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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Alle Wege führen nach Neos

„Vater.“

Valentina trat durch den Vorhang in jenes Zimmer, in welchem der Große Kalderasha vor seiner Kristallkugel verharrte, als würde er meditieren.

„Ich habe meine Kugel noch einmal wegen der vergangenen Vorhersage befragt“, antwortete er, ohne ihre Frage zu benötigen. „Es hat mir keine Ruhe gelassen, dass die Prophezeiung so vage und mysteriös ausgefallen ist.“

„Und? Hat sie dir etwas verraten?“

Er nickte.

Sein Schweigen beunruhigte sie. „Ist es… etwas Schreckliches?“

Der Wahrsager öffnete die Augen wie nach einem Schlummer von Tagen. Jenes liebe, kleine Mädchen, das er damals aufgenommen hatte… Es war erwachsen und attraktiv geworden. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter blickten ihm aus diesem Antlitz entgegen, und er spürte einen brustschwellenden Stolz darauf, es die Jahre seiner Entwicklung über begleitet haben zu dürfen. Alles richtig gemacht zu haben.

„Vater?“

„Sie werden nicht sterben, wenn es das ist, was dir Kummer bereitet. Nein. Es ist etwas anderes. Und es ist an unseren Freunden zu entscheiden, ob es gut… oder schlecht ist. Zieh nicht so eine mitleiderregende Miene. Die beiden sind anders als wir; sie brauchen diese Abwechslungen, die ihr Leben auf den Kopf stellen. Es wird eine Überraschung sein und bestimmt nicht immer einfach, aber ich glaube, letztendlich werden sie sehr zufrieden sein. So, wie sie es verdient haben. Sie alle.“
 

Hier! Seht sie Euch an!“

Angelo schien der quietschgelben Bullenmaske des Windigen Willis noch einen entsprechenden Nasenring verpassen zu wollen, so dicht hielt er ihm den goldenen Kranz unter die Augenhöhlen.

„Ich weiß, dass sie sich einmal in Eurem Besitz befand. Also: Woher habt Ihr die Kette?“

„Die hab’ ich dem alten Yangus abgekauft! Aber er und die Elster sind gerade auf Geschäftsreise! Keinen Schimmer, wo die sind – ehrlich, Mann!“

Unzufrieden lehnte sich der Templerhauptmann zurück. „Niemand scheint das zu wissen. Es ist, als hätten die beiden Turteltauben unsere Welt verlassen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie gar bis in die Welt der Finsternis vorgedrungen sind.“

„Welt der…? Hä?!“

„Schon gut, mein ahnungsloser Freund. Danke für die Auskunft bis hierhin. Mit mehr hatte ich eigentlich auch nicht gerechnet.“

„So läuft das halt unter uns Händlern: Wir interessieren uns bloß fürs Bare und die Ware! Woher der Kram kommt und wie er beschaffen wurde, ist uns herzlich egal.“

„Genau wie mir die Ausführung Eures Geschäfts!“, platzte Jessica dazwischen. „Angelo! Ihr habt mir versprochen, dass wir die anderen wiedersehen, und jetzt kümmert Ihr Euch die ganze Zeit nur noch um diesen Anhänger! Wir sollten lieber herausfinden, warum die Brücke nach Trodain gesperrt ist. "Besondere Vorkommnisse"“, äffte sie auf einmal jene Wache nach, welche sie parforce nicht hatte passieren lassen und die mehr ein Wampendrache denn ein Mensch gewesen war. „"Was für Vorkommnisse?"“, zitierte sie sich selbst, ehe sich ihre Miene abermals zerknautschte, dass ihr Gefährte fast laut gelacht hätte. „"Besondere". Was für ein Idiot! Ihr habt ihm Euren Ring präsentiert, und trotzdem durften wir nicht durch! Irgendetwas ist da faul!“

„Womöglich die Brücke. Vielleicht ist sie unsicher.“

„Das glaube ich nicht! Die Brücke ist ganz neu! Habt Ihr damals nicht zugehört, als Yangus erzählte, wie…?“

Nein, habe ich nicht, dachte Angelo da. Von Jessica gefolgt, trat er mitten in das grölende Gewühl in den Gassen Pickhams. In dieser Stadt der Diebe und Vagabunden hatte man nicht das Gefühl, draußen zu sein, wenn man es tatsächlich war; selbst an Sonne und Sauerstoff schien es den Verstoßenen der Gesellschaft hier zu mangeln, und nach nur zwei Schritten wurde Angelo angerempelt und brauchte es nicht erst zu überprüfen, um zu wissen, dass er soeben um zwei Goldmünzen erleichtert worden war.

„Ich begreife nicht, weshalb sich Ascantha für Pickham überhaupt nicht verantwortlich zeigt“, vernahm er Jessicas Empörung.

Sein Blick verfolgte den Taschendieb, der sich mit einem Tempo, das zweifelsohne etwas zu vertuschen hatte, zwischen zwei skelettähnlichen Typen durchdrängelte. Der Platz, den sein verschwindender Rücken der Sicht freigab, empfing etwas mehr Tageslicht.

Dann geschah etwas Seltsames: In der Mitte des besagten Platzes – scheinbar in einer anderen Dimension, da die Leute an ihr vorbeistreiften wie Planeten um die Sonne, sich ihrer Präsenz sicher, gleichwohl ohne sie zur Kenntnis zu nehmen – ragte eine Gestalt in die Höhe, die nicht in die schmutzige, würdelose Umgebung passen wollte. Ihre Umwelt stieß sie ab wie einen gleichgepolten Magneten, indessen Angelo hilflos von ihr angezogen wurde, jetzt noch ohne zu wissen, weswegen. Unfähig, seinen Blick vom Rücken jenes Menschen zu ziehen, ehe sich der Nebel in seinem Kopf lichtete und ihm den Grund preisgab, übte seine Faust instinktiv ungnädigen Druck auf den Anhänger in ihr aus.

Und plötzlich fuhr die Ahnung durch seinen Leib, welche als hoffnungsvoll oder niederschmetternd einzuschätzen er nicht vermochte.

Sofort harrte er, betete, flehte, dass sich dieser Mann endlich wenden würde, um seine Ahnung eisig zu bestätigen. Darum war es doch immer gegangen: Um einen Blick.

Dann war es soweit und traf Angelo völlig unvorbereitet: Ein Fuß drehte sich direkt in seine Richtung! Das Herz pumpte in seinem Brustkorb wie eine wachsende Bestie, presste das wallende Blut bis in die Enden seiner Extremitäten. Sollte er sich hinter ein Fass werfen? Zu spät! Er stierte bereits freiheraus in diese spendabel mit Kinn versehene, grobschlächtige Visage, in der ein Augenpaar glühte wie runde Lavabecken aus tiefen, schwarz verschatteten Tälern. „Was guckst’e so, Sahnehaube?!“, musste ihn der Kerl erst anbellen, damit er aus seiner Vereisung schmolz und sich konsterniert abwandte, wobei er eher zufällig an Jessica geriet. Ein Irrtum. Die Erleichterung war enttäuschend. Aber war es nicht vorstellbar, dass jemand, der so tief gefallen war, sich an diesem Ort würde wiederfinden lassen?

„Angelo! Ihr hört mir ja überhaupt nicht zu!“

„Wie bitte? Äh – doch! Selbstverständlich. Wir sollten König Pavan beizeiten einmal fragen, weshalb er in Pickham die Schleime schleimen lässt.“

„Davon rede ich doch längst nicht mehr! Seht nur!“

Er richtete sich nach ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Auf den Platz war ein Zug von Rittern getreten, auf deren blendenden Uniformen sich die Sonne eitel reflektierte; mit Rössern an den Zügeln, wegen welcher sich die heimischen Räuber und Bettler schier die Augäpfel aus den Schädeln quetschten vor lauter Glotzen.

„Ritter der Neuen Welt“, identifizierte Angelo sie sofort. „Abgeordnete des Argon-Ordens.“

„Das sind sie?“, vergewisserte sich Jessica. „Diese ominösen Ritter? Meine Mutter schwärmt von ihnen, obwohl sie Alexandria noch nie einen Besuch abgestattet haben. Aber sie sehen genauso aus, wie man sie sich vorstellt, wenn man die zahlreichen Erzählungen über sie hört. Es wird gemunkelt, dass sie Großes vorhaben.“

„Nach der Katastrophe um die Auferstehung des Fürsten der Finsternis Rhapthorne haben sich ein paar Kirchenmänner und weltliche Würdenträger zu diesem Bund zusammengeschlossen. Sie wollen die verwirrte und verwundete Welt wieder ordnen und in eine neue Bahn lenken. Und um dieses Ziel zu erreichen, beabsichtigen sie, die drei großen Königreiche und sämtliche unabhängigen Gebiete zu vereinen. Auch mich haben sie bereits gefragt, die Maella-Abtei an ihren Orden zu binden.“

„Und? Habt Ihr zugesagt?“

Er schüttelte das Haupt.

„Warum nicht?“

„Wenn sie von Ascantha die Erlaubnis erhalten“, sinnierte er, „werden sie Pickham vollständig umkrempeln. Recht und Ordnung gestatten keine Hallodris, wie sie diese Stadt geformt haben. Wenn es ihnen gelingt, die Zusage von König Pavan zu bekommen, dann, Jessica, werdet Ihr Pickham nicht mehr wiedererkennen.“

Er war sich ihrer Irritation über seinen Tonfall bewusst. Pickham stellte aber auch ein ungeeignetes Beispiel dar!

„Kommt“, forderte er sie auf, da die Ritter sich in Bewegung setzten. „Löschen wir in der Kneipe unseren Durst. Vielleicht finden wir heraus, wie lange Yangus’ Fortbleiben noch andauern wird.“

Die Spelunke – Raststätte der Reisenden und damit Treffpunkt der Gerüchte, Neuigkeiten und Informationen – schloss direkt an das Kabuff des Windigen Willis an. Wie immer war sie gut besucht. Sie fanden einen letzten unbesetzten Tisch und bestellten Wasser, um unbemerkt dem Geschwätz lauschen zu können. Natürlich waren die Ritter bereits ein vieldiskutiertes Thema: „Ich sag’s euch, Leute: Wenn die sich für unser altes Kaff stark mach’n, dann muss bald keiner mehr den Kies vom Boden knabbern!“

„Findest’e das toll? Wir Gauner machen dann bestimmt den Bammelmann!“

„Ich geh’ ins Kloster…“

„Komm mir doch nich’ mit Gaunern! Letztens auf’m Westlichen hat mich beim Platte machen so’n linker Kunde beklaut, und – du wirst ’s mir nich’ abkaufen! – der hat genau die Hälfte von mei’m Fresskram gebunkert! Alter – ich wusste gar nich’ mehr, ob ich mich schwarz kreppen oder Bauklötze staunen sollte!“

„Der fette Schreiling da vom König auf’m Westlichen lässt auch g’rade erschreck’nd wenig Befehle los.“

„Kein Schmu? So was is’ mir auch zu Lauschern gekomm’, über den Alten in Trodain! Frag’ mich, was da los is’…“

„Siehst’e? Den Thronpupsern is’ alles jenseits ihrer dick’n Mauern doch voll Pomade! Das Glück von uns Ganeff’n acheln die doch auf ihr’n Goldtellern!“

„Jawollo!“

„Wie die Gugelfratzen! In Savella macht die Syphilis wieder viele Freunde!“

„Das is’ doch nix Neues.“

„Ich geh’ auf’n Topf…“

„Desweg’n sag’ ich: Gut, dass die Ritter da sind. Die greif’n endlich hart durch mit den ganz’n Verbrechern!“

„Du Fluckart! Wir sind doch selber Verbrecher!“

„Das alles is’ gar nisch’s!“, fegte eine verschwommene Stimme über den eng umringten Tisch, und sämtliche dort Hockenden als auch deren Zuhörer warfen ihre Blicke hinüber an die Theke, an welcher ein Gast soeben sein tief gezeichnetes Gesicht von der Platte erhoben hatte. „Wenner Nisch’snudse wüssdet, was sisch auf Neos sugedrag’n hat… Würt? Mehr Bier!“

Alle Gespräche waren verstummt. Dumpf drangen von draußen die Geräusche rumpelnder Räder, lachender Leute und einiger Tiere herein. Der Wirt las den Krug auf, füllte ihn mit dem Gewünschten und ließ ihn anschließend zurück über das Holz rattern.

„Was… hat sich denn dort zugetrag’n?“, hakte einer nach und schien allein durch die Miene des Mannes ein mulmiges Gefühl zu entwickeln.

„Seidder eusch sischer, dasser das wiss’n wollt? Velleisch’ is’ das su viel für eusch Möschdegern-Abendeurer.“

„Ja doch, Alter! Nun erzähl schon!“

Selbst Jessica waren Zeichen der Ungeduld anzusehen, da der Wortknauser damit vorliebnahm, in sein Bierbecken zu starren, statt zu erzählen, als würde er sich die Szenen aus seiner Erinnerung erst darin anschauen müssen wie der Große Kalderasha seine Prophezeiungen in der Kristallkugel. „Das war velleisch’ was!“, begann er zur endlichen Erlösung aller. „Aber von Anfang: Isch gehöre… Neeein. Inswisch’n muss isch ja sag’n: Isch gehörde einer Esspedition an. Also: Isch gehörde einer Esspedition an, die dasu beruf’n word’n war, nach dem Vorfall vor swei Monat’n… Ihr wisst doch, welsch’n isch mein’, oder? Isch rede naddürlisch von dem blutroden Himmel, dener alle geseh’n habt, fallser eusch nisch’ gerade hier das Hürn aus’n Ohren gesoff’n habt. Also: Nach dies’m Vorfall solld’n wir die Insel Neos ausgundschafd’n… Gann isch davon ausgeh’n, dass ihr Hinderwäldler wenigsdens über das Ries’nloch auf Neos Bescheid wisst? Brima… Also: Jed’nfalls erforschd’n wir dies’n gewaldig’n Grader. Un’ dann – mir nisch’s, dir nisch’s: Gawumm! Als hädde der Schlund selbs’ sie ausgespuggt, überall Monsder! Wie ein… na. Wie so ein überlauf’ndes Weinfass, ummess mit edwas su vergleisch’n, das ihr ’bärmlich’n Wolldrodd’l gennt… Un’ die Viescher – ja? – die war’n werdammt übellaunisch! Na, jed’nfalls rannd’n wir, wie sisch b’schdümmt selbs’ eure beschrängd’n Horüsonde denk’n könn’, um unsere Leb’n.“

Er war der Einzige, der sein Glas noch hob – was in der Spelunke von Pickham eine enorme Sensation war.

„Wie“, fragte jener, dem es bereits beim Anblick der Miene frostig den Rücken hinuntergelaufen war, noch eine Spur vorsichtiger, „seid Ihr entkomm’?“

„Der einsige Grund… aus dem isch noch am Leb’n bin… is’ der, dass isch das Glügg hadde, dass die verfluchd’n Monsder all meine Gamerad’n bevorsugt hab’n.“ Mit einem „Aber inswisch’n weiß isch nich’, ob isch würglisch von "Glügg" sprech’n gann…“ sank sein Kopf zurück auf die Theke des ihn mitleidig beäugenden Wirtes.

Jessica Albert und Angelo Kukule überprüften den jeweils anderen auf jenen Gedanken, welchen sie beide hegten. „Ich habe ein ungutes Gefühl“, murmelte er. „Um nicht zu sagen: Die Geschichte bereitet mir ernsthafte Sorgen.“
 

Jessica ging es nicht anders. Die Furcht wurde erst unerträglich, als es ihr bald darauf auf dem Schiff Richtung Neos gegeben war, ihre Gedanken weiterzuspinnen. Angelo betrat das schwankende Unterdeck und war erstaunt, sie hier zu finden.

„Wir haben unkirchliches Glück, diese Fähre noch erwischt zu haben. Es ist die letzte nach Neos – an dem Lamento des besoffenen Alten scheint folglich Wahres dran zu sein. Die See ist ziemlich rau, wenn Ihr das wissen möchtet. "Kabbelig" nennen die Matrosen das. "Kabbelig" – ist das nicht ein lustiger Begriff? Die Männer selbst erscheinen mir "kabbelig". Sie werfen uns argwöhnische Blicke zu… Wir sollten den Anlass für unsere Überfahrt nicht unbedingt an die große Schiffsglocke hängen.“ Sich das Rollen und Stampfen des Kahns zunutze machend, schlenderte er gelassen an ihr vorbei, auf einen Haufen Stroh zu. „Soll ich es Euch hier etwas gemütlich machen? Die Fahrt wird noch ein ganzes Weilchen dauern, und wir können die Erholung gebrauchen. Ich hoffe, Ihr habt es als Kind genossen, in der Wiege geschaukelt zu werden!“

„Angelo.“

„Ja?“

„Wisst Ihr, woran ich die ganze Zeit denken muss?“

Bereits bevor sie die Frage zu Ende gesprochen hatte, rechnete sie mit einer für ihn typischen Antwort wie „An mich?“, jedoch beäugte er sie lediglich abwartend.

„Ich will ihn nicht an die Wand malen, aber… könnte es nicht sein, dass dieser Vorfall auf Neos mit Rhapthorne zu tun hat?“

„Ihr meint, weil es das Loch ist, aus dem er schon einmal gekrochen ist?“

„Was, wenn die ganzen Anstrengungen umsonst waren? Wenn all die Menschen umsonst gestorben sind?“

„Ihr denkt dabei an Euren Bruder.“

„Nicht "dabei". Ich denke immer an meinen Bruder.“

Der Templer hatte sich auf das Stroh gesetzt und bedeutete seiner Begleitung, indem er auf die Stelle neben sich klopfte, es ihm gleichzutun. Die Magierin nahm seine Einladung an, setzte sich zu ihm und bettete die ineinander verschränkten Hände auf ihren Rock. Obzwar sie bereit gewesen war, Angelo von Alistair zu berichten, schaffte es nun kein Wort über ihn zwischen ihren Lippen hervor.

„Ihr müsst mich für völlig zerstreut halten. Es ist wie verhext, aber mir fällt nicht ein, was ich Euch über ihn erzählen soll. Los, lacht über mich; ich könnte es ja selbst beinahe.“

Er tat nichts dergleichen.

„Warum sagt Ihr nichts?“

„Ich möchte nicht riskieren, Euch jenen Augenblick zu stehlen, in welchem Ihr doch bereit seid zu sprechen.“

Sie zuckte mit den Mundwinkeln. „Ihr tut gerade so, als würde mein Leben davon abhängen.“

„Wäre dem so, würde ich gewiss nicht tatenlos neben Euch herumsitzen, Jessica, glaubt mir. Ich bin bereit, Euren Worten Gehör zu schenken, aber manchmal ist es auch gut, zusammen zu schweigen. Diese Wahl zwischen Sprechen und Schweigen ist eine, die unser Gefühl treffen sollte, nicht unser Verstand, und überdies der, der zu sprechen gedenkt. Ich möchte Euch nicht unter Druck setzen.“

„Um ehrlich zu sein, tut Ihr es schon, indem Ihr nichts sagt.“

„Allerdings nur, weil Ihr meint, mir eine Antwort zu schulden. Ihr solltet Euch von der Einbildung befreien, sprechen zu müssen, wenn es Euer Gegenüber nicht tut.“

„In Alistairs Gegenwart habe ich mich nie gezwungen gefühlt, etwas zu sagen oder zu tun.“

„Ich bereue es, ihn nicht kennengelernt zu haben. Sicherlich war er ein sehr ehrenvoller Ritter und Mensch, Euer Bruder.“

„Für ihn habe ich gekämpft. Er hat mir Kraft gegeben. Wegen ihm konnte ich bis zum Schluss durchhalten. Wenn es wirklich… wenn es wirklich Rhapthorne ist, dann käme ich mir vor, als hätte ich… versagt.“

Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Die Menschen können wieder unbeschwert erwachen, und der Himmel hat sein rotes Schreckenstuch abgeworfen. Das sind nicht die Folgen eines Versagens, Jessica.“

Wie durch zwei Fenster mit kupfergoldenen Gardinen schaute er auf ein abendliches Firmament, an welchem die letzten Streifen des Tages nass glänzten.

„Soll ich Euch allein lassen?“

Sie nickte.

Als erwachte er aus einem Traum, blinzelte er, um sich zu orientieren. „Na so was! Wie ruhig ist es geworden!“ Mit dem Stöhnen eines tatfreudigen Frühaufstehers stemmte er sich in die Höhe, streckte und begab sich zur Tür.

„Danke, Angelo.“

Ein Lächeln. Dann ließ er seine Zähne blitzen. „Ich veranstalte mal ein wenig Rambazamba oben, damit der alte Kasten endlich in die Gänge kommt!“

Das hölzerne Gestell knarrte, wann immer das Wasser es zur anderen Seite kippte. Angelo war kein Seemann. Es war nicht so, dass er über die Reling reihern musste, doch die bleibende Unsicherheit, welche er an Bord eines Schiffes verspürte, der er ohnmächtig ausgeliefert war, beunruhigte ihn. Es war wie Spielzeug in den Händen eines Kindes zu sein, das Gefahren noch nicht einzuschätzen weiß.

An Deck angekommen, stellte er sich am Bug in die Brise und blickte ihrem Ziel entgegen. Er war überrascht, den aufgebrochenen Himmel mit dem Ozean um das tiefere Blau wetteifern zu ertappen. Wenige weiße Flocken weideten auf der unermesslichen Kuppel; keine graue Wolke trübte das Bild. Wie rasch das Wetter auf See doch umzuschlagen vermag! Ob es mit ihrem Frieden genauso stand?

Auffälliges Rauschen. Noch während er sich wunderte, was für selbiges verantwortlich war, zwang ein mächtiger Stoß ihn und das Schiff aus dem Gleichgewicht. Augenblicklich brüllten die Matrosen los, heizten sich gegenseitig an, um zu verhindern, dass der Kahn wie Angelo umkippte. Wissend, dass er ihnen bloß im Weg stehen würde, hielt dieser stattdessen nach dem Ausschau, was immer sie gerammt hatte. Lange brauchte er nicht zu suchen. In dieser Sekunde klemmte sich Jessica neben ihn an die Reling und erschrak. „Khalamari!“

Das Schiff kenterte nicht, doch die Wellen, welche der Kraken mit seinen ungezählten Tentakeln verursachte, ließen es hüpfen.

„Khalamari!“, kreischte Jessica. „Was tust du?! Erkennst du uns nicht? Ich bin es!“

„Ihr seid mit diesem Monstrum befreundet?!“, verlangte Angelo zu wissen, als ein neuerlicher Stoß sie aus dem Stand sprengte. Er zog seinen Odinbogen aus dem Holster. „Wie dem auch sei: Der wird Euch nicht anhören! Wenn wir unsere Reise nicht auf dem Meeresgrund fortsetzen wollen, müssen wir kämpfen!“

Allerdings beeindruckte sein Nadelregen die Tentakelbestie kaum. Nahezu unlädiert stieß es sie beide umzingelnde Flammen aus. Jessica reagierte flott und wurde ihrer mit einem Klirr-Zauber Herrin, bevor Angelo ein Braus sprach, dessen Wirbel den purpurnen Schädel des Riesenkalmars ordentlich durchschüttelte. Dem daraufhin auf sie niederfahrenden Arm entkam Jessica haarscharf.

„Ihr müsst ihn angreifen!“

„Gebt mir gefälligst keine Befehle!“, zickte sie und versuchte, Khalamari in das Land der Träume zu zaubern.

„Ich verstehe ja, dass Euch Eure Freunde, ob nun menschlich oder nicht, lieb und teuer sind – dennoch solltet Ihr Eure Prioritäten überdenken!“

„Das lasse ich mir nicht von jemandem sagen, der einen "Freund" so eiskalt attackiert wie Ihr!“

Der nächste Tentakelhieb ließ die Planken zwischen ihnen splittern, nachdem sie zur Seite gesprungen waren.

„Ihr vergesst“, keuchte er, „mein Freund ist er nicht!“ Er spannte den Bogen ein weiteres Mal und konzentrierte sich, um den Streitsüchtigen gleich mit voller Wucht hoffentlich zu verscheuchen, ehe ihre Fähre auseinanderbrechen würde.

„Versucht es hiermit!“ Jessica hüllte ihn in einen Energieschub. Sofort schoss er den Seraphenpfeil in den Rüssel des Monsters, das die Pupillen kreisen ließ. Es genügte nicht. Khalamari holte aus. Angelo wollte sich mit seiner Gefährtin aus der Bahn werfen, jedoch schaffte dies nur sie, wohingegen er niedergemäht wurde, dass seine Knochen knackten.

„Angelo!“ Er quälte sich, um wieder auf die Beine zu gelangen, und die Albert-Tochter sah sich allein dem bekannten Kraken gegenüber, welcher ihnen einst schon unter einem bösen Zauber die Überfahrt erschwert hatte.

„Vielleicht verwechselt Ihr ihn bloß…!“, brachte der Templer hervor.

Doch für sie stand ganz außer Frage, dass dies das eigenartige, aber liebenswürdige Khalamari von damals war, und sie glaubte nicht… hoffte, dass es sich nicht so sehr verändert hatte.

Es spie seine Flammen. Sie biss die Zähne zusammen und hörte Angelo ihren Namen rufen. Dieser schneebedeckte Schwachkopf, dachte sie, während das Feuer ihr zusetzte. Hätte er nicht einen auf Superhelden gemacht, stünde sie jetzt nicht allein auf dem Schlachtfeld!

„Zwillingsdrachen!“, schrie sie, sobald die Flammen erloschen waren, wirbelte ihre Gringham-Peitsche herum und verpasste dem Kalmar zwei Hiebe, gegen die seine Tentakel durchgekochte Nudeln waren. Mit unaufhörlich rollenden Augen rutschte er vom Bug und sank zurück ins Wasser, das vor Freude Fontänenfanfaren in die Höhe spuckte. Jessica war nicht zum Feiern zumute.

„Er ist nur bewusstlos“, beschwichtigte Angelo sie, bevor er selbst zusammenklappte.

„Angelo! Was ist mit Euch?“

„Ohhh… Nur ein wenig aus der Routine. Es geht gleich wieder. Würde es Euch etwas ausmachen, mich dennoch weiter so zu halten?“

Mit einem beherzten Tritt half sie seinem Rücken, wieder gesund zu werden. „Bleibt da liegen, bis Ihr keine Vögelchen mehr seht!“

Allerdings bestand sie darauf, solange Wache zu halten, gar niemanden an ihn heran zu lassen.

„Wie war das vorhin eigentlich gemeint mit dem "eiskalt"?“, hakte er irgendwann nach.

„Wenn Ihr es wissen wollt: Ich habe Euch nie für jemanden gehalten, der einem ein echter Kumpel ist, so wie Yangus seinem Chef. Ein verlässlicher Kamerad? Ja. Aber niemals ein wahrer Freund. Das ist keine Rolle, die man einfach so spielen kann, Angelo, und deshalb glaube ich nicht, dass Ihr so etwas sein könnt.“

Der Angesprochene brummte dumpf.

„Seid Ihr jetzt gekränkt?“

„Nein. Ganz und gar nicht. Irgendwie bestätigt Ihr mir lediglich, was ich bereits ahnte. Wisst Ihr? Dort, wo ich aufgewachsen bin, hat man keine Freundschaften geschlossen. Entweder gehörte man zur Elite… oder man hat sich miteinander arrangiert. Ich zog es stets vor, mich zu arrangieren. Und aus diesem Grund habt Ihr Recht, wenn Ihr mir vorwerft, ich wisse nicht, was es bedeutet, einen Freund zu haben oder selbst einer zu sein. Aber vielleicht ist es für mich noch nicht zu spät, um es zu lernen. Mit Eurer Hilfe.“

Sie tat weder Einverständnis noch Ablehnung kund. Alles, was sie sagte, war: „Der arme Kerl…“, während sie mit konstanter Ruhe durch Angelos Strähnen strich.

Als dieser erfuhr, dass Khalamari bereits unter dem Zauber von Dhoulmagus Leid verschuldet und erduldet hatte, intensivierte sich seine Sorge. Könnte es sich wirklich wieder um Rhapthorne handeln?
 

Auf Neos war es totenstill. Keine kolossale Skulptur hieß mehr die Ankommenden mit gespreizten Armen willkommen. Ein wahrhaft göttinverlassener Ort. Jessica fröstelte beim Anblick der in das Tintenblau der Nacht getunkten Ruinen. Man meinte, zwischen den Spalten der Trümmer des gesprengten Schreins die Klagen der Verstorbenen noch zu vernehmen, wie ein durch die morschen Rippen eines Skeletts pfeifender Wind. Das Loch, aus dem die Schwarze Zitadelle emporgestiegen war: Ein gähnender, schwarzer Schlund.

„Da unten ist etwas!“, entfuhr es der Albert plötzlich, und unmittelbar machte sie sich daran, die steile Wand hinunterzusteigen, unter der Prüfung von Angelos weit offenen Augen.

„Ihr habt vor zu klettern? Verzeihung, aber… wie tief ging es hier gleich noch mal hinab?“

„Ich mache bestimmt keine Scherze!“

„Ich auch nicht. Das ist Selbstmord.“

„Seid Ihr über die Dekaden hinweg bequem geworden, Angelo?“

„Wo denkt Ihr hin? Allein mein einstmals flammendes Verlangen nach allzu waghalsigen Abenteuern versprüht inzwischen nur noch müde Fünkchen.“

„Es steht Euch frei zu kneifen. Ich werde Euch nicht den Hals umdrehen, wenn Ihr geht.“

„Aber mir das Rückgrat brechen“, ahnte er anhand ihrer Miene. „Na ja. Lieber durch einen tiefen Sturz als durch Euch. Aber lasst mich vorausklettern.“

„Ist mir recht. Ich hänge sowieso eher an meinem Leben als an Eurem.“

Sobald er den Kontakt zur sicheren Ebene endgültig aufgab, erklärte er sich für vollkommen verrückt. Weder Jessica noch das Rätsel um Neos waren es wert, dass er für sie seine makellos schöne Haut riskierte.

Und der Abstieg war eine Tortur. Schier jeder zweite Griff hatte zur Folge, dass irgendwo etwas aus der Wand brach, auf dem man gerade noch eine leidliche Unterform von "Stand" zu finden gehofft hatte. Beinahe alle sechs Ellen schrie Jessica auf, dass ihm fast das Herz aussetzte, bloß um dann zu verkünden, dass alles in Ordnung wäre. Und dass der nächste Schritt nicht doch auf zu bröseligen Schrofen traf, war so ungewiss wie die Glückszahl im Roulette.

„Ihr liebt doch Glücksspiele!“, warf Jessica ihm von oben vor. „Demzufolge muss Euch das hier ja riesigen Spaß machen!“

„Im Casino steht in der Regel kein Leben auf dem Spiel!“, verteidigte er sich und fluchte, als seine Finger abermals in jähe Leere griffen. Asche regnete auf seine Stirn.

„Da täuscht Ihr Euch! Denkt doch nur an die bemitleidenswerten Heilschleime, die so einen lächerlichen Blinke-Blinke-Hut tragen und Tag wie Nacht in dieser Bingo-Glassäule schuften müssen! Und immer freundlich lächeln sollen! Niemand hört ihre leisen Klagerufe! Das ist Folter!“

„Glaubt mir, liebe Jessica: Dürfte ich meinen Beruf mit dem ihren tauschen, ich würde kurze Hosen wedelnd über die Wiesen hüpfen. Wenn sie Euch so am Herzen hängen, gründet doch eine Stiftung oder einen Orden für diese überbezahlten Ganoven!“

„Ich gründe keinen Wohltätigkeitsverein für Schleime, solange Schleimer wie Ihr sich davon angezogen fühlen könnten!“

„Die Vorstellung, Euch zwischen zwanzig sabbernden blauen Tropfen den Hof zu machen, ist alles andere als anziehend.“

„Prima! Dann weiß ich jetzt, welche und wie viele Monster ich rekrutieren werde, sobald wir hier herauskommen!“

Falls wir wieder herauskommen. Hinunter kommt man stets, aber hinauf? Immerhin rostete hier ein ganzes Schloss vor sich hin. Manchmal wundere ich mich, weshalb Rhapthornes Körper ausgerechnet in der Statue der Göttin verborgen war.“

„Vielleicht“, ächzte seine Gefährtin, „war nur die Macht der Göttin stark genug, um ihn über so lange Zeit einschließen zu können.“

„In Eurer Brust hätte er definitiv mehr Platz gefunden.“

Ein beachtlicher Brocken knallte auf seinen Schopf. „Konzentriert Euch aufs Klettern!“

„Was meint Ihr denn, was ich tue?“

„Ihr tut es nicht konzentriert genug, um die Klappe zu halten!“

„Ich versuche, uns zusätzlich noch ein wenig zu erheitern! Ist das keines Lobes wert? Allerdings muss ich allmählich verlauten, dass ich die Kletterei nicht nur verdammt satt habe, sondern auch müde werde.“

„Toll, Templerkapitän! Schön für Euch! Was wollt Ihr denn machen? Einfach schlapp? Oder wieder nach oben kraxeln? Ohne dass es mir Leid tut, Angelo, aber ich befürchte, Ihr habt gar keine Wah-a-a-a-AAAAAAAAAAH!“ Da geschah es: Jessica rutschte ab! Angelo, dem auf einen Schlag alle Gedanken entwichen waren und der nun nicht mehr wusste, was er unternehmen sollte, streckte instinktiv seine Arme aus, um sie aufzufangen; sie pfefferte auf ihn, beide stürzten und kreischten sich die Stimmbänder aus den Kehlen, um direkt darauf zu erfahren, dass sie bloß noch an einer Hand abzählbare Meter vom Boden getrennt gewesen waren. Jessica landete weich auf ihrem Begleiter. Ein eigenartiger Lärm umgab sie. In der sonnenverachtenden Finsternis konnten sie hin und wieder Konturen sich bewegen ausmachen wie das schimmernde Schuppenkleid eines Seedrachens. Kurzerhand erleuchtete Alistairs Schwester die Höhle mittels eines kleinen Feuerballs und wünschte sich in der folgenden Sekunde, sie hätte es nicht getan.



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