DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 7: Wiedergeburt ----------------------- Er stürzte an das Bett des Jungen. „Jo!“ Maria versuchte vergebens, ihre Wangen trocken zu wischen. „Göttin sei Dank, dass Ihr da seid. Nun wird alles gut, nicht wahr?“ „Was ist mit Jo?“, herrschte er sie an, ohne dies wirklich beabsichtigt zu haben. Geistbleich lag das Kind in den klammen Daunen, keuchte mühevoll und litt noch an der Klippe zur Ohnmacht Schmerzen. Bluppi klebte auf der Decke und starrte seinen Freund an, als würde der in seinem Kampf scheitern, sobald er nur blinzeln würde. Den ganzen Innenraum der Kapelle füllte der Geruch von Krankheit und Heilmitteln, deren geöffnete Phiolen ratlos auf dem Tisch standen. „Maria!“ „Ich weiß es nicht! Es muss die Grippe sein! Die Grippe muss sich verschlimmert haben! Oh Göttin! Ihm muss es schlechter gegangen sein als wir angenommen haben! Er muss es uns verschwiegen haben! Damit wir uns keine Sorgen machen! Und ich habe nichts bemerkt! Wie konnte ich nur? Wie konnte ich ihn nur gehen lassen?!“ „Ist das wahr?“, bellte er. „Hast du es vor uns verheimlicht? Antworte!“ Jos Lider hoben sich. Seine Augen waren wie beschlagene Fenster. Sein Lächeln das eines Porträts. „Du törichter Junge! Damit hast du alles nur noch schlimmer gemacht! Niemand hat dir befohlen, diese Verantwortung zu übernehmen! Niemand!“ „Ich flehe Euch an! Bitte! Helft ihm! Er darf nicht sterben!“ „Was soll ich denn…?!“ Er unterbrach sich, als er Maria so weinen sah. Die Ordensschwester stand vollkommen neben sich. Da war kein Glaube mehr, keine Göttin. Kein Engel. Augenblicklich war da bloß eine irdische, plastische, greifbare junge Frau, die im Begriff war, alles zu verlieren. Er packte sie an den Armen und schüttelte sie durch. „Sagt mir, was ich tun kann! Maria! Sagt es mir!“ „Ich… weiß nicht…“ „Denkt nach!“ „Ich… Marek!“, schluchzte sie dann. „Marek aus Orkutsk könnte ein Medikament kennen! Aber es ist zu spät! Geht nicht! Ihr dürft nicht gehen! Bitte! Ich ertrage das nicht, wenn Ihr geht! Wenn Ihr geht, ist alles furchtbar! Bitte geht nicht!“ „Und dann?! Sollen wir uns um ihn hocken und Stoßgebete Richtung Himmel heulen?! Verdammt, Maria – begreift Ihr das denn nicht? Eure Göttin schert sich einen Dreck um uns! Wenn wir nichts unternehmen, wird der Junge sterben!“ „Aber ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr allein sein…“ Er spürte, wie ihr jegliche Spannung aus dem Leib wich, und wusste, dass, ließe er sie los, sie fallen würde gleich einer schmelzenden Göttinnenstatue. Sein Griff festigte sich. „Lasst mich gehen, Maria. Ich komme wieder, und dann lasse ich Euch nie wieder allein. Maria… So lange habt Ihr für den Jungen gelitten – tut es noch ein letztes Mal.“ „Aber der Schneesturm ist zu stark“, murmelte sie wie in Trance. „Ihr werdet nicht gegen ihn ankommen können und…“ „Bedeutet nicht gerade dies, zu glauben? Dass man nicht an etwas zweifelt, sondern überzeugt davon ist, weil es die Überzeugung ist, die Zuversicht und Kraft verleiht? Ich glaube daran, dass wir Jo retten können. Und Ihr, Maria, glaubt jetzt bitte an mich.“ „Ich glaube“, wiederholte sie starr, „an dich…“ „Ich danke Euch. Jo! Pass auf Maria auf, bis ich zurück bin, hörst du? Du darfst sie nicht aus den Augen lassen! Wir gehen noch dieses Jahr alle gemeinsam zur Monsterarena und schauen dir und deinem Schleim beim Abräumen dort zu, das verspreche ich dir!“ So ließ er die drei zurück – ohne zu ahnen, dass das, was ihm während dieser Reise widerfahren würde, ihn womöglich für immer von ihnen trennen könnte. Wenn der Himmel einen Willen haben sollte, dann wendete er sich wider ihn. Allein die Monster wirkten sich frei in diesem gnadenlosen Wirbel aus Schnee und Eis bewegen zu können. Als hätten sie ihr Leben lang nur seiner Ankunft geharrt, stürzten ihre Scharen von überall her auf ihn zu. Bald meldete sich der leidlich verheilte Knochen seines rechten Beines mit einem peinvollen Pochen, und kurz darauf hatte er das Erbärmliche, das man nicht ernsthaft als "Weg" bezeichnen konnte, aus den Augen verloren. Die Temperatur nagte an seinem wenig geschützten Fleisch wie in einer Phalanx stehende Eisendornen. Er fiel hin. Und wieder. Und wieder. Wahrscheinlich hatte Maria Recht gehabt. „Warum heißt ein Pferd Pferd?“ „W-was…?“ Er zweifelte, ob er soeben richtig verstanden hatte. Hatte ihn gerade jemand angesprochen? Angestrengt hob er den Kopf – direkt vor ihm ragte ein alter Mann empor, dessen weißer Bart bis zu ihm hinunterreichte. Der Greis stand dort, als wäre nichts auf der Welt imstande, ihn zu überraschen, und selbst der verzweifelt blasende Sturm vermochte sein Haar um keinen Millimeter zu verwehen. „Warum heißt ein Pferd Pferd?“ „Wer… seid Ihr?“ Im Konterfei des Fremden schien jeder Eiskristall zu schmelzen. Er streckte eine Hand nach seinem Bart aus, doch ehe er ihn berührte, schwenkte er an Ort und Stelle herum und rannte mit einem für dieses Alter wahnsinnigen Tempo davon! „Wartet!“ Er sprang auf die Beine und folgte ihm. Hin und wieder stoppte der Alte, aber jedes Mal, wenn er nur noch eine Haaresbreite von ihm entfernt war, flitzte er wieder los. Es ergab sich eine endlos anmutende Jagd, und er verfluchte ihn für dieses Spiel; er begann diesen Unbekannten zu hassen und wünschte ihm alles Schlechte an den Hals! „Wieso tut Ihr das?!“ „Warum heißt ein Pferd Pfeeheeerd?“ Im Bewusstsein, verloren zu haben, hechtete er auf den Wartenden zu, welcher sich von der nächsten kräftigen Böe einfach davontragen ließ, und landete im Schnee. „Ihr göttinverdammter…!“ Keinerlei Spur war vom Greis geblieben. Allerdings lag er unmittelbar vor dem Eingang zur Stadt Orkutsk. Der Wind säuselte. „Weil es auf dem Boden läuft. Wenn es fliegen könnte, hieße es Pfluft!“ In der örtlichen Kneipe hielt alles den Atem an, da er sich – von oben bis unten mit Schnee und Eis versehen – gegen den Rahmen des Durchgangs stemmte. „Wo ist Marek?“ Die Leute warfen sich Blicke zu. „Seid Ihr durch den Sturm hergekommen?“, wollte einer wissen. „Antwortet schon! Es geht um das Leben eines Kindes!“ „Marek hält sich doch zurzeit im Kräutergarten seiner Mutter auf. Er ist gar nicht hier, oder?“ „Was?!“ „Doch! Er muss hier sein. Ich bin ihm heute früh erst begegnet.“ „Wo?! Muss man euch alles erst aus der Nase ziehen?!“ „’N Kind, sagtet Ihr…?“ Vor der Theke hatte sich ein schmaler, blonder Jüngling erhoben. Sein Stand war unsicher. Sein Gesicht errötet, als wäre er selbst durch den Sturm gewatet. „Essis’ Jo, oder?“ „Woher wisst Ihr das?“ Der offensichtlich Betrunkene torkelte ihm entgegen. „Un’ Ihr seid also dieser Kerl, von demer ständisch plaudert… Der mit meiner Maria zusamm’ lebt…“ Ob dem Anlass seiner Herkunft schnaubte er schier belustigt und grinste hinter vorgehaltener Faust. „Ihr seid der Verfasser dieses abscheulichen Briefes.“ „Wie kann sie…? Ein’n wie Euch… Ich hab’ nie w’s Schlechtes in mei’m Leb’n getan!“ „Ich habe keine Lust, Euch zu bemitleiden. Wo ist Marek?“ Eine Faust flog auf ihn zu. Er fing sie ab, zog den Jungen am Arm zu sich heran, um ihn gegen den Tisch hinter sich zu schmeißen. Gläser zersprangen auf dem Boden; Gäste schossen in die Höhe. Marias Schwärmer rappelte sich auf und attackierte ihn erneut. „Zieht die Köpfe eeeeein!“, kreischte der Schankwirt und duckte sich hinter seinen Arbeitsplatz. „Alles unter die Tischeeeee!“ „Aber der hat mein Glas zerstört!“ „Und meine gute Laune!“ Manche kamen dem Rat des Wirtes nach; andere flohen durch einen der drei Ausgänge. Die Übrigen trugen zur Expansion der Prügelei bei. Geschirr zischte wie aus einem Solaris gespuckt durch die Luft; Tische rollten gleich riesigen Rädern durch den raufenden Haufen. In seiner Deckung krabbelte der Barbesitzer Richtung Rüstungsladen. „Hier geblieben.“ Der Verursacher des Durcheinanders zog ihn am Kragen seiner Tracht auf die Füße. „Gut, gut! Ganz ruhig, der Herr! Mareks Wohnung befindet sich im Keller! Nehmt ganz vorne die Treppe, dann bei der ersten Gabelung geradeaus weiter und anschließend immer nach rechts!“ Nachdem er fort war, stieß der geschlagene Jüngling gegen die Theke. Die Schlacht schien ihn ernüchtert zu haben: Mit klarem Blick visierte er den Wirt. „Ein Irrtum steht ganz außer Frage. Geben wir den Rittern Bescheid!“ Die Tür riss auf, ein Hund bellte, und Marek wirbelte herum. „Was ist das oben für ein…? Was, zum…?!“ „Marek! Ich brauche ein Medikament! Unverzüglich!“ „Nein. Euch helfe ich nicht.“ „Wie bitte?“ „Ihr habt mich verstanden.“ „Warum?!“ „Ihr seid ein schlechter Mensch.“ Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. „Ich kenne Euch überhaupt nicht! Und Ihr nehmt Euch heraus, mich zu beurteilen, nachdem ich drei Sätze gesprochen habe?! Hört mich an…“, atmete er aus, sich das Wesentliche vergegenwärtigend. „Es geht nicht um mich. Es geht um einen Jungen – Jo. Er ist sehr krank. Ich bin den Weg hierhergekommen, um ein Heilmittel für ihn aufzutreiben. Enttäuscht uns jetzt nicht.“ Der Kräuterexperte nahm sich Zeit, um über eine etwaige Antwort zu grübeln – Zeit, die sie nicht hatten. Er musste sich beherrschen, um nicht sein Messer zu zücken und es ihm an die Kehle zu pressen. „Setzt Euch“, lauteten die erlösenden Worte. „Es wird eine Weile dauern. Ich tue das nicht, weil Ihr mir gedroht habt, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass niemand anderes für Eure Verbrechen bestraft werden darf.“ Aus einem augenscheinlich oft gebrauchten Beutel brachte Marek ein paar sonderbar aussehende Blätter zum Vorschein, welche er in den Kessel in des Zimmers Mitte warf. Hinter der Tür zum angrenzenden Raum trottete ein Bernhardiner hervor und beäugte den Gast aus seinem kissenähnlichen Gesicht. „Ich habe Euch nicht gedroht. Und von welchen Verbrechen sprecht Ihr?“ Marek zeigte ihm den Rücken, als wollte er demonstrativ nichts mit ihm zu tun haben. Als wollte er ihn sich wegdenken. „Versucht Ihr mich zu täuschen, weil Ihr glaubt, die Geschehnisse in der Welt würden nicht bis in den hohen Norden reichen? Oder seid Ihr schlichtweg so hoffnungslos verloren, dass Ihr Eure Taten überhaupt nicht für verbrecherisch haltet?“ „Welche Taten?“ Jäh lag der Kopf des Bernhardiners auf seinen Füßen. Marek beobachtete ihn. „Boris scheint darüber hinwegzusehen. Aber ich kann das nicht. Viele Monster sind aufgetaucht und haben Menschen angegriffen. Da budet zemlya im pukhom…“ „Und was habe ich damit…? Moment – Ihr wisst, wer ich bin?“ „Ich sage das ungern, aber Ihr seid jemand, den man nicht mehr vergisst, wenn man einmal von ihm erfahren hat. Hier.“ Er tauchte eine Phiole in den Topf, schraubte sie zu und überreichte sie ihm. „Die erste Hälfte sofort, die zweite, wenn er sich besser fühlt. Und jetzt bitte ich Euch zu gehen.“ „Erst will ich wissen, wer ich bin!“ „Ich habe die Medizin gebraut, um die Ihr mich im Namen des Kindes ersucht habt. Für Euch werde ich nichts tun. Geht jetzt.“ Jo. Er musste an Jo denken. Alles andere war… „Wenn Ihr noch fester drückt, werdet Ihr die Flasche zerstören“, mahnte Marek ihn. „Ist Euch die Antwort so viel wert?“ Jo… Maria… „Nein. Vergesst es.“ Mit dem Ziel entschlossen vor Augen war es leicht, den Rückweg durch den abgeschwächten Sturm zu finden. Allein die Monster bildeten eine unausweichliche Verzögerung. Ohne Erbarmen riss er den Frostfliegen, den Höllenhunden, den Eisköniginnen und den Schreckensgorillas den Leib auf. Gegen den Stahlpanzer einer Killermaschine allerdings versagte der Dolch. Kein Weg führte am flinken Robosoldaten vorbei, und nichts, was er probierte, führte zum Erfolg, ihn auszuschalten. Er musste den feindlichen Pfeilen ausweichen – wieder und wieder – derweil die wertvollen Sekunden verrannen wie Sand durch die Spalten der Finger. Dann: Eine Attacke aus dem Hinterhalt! Eine zweite Killermaschine! Sie versetzte ihm einen Hieb mit ihrem Säbel, welchem er knapp entkam – die Klinge schlitzte lediglich sein Hemd auf. Dennoch steckte er in der Klemme: Die Killermaschine in seinem Rücken schränkte seinen Bewegungsfreiraum immens ein, und die andere positionierte sich gerade wieder vor ihn. Die Sonne brach durch die Wolken, polierte die saphirblauen Rüstungen dieser gesichtslosen Ungetüme mit ihrem weißen Glanz. Doch da war noch etwas… Auf den Körper des vorderen Monsters reflektierte der des hinteren das, was sich auf diesem spiegelte, deutlich erkennbar für ihn, der beim Anblick der dunkelgrauen Zeichen und Symbole erstarrte. „Diese Sicherheit habe ich nicht, aber wohl jene, dass Ihr das, wovon ich spreche, nicht eher finden werdet, als dass ich Euch offenbare, wo es ist.“ Sein Rücken. Das Kreuz der Templer. „Ich möchte mich für die ungehobelte Art meiner Männer entschuldigen. Wir hatten kürzlich Ärger mit Fremden. Es ist unsere Pflicht, die Abtei zu bewachen. Wir können es nicht zulassen, dass unbekannte Reisende nach Belieben herumlaufen.“ „Wenn du nicht geboren worden wärst, wäre uns allen eine Menge Ärger erspart geblieben. Du bist nichts weiter als ein kleiner Gauner mit einem hübschen Gesicht.“ „Dhoulmagus ist der wahre Schuldige. Wir müssen diesen diabolischen Hofnarren im Namen der Göttin zur Strecke bringen! Aber ich kann jetzt hier nicht weg. Als neuer Abt habe ich viel zu tun. Ich muss hier bleiben, um meine Leute zu führen.“ „Du bist vielleicht ein Hauptmann der Templer, doch jemand von solch niederer Herkunft hat hier nichts verloren!“ „Ich lasse Euch aus einem sehr guten Grund als Meister der Wache arbeiten. Für Francisco. Als Ihr von Euren Eltern ausgesetzt worden seid, hat er Euch in der Abtei aufgezogen, so als ob Ihr sein eigener Sohn wärt. Das Mindeste, was ich für ihn tun kann, ist ein Auge auf Euch zu haben. Um Euch davon abzuhalten, noch weiter vom Weg abzukommen.“ „Ein König ist nur jemand, der in die richtige Familie hineingeboren wurde! Sollte ihn das berechtigen, zu tun was immer er will?“ „Das ist der Abschluss meiner Wiedererweckung! Meiner Wiedererweckung in Fleisch und Blut!“ „Als du dann wusstest, wer ich war, war alles anders… Doch ich habe diesen Augenblick der Güte nie vergessen.“ Die Killermaschinen stürmten auf ihn zu. In letzter Gelegenheit sprang er zur Seite, sodass sie sich selbst die Schwerter in den metallenen Rumpf bohrten. Kaum gelandet, versengte er sie mit der wiedererwachenden Macht eines enormen Feuerballs. Weitere Monster hielt er sich mittels der Heiligen Schutzaura vom Leib, während er die Schneewüste in höchster Geschwindigkeit hinter sich brachte. Maria erwartete ihn mit aufhellendem Antlitz, doch er langte kurzerhand nach dem Kragen ihrer Guimpe und stieß sie gegen die Wand. „Ihr habt es gewusst! Ihr müsst es gesehen haben! Ihr habt es die ganze Zeit über gewusst!“ Bluppi schmiss sich mit ganzem Einsatz gegen ihn, prallte jedoch unbeachtet ab. „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!“, wehrte sich Maria außer Atem. Das zerrissene Hemd flog zu Boden. „Das Brandmal“, versetzte er und fixierte ihre zitternden Pupillen. „Die lebenslängliche Stigmatisierung eines Kommandanten der Templer zur Maella-Abtei. Ein Schwur, eingebrannt in die Haut, um seinen Glauben selbst unter der schrecklichsten Folter nicht verleugnen zu können. Warum?“ „Ich habe Euch schützen wollen“, gab sie endlich nach. „Auch Ihr habt ein menschliches Leben verdient, trotz allem, was in Savella und Neos vorgefallen ist.“ „Es obliegt nicht Euch, über jemandes Los zu urteilen! Wenn jemand erfahren hätte, dass Ihr mich beherbergt, wäre nicht nur ich, sondern auch Ihr vor ein unfaires Gericht gestellt worden!“ „Was hätte ich tun sollen? Euch dort liegen und sterben lassen?“ „Es wäre besser für uns alle gewesen“, flüsterte er, bevor er abermals laut wurde: „Mein Schwert! Wo mein Schwert ist, verlange ich zu wissen!“ Stöhnen war zu vernehmen und das Rauschen von Bettzeug. Jo erwachte aus seinem ungeruhsamen Schlaf. Wie bleiches Pergament spannte sich die Haut über die Front seines Schädels; auf der Stirn schienen die Adern durch. Seine sonst so agilen Augen waren nicht mehr in der Lage, die Geliebten auszumachen, und die blutleere Hand kreiste scheinbar ziellos in der Luft umher, bis Maria sie umfasste. „Nich’ streit’n“, nuschelte das Kind. „Warum könn’n wir nich’ lach’n? Wenn ich geh’, dann soll nur Fried’n um mich sein…“ „Du wirst nicht gehen! Hörst du?“, rief Maria, doch Jo war bereits wieder in Ohnmacht gesunken. „Bitte“, richtete sie sich dann an ihn. „Denkt nun an Jo. Habt Ihr das Medikament?“ Er stieß die Phiole auf den Tisch, schwang herum und zog sich im Verlassen der Kapelle ein frisches Hemd über. Am See wusch er sein Gesicht – intensiv, als könnte ihn das von der Bürde seiner Entdeckung – ja – von seinen markanten Zügen selbst befreien. Er streifte sich über die Konturen, musterte seine Spiegelung auf der klaren Wasseroberfläche. Wie viele Male hatte er bereits hier hineingeblickt? Wie hatte er sich dabei bloß nie erinnern können? Seine Faust versenkte sich ins Gras. Das Licht des neuen Morgens hatte ihm einen Weg gewiesen, den er zu gehen bereit gewesen war – jetzt hatte er sich umgedreht und stand vor einem Ende. So innig er sich danach gesehnt hatte, sich zu erinnern – jetzt wollte er nichts lieber als vergessen. Er riss sein Haupt in die Höhe. „Warum?! Warum nur?! Was forderst Du denn von mir?! Soll das etwa die groß gepriesene Gerechtigkeit sein?! Warum hast Du mich nicht einfach krepieren lassen?!“ Es war Abend, als er aufwachte und einen Entschluss getroffen hatte: Er würde den Stimmen folgen. Unverzüglich. Ganz egal, was Maria sagen würde. Hier gehörte er nicht hin – an einen Ort, der in seinem Frieden die Realität verschmähte; zwischen Menschen, die ihn belogen und seine wahre Identität verheimlicht hatten. Dennoch hielt er es für angebracht, sich von ihnen zu verabschieden. Vielleicht würde die Ordensschwester ihm dann auch sein Schwert aushändigen. Doch die Kapelle war nicht mehr da. Als ob die Göttin verfügt hätte, dass jenes Refugium der Ruhe, diese heilsame Herberge, Marias materialisiertes Mitgefühl nicht länger auf solch verschmutzter Erde stehen sollte, und sie infolgedessen in den Himmel erhoben hätte, trauerte der Platz neben dem kleinen Feld, am Rande des Weges, im Schutz der Berge auf einmal vor Leere. Bloß Teile der Wände standen noch; der Rest war zu einem rauchenden Haufen zusammengefallen wie Jos Holzsoldaten, nachdem er sie aus dem Säckchen geschüttet hatte. In ihrer Mitte starrte die Statue jener Kirchendienerin, die Maria so ähnlich sah, mit leblosen Augen über die Trümmer hinweg. Das Göttinnenhaus war zerstört. Mechanisch näherte er sich ihr. Jo war tot. Er lag dort so grau, wie ihn die Krankheit gezeichnet hatte, doch die Blutlache verriet, dass nicht sie die Mörderin war. Bluppi, der seinen Freund gewiss tapfer bis zum Schluss verteidigt hatte, war unweit und doch zu fern seines Lebenslichtes beraubt worden. Er fühlte nichts. Doch. Er fühlte Leere. Er fühlte sich ausgehöhlt. So bedeutungsvoll seine Identität in den vergangenen Stunden geworden war, so belanglos war sie jetzt. Nicht sein Name oder sein Titel begann, um die Toten zu trauern, sondern sein Herz. Endlich fand er Maria. Er sah eine Reliquie in der Sterbenden, keinen Backstein; eine fragile Vase, gefüllt mit der Seele der Göttin und von solcher Schönheit, dass er sich dafür schalt, selbige nicht früher erkannt zu haben; und wie eine Reliquie hob er sie auf, mit einer Behutsamkeit, wie er niemals zuvor – das vermochte er nun mit größter Überzeugung zu behaupten – einen Gegenstand oder eine Person berührt hatte. In seinen Armen regten sich ihre Lider. „Ihr seid es… Ich wusste, dass Ihr zurückkehren würdet… Männer mit Waffen kamen… Sie suchten nach Euch. Weil wir ihre Fragen nicht beantworteten, haben sie uns angegriffen. Jo…“ Allein das Verdrücken der Tränen wirkte ihrer geschundenen Gestalt unsagbare Schmerzen zu bereiten. Sein Puls beschleunigte sich. „Ihr hättet es ihnen sagen sollen! Ich wäre mit ihnen fertig geworden!“ „Es tut mir Leid.“ „Ich wäre mit ihnen fertig geworden…“ „Es tut mir Leid…“ „Maria…“ „Geh…“ „Was?“ „Geh schon… Los, verschwinde!“ Er warf den Kopf herum mit kindischer Sturheit. „Nein!“ „Willst du auch sterben? Willst du das? Mach endlich, dass du wegkommst!“ „Aber…!“ Nicht länger füllten sich seine Augen nur mit der Schwere des Regens. „Aber ich…!“ „DU!“ Mit ihrer letzten Lebenskraft raffte sie sich so weit auf, dass ihre Krallen ihn an den Schultern hin- und herschütteln konnten. „Immer nur DU! Ist das alles?! DU, DU, DU! Diese Lektion wenigstens scheinst du kapiert zu haben! Am besten steht man sich immer selbst an erster Stelle! Wenn du was erreichen willst, obwohl du die ganze Welt gegen dich hast, dann darfst du dir für nichts zu schade sein! Ihre Schwächen sind unsere Stärke! Und wenn du nicht passiert wärst…!“ „Mama…“ „Doch du bist seinen Ansprüchen nicht gerecht geworden! Wärst du nur halb so schön… nur halb so schön wie Angelo gewesen, dann…!“ Ein Blitz klaffte in der finsteren Wolkendecke und erhellte mit rücksichtsloser Intensität das schwarzhaarige Skelett. „Marcello!“ Marias blaue Augen retteten ihn in die Wirklichkeit. „Wo immer Eure Bestimmung liegt… passt gut auf Euch auf.“ Ihre Hand glitt aus der seinen und ließ einen Gebetsring zurück. An ihren Fingern war deutlich die Stelle zu erkennen, an welcher sie ihn getragen hatte. „Hinter der Statue der Heiligen Jungfrau liegt ein Schwert für Euch. Ich habe es Euch gekauft, obwohl ich stets gehofft habe, Ihr würdet es nicht verwenden müssen.“ „Verzeihung“, hauchte er. „Doch Kämpfen ist lediglich eine andere Art des Betens.“ „Glaubt Ihr… ich werde in die Koppel der Großen Hirtin aufgenommen?“ „Wenn dies der dankbarste und wundervollste Ort ist, den die Erde und der Himmel zu bieten haben, dann wäre es das Mindeste, was Sie Euch schuldig ist.“ „Ihr wart doch… Abt der Maella-Abtei, oder? Also habt Ihr doch die… Priesterweihe empfangen, nicht wahr? Meint Ihr… Ihr könntet mir womöglich… die Absolution erteilen?“ „Ich halte nichts davon, dass ein Mensch einem anderen die Sünden abspricht. Doch wenn Ihr das wünscht, dann werde ich mein Möglichstes versuchen.“ Er sprach die nötigen Formeln und Floskeln, aber Maria war bereits zu erschöpft, um sie zu wiederholen. „Danke für den zeitlosen Traum“, schloss er ab. „Mar…cello… Eins… noch…“ „Was ist es?“ „Ihr… Ihr habt einmal… gesagt, dass… der Mann, der… an… meine Seite ge… gehöre… den… Weg… zu mir… finden würde…“ „Ihr habt Euch nach so jemandem gesehnt.“ Ein Zucken ging durch ihren Leib. „Ich… bin eine treue… Dienerin der…“ „Eure Göttin ist keine Göttin, wenn Sie einer einsamen Seele diesen unschuldigen Wunsch verwehrt.“ Just bemerkte er, dass er ihr kontinuierlich über den Arm strich. Genauso wie jemand es bei ihm gemacht hatte. Im Traum hatte sich jemand zu ihm gesetzt und ihn scheinbar endlos lange gestreichelt. „Der… Verfass…er… des Brief…es… Meint Ihr… er ist… die…ser Mann? Od…er… könn...te… es… nicht… nicht… sein… dass…“ „Schhhhh…“ Er wusste, dass sie um etwas artikulierte, das frei auszudrücken sie nicht wagte, weil sie eine Priesterin war. Doch das Sterben entbindet von jedem Stand, jedem Eid, jeder Gesinnung, jedem Glauben, und so weilte er bei ihr, weit über das letzte Gebet hinaus; schwieg mit ihr, bis ihre Seele mit einem Schmunzeln schied und in den Himmel fuhr. Unmittelbar hinter der Skulptur auf dem Sockel ruhte ein Heiliges Silberflorett. Er hatte nur eine Bestimmung. „Habt ihr schon aufgegeben?“ Die Mörder seiner kleinen Familie drehten ihm ihre fassungslosen Visagen zu. Ehe sie ihre Kinnladen wieder unter Kontrolle hatten, fielen sie der sich bewähren wollenden Klinge des silbernen Schwertes sowie der mühelosen Vergeltung seines Herrn zum Opfer. Sobald kein Finger mehr zuckte, sackte er auf ein Knie. Das Bein hatte wieder zu schmerzen angefangen, aber jetzt war niemand mehr da, der sich liebevoll darum kümmerte. Die einzige Bestimmung, welche er für sich akzeptierte, war das Leben mit Maria, Jo und Bluppi hier in dieser winzigen Kapelle. Ihr Lachen, wenn er nach Hause kam. Ihre Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn in die Arme nahmen, sein graues Leben bunt bemalten. Ihre ignorante Überzeugung davon, dass alles und jeder gut sei. Jenes Leben starb des Todes und war wie Wasser, das auf die Erde gegossen wird und nicht wieder aufgesammelt werden kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)