wer weiß, mit wem und wie vielen sie sich ansonsten herumtreibt und was dies für Folgen genommen hat? Ich versichere Euch: Die edelsten Damen warten in unserem Quartier in Argonia nur darauf, Euch mit allen Mitteln ihrer Kunst in Empfang nehmen zu dürfen.“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass Marcello gegenüber Prinz Schamlos nie den Anschein gemacht hatte, ihn entführen zu wollen. „Was ist mit meinem Vater?“ „Ihr werdet in unsere Räumlichkeiten einquartiert, nicht in Eure Gemächer. Wir werden dafür Sorge tragen, dass er keinen Zugang zu Euch erhält, ehe Ihr es nicht gestattet.“ „Hmmm… Hört sich nett an. Also von mir aus, ich komme mit! Helft mir auf!“ Marcello teilte den Babysittern des pyknischen Prinzen mit, dieser hätte ihn um eine Besichtigung der Savella-Kathedrale gebeten, und die beiden erwiesen sich als dermaßen froh, ihn los zu sein, dass sie keinerlei Fragen zu stellen wagten. Prinz Charmels wiederum erklärte er, dass die Vorbereitungen der Überfahrt noch nicht abgeschlossen wären. König Clavius’ Sohn, der anscheinend nicht damit gerechnet hatte, zum Schiff gehen zu müssen, war erleichtert über die Unterkunft, in welcher sie ihn versteckten. Der Wirtin zahlte Angelos Halbbruder ein paar Goldstücke mehr für ihre Diskretion und versprach ihr außerdem, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde. „Aus Eurem Mund klingen solche Worte ziemlich unglaubhaft“, spottete Jessica, nachdem sie das Gasthaus verlassen hatten. „Tatsächlich? Sie scheint sie mir geglaubt zu haben.“ „In einer düsteren Zeit wie dieser möchten die Menschen an alles glauben, was nur einen Hauch Hoffnung verspricht. Das ist der Grund, weshalb sie sich an den Rittern der Neuen Welt orientieren. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund, weshalb ich mit Euch gemeinsame Sache mache…“ Ohne dass sie es bemerkte, hatte er die Distanz zwischen ihnen überbrückt und schloss ihre Hand in die seine. Sie hüllte sie in eine helle Aureole, und die Verbrennung, welche sie sich zugezogen, als sie den Feuerball gehalten hatte, heilte. Sie riss sie frei. „Glaubt ja nicht, dass das irgendwas an meiner Meinung über Euch ändert!“ „Ich habe den Obersten Hohepriester ermordet und bin verantwortlich für Rhapthornes Wiedererweckung; dennoch verfüge selbst ich über so viel Anstand, einem Menschen, der es offensichtlich nötig hat, zu helfen.“ Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. „Lilius war nicht mehr in der Residenz. Ich vermute, dass er sich bereits mit einem Trupp von Rittern auf den Weg nach Maella begeben hat. Ich muss Euch bitten, auf unseren königlichen Klops achtzugeben und ihn hinzuhalten. Fühlt Ihr Euch dieser Aufgabe gewachsen?“ „Ihr habt keine Ahnung, wie man eine Dame behandelt, oder?“ „Als Konkubine den Argon-Orden ausspionieren zu wollen war nicht sehr damenhaft.“ Jessica winkte ab. „Verschwindet schon, bevor ich mich umdrehe, Euch sehen und mich übergeben muss!“ „Wie bitte?“ Angelo unterbrach seine Aufsicht der Proviant verstauenden Truppen von Trodain. „Bewaffnete Leute sollen auf dem Weg Richtung Maella unterwegs sein?“ König Trode nickte. „Soeben erreichte uns die Nachricht aus dem Pilgerkai. Jemand beobachtete, wie in gleißend weiße Uniformen gewandete Männer sich über die Lage der Abtei in Kenntnis setzten.“ „Ritter der Neuen Welt! Verdammt! Die wollen sie garantiert überfallen! Wenn sie bereits am Pilgerkai waren, werde ich sie niemals rechtzeitig einholen können! Der Teleportation-Zauber funktioniert ja nicht mehr seit unserem Sieg über Rhapthorne!“ Doch Trode schmunzelte. „Verzagt nicht, mein Junge. Sie sind rar geworden, nachdem sich die Monster vor zwei Monaten zurückgezogen haben, aber selbstverständlich hat ein kluger König so wie ich es nicht versäumt, sich noch rasch einen Vorrat anzuschaffen.“ Gemächlich kamen seine Hände hinter dem Rücken zum Vorschein und offerierten dem Templerhauptmann ein paar schimmernde Schwingen, die der Empfänger bewunderte wie den endlichen Beweis für die Existenz der Göttin. „Chimärenflügel!“ „Nehmt sie alle. Ich habe so viele, dass ich damit sämtliches Bettzeug meines unermesslichen Königreiches würde stopfen lassen können.“ „Fantastisch! Dann soll jeder Soldat einen benutzen!“ „Nuuun…“ Das gedrungene Gesicht blickte auf die blendend blaue Feste des Himmels auf der Suche nach Inspiration. „Es besteht die Möglichkeit, dass ich doch etwas übertrieben habe… Es tut mir Leid, Angelo, aber wir werden Euch im Kampf um Maella leider nicht unterstützen können. In Argonia jedoch werden wir wie versprochen an Eurer Seite stehen, seid Euch dessen gewiss! Los jetzt, sputet Euch! Sie ermöglichen Euch zwar die Teleportation, aber keinen Sprung durch die Zeit! Rettet die Abtei des Mannes, der Euch aufgezogen hat!“ „Vielen Dank, Trode!“ Schon im Abschied warf er einen der Flügel in die Luft und spürte den bekannten Zug, der seinen Körper mit sich riss. Er landete unmittelbar vor der Brücke, die Nord- und Südmaella miteinander verband und darüber hinaus in die Abtei führte, welche auf einem kleinen Eiland inmitten des Flusses ruhte. Seinen Shamshir ziehend, rannte er auf die Kapelle zu, stieß deren Türen auf und direkt in eine enge Reihe von Mönchen und Templern. Das ganze Göttinnenhaus war voll von Personen, und um den erhöhten Altar Ritter der Neuen Welt und… er! „Aus diesem Grund werdet ihr für eine Weile in den Ruinen der alten Abtei untergebracht, die…“ „Marcello!“ Alle Anwesenden achteten nun mit sich weitenden Augen auf Angelo; dann wandten sie sich wieder zum Sprechenden hin, den sie erst jetzt erkannten. „Steck dein Schwert ein, Angelo.“ „Glaubst du etwa, ich würde dir die Maella-Abtei ohne Kampf überlassen?!“ Das Auditorium trat zurück, da Marcello sich in Bewegung setzte, die Stufen hinunter über den Teppich, keinen ausgestreckten Arm von ihm entfernt stehen bleibend. „Ich bin nicht hier, um gegen dich zu kämpfen.“ „Das wirst du müssen, wenn du nicht sofort von hier abziehst!“ „Spare deinen Zorn und deine Trauer für den Kampf gegen Lilius auf. Im Moment ist nur wichtig, dass wir die Zivilisten umsiedeln, ehe er ankommt.“ „Was? Wie meinst du das?“ „Lilius wird mit einigen seiner Leute aufkreuzen, um die Abtei zu übernehmen und dich zu töten, also bereiten wir ihnen einen zuvorkommenden Empfang. Die Abtei ist lediglich ein Ort, doch wenn es hier zum Gefecht kommt – und das wird es – sollten ihre Bewohner in Sicherheit sein. Die Simpletoner haben sich dieser Auffassung angeschlossen.“ Er beugte sich ihm über seine gesenkte Waffe entgegen. „A-aber…! Ich verstehe das nicht! Warum erzählst du mir das alles? Ich meine: Du bist doch mein Feind!“ „Du irrst dich. Seit Neos befanden wir uns in gar keiner Relation mehr zueinander.“ Angelo stand neben sich. „Die Männer, die mit mir gekommen sind, sind in Ordnung. Ehemalige Mitglieder des Ordens, die, nachdem sie die Wahrheit erfuhren, ihren Stolz zurückgewinnen wollen. Bist du nun bereit, deiner obersten Pflicht als Vorstand der Abtei und Hauptmann der Templer nachzukommen?“ „Nein. Aber ich befürchte, es ist im Augenblick unangebracht, alle Antworten bekommen zu wollen, nicht wahr?“ Er nickte. „Also gut. Wie ist dein Plan?“ „Die zu Evakuierenden packen das Nötigste zusammen. Anschließend werden wir sie in die alte Abtei überführen, welche wir vorübergehend versiegeln werden. Wir und jene Templer, die nicht zum Schutz der Versteckten zurückbleiben, bereiten uns hier auf die Ankunft von Lilius und seinen Männern vor. Sie rechnen nicht mit Widerstand, daher können wir sie bis in die Kapelle unbehelligt vordringen lassen. Dort werden wir sie überraschen und möglichst zügig erledigen. Danach besprechen wir das weitere Vorgehen.“ „"Weitere Vorgehen"?“ Angelos Templer wiesen die Mönche, Kinder und Simpletoner an, zu tun, wie Marcello es ihnen geboten hatte. „Hast du erwartet, es sei nach Lilius schon vorbei? Ich hätte ihn in der Residenz des Obersten Hohepriesters töten können, doch dann wären wir nicht mehr lebendig aus ihr hinausgekommen. Nicht er ist unser Problem, Angelo. Wenn du ein Übel restlos beseitigen willst, dann genügt es nicht, es an der Wurzel zu packen. Du musst den ganzen verseuchten Humus von der Wasserzufuhr abtrennen. Meine Intention bestand von Anfang an darin, den Prinzen von Argonia aus der Gewalt des Ordens zu befreien.“ „Ist das wahr? Dann hast du mir vor Lilius also bloß etwas vorgemacht?“ „In der Tat. Außer der Kinnhaken – der war tatsächlich so gemeint.“ Aus irgendeinem Grund musste Angelo darüber lächeln. Vielleicht lag es an der entwöhnten Empfindung des Teleportierens, doch auf einmal fühlte er sich so leicht… „Bleibst du solange hier?“ „Es wäre unsinnig, jetzt noch spazieren zu gehen. Ich brauche unbedingt ein Bad. Den abartigen Geruch dieser Uniform ertrage ich nicht länger.“ „Ich halte baden momentan nicht für weniger unsinnig als einen Spaziergang, aber gut: Ich lasse dir eines vorbereiten.“ „À propos: Du trägst ja gar nicht mehr diese Engelsrobe.“ „Natürlich nicht, nachdem du sie so spendabel bespien hast.“ „Bitte sehr. Sie sah ohnehin scheußlich aus.“ „Bedeutet das etwa, dass dir meine anderen Kleider gefallen?“ „Deine Kleider sind in der Tat adrett…“ „Wirklich?“ „…bis du sie anhast. Dir steht eben einfach nichts.“ Er stemmte eine Hand gegen die Taille. „Ist es dir dann lieber, wenn ich nackt durch die Gegend laufe?“ „Warte. Eine Sache steht dir doch perfekt.“ „Na, höre einer an! Jetzt bin ich aber gespannt! Was ist es? Ein Topfdeckel? Ein Häschenkostüm? Ein Tänzerpanzer vielleicht?“ Marcello warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ein Sarg.“ Damit ließ er ihn stehen. Er bestand darauf, sein altes Amtszimmer zu besetzen, und verbannte Angelo somit aus dessen. Der aktuelle Hauptmann beschloss gezwungen spontan, Templer Gladio im Refektorium Gesellschaft zu leisten, welcher sofort in die Höhe schoss, als würde seine Aufwühlung hinsichtlich der Rückkehr von Angelos Vorgänger zunehmend die Kontrolle über seinen Leib erringen. „Ich habe immer angenommen, er sei damals gestorben.“ Angelo haschte nach einem Apfel in der Schale auf der Mitte des Tisches, der so rot war wie sein Habit. „Marcello und sterben? Wahrscheinlich hat die Hölle ihn wieder ausgespuckt. Ich vermag es ihr nicht zu verübeln, auch wenn wir ihn nun wieder am Hals haben.“ „Wird er bleiben?“ „Wer kann das vorhersehen? In letzter Zeit weiß ich überhaupt nicht mehr, was hinter seinen Ministerwinkeln vor sich geht. Kann ich ihm dieses Mal vertrauen? Das ist die Frage, die ich mir stellen muss. Vielleicht hintergeht er mich schon wieder und lockt uns alle bloß in die Falle, damit Lilius uns auflesen kann wie einen Sack Wäsche.“ „Hauptmann Marcello ist viel zuzutrauen, aber er würde niemals etwas Schlechtes an die Abtei heranlassen!“ „Ich beneide Euch um Eure Loyalität, Gladio. Marcello ist ein hervorragender Anführer und Kamerad, wenn man nicht gerade zu seiner Verwandtschaft zählt.“ „Das ist er“, protestierte der kahlköpfige Templer schier. „Ich war bei ihm, während alles passiert ist. Während seines Aufstiegs, meine ich. Ich habe alles gesehen! Nicht den Mord an Seiner Heiligkeit, dem Obersten Hohepriester… Aber seinen Kampf gegen das Zepter! Ich bin überzeugt, dass er den Fürsten der Finsternis unterworfen hätte, wenn ihr ihm nicht in die Quere gekommen wärt!“ „Ich danke Euch vielmals für diese indiskrete Schuldzuweisung. Ihr seid ein aufrichtiger Mann, und es wäre von Vorteil, wenn es mehr von Eurer Sorte geben würde.“ „Danke, Hauptmann. Ich würde Euch töten, wenn Hauptmann Marcello es von mir verlangen würde.“ „Ach. Hat er das noch gar nicht?“ „Was denkt Ihr von ihm?!“ Angelo ordnete die Frage als eher rhetorisch ein und verkniff sich so eine ehrliche Antwort darauf. „Wisst Ihr, dass Seine Heiligkeit sich gegen sein Attentat zur Wehr hätte setzen können? Hauptmann Marcello wäre dann umgekommen, doch Seine Heiligkeit wäre am Leben geblieben! Für wessen Leben er sich entschieden hat, wissen wir. Und ich glaube fest, dass er einen tiefsinnigen Grund dafür gehabt hat, der sich bald auch uns erschließen wird!“ „Marcello war im Besitz des Zepters. Vielleicht ahnte er, dass, sobald Marcellos Geist schwinden würde, Rhapthorne die Chance ergreifen und sich seines Körpers bemächtigen würde.“ Gladios Vorwurf ließ ihn nicht mehr los. War es falsch von ihnen gewesen, Marcello auf Neos aufzuhalten? Hätte sein Halbbruder die Seele im Zepter beherrschen können? Er erhob sich. „Der Gute lässt sich ja ganz schön Zeit mit dem Baden. Ich werde ihm mal das Wasser ablassen, bevor wir nachher noch auf ihn warten müssen.“ Er stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür seines Amtszimmers. „Hey, Abgrundtaucher! Zählst du die Schaumblasen oder kann ich mich darauf verlassen, dich gleich unten auf dem Hof anzutreffen? …Marcello?“ Sein Halbbruder verfügte über die Ignoranz eines Schwertes, das sich ob seiner Opfer keinerlei Gedanken macht, jedoch irritierte es ihn, gar keine Verärgerung hinter dem Holz zu spüren – nicht einmal einen Funken. Eigentlich spürte er dahinter überhaupt nichts. Sollte Marcello bereits fertig sein? Wieso hatte er ihn dann nicht herunterkommen gehört? Er trat ein. Da lag Marcello – mit geschlossenen Augen, bleich wie ein Geist, ohne sich zu rühren, totenstill. Ein Blitz schnitt durch die Eingeweide des weißhaarigen Templers. Nicht die geringste Schwingung erschütterte die wie Glas wirkende Wasserhaut. Instinktiv stieß sich Angelo vom Eingang, hob den Leblosen aus dem Zuber, schüttelte, schlug ihm auf die Wangen, brüllte seinen Namen in die Ohren. „Hm… zwei zu eins. So sehen die Gewinnchancen aus, vorausgesetzt wir gewinnen… Wir haben Jessica retten können, aber die anderen beiden Träger des Zepters sind tot… Ich habe nicht vor, mich zurückzuhalten, aber… was ist, wenn er stirbt?“ Es ist möglich, sich einzureden, mit etwas umgehen zu können, bevor es tatsächlich passiert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)