DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 11: Nach Neos II ------------------------ Er war nicht willig, sein Haupt zu senken, was immer sie sich auch einfallen ließen. Auch wenn die weit gespreizte Hand es wieder und wieder durch die braune Schicht über dem Wasser zwang und sich die Phasen des Untertauchens länger und länger zogen, reckte er es immer wieder in die Höhe, wenn der Henker ihn anschrie, das Geständnis abzulegen. Auch wenn dies bedeutete, den Pilz zu sehen – jenen fleischigen Pilz, der hektisch malträtiert wurde und sich ihm aggressiv wie verzweifelt zugleich entgegenstreckte. Hoffnungslos wehrte sich sein Körper wider den verkrampften Griff; die Brühe drang in seine Luftröhre, seine Augen brannten; er schnappte nach Atem, sobald die Hand es gestattete, und vermochte dennoch dies alles inzwischen recht stoisch zu betrachten. Ein einziges Mal hatte er Angelo ausgepeitscht, ein einziges Mal die Beherrschung verloren. Ein einziges Mal war dem aufsässigen Schönling die Maske des Hochmuts vom Gesicht geglitten. Im Nachhinein war ihm klar geworden, dass er sich selbst damit mehr bestraft hatte als seinen Halbbruder. Die Erkenntnis war schockierend gewesen, derart verletzlich zu sein. Marcello schloss die Augen, als der Pilz ihn bespie, und endlich ließ die Hand seinen Kopf auf den Rand nahe der übelriechenden Gülle fallen. „Die Templer haben wohl doch Recht: Aus dem kriegst’e nix.“ „Vielleicht“, schnaubte der Stierkopf, „müssen wir woanders nur was reinstecken, damit’s vorne rauskommt…“ „Bist’e blöd?! Wenn die das rauskriegen, guckst’e dir die Gitter bald vonner ander’n Seite an! Und so was kriegen die immer raus!“ „Hast ja Recht…“ „Bring ihn lieber zurück in seine Kammer. Ich glaub’, der sagt heut’ eh kein Sterbenswörtchen mehr.“ Heute vermochte er mit völliger Nüchternheit auf das zurückzusehen, was er daraufhin unternommen hatte. Keinerlei Reue, kein Ekel berührte ihn. Der Phönix musste auch erst sterben, um sein Wunder zu vollbringen. Stolz bedeutet nicht, niemals zu fallen, sondern er bedeutet, immer wieder aufzustehen, auch wenn er damals nahe dran gewesen war, liegen zu bleiben. Der Wind des frischen Tages trug Stimmen an ihn heran. Er schien Argonia nicht mehr fern zu sein. Die Tür schwang auf, schepperte und spuckte einen Körper an die gegenüberliegende Mauer, der stöhnend seine Stirn an den kühlen Stein lehnte, während die Gitter hinter ihm wieder ins Schloss fielen. Ein Schlüssel, ein Einrasten, der Schlüssel, Schritte. Stille. Bereits im Stehen wurde Marcello von Ohnmacht übermannt, doch die Zelle war zu klein, um sich hinlegen zu können. Wie lange hatten sie ihn wach gehalten? Er wusste es nicht. Er wusste lediglich, dass er lange kein natürliches Licht mehr erspäht hatte, weder das der Sonne noch die Reflexion des Mondes. Fackeln verrieten nicht, wann die Nacht endete und der Tag anbrach, falls es für einen Ort wie diesen überhaupt einen Tag gab. Seine Intuition sagte ihm, dass es Wochen waren, doch rational betrachtet war diese Zeitspanne undenkbar. Niemand vermochte so lange ohne Schlaf konnte niemand… so lange… Eine höllische Qual riss ihn aus der Erschlaffung. Sein Bein – sein ganzes verdammtes rechtes Bein schien vor seinem schmerzperzipierenden Körper davonlaufen zu wollen, ohne zu bedenken, durch Sehnen und Muskeln mit ihm verbunden zu sein. Beinschrauben. Bei der Göttin. Er hatte schreien müssen, aber gestanden hatte er nicht, glaubte er. Es war zum Kotzen. Jedes Mal ein anderes Folterinstrument, und sie würden nicht aufhören, ehe er gestand oder starb. Ihm wurde heiß, unerträglich heiß. Wie lange hatten sie ihn wach gehalten? Seine Intuition sagte ihm, dass es Wochen waren, doch rational betrachtet war diese Zeitspanne… diese Zeitspanne war… Schlaf. Er wollte endlich wieder schlafen und ließ das schwüle Wasser einfach über seine Lippen strömen. Die Zeit ging verloren, die Gedanken gingen verloren, der Hunger ging verloren, der Durst ging verloren und er zerlief in der Hitze. Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, trotzdem… …schob er sich zur Pfütze. Als wartete dort draußen noch eine Aufgabe für ihn. Eine Aufgabe, die die Göttin dazu zwang, ihn nicht sterben zu lassen, weil niemand sonst sie erfüllen konnte. Als die göttlichen Boten sein Inneres erquickten, ersann er einen Ausweg in jene so fern anmutende Welt. „Oh. Mist. Hey! Guck mal schnell! Ich glaub’, ihn hat’s erledigt!“ „Meinst du etwa…? Ach – du – Scheibe!“ „War ja auch ’ne lange Zeit. Mann… Jetz’ hatter’s hinter sich.“ „Endlich.“ „Meinst’e, der is’ schon steif?“ „Fass doch an. Musst ihn ja eh ins Krematorium bringen. Hast’e die Schlüssel?“ „Immer. Kennst mich doch. Vorsicht und so, besser als Nachricht.“ „Das heißt Nachsicht, du Trottel! Mann! Ich hab’ fast Schiss, dich mit ’nem Toten allein zu lassen, obwohl da ja eigentlich nix passieren kann! Los, schaff ihn weg; ich mach’ schon mal ’ne Suppe warm.“ Schritte. Quietschen. Eine Tür, die geschlossen wurde. „Guck mal… Jetz’ haste’s geschafft… Jetz’ biste ’m Himmel…“ Das Gitter zu seiner Zelle öffnete sich. Als der Folterknecht ihn berührte, zuckte er zusammen und spürte, wie diese winzige Bewegung genügte, um den Mann hinaus auf den Gang zu jagen. „Du-du-du-du-du-du lebst ja noch!“ Panisch vor jemandem, der gerade einmal das Haupt gegen die Stäbe lehnen konnte, drehte er den Schlüssel im Schloss herum. „Geh nich’…“ Es war eine Entdeckung, zu sprechen. „Hä? Was sagst’e?“ „Gib mir… zu essen…“ Der schemenhafte Leib des Stierkopfes stemmte die Fäuste gegen die Flanken. „Hältst mich wohl besonders für blöd, was? Hähä! Nee, so was mach’ ich bestimmt nich’!“ „Ich tue, was du willst… Egal, was… Ganz egal, was… Auch das… Das geht, da… bleiben keine Spuren, das… kann man… Nur… lass mich nicht hungern…“ Er senkte die Arme und schien zu grübeln. Konkretes war der Bullenmaske nicht abzulesen. Fast wähnte er sich siegend. Dann brach der Kerl in Gelächter aus. „Und du denkst echt, ich lass’ mich auf ’n Deal mit ’ner halben Leiche ein? Vergiss es! Hab’ so was wirklich nich’ nötig!“ Es schallte in den Gemäuern, selbst nachdem er gegangen war, als würden Teufelskasper in allen schwarzen Winkeln in das höhnische Feixen einstimmen. Marcellos Kopf rutschte dorthin, wo er Platz fand. Was konnte er noch tun, um das Vertrauen des Folterknechts zu gewinnen? Sollte es tatsächlich hier und jetzt zu Ende sein? Er erinnerte sich, nie einen Gedanken an die Option vergeudet zu haben, dass sein Tod ebenso plötzlich, unspektakulär, ignoriert eintreten konnte wie der jener Menschen, die seines Ehrgeizes wegen hatten sterben müssen: Die Zuschauer in Neos; ein seinen Weg passierendes Monster oder ein Insekt, bei dem oft nicht einmal das Leben bemerkt wird. Möglicherweise redete er sich selbst ein, dass die Göttin mit einer Mission auf ihn wartete, dass überhaupt jemand wartete, dass er nicht vergessen war, nicht bloß die ausradierten Späne in den Annalen der Kirche, wo es doch so viel simpler war, das Atmen aufzugeben. Schritte. Das Klimpern am Zellenschloss weckte ihn. „Er’s’ nich’ da; heut’ hab’ ich Wache. Hier.“ Ein Brotkanten wurde ihm zwischen die Zähne geklemmt. Er war zäh und schmeckte fad nach Suppe; mit dem ersten Schlucken begann seine Speiseröhre schon wieder zu glühen und weigerte sich, die Offerte dem Magen zu übergeben, aber darauf kam es augenblicklich auch nicht an. Sein Geschäftspartner bestand auf seinen Teil des Handels, also zwang er sich den Happen hinunter. Es war eine Tortur, sich auf der engen Fläche der Zelle zu knien. „Wenn du’s Maul gegenüber mei’m Kumpel aufmachst, ramm’ ich dir das Ding da rein bis an die Gurgel.“ Die Drohung erregte ihn offenbar mehr als dass sie Marcello einschüchterte. Durch die Stäbe löste er sein Soll ein. Hinter den geschlossenen Lidern spielte sich indes der Moment seiner Einführung in das Amt des Obersten Hohepriesters ab. Er hatte gezittert, als er aus dem Dunkel in das gleißende Licht am Nabel der Welt getreten war. Der Stierkopf schnaubte. Sein Herz hatte gehämmert. Nervosität? Nein… Es war Adventsstimmung gewesen. Dem vorwurfsvollen Blick aus dem Schatten hatte er seinen ranken Rücken gezeigt. Dong… Dong… Ein süßlicher, derber Geruch. „Ein Soldat, der eine derartige Behandlung fordert, würde niemals geduldet werden! Selbst wenn er die Statur eines Königs hätte, würde man ihm nie erlauben, der Gesellschaftsschicht zu entkommen, der er entstammt.“ Dong. Dong. Dong. Dong. Dampf blies aus den sechs Atemlöchern der gehörnten Maske. „Ich bin solch ein Soldat! Ein uneheliches Kind, von meiner Familie verstoßen! Einer wie ich hat kein Recht, Oberster Hohepriester zu werden!“ Dong, dong, dong, dong! Halbherzig nur wurde die bellende Bestie gezügelt, die ihn ersticken wollte. Er öffnete die Augen. Die Schlüssel stießen gegen die Eisenstangen. Es waren fünf – eventuell zu viele, um zu probieren. „Doch hier bin ich! Und das habe ich alleine meinen Verdiensten zu verdanken!“ Der geflügelte Überbringer des Zepters stand ihm gegenüber und schnappte im hastigen Rhythmus zu. Etwas Speichel sprudelte über seine Lefzen; es schmeckte bitter. Er streckte die Hand nach den Schlüsseln aus, welche sich nun zügig hin- und herbewegten. Dann biss er zu. Der Folterknecht explodierte förmlich vor Pein. Im letzten Augenblick, bevor er brüllend zurücktaumelte, stürzte und sich auf dem Boden wälzte gleich einem sterbenden, fetten Ferkelfisch, riss Marcello ihm den Schlüsselbund vom Gürtel. Nur Sekunden blieben ihm. Er zwang sich zur Ruhe, doch angesichts der greifbar rückenden Freiheit zitterten seine Finger zu stark, um den ersten Schlüssel ins Schloss der Zelle zu stecken. Er fiel ihm aus der Hand. Der Stierkopf schnaubte, aber dieses Mal vor Rage. Erster Schlüssel passte nicht. Der Stierkopf stemmte seine Fäuste auf den Boden. Zweiter Schlüssel passte nicht. Dritter Schlüssel – oder hatte er den schon versucht? Stierte seine blutbesudelte Hand an. „DU GÖTTINVERDAMMTER…!“ Rappelte sich auf! Vierter! Dritter! Fünfter! Warum passte denn keiner?! „Ich hab’s gut mit dir gemeint, aber dafür, du Hurensohn, SCHICK’ ICH DICH DIREKT IN DIE HÖLLE!“ Jetzt kam er! Fünfter! Passte! Er schlug das Gitter auf, wo ihn der Bulle erwartete, und rammte ihm den rettenden Schlüssel ins Auge. Wie er exakt entkommen war, vermochte er nicht mehr zu rekonstruieren. Er stieß von Mauer zu Mauer, erbrach sich irgendwo an einer Ecke und fand zuletzt unter den endlosen Himmel, wo er noch feststellte, dass es Nacht war. Nacht. Dann brachen seine Beine ein. Weitere Nächte zogen vorüber und sogar Tage. Vögel zwitscherten. Bäume raschelten. Glocken bimmelten. Eine geradezu makellose Idylle. Der dreckige Störenfried darin ließ die Sonne sengen, den Wind wehen und den Regen rinnen. Er vergaß, wann er wach war, wann bewusstlos. Monster pirschten heran, schnüffelten an ihm und ließen ihn liegen. Manchmal auch Tiere. Und schließlich auch Menschen. „Ach Du liebe Göttin! Fass den ja nicht an, Martha, hörst du? Wahrscheinlich hat den irgendeine Seuche dahingerafft. Komm auf der Stelle her, bevor du dich ansteckst!“ Und dann war da dieser Junge. Marcello hob die verkrusteten Wimpern und blinzelte ihn an. Er wirkte erschrocken, trat zwei Schritte zurück. „E-Egeus“, identifizierte er den Geist eines der sieben Weisen. „Habt… habt Ihr mich hiervor warnen wollen…?“ Egeus rannte fort. An seiner Statt glitt eine schmale Erscheinung in sein Sichtfeld, mit einem Konterfei so warm, wie es ihm zuvor lediglich von einem einzigen Menschen vertraut war. Die Sonne tönte ihre Konturen in Gold, da sie sich zu ihm hinabließ und behutsam eine Hand unter sein verklebtes Haar schob, um ihn aufzuheben. Seine Miene musste Bände sprechen. Ein Engel! „Es ist vorbei“, raunte der Engel und schmunzelte. Eine Stimme gleich flüssigem Edelstein. „Es ist nun vorbei.“ Die durch diese Worte evozierte Emotion war nicht eindeutig als Erleichterung oder Enttäuschung zu erkennen. Er rief sich die Qualen in jenem wer-weiß-wie-weit zurückliegenden Verlies ins Gedächtnis. Die Foltergeräte. Die mit Stolz erduldete Schmach. Trotz allem hatte er es also nicht geschafft. Jegliche Anstrengungen, jeder Schmerz… …umsonst… Rasch wedelte der Engel eine Art Taschentuch auseinander, auf welches merkwürdigerweise ein Schleim gestickt war, und tupfte ihm damit die linke Schläfe ab. „Na na! Es ist doch noch ein wenig zu früh für Tränen. Heute vermag noch so viel zu geschehen!“ „Komme ich… tatsächlich in den Himmel?“ Er hielt in seiner emsig betriebenen Tätigkeit inne und beäugte ihn, als wäre die Antwort evident, was sie im Grunde auch war, denn er hatte nie gelesen, dass ein Engel jemanden abholen kommt, dessen Los die Unterwelt ist. „E-ein Anliegen noch: I-ist es gestattet, ein paar Dinge von der Erde mitzunehmen? E-ein paar Bücher vielleicht?“ Just musste der Engel lachen. Es war ein herzliches Lachen – eines, das man mit Vergnügen herauskitzelt. „Also, ich maße mir nicht an, das Urteil der Göttin vorwegzunehmen, jedoch jemand, der derlei Fragen stellt, hat meiner Ansicht nach zumindest sehr gute Aussichten auf den Himmel!“ „Schwester! Lachst du etwa über ihn?“ Egeus kehrte zurück. „Nicht doch, Jo.“ „Du hast schon sooooo lange nich’ mehr gelacht. Ich find’ es schön, dass du wieder lachst.“ Der Engel bekam einen ganz roten Kopf. „Wenn das so ist, werde ich künftig versuchen, häufiger zu lachen. Würdest du mir bitte behilflich sein? Wir müssen ihn auf den Wagen hieven.“ „Moment. Bin ich… etwa am Leben?“ „Ja, überraschenderweise. Und Ihr solltet Euch ausruhen, damit dies auch so bleibt. Vertraut mir alles Weitere an.“ „I-ich… kann nicht! Die Templer! Ich… muss fliehen!“ Egeus feixte frech. „Bin gespannt, wie Ihr das anstellt! Hab’ noch nie einen in dem Zustand laufen sehen, außer ’nem Wiedergänger!“ „Jo!“, echauffierte sich der Engel. „Mein Herr. Alles ist in Ordnung. Ihr könnt augenblicklich nicht fort.“ Er legte ihm eine Hand auf die nasse Stirn und wirkte einen Zauber. „Dennoch! Ich… muss…“ „Schlafen. Also Augen und vor allem Mund zu.“ Er tat, wie ihm aufgetragen, und schlief für eine ganze Weile. Argonia. Hinter den mausgrauen Stadtmauern ragte die Burg empor. Die Vielzahl an Stimmen ließ auf einen Markt schließen. Es stellte sich heraus, dass es nicht vonnöten war, sich die dunkle Robe über das Haupt zu ziehen. Niemandem fiel er auf. So kamen ihm die Stände gelegen, denn es war an der Zeit, ein paar Heilmittel für das Geld, welches er von den Monstern gewonnen hatte, einzukaufen. Ein kleines Mädchen, das von seinem Tresen beinahe verschluckt wurde, wedelte ein großes Blatt umher, welches sehr nach Yggdrasil aussah. „Entschuldige.“ Es blickte zu ihm auf. „Hast du auch Heilkräuter im Angebot?“ „Tut mir Leid, mein Herr! Heilkräuter hab’ ich nich’, aber gaaaaaanz viele Yggdrasil-Blätter! Los! Kauft eines!“ Woher mochten diese zwei kraftblonden Zöpfe wohl "gaaaaaanz viele" seltene Yggdrasil-Blätter herhaben? „Daran bin ich nicht interessiert, danke.“ Als er zu gehen vorhatte, haschte ihre Besitzerin seinen Umhang. „Bitte! Ich hab’ noch kein einziges verkauft!“ „Darüber solltest du froh sein. Die Leute brauchen heutzutage keine mehr.“ Ein Privileg von Kindern ist, stringente Argumente einfach übergehen zu dürfen: „BITTÄÄÄÄÄ!“ „Ich sagte: Nein.“ „Bittebittebittebittebittebittebittebitte!“ „Was soll ich mit einem Yggdrasil-Blatt? Siehst du nicht, dass, wenn ich im Kampf das Bewusstsein verliere, niemand da ist, der es auf mich verwenden kann?“ Ohne von ihm abzulassen, damit der Bezug unmissverständlich sein würde, fing das Kind an, ohrenbetäubend zu heulen! Sofort glotzten alle Anwesenden. „Sei still!“, knurrte er. „Du lenkst die ganze Aufmerksamkeit auf mich!“ Natürlich dachte es nicht einmal daran. Vermutlich verstand es ihn gar nicht erst im Kokon seines sirenenartigen Klagegesanges. „Sei endlich still! Ich kaufe dir dein Yggdrasil-Blatt ab, nur halte dir den Mund zu!“ „Sehr vernünftig, der Herr! Das macht dann 1000 Goldmünzen!“ Da ging der Inhalt der Sparkassette aus der Kapelle des Herbstes auch gleich mit drauf. Kinder, dachte er verärgert. Abgebrühte Geschäftsleute hinter Masken weicher Unschuldsmienen. Er rang mit dem Stolz, der eiskalten Ränkeschmiedin das Gold nicht auszuhändigen. Sie lugte an ihm vorbei. Vor der Kulisse der bunten Menschenmenge stelzte ihm ein komisch gewandeter Blondschopf mit einer Miene, als hätte er auf etwas unvermutet Saures gebissen, entgegen und machte keinerlei Anstalten zu stoppen. „Verfluchter Templer!“ Marcello reagierte ohne Umschweife. Wer immer diese Person war: Sie kannte ihn, und er durfte nicht genehmigen, dass sie seine Identität auf dem gedrängt besuchten Markt preisgab. Ein akkurat kalkulierter Schlag in das aristokratische Antlitz versetzte dessen Träger gerade so in einen unangenehmen Schlummer. Ehe die Leute rekapitulieren konnten, was geschehen war, torkelte er schon wieder durch sie hin. „Die Ritter!“, brüllte jemand. Es war das Signal, welches ihm bedeutete, sich für die Burg zu interessieren. Um das argonische Sicherheitssystem wusste er, aber wenn man es erst einmal durchschaut hatte, war es ein Leichtes, sich die Lücken, die jedes auf Zahlen und Werten basierende System aufweist, zunutze zu machen. Nicht später als er in Spaziergeschwindigkeit zum Gemach des Königs gelangt wäre, zwang er Clavius mit dem Ort des Chaosfloretts auf seine Sitzfläche. Dichte Brauen senkten sich über die hellen Iriden und warfen einen Schatten auf sie. „Ich kenne Euch…!“ „Das tut nichts zur Sache. Weshalb unterstützt Ihr die Ritter der Neuen Welt?“ „Nichts verpflichtet mich, auf Eure dreisten Fragen zu antworten.“ „Ihr wisst so gut wie ich, Eure Majestät, dass das nicht stimmt. Ein König kann sich nicht in der Rolle des selbstlosen Helden üben, weil seinem Land nach seinem unvorbereiteten Ableben das todweihende Chaos droht.“ „Meine Garde wird jede Sekunde in den Raum stürmen und verhindern, dass es so weit kommt.“ „Dann werde ich fliehen. Und Euren Sohn zur Geisel nehmen.“ „Ihr werdet ihn nicht finden.“ „Mein Wort darauf, Hoheit, dass ich es werde.“ „Verschwindet besser, ehe die Ritter die Tür belagern.“ „Es schienen mir nicht derart viele hier zu sein, als dass ich ihnen unterliegen würde.“ „So irrt Ihr Euch.“ „Demnach ist Argonia nicht ihr Hauptquartier.“ Der hehre Herrscher schwieg, ohne seine Augen abzuwenden. „Eine enttäuschende Entscheidung für einen König, Eure Majestät. Ihr liefert nicht nur Euer Volk, sondern auch jene Trodains und Ascanthas einem Orden ans Messer, über den Ihr überhaupt keinen Blick, geschweige denn Kontrolle habt. Persönlich verstehe ich Euren Beweggrund, doch als Mann Eurer Position ist man gezwungen, derlei Opfer zu erbringen, anstatt sich in sein Privatzimmer zu verkriechen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.“ Die Tür wurde aufgeschlagen. In ihrem Rahmen standen die "Ritter der Neuen Welt"… und Angelo. Sein verhasstes langes Haar war ab und seine Züge ernster geworden, als hätte er in den zwei Monaten nach Neos die Erfahrungen und Enttäuschungen von fünf Jahren gelebt. Sekundenlang war er schockiert über das Bild, welches sich ihm bot. „Wir hätten uns denken können, dass Ihr es seid!“, spie einer der Ritter. „Ein Bart schützt Euch nicht vor den Greifenaugen des Argon-Ordens!“ „Ihr kennt diesen Mann?“, wandte sich Angelo an ihn. „Der Kerl fällt uns schon länger zur Last. Aber dieses Mal kriegen wir ihn, denn der einzige Weg in die Freiheit ist die Tür hinter uns, und“ – er schnaubte hämisch – „diese ausgemergelte Gestalt macht nicht den Eindruck, besonders gefährlich zu sein.“ „Oft entdeckt man die Dornen einer Rose erst, wenn man sich an ihnen verletzt“, gab Angelo zu bedenken und zog den Shamshir des Lichts aus der Scheide. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)