DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 9: Monsterkrise! ------------------------ Massen an Monstern, die von oben hinuntergefallen zu sein schienen, vegetierten in diesem Loch nun aneinandergedrängt, aufeinandergestapelt vor sich hin. Zwischen dem Schlürfen und Fauchen, Brüllen und Jaulen, Stöhnen und Stampfen war unselten jenes fragile und doch nicht zu übertönende Blinken zu vernehmen, das kennzeichnend dafür ist, dass ein Monster stirbt. In ihrer Enge, ihrem Hunger und ihrer Verzweiflung hatten sie begonnen, sich untereinander zu vernichten. Jessica musste sich zu jenen Menschen zählen, welche nicht darum gekommen waren, Monstern das Lebenslicht zu löschen; dennoch gelang es ihr nicht, diesen Anblick mit Gleichgültigkeit geringzuschätzen: „Das ist… grauenvoll…“ Im Gegensatz zu ihr hatte Angelo ihre Situation flugs erfasst: „Grauenvoll, Jessica, finde ich den Gedanken, wir würden auf der Menükarte landen! Euer Feuer hat ihre Aufmerksamkeit auf uns gelenkt, und ich glaube nicht, dass sie uns in ihre Klauen schließen wollen, um uns hier unten willkommen zu heißen!“ Tatsächlich fielen die Monster über die beiden her! Anfangs vermochten sie sich der irren Angreifer noch zu erwehren, doch das nahezu blinde Schlachtfeld, die nicht enden wollenden Scharen sowie die zur Neige gehende Magie ließ ihre Lage bald aussichtslos erscheinen. Schließlich krallten sich zwei Paradiesvögel in ihre Kleider. Sie hoben sie in die Höhe, und zu ihrer Verwunderung trugen sie sie aus dem Loch, über die übrigen Mauern der Stadt Neos, über das Gestade der Insel Neos weit davon. In den Verlassenen Hainen fassten ihre Füße wieder festen Grund. Die unglaublichen Ereignisse, die zur selben Zeit an anderen Orten geschahen, schienen nicht in das verschlafene Idyll zu reichen, doch während sie ihren Rettern in das Dreieckstal folgten, meinte Jessica sich zu entsinnen, dass damals mehr Monster hier gewesen wären. Die Paradiesvögel segelten, ohne ein Wort zu verlieren, davon. „Wo wir schon einmal hier sind, sollten wir Raya einen Besuch abstatten“, schlug Angelo vor. „Möglicherweise kann sie uns etwas über das, was in Neos vorgefallen ist, verraten. Ich kenne niemanden, der Monstern näher steht als sie.“ Der Schrein zu Ehren des Weisen Kupas, in welchem man Raya meistens antreffen konnte, befand sich auf einem Hang, der nur durch das Gasthaus zu erreichen war. An der Theke in demselben polierte der Wirt in aller Seelenruhe seine Gläser. Der Küsser, der hier stets herumschlurfte, war nicht mehr da, und auch die Einsame Rüstung, die sich oft das eine oder andere Schlückchen genehmigt hatte, erwies sich als verschwunden. Ein einziger Gast verharrte regungslos an der Theke, und der machte unbewusst Angelo inmitten seines Luftzuges erstarren. Der ringförmige Anhänger, eingeengt zwischen Uniform und geschwollener Brust, prägte rächend einen schmerzhaften Abdruck auf seine Haut. Dreh dich um, forderte er den Rücken auf. Dreh dich um. Nur ein Blick. Und so sollte es passieren: Während die Gestalt, die dort saß mit jener besonnenen Würde, die jegliche seiner Gesten und Posen ausgezeichnet hatte und zwar ausschließlich die seinen, sodass an eine Verwechslung nicht zu denken war, ihr Antlitz in einer Geschwindigkeit, als würde die Zeit mit jeder Sekunde langsam in einen Schlummer sinken, zu ihnen drehte, wog Angelo, als folgte sein Körper plötzlich einer eigenen Uhr, einem Aufzugsmechanismus eher, hastig ab, ob er mit ihm gleich reden oder lieber den Shamshir in die Rippen rammen sollte. Oder sich erst einmal hinter den Vorhang werfen? Zu spät! Schon stierte er freiheraus in die Fratze dieses Rotschwanz-Schubsers, der nicht minder dümmlich zurückglotzte. Oh Göttin. Hatte er soeben…? Er war zwar auch alles andere als hübsch gewesen, aber ein Rotschwanz-Schubser…? Es musste die Überzeugung gewesen sein, welche ihm die Augen verschleiert hatte, dass ein Ort, der Mensch wie Monster gleich begrüßt, wohl die geeignete Zuflucht für jemanden darstellt, der weder das eine… noch das andere ist. „Ihr fangt an, mir Sorgen zu machen“, drang Jessicas Stimme durch die Membran seines Grübelns. „Wir sind wegen der Monster hier, aber Ihr erweckt den Anschein, als würde Euch etwas ganz anderes beschäftigen. Und das schon länger.“ „Es ist nur… Ich spüre das Elend der Monster. Es verfolgt mich bis hierher.“ Als würde sie ihn trösten wollen, setzte just, wie durch den Eingang hinter den verlassenen Itemläden schwebende, bunte Dunstschwaden, eine Melodie ein. „Raya“, ließ der Wirt die Besucher wissen, ohne von seiner Betätigung aufzublicken. „Sie spielt wieder auf der Okarina. Draußen, auf der Weide.“ Sie waren erleichtert, auf besagtem Anger vor dem Schrein nicht nur die kleine Elfe mit der leuchtenden Mähne zu finden, sondern ebenso die monströsen Einwohner des Dreieckstals, welche sie vermisst hatten. In einem großzügigen Kreis hockte alles um die Flötenspielerin, die sich zur Musik wiegte gleich einem sich vom Zweig trennenden Blatt. Sie gesellten sich dazu, ließen die Klänge auf sich wirken und vermochten so ihre bedrückenden Gedanken einstweilen zu vergessen. Irgendwann hielt Raya inne. Sie wartete, bis das Auditorium sich verstreut hatte, dann schritt sie den beiden Besuchern entgegen. „Es ist lange her. Was führt euch zu uns in das Dreieckstal, Freunde?“ „Leider nichts Erfreuliches“, kam Jessica gleich auf das Wesentliche. „Auf Neos spielen die Monster verrückt. Sie zerfleischen sich wahllos und haben auch uns angegriffen. Zweien Eurer Monster haben wir es zu verdanken, dass wir noch am Leben sind. Außerdem wurden wir von Khalamari attackiert, obwohl er uns kennt.“ Kummer veränderte die weichen Züge des Mädchens. „Ich ahne, wovon ihr sprecht. Gigant sind die Veränderungen schon vor einiger Zeit aufgefallen. Auf der Nordwest-Insel gab es einen ähnlichen Vorfall.“ „Auf der Insel, wo wir Dhoulmagus besiegten?“ „Was für Veränderungen?“, hakte Angelo nach. Unverkennbar kämpfte Raya zunehmend mit ihrem Mund, der sich weigern wollte, Weiteres preiszugeben, als würde das überzeugte Verschweigen der unaufhaltsamen Ereignisse überall auf der Erde verhindern, dass es zur Katastrophe ausartete. Selbst angesichts des blutroten Himmels war die kleine Elfe nicht so mutlos gewesen. „Die Monster vergessen, wer sie sind. Sie verlieren den Verstand und verfallen ihren urtümlichsten Instinkten.“ „Dafür muss es doch einen Auslöser geben!“ „Gibt es“, entgegnete sie ihm. „Der Glaube der Menschen an die Göttin, die die blaue Feste des Himmels über uns hält und aus winzigen Samen große, starke Bäume macht, schwindet allmählich, und dadurch verwelkt Ihre Kraft. Sie muss sie auf das Wichtige verwenden und kann nicht mehr über die Monster wachen – darum werden sie krank. Auch Monster aus dem Dreieckstal hat dieses Schicksal schon ereilt. Ein paar von ihnen haben die Haine verlassen…“ Jessica verspürte das Bedürfnis, Raya in die Arme zu schließen, und setzte sich diesem auch nicht zur Wehr. „Es stimmt: Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken. Meine Mutter hat keinen Schritt in unsere Kapelle gesetzt, seit sie so fanatisch auf die Ankunft ihrer Ritter auf den weißen Pferden wartet.“ Angelo nickte. „Nach allem, was die Kirche vor zwei Monaten verbrochen hat, wenden sich die Leute von ihr ab und stattdessen den illusteren Anschauungen des Argon-Ordens zu, der eine neue Ordnung verheißt und gewiss keinen Göttinnendienst vorsieht. Ich hätte niemals gedacht, dass die Monster auf solch eine Weise mit uns Menschen verbunden – ja – von ihnen abhängig sind, aber die auffällige Proportionalität der wachsenden Begeisterung für die Ritter mit der steigenden Bedrohung durch die Monster macht es geradezu unmöglich, daran noch zu zweifeln.“ „Was sollen wir tun?“, sehnte sich Raya zu erfahren. „Die Menschheit befindet sich in einer bedeutsamen Entwicklung. Selbst wenn es uns gegeben ist, sie zum Glauben, der sich in ihren Augen als zwielichtig herausgestellt hat, zurückzuführen: Dürfen wir uns das erlauben?“ „Wenn wir nichts unternehmen, werden die Monster bald die gesamte Welt terrorisieren“, erwiderte Angelo. „Ehe wir solch drakonische Maßnahmen wie die, die Bevölkerung zur religiösen Umkehr zu drängen, in Erwägung ziehen, werde ich erst einmal mit den Rittern selbst ein Gespräch über die Angelegenheit führen. Sie sitzen auf hohen Rössern, aber ich halte sie nicht für skrupellos. Sobald ich sie über die Konsequenzen ihrer Missionsarbeit in Kenntnis setze, werden sie sich sicherlich kompromissbereit zeigen.“ „Ich lege das Schicksal des Dreieckstals in eure Hände“, vertraute Raya ihnen an. „Wenn es etwas gibt, das wir für euch tun können, so lasst es uns wissen. Die Paradiesvögel werden euch aus den Hainen tragen.“ Zurück auf der Ebene des ascanthischen Kontinents, sollten sich ihre Wege trennen. „So habe ich mir unseren Ausflug eigentlich nicht vorgestellt“, versuchte Jessica zu scherzen, bevor sie nach Norden aufbrechen sollte, wo der Pilgerkai lag, dessen Schiff sie nach Hause bringen würde. „Glaubt mir: Ich auch nicht“, gab Angelo zurück, der sich in südliche Richtung begeben würde, gen Maella-Abtei. „Wie sehen nun Eure Pläne aus? Kehrt Ihr wirklich zurück nach Alexandria?“ „Ja – um besonders meine Mutter ein bisschen wegen dieses Ordens zu löchern. Und mal wieder in die Kapelle zu gehen. Aber Angelo?“ Sie hob ihren Zeigefinger, zog eine todernste Miene und stapfte auf ihn zu, den Finger gegen seine Brust tippend. „Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr bald kommt und mich da rausholt, hört Ihr?“ Er gluckste. „Seit wann habt Ihr es so eilig, wieder mit mir zusammen sein zu können?“ „Ich ziehe fast alles der Einöde in Alexandria vor, selbst Eure schmierige Gesellschaft. Außerdem sind wir noch nicht in Trodain gewesen!“ „Also gut: Ich verspreche es. Aber seid Ihr sicher, dass ich Euch nicht begleiten soll?“ Sie grinste. Endlich. Es schien eine Weile vergangen zu sein, seit sie das getan hatte. Die Sache um Neos war kurz davor gewesen, etwas kaputtzumachen, das noch so empfindlich und bedürftig war wie ein Stiefelhopser ohne Stiefel. Nun jedoch, wo er sie grinsen sah, wusste er: Es war ihr nicht gelungen. „Ich bin ein großes Mädchen. Ich habe alle drei Kontinente durchquert, unter dem Einfluss eines magischen Zepters gestanden, einem violetten Fettklops über den Wolken den Riesenhintern gebohnert und den Anblick von König Trodes wahrem Antlitz überlebt. Nein, ich glaube nicht, dass ich Euren Schutz vor ein paar Hammerkäuzen und Schleimetten benötige.“ Letztlich schien er es zu sein, dem es schwer fiel, den Rückweg bar einer Begleitung anzutreten, was seltsam war, denn ein gekonntes Pokerface ist das Privileg von Einzelgängern, wie er fand, und sein Pokerface war definitiv erster Klasse. Sie winkte ihm zu, er tippte sich mit zwei Fingern gegen die Stirn, dann hüpften die feuerroten Zöpfe in die Ferne, ohne dass ihre Trägerin noch einmal stoppte, als hätte sie vergessen, dass hinter ihr jemand gestanden hatte. Nachdem sie hinter einem Baum verschwunden waren und er sich gewiss, dass kein Ruf die bildschöne Frau mehr erreichen würde, wandte er sich ebenfalls zum Gehen. Die Abtei ruhte im matten Mondschein. Hinter ihr kündigte ein kornblumenblauer Streifen am Horizont von der Ankunft der Sonne. Erst in diesem Augenblick nahm Angelo zur Kenntnis, wie müde er war. Er ließ ein Gähnen zu. Im Inneren der Gemäuer herrschte die Atmosphäre eines Friedhofs vor. Dem Grabwächter gleich, schlurfte ein schlaksiger Mönch mit einer zittrigen Kerzenflamme durch den Korridor. Er hatte ihn nicht erkannt, allerdings wohl gehört, denn just versteinerte er mitten in seinem Gang und streckte das leidliche Licht nach allen Seiten. „I-ist da wer?“ „Nicht erschrecken. Ich bin es, Theophil.“ Schweiß glänzte auf dem Gesicht des jungen Mönchs. „W-wer?“ „Ich. Angelo.“ „Prior Angelo!“ Theophilus Natale blies mehr Luft aus, als seine Statur den Eindruck erweckte, überhaupt aufnehmen zu können. „Wir haben Euch zu so später Stunde nicht erwartet!“ „Hier bin ich, Theophil. Hier.“ Endlich entdeckte er ihn. In der Blase der minimalen Fackel schoben sich seine Mundwinkel erleichtert gegen den Rest seiner schlaffen Züge. Bruder Theophilus war einer jener Menschen, die selbst lächelnd noch traurig aussehen. „Und? Ist während meiner Abwesenheit etwas des Berichtens Wertes vorgefallen?“ „Wieder ein Brief vom Orden, Prior. Ihr ahnt wahrscheinlich schon, dass es mir nicht gelungen ist, ihn unangetastet liegen zu lassen.“ „Das freut mich. So komme ich immerhin darum, diesen schleimigen Rotz selbst lesen zu müssen. Nun? Was steht denn drin?“ Für einen Moment wirkte der Bruder, als wäre ihm im Starren seine innere Uhr stehengeblieben, obwohl ihm die Einstellung des Abteivorstands gegenüber den Briefen aus Argonia vertraut sein müsste. Dann erwachte er wieder zum Leben. „Die Ritter drängen Euch dazu, ihnen die Templer zur Verfügung zu stellen. Denn – und genau so steht es geschrieben – "die Verbrecher, welche unsere Welt, noch chaotisch, ausspeit, gefährden den empfindlichen Säugling Reorganisation". Werde "jenem Schützling, ruhend in der Wiege des Argon-Ordens, genährt durch unsere vereinte Hoffnung auf eine strahlende Zukunft, versagt – durch Verweigerung des Anwendens jedes dafür nötigen Mittels – wider alles Übel gefeit heranzureifen, so wird auch es erkranken und unfähig sein, die Zivilisation aus ihrem Teufels- oder Göttinnenkreis zu geleiten". Deshalb sei es "obligat, der Verbrecher baldmöglichst Herr zu werden", schreiben sie.“ Angelo fuhr sich stöhnend durch das Haar. „Ach, Theophil! Diese Poeten! Diese Vertrautesten der Schreibfeder! Mir wird schon angst und bange, wenn ich nur daran denke, mit welchen Worten ich den ihren dieses Mal würdig begegnen soll! Ich schäme mich so für meine Unzulänglichkeit!“ Der Mönch kicherte. „Gibt es noch mehr erfreuliche Neuigkeiten?“ Die Antwort wurde überflüssig, denn gerade öffnete der Heimgekehrte die Tür zu seinem Zimmer, auf dessen als Erstes in den Blick fallendem Tisch sich der vernachlässigte Papierkram stapelte. „Das wird dann wohl nichts mit schlafen heute Nacht.“ „Celino hat sich wieder mit den anderen gestritten“, berichtete Bruder Theophilus mit einem Lächeln, das versuchte, ihn etwas aufzumuntern. „Es ging so weit, dass wir seinen Kontrahenten verarzten mussten. Seitdem hat Celino kein Wort gesprochen und auch nichts mehr gegessen. Ihr solltet nach ihm schauen.“ „Das werde ich. Danke, Theophil. Wenn das alles war, könnt Ihr nun weiter durch die Flure geistern… oder was immer Ihr da getan habt.“ Den Abtritt gesucht. So begab sich der Mönch erneut mit seiner Kerze in die Finsternis auf der Expedition nach dem Stillen Örtchen, und Angelo trat leise in das Dormitorium von kleinen Engeln. In allen Betten hatte sich ein Maulwurfshügel angehäuft, bestehend aus Decke und Kind, und jeder einzelne war Ursprung eines anderen, individuellen Geräuschs – eines Rauschens, eines Murmelns oder Schmatzens – als würde der Chor selbst im Schlaf noch singen wollen. Ihr Wächter betrachtete ihre seligen Gesichter und erinnerte sich an seine eigene Kindheit. Dann blieb er hängen: Auf Celinos roten Backen schimmerten noch die feuchten Spuren seiner Verzweiflung. Er legte ihm die Hand auf, und die Lider des Jungen hoben sich. „Hauptmann Angelo!“ Die Wiedersehensfreude des Kleinen wärmte ihn. „Pschhht. Es ist noch Nacht. Ich habe gehört, du hattest einen Streit mit den anderen. Wie ist es denn dazu gekommen?“ „Sie haben was ganz Gemeines zu mir gesagt… Sie haben mich… sie haben mich "Schleimkönig" genannt!“ „Und was hast du daraufhin getan?“ „Ich… ich hab’…“ Er suchte Worte, die um den Tatbestand führten, ohne sich gewahr zu sein, dass lügen zu jenen Dingen zählte, die der ambitionierte Cembalist nicht beherrschte. „…ich hab’ zugehauen“, flüsterte er mit einem an seiner Decke haftenden Blick. „Das war falsch, oder?“ „Ja, es war falsch“, bestätigte Angelo seine Befürchtung. „Aber aus Fehlern lernt man, Celino. Weißt du? Früher habe ich mich mitunter auch ganz gerne geprügelt.“ „Im Ernst?“ Das Kind machte Augen, als würde von einem Lidschlag auf den anderen der Oberste Hohepriester an seinem Bett sitzen. „Im Ernst! Bis ich eingesehen habe, dass ich es dadurch zwar jemandem heimzahlen konnte, allerdings nicht das erreichen, was ich dadurch zu erreichen gehofft hatte…“ „Was habt Ihr danach gemacht?“ „Mein Haar wachsen, mir eine rote Uniform auf meinen Traumkörper schneidern lassen und jede Menge Spaß gehabt!“ „Und… das sollte ich… jetzt auch machen?“ „Du brauchst keinen Busch auf deinem Kopf gedeihen zu lassen und ich weiß, dass deine Lieblingsfarbe Blau ist, aber den Spaß, den darfst du auf keinen Fall verlieren!“ „Ihr meint… ich soll über den Dingen stehen?“ „Das sei dir fern. Über den Dingen zu stehen bedeutet, sich über sie zu stellen. Du wirst niemals glücklich, wenn du dich über alles, was dir Probleme bereitet, einfach erhebst. An der Spitze des Berges kann man immer nur allein sein, Celino. Deshalb: Bleibe unter uns anderen und denke stets daran, was du bist, statt an das, was du nicht bist. Sie sind keine besseren oder schlechteren Menschen als du. Sie stehen lediglich im Schatten, wo niemand sie sieht. Du stehst im Lichtkegel – also nutze es aus! Zeige den anderen, wer du bist; lass sie den ganzen Celino kennen!“ „Aber wie? Sie hören mir doch nicht zu, wenn ich mit ihnen reden will…“ „Ich lasse Bruder Theophilus morgen die Achte Schrift aus dem Wort der Mutter behandeln. Das ist doch deine Lieblingserzählung, nicht wahr? Die anderen Kinder werden einen Haufen an Fragen haben – und du kannst sie ihnen alle beantworten!“ Nachdem Celino in einen belohnenden Traum gedriftet war, begab sich Angelo hinüber in das Amtszimmer. Die Post ignorierend, zog er sich um. Nicht lange würde er schlafen. Sobald die Sonne Ascantha mit ihren Fingern noch scheu betastete, würde er nach Argonia aufbrechen, wo der Argon-Orden stationiert war. Als er die Engelsrobe abstreifte, segelte ein Zettel aus dem Umhang. In hastig gekritzelten Buchstaben stand "Vergesst bloß nicht, nach Alexandria zu kommen!" darauf. Er musste schmunzeln. Wenig erholsame Stunden später beobachtete er die Betenden beim Verrichten ihrer Laudes in der Kapelle. Savella und Neos verwahrlosten; die übrigen Gläubigen pilgerten nach Maella, der kleinsten der drei Heiligen Stätten – und nun: Letzte brennende Kerze in der Finsternis. Schlösse er sie dem Orden an, würde auch dieses Licht erlöschen. Es wäre nicht allein ein Vertrauensbruch gegenüber all jenen Frommen, die tagtäglich den Weg hierher auf sich nahmen; es wäre zugleich ein unverzeihlicher Verrat an seinem Mentor, Abt Francisco. Solange er das Konterfei seines geistigen Vaters vor Augen hatte, wusste er, aus welchem Grund er sie jeden Morgen öffnete. Worum und wofür er zu kämpfen hatte. Wenn die Ritter sich die Abtei aneigneten, dann nur über Angelos zerbrochenen Shamshir. Mit Jessicas Botschaft in der Tasche und dem Entschluss hinter der Stirn brach er in den Westen auf. „Ich bin Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei!“ Er streckte seine linke Hand aus, an jener das blaue Emblem des Siegelringes blitzte, und erlebte ein Déjà-Vu – lediglich das Gegenüber war ein ganz anderes. Im Vergleich zum Wampendrachen an der Brücke nach Trodain, welchen Jessica so vortrefflich imitiert hatte, war diese Wache höchstens ein… Fliegerich. Mit ebenso ausgestreckten Extremitäten versuchte sie, ihn vom Tor fernzuhalten, sollte ihn abrupt die Lust packen, einfach mit dem Kopf durch die Wand zu stürmen. „Ich bin unentschuldbar, Herr Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei, aber selbst unter dieser Bedingung darf ich Euch nicht in die Burg lassen!“ Angelo war sich im Klaren darüber, dass sein Ton unangebracht war, allerdings erachtete er diese nicht als die Zeit, um herumzufloskeln. „Überall wird man dieser Tage abgewiesen! Ist denn dieser Ring gar nichts mehr wert? Oder liegt das an mir?“ „Ich kann Euch versichern, dass es bestimmt nicht an Euch liegt! Seine Majestät gewährt im Augenblick keinem eine Audienz, außer natürlich den Rittern des Argon-Ordens.“ „Ja ja“, winkte er ab. „Sind die denn zu erreichen?“ Das Haupt des Soldaten rutschte derart tief zwischen seine Schultern, dass ein Vorbeikommender sich wundern würde, ob dieser arme Mensch etwa ohne Hals geboren worden war. „Ich fürchte, nein. Die Ritter haben außerordentlich viel zu tun. Nachdem Argonia wegen der explodierten Anzahl an Anhängern keinen länger geeigneten Stützpunkt darstellt, überlegen sie – so jedenfalls höre ich die Leute munkeln – sich auf der Insel Neos niederzulassen.“ „Und genau darüber muss ich mit ihnen reden!“ Er packte den Kleineren an den Schultern. „Es ist von höchster Dringlichkeit! Bitte!“ „I-i-ich kann doch nichts tu-u-un!“, brachte er hervor, hin- und hergeschüttelt, bis ein „Aber ich versuche, Euer Anliegen an sie weiterzuleiten!“ den Templer beschwichtigte. „Versprechen kann ich jedoch nichts. Ihr solltet Eure kostbare Zeit nicht hier mit warten verschleudern.“ „Mir bleibt bedauerlicherweise keine Wahl. Die Ritter finden mich in der Stadt, wenn sie am Erhalt der Menschheit interessiert sind. Sollte ich heute Nacht im Gasthaus absteigen, weiß ich zumindest, was ich von ihnen zu halten habe.“ Irgendetwas entwickelte sich innerhalb dieser Mauern, und es handelte sich um nichts Gutes. Er spürte keine böse Aura, doch dass König Clavius niemanden empfing, war keinesfalls auf einen Grund von trivialem Niveau zurückzuführen. Weswegen unterstützte er den Orden? Sollte der stolze Monarch etwa unter dem Einfluss der Ritter stehen? Aber wieso? Mit düsterer Miene verlor er sich im Getümmel des Marktes. Die Händler priesen ihre Waren an, und Geschwätz und Gelächter der Kauflustigen verflochten sich zu einem Teppich, durch dessen Flor er sich mähte. Ziemlich spät nahm er wahr, dass er unmittelbar auf jemanden zusteuerte, der sich von seiner Umgebung im selben Maß absetzte wie Angelo, allein durch sein Gehaben, welches gerade deswegen so bemerkenswert war, weil es in nichts weiter bestand denn einem gravitätischen Stehen. Alle anderen überragend, ließ sich dieser von einer dunklen Robe umhüllte Rücken an einem der Stände ein Yggdrasil-Blatt zeigen, von einem sehr eifrigen Mädchen. Aber dieses Mal fasste Angelo sich, ehe er sich erneut die Blöße geben konnte, auch wenn gegenwärtig keine Jessica zur Stelle war, die es taxieren würde. Dieser Mann war Vergangenheit. Dieser Mann war vielleicht nirgendwo. Vielleicht tot. Wie hätte er – arg verwundet und auf sich allein gestellt – von der Insel entkommen können? „Ich brauche Schlaf“, seufzte er enerviert und stellte sich die Frage, warum eigentlich schon wieder er derjenige sein sollte, der die Welt vor ihrem Untergang bewahrte, während die Welt selbst vergnügt ihrem gewohnten Tagesgeschehen folgte. Weder war er ein fluchresistenter Dragovianer noch der Erbe eines der sieben Weisen. Er war kein verlorener Königssohn, kein aus dem Himmel gestürzter Engel und tatsächlich nicht einmal ein vollwertiger Templer. Er war ein Gammler, den die Göttin an die Seite dieser mit ihm aber auch überhaupt gar nichts zu tun habenden Weltretter geschubst hatte, weil Sie ihn als zu attraktiv und gewitzt empfand, um während der Beobachtung der ermüdend langen Reise auf ihn verzichten zu können. Er war der Fanservice, sozusagen. Warum also war er abermals drauf und dran, die rasch verfliegende Jugend für das Wohl dieser ihn bei jeder Gelegenheit abweisenden Leute aufzuopfern? Warum tat er es diesen Ignoranten nicht gleich, trottete nach Alexandria und zeugte mit Jessica Nachfahren des Weisen Alexander, bis die Monster kämen, sie aufzufressen, oder die Schar genügte, um jedwedes Übel, das da drohte, ordentlich zu vermöbeln? Am anderen Ende des Marktes öffnete sich auf die Rufe „Macht Platz! Platz machen! Gebt den Weg frei!“ ein Pfad im Wald der Leiber, und frappanterweise stelzte ein Hofnarr ihn entlang. Nein – kein Hofnarr. Er erkannte Lorenzo wieder, Jessicas Verlobten und Sohn des argonischen Kanzlers, dessen Anwesen den Hügel in der Stadt krönte. Nichtsdestotrotz erstaunte es ihn, dass die kunterbunt gekleidete Topffrisur so etwas wie Respekt unter den Bürgern genoss. Anscheinend wusste auch Lorenzo, wer er war: Kaum war er in seinen Blick geraten, änderte das Blondchen seine Route abrupt und hielt auf ihn zu. Er ahnte, dass er um eine Auseinandersetzung nicht kommen… und dass es peinlich werden würde. „Ihhhhrrr!“, deklamierte Lorenzo, mit seinem bleichen Finger auf ihn zeigend, als könnte Angelo sich sonst irren, wer gemeint war. „Ihr habt es auf Jessica Albert abgesehen, gesteht es!“ „Miss Albert und ich sind gute Freunde, nichts weiter.“ Dabei wollte er es belassen, doch der Kanzlersohn war so simpel nicht zu befriedigen. „Ein Jüngling wie Ihr und eine Frau wie sie können nicht abwiegelnd "befreundet" sein, ohne dass sich in des Tages Schatten mehr verbirgt! Gebt es preis! Ich als Miss Alberts kommender Gemahl habe ein Anrecht darauf, es zu erfahren!“ „Als ihr ach so "kommender Gemahl": Warum besprecht Ihr das nicht direkt mit ihr, statt den Umweg über den vermeintlichen Fiancé zu wählen?“ Ein Ring von Interessierten formte sich um sie. „Zweifelt Ihr etwa an meiner Beziehung zu Miss Albert, Templer?“ „Zweifeln tue ich lediglich an etwas, dessen ich mir nicht sicher bin.“ „Eines davon scheint der Platz zu sein, den die Göttin Euch zuwies, und der weder vor meinen Augen liegt noch in Alexandria!“ „Darum braucht Ihr Euch nicht zu sorgen: Ich hatte ohnehin nicht vor, mit Miss Albert in diesem Weiler zu verrotten, geschweige denn in Eurem Sichtfeld.“ „Nirgendwohin werdet Ihr sie entführen!“ „Es ist mir ein Rätsel, weshalb Ihr sie das nicht einfach selbst entscheiden lasst, wo Ihr Euch ihrer Zuneigung doch so gewiss seid.“ Die Antwort überraschte ihn: „Könnte ich mich ihrer noch gewiss sein, so wäre ich nicht die Sprossen auf der Leiter des Niveaus hinabgestiegen, um Euch verständlich zu werden! Verwünscht mich, wenn ich sie nicht herzlich liebe, denn sie ist klug, soweit ich mich darauf verstehe, und schön ist sie, falls nicht mein Auge trügt. Das Problem liegt darin vergraben, dass Miss Albert nicht bewusst ist, welchem Wagnis sie entgegenirrt, indem sie sich auf Euch einlässt. Ihr habt sie schon einmal blutgefrierender Gefahr ausgesetzt, und ich werde die aufkeimende Gelegenheit, dass dies ein weiteres Mal geschieht, nun rechtzeitig einebnen!“ „Dann raubt Ihr ihr einen bedeutenden Teil ihres Wesens! Mir ist es auf den zweiten Blick gelungen – wie lange benötigt Ihr, um zu erkennen, dass Jessica sich nicht in einem Dorf oder einer Stadt daheim fühlt, sondern dort, wo sie zwanglos entscheiden und leben kann?!“ „Oh heilige Vernunft, welch eitle Worte! Jeder Mensch hat vor bestimmten Regeln und Grenzen sein Haupt zu senken! Das ist der Nährboden unserer gedeihenden Gesellschaft und etwas, das ihr vier noch nicht erfasst habt!“ „Ein verzogener Sohn des Adels, der sich alles herausnimmt, will mir weismachen, dass man sich Regeln und Grenzen zu unterwerfen hat?! Das ist so lachhaft wie die Wette, ein Schleim würde einen Hacksaurier besiegen! Jessica wird niemals auf die Freiheit verzichten, um in Sicherheit zu sein – Ihr werdet sie schon einkerkern müssen, um sie zu halten!“ „Junge Höllenhunde treibt die Neugier ans Feuer, bis sie sich verbrennen! Anschließend bleiben sie ihm fern, und auch Miss Albert wird erwachsen und den Wert des Beständigen zu schätzen lernen!“ Ihm war, als litte er schlagartig an bedrohlich hohem Fieber. Mit den Ellenbogen schob er sich eine Bahn durch das Gemisch der Schaulustigen. „Ihr schwor Lorenzo zärtlich Liebe und stiehlt ihr Herz mit manchem Treuegelübde! Ich werde sie der Ordnung an die Hand geben!“ Hinter ihm schloss es sich im Nu wieder, als bestünde es aus buntem Fondant. „Verfluchter Templer!“ Unversehens hüpfte Lorenzo aus der Masse, ihm entgegen, und gerade, da er sich gegen den Überfall verteidigen wollte, registrierte er, dass das Blödchen bereits außer Gefecht war. Alle beugten sich über den am Boden Liegenden, der das farbenfrohe Sternenfeuerwerk vor seinen Augen bestaunte. „Hat der sich jetzt etwa selbst erledigt?“, wunderte sich Angelo. „Die Ritter!“, brüllte jemand, und augenblicklich stolperten die Leute zurück, ehe die gleißend weißen Uniformen durch die entstandene Gasse schritten. Angelo war gezwungen, die Augen zuzukneifen, um nicht geblendet zu werden. „Was ist das hier für ein Tumult?“, verlangte einer der Ritter zu erfahren. Unverzüglich wurde auf den Stadtfremden gedeutet. „Er! Er hat den Sohn des Kanzlers attackiert! Er war es!“ Ihre Blicke trafen ihn. Es waren Blicke wie von Puppenkaspern. Er war überzeugt, dass sie ihn identifiziert hatten; trotzdem devalvierten sie ihn durch jene Gleichgültigkeit. „Wir bitten Euch, uns zu begleiten. Barbarei innerhalb der Stadt wird nicht geduldet. Auf!“ Obschon es eine förmliche Einladung in das Quartier des Ordens bedeutete, verspürte er Hemmungen, es auf diesen unbequemen Anlass hin zu betreten. Da tauchte ein weiteres Mitglied zwischen ihnen auf, und an seiner noch prächtigeren Tracht mit den blitzenden Abzeichen glaubte er zu erkennen, es mit einem ihrer Befehlshaber zu tun zu haben, wenn nicht gar mit dem Großmeister höchstpersönlich. „Ihr seid Angelo Kukule, Prior der Maella-Abtei und Hauptmann der Templer – bestätigt Ihr das?“ Gefasst auf einen Angriff, wiewohl nichts einen solchen signalisierte, nickte er. „Und ich muss mit Euch etwas besprechen, das in Neos vorgefallen ist. Es ist sehr wichtig und gestattet keinen weiteren Aufschub.“ „Das trifft sich. Wir haben Euch nämlich desgleichen ein Anliegen vorzutragen. Behufs unserer gegenseitigen Eröffnungen schlage ich Euch vor, uns zu folgen. Dies ist kein rechter Ort, um über derlei Thematiken Rat zu halten.“ In der Burg erregte nichts den Anschein des Ungewöhnlichen. Lediglich die Uniformen waren neu. Sowohl König wie Kanzler waren nirgends auszumachen – freilich marschierten Personen solcher Positionen auch nicht einfach durch die Korridore. Der Ritter bat ihn hinter einen Vorhang, in ein angenehm temperiertes, schlicht möbliertes Zimmer, dessen süßes Aroma Angelo nicht zu benennen vermochte. „Tee?“ „Nicht nötig, danke.“ Sie saßen einander gegenüber. Am Sessel des Mannes, dessen Iriden so fahl waren wie sein Haar, stand ein Tischchen mit der Teekaraffe. Angelo fragte sich, was diese Person getan und erlebt haben mochte, bevor es die Ritter gegeben hatte. „Zuvorderst möchte ich mich vorstellen: Ich bin Lilius, erster Großmeister des Argon-Ordens und Stimme der Ritter der Neuen Welt. Wie Euch gewiss zu Ohren kam, erhoben wir die Gemeinschaft kurz nach dem Sukzess im Kampf wider den Fürsten der Finsternis. Bald darauf vermochten wir die Gunst des Regenten von Argonia zu gewinnen, was unserem Orden seinen Namen verlieh.“ Obzwar er zu keiner Zeit darauf bestanden hatte, dafür heilig gesprochen zu werden, missfiel ihm die Wortstellung, mit welcher der Großmeister ihren Sieg über Rhapthorne angerissen hatte. Sie hinterließ den Eindruck, als würden die Ritter diese Trophäe auf ihren eigenen Kaminsims platzieren. „Wie ist es dazu gekommen, wenn ich fragen darf? Wie habt Ihr die Sympathie von Argonias König errungen?“ „Eines nach dem anderen. Wir wagen, die beileibe strittige Theorie aufzustellen, dass der Fürst der Finsternis niemals unsere wahre Fährnis, vielmehr die verkörperte Installation jenes veritablen Übels, das uns droht – gleichsam ein Bote desselben; ein Zeugnis – war, sintemal er lediglich zu solch infernalischer Macht gelangte vermöge des inneren Widerstreits der Menschen, induziert durch jene Ereignisse um die mysteriöse Initiation des Obersten Hohepriesters Marcello.“ Angelo machte Anstalten eines Einwurfs, beließ es jedoch bei diesen. „Das mächtige Monument der Göttin auf der Heiligen Insel Neos“, betonte Lilius fast jedes Wort. „Steinernes Gelöbnis an die Gläubigen, Ziel der zahllosen Wallfahrten: Bett unseres beinahen Verderbens, jenes uns seit Äonen ängstigenden Fürsten der Finsternis. Woran vermochte das Volk noch zu glauben? An die Kirche, unter deren Albe mehr und mehr weidlich skandalöse Wahrheiten ans Licht kamen? An die Könige, die zu jener Zeit desgleichen ratlos in den blutigen Himmel blickten? Die Früchte am Baum des Umdenkens waren überreif, allein musste ihnen jemand demonstrieren, wie sie zu ernten und dass sie mitnichten giftig sind.“ „Und eben da liegt das Problem!“, fiel er dem Ritter ein. „Indem Ihr die Leute von ihrem Glauben abbringt, beschwört Ihr eine große Gefahr für die gesamte Welt hinauf!“ „Offenkundig habt Ihr Euch nicht hinlänglich über unseren Orden informiert, Prior. Mitnichten ist es unsere Intention, sie ihres Glaubens zu entwöhnen. Wir haben uns nicht zur Aufgabe gesetzt, sie zu leiten, wie die Kirche und Könige es tun.“ „Aber Ihr fordert ihre Abwendung von der Religion heraus!“ „Lasst mich aussprechen. Wir fordern oder beschwören nichts. So sie sich von der Kirche abwenden, dann aus der alleinigen Motivation, dass sie es selbst wünschen. Unser Wirken limitiert sich darauf, sie während jener prekären Phase nicht im Stich zu lassen.“ „Indem Ihr ihnen bloß eine weitere, undurchsichtige Institution vorsetzt?“ „Dass Ihr zu unserem Bedauern am Tor antichambrieren musstet, verschulden die strengen Anweisungen des Burgherrn. Dass wir nicht eher erbötig waren, mit Euch zu konferieren, verschulden die aktuellen Präparationen für die Verlegung unseres Quartiers. Ihr dürftet es verstehen: Gewiss untersagt Ihr Euren Besuchern ebenfalls den Zutritt in die Privatgemächer der Templer, so Ihr gerade eines Eurer Geplänkel plant.“ „Und wie verhält es sich mit den "Verbrechern"? Wenn diese überhaupt etwas "gefährden", dann doch allein den Reichtum Eures Ordens!“ „Wo wir bereits bei der Maella-Abtei sind, sollten wir auch bei ihr bleiben, Prior. Mich deucht, dass wir Euch inzwischen eine erkleckliche Zeit eingeräumt haben, um vernünftig über die Zukunft der Abtei wie auch ihrer Insassen zu urteilen. In einer ordinären Region wie derjenigen um Simpleton bedarf man der Templer nicht – es ist an Euch zu entscheiden, ob sie fürderhin sonder Sinn und Zweck bleiben oder ob sie gewichtiger Teil der neuen Welt werden.“ „Das ist doch momentan vollkommen nebensächlich!“ „Ganz im Gegenteil: Es ist existenziell.“ „Aber alle befinden sich in großer Gefahr!“ „Ordnet die Maella-Abtei dem hehren Vorhaben unter, Angelo.“ Der Templer erhob sich so dynamisch, dass der Stuhl umkippte. „Gro…!“ „…ßmeister!“ Der Vorhang wurde beiseite gerissen; hinter ihm ein Ritter – breitbeinig, gebeugt, wie bereit zum Sprung. „Jemand ist in das Gemach des Königs eingedrungen und bedroht sein Leben!“ „Gebietet ihm Einhalt“, ordnete Lilius an, dann galt seine Beachtung schon wieder Angelo. „Wir führen unseren Dialog ein anderes Mal fort, Prior. Hierorts werde ich nicht länger disponibel für Euch sein, darob passt unser nächstes Schreiben ab.“ Es ärgerte ihn, dass er überhaupt nichts erreicht hatte. Zu seiner Verwunderung begleitete der Großmeister sie nicht. Über die Schulter sah er ihn mit einem befriedigten Lächeln am Vorhang zurückbleiben. Ihren Weg säumten ein paar niedergeschlagene Wachen. „Seht euch vor!“, mahnte einer der Ritter seine Kameraden. „Ich kenne das ausgeklügelte Sicherheitssystem der Burg, und wer in der Lage ist, es zu überwinden, muss ausgesprochen gewieft sein!“ Er schlug die Tür zu König Clavius’ Privatzimmer auf. In dessen Mitte ragte unverfroren der Einbrecher in die Höhe; seine Klinge zwang den mächtigen Monarchen auf den Boden, mit nicht einmal fingerbreitem Abstand zur königlichen Kehle. Bestürzung erfasste Angelo. Sekundenlang war er schockiert über das Bild, welches sich ihm bot. „Wir hätten uns denken können, dass Ihr es seid!“, spie ein Ritter. „Ein Bart schützt Euch nicht vor den Greifenaugen des Argon-Ordens!“ „Ihr kennt diesen Mann?“ „Der Kerl fällt uns schon länger zur Last. Aber dieses Mal kriegen wir ihn, denn der einzige Weg in die Freiheit ist die Tür hinter uns, und“ – er schnaubte hämisch – „diese ausgemergelte Gestalt macht nicht den Eindruck, besonders gefährlich zu sein.“ „Oft entdeckt man die Dornen einer Rose erst, wenn man sich an ihnen verletzt“, gab Angelo zu bedenken und zog den Shamshir des Lichts aus der Scheide. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)