DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 13: Ritter der Neuen Welt --------------------------------- „Warum hältst du dich nicht einfach fest?!“ Angelos Bauch tat weh, trotzdem war er gezwungen – während sie mit weiten Sprüngen schier über die Landschaft flogen – aus vollem Herzen zu lachen. Sein Halbbruder steckte indessen in einem Dilemma: Er spürte seine Abscheu, ihn zu berühren, während er doch beide Arme derart fest um ihn geschlungen hatte, dass sie seinem Zwerchfell dürftigen Platz ließen, um im Gelächter zu flattern. „Ich verlange, dass wir sofort absteigen!“ „Wie bitte?! Ich verstehe dich nicht! Der Zugwind!“ „AB-STEI-GEN!“ „Tut mir Leid, Bruder, aber ich befürchte, ich werde Sylvester nicht zum Anhalten überreden können! Er macht, was er will! Sieh es doch positiv: So kannst du immerhin dein Bein schonen!“ Geweckt von den herabsegelnden Blättern des Yggdrasil-Baumes, der aus dem Steinkreis erwuchs, sobald ein neuer Tag geboren war, hatten sie ihre Reise fortgesetzt. Dem Templerhauptmann war aufgefallen, dass sein Begleiter das rechte Bein kaum belasten konnte, und so war ihm, als sie die Streife einer wilden Säbelzahnkatze kreuzten, ein gewitzter wie wahnsinniger Einfall gekommen: Mit einem Trick war es ihm gelungen, sie beide auf sie zu hieven, und jetzt sausten sie über die Wiesen und Felder auf dem Rücken einer unkontrollierbaren, rachsüchtigen Bestie! Marcello klammerte sich mit ganzem Einsatz an ihn und bescherte ihm bestimmt einige blaue Flecken. „Das ist nur passiert, weil ich dich die ganze Zeit habe tragen müssen!“ „Dann erachte dies hier doch einfach als Akt meiner Erkenntlichkeit!“ „Ich erachte es als Beweis für deine geistige Umnachtung und bete zur Göttin, dass dir dieses Ungetüm deinen unbrauchbaren Kopf abreißt!“ So weit allerdings ließ Sylvester es nicht kommen: Ihr Raubtier-Reittier warf die beiden schließlich von seinem Rücken, und obschon es die fristlose Flucht einer erneuten Konfrontation mit Angelos Odinbogen vorzog, rächte es sich an ihnen, indem die Landung alles andere als glimpflich verlief. Der Führer des Shamshirs des Lichts rollte gar gegen eine massive Felswand. Marcello stand bereits und klopfte sich das Gras vom Hemd. „Bist du tot?“ „Brich nicht gleich in Heulkrämpfe aus. Ich habe gerade erst die Zwanziger erreicht; in solch einem Alter stirbt man doch nicht.“ Gestützt an die Abbruchkante, richtete er sich auf und erspähte über dem grünen Hügel unverhofft die weiße Villa der Familie Golding. „Marcello! Sieh nur! Baccarat! Hinter diesem Pass liegt Baccarat! Oh Göttin, endlich! Da oben wohnen die Golding-Geschwister! Die sind uns noch einen Gefallen schuldig – und weißt du was? Ich werde sie bitten, uns ein Schiff samt Mannschaft zur Verfügung zu stellen.“ Ihm fiel etwas ein, das seine Euphorie der Erleichterung dämpfte: „Vorausgesetzt, der Orden hat sie nicht bereits affiliiert. Sicherlich ist Lilius ziemlich an ihrem Vermögen interessiert. Lass mich sie allein treffen, Marcello, in Ordnung?“ Er drehte sich um. Der Angesprochene krümmte sich tief über den Untergrund, ohne sein Antlitz sehen zu lassen. „Was tust du denn da? Gräbst du nach Goldmünzen?“ „Bleib dort…!“ „Hey… Stimmt etwas nicht?“ „Geh zurück! Hörst du nicht? Fass… fass mich nicht an!“ „Du glühst ja! Komm schon, stell dich nicht so an. Lass mich dein Gesicht sehen.“ Doch in eben jener Sekunde, da Angelo das Kinn seines einstigen Vorgesetzten anhob, übergab der sich unvermittelt und zwang den Erschrockenen, zurückzuweichen. „Warne mich doch vor!“ „Ich sagte doch, du sollst dort bleiben!“ „Ging es nicht etwas detaillierter?!“ Marcello fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Das kommt von diesem Höllenritt auf deinem Ungeheuer.“ „Ich denke eher, du hättest dieses Zeug gestern nicht so hinunterschlingen sollen. Bleib sitzen.“ „Ich möchte mich waschen.“ „Na, von mir aus… Hinter diesem Durchgang liegt ein See, wenn ich mich nicht irre.“ Er ließ ihm Zeit für sich und verbrachte sie selbst damit, das Malheur von seiner Engelsrobe zu entfernen, mit mäßigem Gelingen. Den Hals hätte er ihm umdrehen können dafür, das kostspielige Kostüm zu verunstalten! Maellas Vorstand hatte ein Faible für feine, geschmackvolle Garderobe, leistete sich jedoch selten solche, aus Rücksicht auf die Kinder. „Geht es dir besser?“ Er musste sich zügeln. Marcello nickte. In der Tat hatte sich seine Erscheinung frappierend rasch erholt. Zum Glück würde dies alles bald ein Ende haben. Angelo konnte es kaum erwarten, in Savella anzukommen und seinen Halbbruder loszuwerden. Gemeinsam stiegen sie die Treppen in die Kasinostadt Baccarat hinauf, in welcher es ein überraschendes, aber mitnichten unangenehmes Wiedersehen gab: „Angelo! Ihr hier? Ich fasse es nicht!“ Sie drückte ihn kurz und fest, und diese Geste entschädigte ihn für alle Strapazen der zurückliegenden Strecke. „Wahrlich: Euch zu treffen muss ein Traum sein. Was hat Euch hierher und in meinen tristen Tag verschlagen?“ Gerade wollte Jessica antworten, da wurde sie sich des Mannes an seiner Seite gewahr. „Angelo“, flüsterte sie, als würde er es so nicht mitbekommen. „Sagt mir nicht, das ist…“ „Marcello“, stellte sich der Anlass ihrer Skepsis mit einer formalen Verneigung vor. „Es gereicht mir zur Ehre, dass Ihr Euch meiner noch erinnert, Miss Albert.“ „Glaubt mir: Ungern.“ Natürlich machte der Rotschopf keinerlei Hehl aus seiner Meinung gegenüber dem damaligen Demagogen. „Eure Schandtaten und Eure Arroganz blieben mir keineswegs in gutem Gedächtnis! Angelo!“, verteilte sie ihren Groll gerecht auf beide Halbbrüder. „Wie ist es bitteschön dazu gekommen?!“ „Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Euch ein anderes Mal, wenn Ihr sie hören möchtet, aber bitte urteilt nicht vorschnell über mich.“ „Darauf kann ich verzichten. Ich hoffe bloß, Ihr habt ihm nicht schon einen Unterschlupf angeboten. Ich dachte, er sei tot!“ „Jessica… Er kann Euch hören.“ „Na und?“ Sie funkelte den Verhassten an. „Richtig so!“ Marcello reagierte nicht. In der königsblauen Uniform des Hauptmannes der Templer hatte er jedweden Angriff reflektiert, doch heute hatte er nichts, und Angelo war dankbar dafür, dass er sich nicht auf Jessicas Provokationen einließ. „Nun schildert mir doch, was Euch hergebracht hat!“ „JESSICAHAA?!“ „Das ist der Grund“, stöhnte sie. Rosalinde Albert stöckelte auf sie zu. „Kochend und kurz vor dem Knall, wie man sie kennt“, stellte der Templer fest. „Ist das zu glauben?!“, ereiferte sich der reifere Rotschopf, ohne die Männer zur Notiz zu nehmen. „Da ist man EHRENMITGLIED in ihrem Orden, zahlt ihnen wöchentlich HOHE Donationen, und sie verschaffen einem NICHT EINMAL eine simple Überfahrt! Ist das zu glauben?!“ „Ich habe dir doch gleich gesagt, dass es zwecklos ist!“ „Ich fürchte, Lady Albert, da hat Eure Tochter Recht. Viele zahlen ihm erstaunliche Summen, um auf eine adäquate Gegenleistung hoffen zu können, aber eben da es derer so viele sind, zieht der Argon-Orden es vor, seine Anhänger als ein Kollektiv mit einem Wunsch zu betrachten, nicht als zahlreiche Einzelpersonen mit zahlreichen einzelnen Wünschen.“ „Wer mischt sich da ein?“ „Angelo Kukule, Mylady, Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei. Und früherer Gefährte Eurer bezaubernden Tochter.“ „Ach, dieser Angelo! Der, den mir mein verbliebenes Kind immer als Vorwand entgegenstellt, sobald ich vom Sohn des argonischen Kanzlers anfange.“ Vorwand? Jessica betrachtete irgendetwas weit über dem Kasino, als Angelo mittels eines Blickes ihre genaue Definition jenes Begriffes erkunden wollte. „Wie auch immer! Da sich der werte Herr Vorwand bestimmt unaufschiebbaren Pflichten zuzuwenden hat, statt sich hier vergeblich auf ein Schiff Richtung Savella zu gedulden, muss ich mich wohl nicht auch noch darum sorgen, dass Jessica und er länger als gesund beieinander stehen!“ „Ich bedaure, Mylady, aber in der Tat warten wir ebenfalls auf dieses Schiff.“ „Und ich hatte schon gehofft, dieser Tag könnte nicht noch jämmerlicher werden!“ Von ihr hatte Jessica allem Anschein nach ihre indezente Aufrichtigkeit. Er hegte das Bedürfnis, sie zu besänftigen: „Verzagt nicht, Mylady. Womöglich weiß ich einen Weg, auf dem wir doch noch auf ein Schiff gelangen.“ Cash und Carrie Golding zeigten sich geizig, als es darum ging, ihnen eine Fähre und Mannschaft nach Savella zu spendieren. Erst da Angelo ihnen den Anlass ihrer Reise offenbarte, waren sie auf einmal in Geberlaune. „Dieser Orden hört nicht auf, Anfragen zu schreiben, bis sie das Geld von uns kriegen, das sie haben wollen“, erklärte Cash, und seine Schwester nickte. „Ja! Diese großkotzigen Ritter kosten uns mehr Nerven als ein Schiff Goldmünzen! Seht es einfach als einen Auftrag von uns an. Weist sie in die Schranken! Und: Seid bloß nicht zu freundlich!“ Nun ja. "Fähre" war vielleicht etwas zu viel versprochen. Marcellos Braue zuckte. „DAS nennst du SCHIFF?“ „Jetzt komm schon – steig auf! Ich baue dir deine Kajüte auch solange um, bis deine Eitelkeit zufriedengestellt ist.“ „Der Hauptmann der Templer hat niemals derart unkomfortabel zu reisen.“ „Zu deiner Ära vielleicht, als das Gold noch durch das Fegefeuer fürchtende Fromme in die Kasse prasselte und Privatpriester Angelo um die wohlhabenden Witwen warb. Heute sieht die Situation etwas anders aus.“ „Ich wusste, dass du als Vorstand der Abtei versagst.“ „So wie du als Oberster Hohepriester?“ Seinen übrigen Frust blies er mit einem Seufzen hinaus. „Falls du mich suchst: Ich bin bei Jessica, unter Deck. Wenn dir langweilig wird, kannst du ja ihre Mutter unterhalten. Ich glaube, ihr beide werdet euch blendend verstehen.“ Und schon bald nachdem er seinen Anverwandten allein an der Reling zurückgelassen hatte, wurde Lady Rosalinde auf ihn aufmerksam. „Und wer seid Ihr?“ „Nur ein Begleiter des Hauptmanns Angelo von Maella, Lady Albert.“ „Und Ihr wisst nicht zufällig, wo sich Euer Hauptmann oder meine Tochter zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufhalten?“ „Nein, Mylady.“ Die weiße Gischt auf dem azurblauen Ozean rauschte an ihnen vorbei. Baccarat wurde immer kleiner und blasser. Drei Möwen folgten dem Schiff eine Weile, und Rosalinde Albert stierte Marcello mit dem Haupt eng zwischen ihren Schultern an. Dann stemmte sie ihr Gesäß gegen die Brüstung und verschränkte die Arme. „Dieses Mädchen bringt mich noch ins Grab! Warum ausgerechnet dieser Angoles? Warum kann sie sich nicht jemanden aussuchen, der… der… der wie Ihr ist: Höflich, gescheit und von offensichtlich bester Erziehung?“ „Also – um es zusammenzufassen – jemanden, der den Mund hält?“ „Es ist doch das Klügste, was eine Frau tun kann: Heirate und halte den Mund. Wenn ich sie körperlich wie finanziell in Sicherheit weiß, kann ich ohne Kummer kürzer treten. Weshalb soll sie die Welt retten? Es bringt sie bloß in Schwierigkeiten, und danken wird es ihr ohnehin niemand.“ „Doch ist ein solides Leben in Trübsal einem unsteten in Glück tatsächlich vorzuziehen?“ Tosend zerbrach eine hohe Welle am Bug. Die Möwen des westlichen Kontinents hatten das Schiff inzwischen verabschiedet. Unterdessen fielen Jessica im schaukelnden Licht einer Lampe die Flecken auf Angelos Hose auf: „Oh Göttin! Was ist das?“ „Ich bin mir nicht sicher. Ihr könnt ja einmal darunter nachschauen, ob ich vielleicht verwundet bin.“ „Vergesst es!“, entgegnete sie und drehte sich fort, nur um ihn Sekunden später mit ehrlich besorgter Miene wieder anzuschauen. „Ihr seid doch nicht wirklich verletzt, oder?“ Er musste lachen. „Keine Angst, es geht mir prächtig!“ „Wolltet Ihr nicht nach Argonia? Wie kommt es, dass Ihr jetzt nach Savella reist?“ „Jessica. Ich reise nicht, ich missioniere. Angelo – tiefgläubiger Templer der Maella-Abtei. Ich predige trockenen Humor und verkünde die totale Apokalypse. Also bitte: Bringt meine Mundwinkel nicht in Versuchung allzu fideler Erregung.“ „Ich verstehe schon: Unser Ziel ist weiterhin die Aufklärung über den Argon-Orden.“ „Mein Ziel, verehrte Jessica. Ich möchte Euch nicht in die Angelegenheit hineinziehen.“ „Dafür stecke ich doch schon viel zu tief drin! Und denkt Ihr wirklich, ich würde lieber meine Mutter begleiten wollen, als mich der womöglich mächtigsten Organisation gegenüberzustellen? Aber Angelo – verratet mir endlich: Was hat er mit der Sache zu tun?“ „Ich möchte nicht versprechen, dass er uns helfen wird, aber ich glaube, er verfolgt dasselbe Ziel wie wir. Ich bitte Euch: Versucht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen und – wenn es nicht funktioniert – einigermaßen mit ihm klarzukommen.“ „Ihr wisst genau, dass ich das nicht kann. Er hat das verfluchte Zepter an sich genommen!“ „Er konnte nicht ahnen, welche Macht es barg.“ „Verteidigt Ihr ihn gerade gegen mich?“ „Nun regt Euch doch nicht auf. Was hätte ich tun sollen? Ihn töten?“ „Ihn nicht mitnehmen.“ „Er hat eher mich mitgenommen.“ „Na toll! Soweit ist es also schon!“ „Jessica, bitte! Ihr tut so, als wäre ich glücklich, ihn wiederzusehen. Mir geht er genauso auf die Nerven wie Euch!“ Die Magierin erhob sich von jenem Platz, an dem sie nebeneinander Ruhe gefunden hatten. „Angelo. Wir sprechen hier nicht von Lorenzo. Dieser Mann ist eine ganz andere Liga! Er ist ein Usurpator und – schlimmer noch – ein Mörder!“ „Aber er hat nichts. Er hat gar nichts mehr.“ „Das ist mir egal. Selbst wenn ich mich darauf konzentriere, gerecht zu sein, kann ich ihm nicht einmal wünschen, ein normales Leben zu führen! Merkt Euch eines: Solange dieser Mann in Eurer Nähe wandelt, werde ich weder Eure Abtei besuchen noch Ihr Alexandria. Zu meiner Sicherheit… und zu der seinen!“ Die Tür krachte in ihren Rahmen und dann sogar heraus, sodass Angelo beobachten konnte, wie das Hinterteil der Rothaarigen mit verdrossenem Schwung am Ende des Ganges verschwand. Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hörte er sie bereits durch die Planken schreien. Er schälte sich aus der Decke, tauchte die Arme in sein Hemd und eilte an Deck. „Seid Ihr taub?! Ihr habt uns angegriffen! Ihr habt den Obersten Hohepriester ermordet und das Zepter an Euch gerissen! Wenn Ihr nicht so leichtsinnig gewesen wärt, hätte Rhapthorne niemals auferstehen können!“ Der Beschuldigte blickte über das glitzernde Wasser. „Antwortet! Sagt mir, ob Ihr ernsthaft der Überzeugung seid, dass Ihr es verdient habt, hier einfach zu stehen, zu leben, während die Menschen, die unter Eurer Machtergreifung leiden mussten, jetzt tot sind!“ Aber die Matrosen, welche dabei gewesen waren, mehr Segel zu setzen, starrten die ausrastende Passagierin an. „Jessica…“ Angelo platzierte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, wirbelte herum und wischte sie weg. „Wenn die Leute erfahren, wer er ist, müssen wir uns alle darauf einstellen, mit unlustigen Problemen konfrontiert zu werden.“ „Ich halte meinen Kopf doch nicht für seine Verbrechen hin!“ „Das mögt Ihr den Scharfrichtern vortragen. Ich fürchte aber, es wird sie nicht besonders interessieren.“ „Merkt Ihr eigentlich nicht, was Ihr tut? Ihr sucht und sucht Ausflüchte für ihn, sodass er selbst gar nicht mehr zu reden braucht! Wenn Euch die Gefahr seiner Identität bewusst ist, begreife ich nicht, weshalb Ihr ihn trotzdem hierhergebracht habt und uns alle in diese Klemme!“ „Ich ahnte ja nicht, dass ich Euch begegnen würde.“ „Und wisst Ihr was? Wahrscheinlich wäre das besser gewesen!“ Lady Rosalinde reckte das Haupt aus der Luke, augenscheinlich erst seit Kurzem wach. Sie hatte nicht versäumt, für die Reise Schlafmaske und Papilloten einzupacken. Ohne sie zu beachten, stampfte ihre Tochter den Niedergang hinunter. „Der Hauptmann der Templer schwört Enthaltsamkeit. Das weißt du doch?“ Er stellte sich zu ihm. „Und du weißt, wie ich bin.“ „Kümmere dich nicht um die Matrosen. Sobald wir in Savella sind, spielen sie keine Rolle mehr.“ „Was hast du bloß vor, Marcello?“ Besagter wandte sich ihm zu. Es war denkbar, dass Angelo sich irrte, aber in diesem Augenblick meinte er, die Spur eines Lächelns im Gesicht seines Halbbruders zu erkennen. „Wir wollen doch gemeinsam die Ritter treffen, oder etwa nicht?“ Das Schiff fuhr an die Insel Savella, und nach einem kurzen Marsch durchschritten sie das Portal zur Heiligen Stätte. Eine Treppe mit unzähligen Stufen führte sie auf die Ebene der Händler, auf welcher sich Stand an Stand reihte und Besucher an Besucher drängte. Über weiteren Stufen ragten bereits die Türme der beeindruckenden Savella-Kathedrale empor – ein Bauwerk, Ehrfurcht gebietend und zugleich den Eindruck unglaublicher Fragilität erweckend; wie aus einer anderen Dimension in diese herabgesenkt. Nonnen und Priester waren wenige zu treffen, dafür umso mehr Touristen. „Wie unkirchlich“, kommentierte Angelo das ungewohnte Bild. „Ich schreite durch das Portal zu Savella und scheine mich jäh auf dem Jahrmarkt in Argonia zu befinden. Vielleicht ist die Kathedrale auch nur eine gigantische Pappkulisse, die umfällt, wenn man sich ihr nähert.“ „Die Ritter residieren sicher auf der schwebenden Insel“, erwog Marcello. „Es wird schwierig werden, dort hinauf zu gelangen ohne Befugnis für den Fahrstuhl.“ Eine Familie kam ihnen entgegen. Der Junge an der Hand seiner Mutter war deutlich überwältigt. „Das war sooo toll hier, Mami! Endlich hab’ ich Savella auch mal angucken können!“ „Das haben wir dem Argon-Orden zu verdanken.“ „Wenn ich bald groß bin, frag’ ich, ob ich bei den Rittern mitmachen darf!“ Die Alberts kehrten aus der Richtung des Inns zurück. „So ist das also!“, zürnte Lady Rosalinde schon auf halber Strecke. „Einer Touristengruppe muss ich mich anschließen, damit sie mir eine Überfahrt gewähren! Ihren Mäzen schicken sie nicht einmal ein Dankschreiben, aber Urlaubern bieten sie Führungen, Beratungen und Tombolas! Und die Gaststätte ist auch voll!“ „Angelo! Das Schloss der Medaillenprinzessin Minnie ist kürzlich von einer Masse Monstern überfallen worden! Offenbar konnten die Ritter die königliche Familie und ihr Gesinde retten, aber die Insel mussten sie wohl aufgeben. So ein friedlicher Ort… Die Lage spitzt sich immer weiter zu!“ „Wir müssen unbedingt mit Großmeister Lilius sprechen. Jessica, bitte bleibt bei Eurer Mutter. Lasst mich als Hauptmann der Templer vor ihn treten!“ Er stieg die Stufen hinauf, begleitet von Marcello. Auf dem weiten Platz vor der Kathedrale überraschten ihn bunte Luftballons, tobende Kinder und blendende Uniformen, die kleine Geschenke verteilten. Junge Paare applaudierten lachend, sobald ihre Nachkommen über die Ziellinie gelangten; alte Menschen setzten sich selig schmunzelnd auf ihnen von Rittern angebotene Bänke. In der Mitte stand ein Ordensangehöriger umringt von Kindern und warf unter ihrem Jubel eine strahlend weiße Taube in den Himmel. Als würde jede einzelne von ihnen sie immer höher tragen, streckten sich alle kleinen Hände nach ihr aus. „Aber all dies Euch anzulasten wäre ungerecht. Die Kirche ist durch und durch korrupt. Ich war zu nachsichtig und trage wohl die Hauptschuld.“ „Die Menschheit befindet sich in einer bedeutsamen Entwicklung. Selbst wenn es uns gegeben ist, sie zum Glauben zurückzuführen: Dürfen wir uns das erlauben?“ „Die Früchte am Baum des Umdenkens waren überreif, allein musste ihnen jemand demonstrieren, wie sie zu ernten und dass sie mitnichten giftig sind.“ „Das haben wir dem Argon-Orden zu verdanken.“ Er spürte, wie sein Halbbruder aufmerkte, als er stehen blieb. „Marcello? Ist es wirklich so falsch, die Absichten des Ordens zu unterstützen?“ „Wie bitte?“ Er betrachtete die Kinder. Ein plumper Junge hopste in einem Leinensack vor den anderen ins Ziel. Nachdem sie zu ihm aufgeschlossen hatten, fielen sie über ihn her und strubbelten ihm durch die Haare. Er lachte mit ihnen. „Wir reden ständig über sie, als seien sie die Reinkarnation von Rhapthornes Armee. Sie bilden sich etwas auf ihren Einfluss ein, und ihr Großmeister ist nicht gerade die Bescheidenheit in Person, ja…“ Ein Knabe tapste zwischen all den hoch aufragenden Leuten umher und schaute sich um. Aus der Menge erschien einer der Ritter, und in seinem gleißenden Habit fiel er dem Kurzen sofort auf, dessen Miene sich erhellte. „…aber das, was sie versprechen, erfüllen sie doch: Die Menschen haben wieder Hoffnung. König Clavius befürwortet sie doch auch. Gemeinsam könnten wir gegen die Monsterplagen vorgehen, und… haben sie denn nicht Recht, was die Kirche betrifft?“ Ehe er Zeuge wurde, wie sich die beiden in die Arme fielen, stand Marcello vor ihm und versetzte ihm eine gekonnte Ohrfeige. „Du Dummkopf! Denkst du tatsächlich, der Orden lässt die Menschen wieder hoffen? Die Ritter haben lediglich die Euphorie des Sieges ausgenutzt, um sich wichtig und beliebt zu machen! Sie versprechen nur eines: Sie werden die Welt beherrschen, indem sich jeder ihrer Macht bereitwillig unterwirft!“ „Ja klar“, murmelte er. „Du musst ja wissen, wie machtbesessene Leute ticken…“ „Ist dir eigentlich klar, dass der argonische Monarch die Ritter nur fördert, weil sie seinen verzogenen Sohn in ihrer Gewalt haben? Womit ich ihn keineswegs von seiner Schuld freisprechen kann und möchte.“ „Was? Das wäre ja ein Eklat! Wie kommst du darauf?“ Marcellos Züge entspannten sich und fanden damit in die düstere Entschlossenheit zurück, die typisch für sie war. „Wie lange ist es her, dass du etwas vom Prinzen gehört hast?“ Stimmt, stellte er da fest. Um Schamlos war es bemerkenswert ruhig geworden. „Der König ist zu stolz, um es offen zuzugeben, doch Tatsache ist, dass der Prinz nicht in seiner Burg weilt. Und das Einzige, was Prinz Charmels von Argonia aus den heimischen Mauern führt, ist entweder eine Schnitzelspur oder Entführung. Oder beides“, ergänzte er in einer fallenden Tonlage. „Vermutlich lässt er es sich unter den Rittern wohlergehen und ahnt nicht einmal, wofür sie ihn benutzen. Ich muss sagen, der König hat es mir leicht gemacht, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Als wollte er, dass ich sie kenne und seinen Sohn ausfindig mache… Doch zurück zu dir: Verstehst du jetzt? Wenn du auch bloß auf eine friedliche Koexistenz der Templer und der Ritter der Neuen Welt hinzuarbeiten suchst, werden sie die Maella-Abtei annektieren, ehe du dich versiehst!“ „Die Abtei bedeutet dir also auch noch etwas.“ „Die Abtei ist irrelevant. Ich habe eine persönliche Angelegenheit mit dem Orden zu regeln.“ Marcello marschierte voraus in der Erwartung, dass er ihm hinterherlief, doch nach drei Schritten knickte er zur linken Seite weg. Im Reflex, sich noch zu fangen, riss er einen Tisch mit Vogelkäfigen um. Die entweichenden Tauben flüchteten aufgeregt gen Zenit. „Marcello!“ „Ist… nur das Bein!“ Angelo schaffte es nicht mehr an seine Seite. Schreie gewannen seine Aufmerksamkeit. Auf der Ebene unter ihnen stießen panische Passanten aneinander. Stände krachten zusammen, und einige Leute rollten die Treppe zum Portal hinunter, welches offen stand. Da erkannte er die Auslöser: „Monster!“ An ihm vorbei zogen schwertzückende Ritter der Neuen Welt. Auch Angelo bereitete sich zum Kampf. Im bunten Durcheinander suchte er Jessica – als er sie fand, rannte er los, sprengte über die Stufen zu ihr, die spektrale Lichtklinge in den Boden bohrend. „Blitzgewitter!“ Kräftige Blitze versengten Zauberglocken, Bulldozer und Silenen. Ringsherum stob alles erschrocken auseinander. „Passt auf!“, warnte Jessica ihn. „Ihr dürft die Leute nicht verletzen!“ „Die Ritter kümmern sich schon darum! Sie bringen sie in Sicherheit!“ Mit der Gringham-Peitsche fesselte und zerquetschte sie ein paar Dämonenreiter, die Lady Rosalinde eingekesselt hatten. „Mutter! Schließ dich den Evakuierten an!“ Weitere Monster hüllte sie in ein knallendes Kabumm. „Es werden zu viele!“ Angelo erledigte drei Dampfdrosseln. „Wenn wir uns nichts einfallen lassen, werden sie uns früher oder später überrennen!“ „Das Tor! Wir müssen es schließen!“ „Gute Idee!“ Sofort stieß sich der Templer ab, mähte mittels Perlentor eine Schneise in die heraufstürmende Monsterflut und sprang durch selbige hinab. Jessica zauberte ihn unermüdlich frei, während er die beiden Türflügel Richtung Rahmen schob. Es war anstrengend, wider den Strom von außen anzukommen, doch mehr und mehr Ritter drängten sich neben ihn gegen das Holz, welches sich endlich konsequent schließen ließ. Als es zudonnerte, war von außen weiterhin der Lärm gegen es schlagender und springender Monster zu hören. Oben bezwang Jessica gerade den letzten Einbrecher. Dann wurde es ruhig. Der Schutt der Stände wurde fortgeräumt. Kein Kinderlachen lichtete den dämmerigen Nachmittag. Dem Vorstand der Maella-Abtei sowie seinen Begleitern wurde ein Zimmer gestellt, um sich von den Gefechten zu erholen. Die ältere Albert war vor Aufregung in Ohnmacht gefallen und lag mit einer befremdlich hilflosen Miene auf dem weißen Bett, als wartete sie auf den Kuss ihres Prinzen. „Das war eine grandiose Leistung, Jessica!“ Angelo lächelte. Es sollte sie nicht bloß aufmuntern – des Mädchens Magie war wirklich gewaltig gewachsen, auch wenn es nun etwas blass um das Näschen war. „Danke, Angelo. Ich hoffe, es war nicht umsonst und wir haben die Bedrohung dauerhaft von Savella fernhalten können.“ „Ich schätze nicht, dass die Monster nach Euren Schmurgel-Zaubern noch einmal vorbeischauen.“ „Dann schätzt du falsch.“ Marcello lehnte am Rahmen des Durchganges und blickte von einem Prospekt des Argon-Ordens auf. „Die Insel der Läuterung sowie die des Minimedaillenkönigs sind die einzigen, die binnen eines Tages untergingen. Die Nordwest-Insel, Neos und Savella allerdings sind weitaus größer, und zumindest von Neos ist mir bekannt, dass es mehrere Monsterkrisen gab. Das, was heute geschehen ist, war lediglich der Anfang.“ „Danke, Marcello. Das war genau das, was wir jetzt hören wollten.“ „Ich halte es lediglich für ratsam, euch regelmäßig in die Realität zurückzurufen, bevor ihr vollends in eurer Fantasiewelt voller Regenbogen und Honigflüsse verlorengeht.“ Der Vorhang neben ihm wurde zur Seite geschoben, und ein Soldat in der roten Verkleidung von Argonia reckte sein Haupt durch den Spalt. „Ähm… Hauptmann Angelo der Templer zur Maella-Abtei?“ Gesuchter hob seinen Arm. „Hier.“ „Großmeister Lilius des Argon-Ordens wünscht Euch zu sprechen. Er erwartet Euch in der Residenz des Obersten Hohepriesters.“ „Richtet ihm aus, dass ich in zehn Minuten da bin.“ „Ich bleibe bei meiner Mutter“, ließ Jessica ihn wissen. „Erzählt mir alles, wenn Ihr wieder da seid.“ Marcello stieß sich von der Wand und kam wie selbstverständlich mit ihm. „Wer ist Oberster Hohepriester?“ „Ach! Das weißt du nicht?“ „Die Leute pflegen ihn bei seinem Titel zu nennen und nicht seinem Namen. Und für die Bücher der Geschichte ist seine Einsetzung noch zu jung.“ „Rolo.“ Er spürte, dass es Marcello wie ein gut gezielter Schlag traf. „So. Du weißt doch bestimmt, wie diese Scheibe funktioniert, oder?“ Sie betraten den Fahrstuhl, welcher aus einer im Boden eingelegten, runden Platte bestand. Ein Schacht, der so lang war, dass man sein Ende nicht zu erspähen vermochte, verband Savella mit der Residenz des Obersten Hohepriesters auf dem schwebenden Felsen, dessen wundersame Eigenschaft kein Wissenschaftler zu erklären in der Lage war. Selbst Abt Francisco, erinnerte Angelo sich an dessen Geschichten, hatte die Erhebung der scheinbar schwerelosen Insel in den Himmel nicht miterlebt. Es war eine jener unvergesslichen Fragen der Menschheit, die sogar sein Halbbruder ihm nur unbefriedigend damit hatte beantworten können, dass wohl die sieben Weisen auf diesem Felsen den Fürsten der Finsternis in das Göttervogel-Zepter versiegelt hatten. „Einfach draufstellen und ruhig sein. Die Vorrichtung reagiert auf Gewicht.“ Angelo hob seine Füße unnötig hoch, um auf die Platte zu steigen, die dann auch schon Gas gab. Er stieß gegen den Rücken des Größeren, der dort stand wie eine Statue, und war erleichtert, als der Fahrstuhl das obere Haus erreichte und das unbehagliche Empfinden des Vakuums in seinem Kopf ein Ende fand. Ritter der Neuen Welt patrouillierten im Garten. Rolo war der Erste, der sie beachtete. Der aktuelle Oberste Hohepriester kreuzte sie bereits im Erdgeschoss des Anwesens, und seine Mimik ließ keinen Zweifel daran, dass er Marcello sofort erkannte. Zu spät versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, und richtete sich an den Weißhaarigen: „Hauptmann Angelo! Ihr seid hier, um mit dem Großmeister zu tagen, nicht wahr? Bitte – was immer er Euch erzählt, fallt nicht auf die Schmeichelworte seiner Schlangenzunge herein! Dieser Mann wird sowohl die Templer als auch das Amt des Obersten Hohepriesters auflösen, wenn er zu noch mehr Macht gelangt!“ „Es geht jetzt nicht um die Abtei“, stellte Angelo klar, der noch immer nicht wusste, was er vom damaligen intriganten Gönner seines Halbbruders halten sollte. „Über ihre Zukunft entscheide ich ein anderes Mal. Und Euer Amt ist nicht die Sache eines unbedeutenden Hauptmanns, Eure Heiligkeit.“ „Ich bitte Euch! Rettet das Pontifikat! Ich werde Euch entlohnen mit allem, was Ihr Euch in Euren kühnsten Träumen ersehnt!“ Das war charakteristisch für Rolo. Andererseits wirkte er wahrlich verzweifelt. Auf der Empore über ihnen öffnete sich die Tür, und Großmeister Lilius’ Stimme war zu vernehmen: „Eure Heiligkeit? Schleicht Ihr abermals auf den Korridoren umher? Folgt den Weisungen Eurer Ärzte und begebt Euch wieder zu Bett. Alsbald werden die Damen Euch zu pläsierlichem Schlummer verhelfen. Prior! Wir bitten Euch in unsere bescheidenen Räumlichkeiten.“ Der Oberste Hohepriester starrte zu Angelo hinauf, als wollte er ihm jenen gewissensbeißenden Blick gleich einem Fluch anhängen. Vom Eingang des Amtszimmers aus betrachtet wirkte selbiges immer endlos lang. Der Vorstand des Argon-Ordens hatte sich bereits auf den Stuhl hinter dem Pult am anderen Ende platziert. Funkelnde Partikel rutschten auf den Strahlen des späten Lichtes um seinen braun verschatteten Umriss. „Eure Räumlichkeiten, hm? Soweit ich weiß, sind dies die Gemächer des Obersten Hohepriesters.“ „Sie sind es fürwahr. Dass wir sie für unsere Obliegenheiten beanspruchen, stellt ein temporäres Privileg für uns dar. Der Oberste Hohepriester ist gegenwärtig bass unpässlich, ob dessen vermachte er uns die Souveränität über Savella. Seid beruhigt, Prior zu Maella. Ihr zeichnetet Euch längst ein Bild der Konsequenzen, da wir des Morgens den Kathedralenhof den Kindern anheimgaben.“ „Bevor die Monster die Stätte angriffen, meint Ihr sicherlich. Ich darf davon ausgehen, dass Ihr über den Vorfall bestens in Kunde seid, also komme ich gleich auf den Punkt und…“ „Haltet ein, Prior. Zuvorderst insistiere ich darauf, meine Gäste zumindest mit einem Namen adressieren zu können. Wer ist der Mann an Eurer Seite?“ „Tut nicht so scheinheilig, Lilius“, meldete sich Marcello nun zu Wort. „Ihr wisst, wer ich bin, schließlich sind Eure Ritter schon seit geraumer Zeit hinter mir her.“ „Sonder Sukzess, wie ich schäumend, gleichwohl staunend einräumen muss, Marcello. Frappanterweise fahrt Ihr aktuell achtlos, indem Ihr wie der flinke Metallschleim unverhofft vor die Klinge des Kriegers hüpft, und da Ihr unbestritten ein Mann seid von kalkulierendem Witz, macht es mich schier blümerant zu erfahren, weswegen Ihr so vorgeht.“ In der Frist von Sekunden zückte Marcello das Chaosflorett, hieb auf Lilius ein, der gerade noch seinen Degen dagegenhalten konnte, und zwang ihn zwischen die Wand und seine Waffe. „Nehmt es nicht persönlich. Ich bin nur immer ziemlich nervös vor Prüfungen und ziehe es deshalb vor, sie rasch hinter mich zu bringen. Ich hoffe, ich muss sie nicht wiederholen.“ Ungeachtet seiner hilflosen Lage blieb der Überwältigte gelassen. „Es wäre nicht vonnöten gewesen, Eure Fertigkeiten abermals zu demonstrieren. Für Euren behänden Umgang mit allerlei Schwertern wart Ihr dereinst bereits berüchtigt.“ „Dann bin ich also in Euren Orden aufgenommen. Ihr hebt meine Sünden auf, pfeift Eure Jagdhunde zurück und lasst mich am Leben.“ „So Ihr uns Eure als ephemer verrufene Loyalität zollt.“ „Verstehe. Ihr fordert ein Pfand für Euer Vertrauen.“ Marcello ließ den Grauäugigen stehen und widmete sich Angelo, der dort stand wie erstarrt und registrierte, dass das anmaßende Lächeln des blaugewandeten Hauptmannes mit den jadegrünen Iriden, des ambitionierten Hauptmannes Marcello, seines Vorgesetzten und Halbbruders, zurückgekehrt war. „Lass uns etwas bereden“, schnurrte jener Hauptmann – wie früher, wann immer Abt Franciscos vertrauende Blindheit ihm gestattet hatte, das verhasste Familienmitglied mit Strafen zu plagen, von denen er überzeugt war, dass sie es tief treffen würden. Der Großmeister wies ihnen eines der Nebenzimmer zu. Wortlos ließ sich der Jüngere führen, doch da die Tür hinter ihnen in die Zarge fiel, explodierte er förmlich, versuchte den Größeren an dessen Kragen auf seine Höhe zu reißen und schrie ihm ins Gesicht. „"Lass dich nicht mit den Rittern ein"! Was, verdammt noch mal, verstehst du darunter?! Die ganze Zeit hältst du mir Vorträge, mich auf keinen Fall mit den Rittern zusammenzuschließen, und jetzt steigst du einfach selbst bei ihnen ein?! War das dein mysteriöses Ziel, Marcello?! Hast du das von Anfang an geplant, als wir uns auf den Weg hierher machten?! Wozu hast du mich dann gebraucht?! Nur, um mich hier niederzumachen?!“ Marcello ließ die Tiraden des Templers stoisch über sich fluten. „Ohne dich hätte ich hier nicht einfach hineinspazieren können. Darüber hinaus hast du für eine Überfahrt nach Savella gesorgt.“ „Für dich war ich also nichts weiter als zwei Tickets! Oh Göttin!“ Er ließ von ihm ab und schlug sich eine Hand gegen die Stirn. „Sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass das alles eine List ist!“ „Es ist keine List. Indem ich mich dem Argon-Orden anschließe, verbrüdere ich mich nicht nur mit meinen Häschern, sondern erhalte zudem die Chance, den Pelz des Streuners abzuwerfen und ihn gegen die Tracht der Macht zu tauschen: Die gleißende Uniform der Ritter der Neuen Welt.“ Angelo biss die Zahnreihen zusammen. „Ganz recht! Ich will wieder dort sein, wo ich einst gewesen bin: An der Spitze der Welt! Es ist mir schon einmal gelungen – warum sollte es das kein zweites Mal? Ein Mann wie ich, Angelo, ist dazu prädestiniert, über die Menschen zu regieren – das ist meine Mission, der Sinn meiner Existenz.“ „Das ist völliger Schwachsinn! Hast du denn nichts gelernt?! Willst du die Fehler von damals wirklich wiederholen?!“ „Ich habe viel gelernt. Es wird mich davor bewahren, diesmal zu scheitern.“ „Aber es schützt dich nicht vor mir!“ Er zog den Shamshir des Lichts, der gegen das Florett seines Halbbruders prallte. Die Klänge der aufeinandertreffenden Klingen vibrierten in der Höhle des Zimmers. Für Marcello war es ein Kinderspiel, sich den aggressiven Attacken zu entziehen, und mittels eines einzigen Hiebes stahl er seinem Kontrahenten die Balance. Angelo stürzte, seine Waffe verlierend, und drei rasende Herzschläge später schnitt ihm die violette Schärfe an seiner Kehle den Weg zurück auf die Beine ab. „Du bist eine Schande für die Templer.“ Wie früher. Ohne dass die blaugewandete Gestalt ihre Position aufgab, knockte Marcello ihn mit einem präzisen Schlag aus. Im Zustand der Lähmung bekam er mit, dass der Bastard ihn in Großmeister Lilius’ Sicht schleifte und ankündigte: „Ihr wollt die Maella-Abtei – Ihr erhaltet die Maella-Abtei.“ Lilius zeigte sich ob der unvermuteten Wendung belustigt. „Dies käme uns zupass. Euer Duktus mutet weidlich speziell an, doch der Esprit gefällt mir, gefällt mir…“ „Wenn du dir ausrechnest, wir verfolgten ein gemeinsames Ziel, dann täuschst du dich.“ Marcello… „Wir werden eine Weile zusammen gehen, doch wir sind kein Team.“ Er hatte ein Attentat auf den König von Argonia verübt… Er hatte nie verheimlicht, dass ihre Ziele verschiedene waren… „Die Abtei ist irrelevant. Ich habe eine persönliche Angelegenheit mit dem Orden zu regeln.“ Aber all das hatte Angelo ignoriert. Wie ein kleines Kind, das Böses unter dem Bett und im Schrank und hinter dem Fenster vermutet, doch niemals in den Herzen seiner Angehörigen. „In der Hölle.“ Seines Bruders. „Aber er hat nichts. Er hat gar nichts mehr.“ „Marcello… Ich schwöre dir: Ich werde den Orden der Ritter der Neuen Welt zerschlagen – und dich mit dazu, wenn du dich mir in den Weg stellst!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)