DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 6: Neue Chance ---------------------- Mit einem langen Ausatmen strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht. Der Tag war anstrengend gewesen; weniger aufgrund der körperlichen Arbeit denn wegen Rydons Starrsinns. Der alte Sturkopf war von einer Idee besessen, welche jenseits der Verwirklichbarkeit schwebte, und das Tüfteln und Testen, um seine utopische Vorstellung doch noch irgendwie umzusetzen, hatte sie viel Zeit gekostet, in der sie besser die brüchige Stelle im neunten Geschoss hätten überprüfen oder den Zaun um den Innenhof erneuern sollen. Bald würde Rydon einsehen müssen, dass sein Plan niemals funktionieren würde – das hatte er ausgerechnet. Er hoffte lediglich, dass der Steinmetz dann nicht allzu enttäuscht sein würde. Plötzlich stellte sich ihm ein Monster in den Weg. Es war ein Schleim, dem das Grinsen flott verflog, als er seinen Dolch zückte. Allerdings nicht angetan, um diese Uhrzeit noch zu kämpfen, schickte er dem kleinen blauen Tropfen einen eiskalten Blick. Erstaunlicherweise ließ der sich aber nicht einfach so verjagen. Zwar zitterte er nun wie Wackelpudding, doch statt wie jeder Vernünftige die Flucht zu ergreifen, stürmte das Monster auf ihn zu! Er steckte die Waffe weg. Der Blaue Batzen schmiss sich quietschend gegen ihn und besiegte sich auch sonst eher selbst. Nach seiner vorhersehbaren Niederlage erhob er sich wieder und sah ihn respektvoll an. „Was immer du willst: Die Antwort lautet NEIN.“ Damit wollte er sich entfernen. Schon nach dem ersten Schritt vernahm er das kennzeichnende "Gluck", das ein Schleim macht, wenn er sich in Bewegung setzt – schlimmstenfalls um dir zu folgen. „Was soll das werden? Sinnst du auf Rache? Du wirkst dabei jedenfalls nicht sehr furchteinflößend, sollte das deine Intention gewesen sein. Hüpfe besser noch ein bisschen trainieren, bevor ich dich versehentlich zertrete.“ Er drehte sich wieder um und ging. Gluck, gluck. Er wirbelte herum. „Das war keine Einladung, mir zu folgen! Hegst du Todessehnsüchte, du armseliger kleiner Schluck Leichtsinn?! Lastet die Bürde deiner Niederlage so schwer auf dir, dass du mich nun darum bittest, dir den Gnadenstoß zu versetzen?! Hör jetzt genau zu, falls du so etwas wie Ohren hast: Wenn du noch einen Satz nach mir machst, spieße ich dich auf einen Zweig und röste dich über einem Lagerfeuer, also schleim dich! Und zwar in die andere Richtung!“ Das geleeartige Monster grinste ihn an, als würde es nur Pflanzösisch verstehen. Er beschloss, dieser bedeutungslosen Begegnung schlichtweg keine weitere Beachtung mehr zu leisten, drehte sich um und ging. Gluck, gluck, gluck. „Du hast wohl gar nichts mehr zu verlieren, oder? In Ordnung…“ Ohne sich dieses Mal abzuwenden, schritt er rückwärts. Und tatsächlich: Interessanterweise blieb der Blaue Batzen an Ort und Stelle, trotz der wachsenden Distanz zwischen ihnen, bis sein dümmliches Grinsen nur noch ein Punkt in der Ferne war und schließlich hinter einem Baum verschwand. Nun drehte er sich um und war erleichtert, außer seinen Schritten und der Natur nichts weiter zu hören. Jo war bereits im Haus. Als er es betrat, stieß der kurze Blondschopf gerade ein kräftiges Niesen aus. „Jo!“, vernahm er Marias Stimme. „Das trägst du nun davon! Warum hast du den Lederrock nicht übergezogen?“ Am Morgen war Jo nach Orkutsk aufgebrochen, um in der nördlichsten Stadt Teeblätter für Maria zu besorgen. Die Region war das ganze Jahr über verschneit und eisig; deswegen war Maria dagegen gewesen, doch er hatte dem Jungen die Chance gegeben. „Ich verstehe, dass es schwierig für Euch ist, ihn loszulassen, nun, da er nicht mehr an Eure Nähe gebunden ist“, hatte er ihr gesagt. „Doch hemmt seine Entwicklung nicht. Er ist kein verantwortungsloser Junge; er schätzt ab, was er schaffen kann. Kinder sind oft robuster als wir Erwachsenen ihnen zutrauen.“ „Willkommen dahaheeeim!“, rief Jo mit ohrenscheinlich ziemlich verstopfter Nase. Irgendwie schien sich die Einrichtung verändert zu haben. War Maria einkaufen gewesen? Auf den zweiten Blick dann fiel ihm auf, dass es an zwei der vier Betten lag, die in der Mitte durchgebrochen waren, als hätte jemand mit einem Megatonnen-Hammer draufgeschlagen. „Wurdet ihr überfallen?“ Maria schüttelte den Kopf. Sie sah beruhigt aus – wie jedes Mal, wenn er von der Arbeit am Turm zurückkehrte. Als bestünde die Möglichkeit, dass er dies irgendwann einmal nicht mehr tun würde. Dann aber zuckte sie zusammen. „Ihr seid verletzt!“ Dem gewohnten Ritual seinen Lauf bewilligend, ließ er sich an den Tisch führen, wo sie die unbedeutende Blessur umfangreich behandelte. „Die Herren der Schöpfung! Die Göttin muss befürchtet haben, dass ihr an eurer katastrophalen Gedankenlosigkeit aussterbt, dass Sie euch in Ihrer Weisheit uns Frauen zur Seite gestellt hat! Warum habt Ihr die Wunde nicht gleich versorgt?“ Er blickte auf ihre Haube. „Na ja – dafür warte ich ja jeden Tag auf Euch. Wie schreitet der Bau voran?“ „Seitdem Rydon den Plan gefasst hat, das steigende Gewicht des Turms auf irgendeine Weise zu reduzieren, um noch höher bauen zu können, gar nicht. Der Mann strebt in den Himmel und kann nicht einsehen, dass es ab einem gewissen Punkt nicht mehr weiter geht. Er ist determiniert, irgendwann zu fallen. Ich kann mir jedenfalls kein Verfahren ersinnen, das Rydons Vorhaben ermöglichen wird.“ „Vielleicht braucht Ihr das nicht. Vielleicht braucht Ihr einfach nur abzuwarten.“ „Mir bleibt gar keine andere Wahl. Rydon ist ein ehrgeiziger Dickschädel.“ „Ja. Ich wusste, dass ihr euch gut verstehen würdet.“ Seinem brüskierten Blick begegnete sie mit einem zagen Hochschieben ihrer Mundwinkel, ehe sie sich von ihm entfernte, um gleich darauf mit einem Teller warmer Mahlzeit wieder bei ihm zu sein. „Wie war dein Ausflug, Jo?“, fragte er den Jungen. Der zuckte mit den Schultern. „Nichts Großes vorgefallen. Die paar Monster hab’ ich prima mit meinem Schwert vertreiben können. War ein Kinderspiel!“ „So, und was ist mit den Betten? Sind die ebenfalls deinen ungeheuerlichen Kampfkünsten zum Opfer gefallen?“ Er kratzte sich am Schopf. „Ähhh, nein. …Es ist zusammengekracht, als ich ein bisschen drauf rumgehüpft bin.“ „"Ein bisschen". Und das andere?“ „Das war ich nich’!“, verteidigte sich Jo mit wedelnden Händen. „Ehrlich! Das war Maria!“ Rechtzeitig mit seinem auf sie wechselnden Blick wandte die Priesterin ihr Antlitz ab. „Ihr?!“ „Gib’s zu, Schwester!“, lachte Jo, und endlich stellte sie sich ihm tapfer. „Ja. Ich war es.“ „Sie wollte mich ausschimpfen – du kennst sie ja – und hat gesagt, dass Betten eben nich’ zum drauf Rumtoben sind; dabei hat sie sich auf das andere gesetzt und – RUMMS! – ist es eingekracht!“ Marias Haupt glühte wie ein Spucknik. Eigentlich wunderte ihn die Rache der Möbel nicht. Ohne ihr ihren zweifellosen Charme absprechen zu wollen: Die ganze Einrichtung war total veraltet. Schier antik. Fast schon archaisch. Es klopfte. Nur einmal, aber ziemlich kräftig. „Ich geh’ gucken!“, teilte Jo ihnen mit und sauste um die Ecke. „So etwas… Ein Besucher? Ich vernahm gar keine Kutsche. Wir haben seit einer kleinen Ewigkeit keine Reisenden mehr begrüßen dürfen.“ Sie hörten, wie Jo stark nach Atem schnappte. „Ist das…?!“ Gespannt blickten sie in die Richtung des Eingangs. Es machte gluck, gluck, und in der nächsten Sekunde grinste ein Schleim um die Ecke. Mit einem Satz sprengte sich die personifizierte Wiedersehensfreude auf den Schoß ihres lange vermissten Herzensbruders, der sich umgehend erhob. „Schleim mich!“ Jo fing den Blauen Batzen, rollte ihn in den Händen, bis er sein Gesicht gefunden hatte, und sie beäugten sich – es war Freundschaft auf den ersten Blick. „Ist der für mich?!“ „Nimm ihn nur, nimm ihn nur… von mir weg!“ Maria schenkte ihm ein Schmunzeln, das keiner Worte bedurfte, um sich klar auszudrücken. Er musterte daraufhin eine der Bettreihen mit den kleinen Schränken. Ein Kuvert lag auf diesem. „Ein Brief?“ „Jo hat ihn mitgebracht“, ließ sie ihn durch das Jubeln und Quietschen der beiden neuen Freunde wissen. „Seht ihn Euch an, wenn Ihr mögt.“ Er war "an die Nonne inmitten der Bäume beinahe so rot wie meine glühende Leidenschaft" adressiert. „"Liebstes Herzblatt"“, las er vor. „"Ich wünschte, Ihr könntet Gedanken lesen. Dann würdet Ihr wissen, dass kein Tag vergeht, an dem ich nicht mit hitzigem Herzen an Euch denke. Eurer Absage zum Trotz ist mir klar geworden, dass Ihr bloß Angst habt, aufrichtig zu Euren Gefühlen zu stehen. Aber das ist in Ordnung. Ja. Denn die Göttin selbst begrüßt unsere beginnende Beziehung, das spüre ich aus dem Innersten meines eng werdenden Rippenkäfigs, und deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir nur das Richtige tun können, indem wir unsere ehrlichen Empfindungen füreinander endlich zulassen. Ich jedenfalls werde nicht aufhören, Euch zu schreiben, Euch zu lieben und Eure mich vor dem Ersticken rettende Antwort zu erwarten. Verlasst Euch darauf".“ Der Schleim hopste auf seine Schulter, grinste in den Brief und hatte die Sachlage sogleich begriffen: „Schleim mich! Schleim mich!“ Er nickte. „In der Tat. Da wird einem ja angst und bange.“ „Es ist nicht der erste. Als ich damals in Orkutsk war, um mit dem Priester dort Rat zu halten, ist dieser junge Mann schon einmal auf mich zugekommen und hat mir einen Brief ausgehändigt. Ich bat den Priester, ihn mir vorzulesen, und der meinte anschließend, das sei ja wahrlich ein Drohbrief, was ich da erhalten habe. Danach bin ich zu dem jungen Mann gegangen, um mich rasch zu entschuldigen für das, womit ich ihn so sehr erzürnt haben mochte. Er antwortete, es sei in Ordnung, und ich dachte, damit wäre die Angelegenheit beendet.“ „Ihr habt den Priester gebeten?“ „Ich kann nicht lesen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, wird Mädchen keinerlei Zugang zur Bildung gewährt, selbst im Kloster nicht. Mittels der wenigen Bücher, die ich besitze, habe ich versucht, es zu üben, doch sich selbst etwas derlei Umfangreiches beizubringen gestaltet sich als recht kompliziert…“ Sie seufzte. „Es ist mir unangenehm zu wissen, dass dort jemand existiert, der mich zu mögen scheint, und ich ihm gar nicht richtig und ehrlich geantwortet habe.“ „Sorgt Euch darum nicht. Wenn dies tatsächlich der Mann ist, der an Eure Seite gehört, dann wird er seinen Weg zu Euch finden.“ „Warum klingt Eure Stimme so sicher, wenn sie das sagt? Gewinnt sie diese Sicherheit vielleicht aus einer Erfahrung, an die sie sich eher erinnert als Ihr?“ Sein Blick schweifte zu einem der Fenster. Etwas blindes Licht drang hindurch, jedoch weder irgendeine Farbe noch eine Form der dahinterliegenden, weiten Landschaft. Selbst wenn man versuchen würde, das Glas zu putzen, würde man nichts dadurch erkennen können. Auch zu öffnen waren sie nicht. Maria ließ stattdessen oft die Türen auf, damit die Räume atmen konnten. „Hass und Liebe. Diese zwei Empfindungen vermögen es, Menschen für immer und unter jeglichen Umständen zu verbinden. Jene, die sich wahrhaftig hassen, und jene, die sich wahrhaftig lieben, vergessen einander nie. Demnach kann ich Eure Vermutung auch mit Gewissheit verneinen, denn ich erinnere mich an niemanden. Es bedarf auch keiner Erinnerung, um diese Eigenschaft des Hasses und der Liebe zu erkennen – es liegt einfach in deren Natur.“ Maria nickte. „Ich verstehe.“ Sie räumte sein Geschirr ab. Jos Lachen drang von außen hinein, obwohl die Türen geschlossen waren. Es war eigenartig, allein sein Gelächter wahrzunehmen, ohne den Körper dazu vor sich zu haben. Es war wie einen Geist zu hören. Oder eine Erinnerung. Aber es war unverkennbar Jo, der da lachte. „Es stimmt mich traurig“, murmelte Maria an ihrer Küchentheke unversehens, „aus Eurem Mund zu hören, dass Ihr glaubt, es habe keine wirkliche Liebe in Eurem Leben gegeben.“ Die Nacht lehnte sich über das Land, und die kahlen Berge im Norden hauchten einen eisigen Atem durch das Laub der arcadischen Bäume. Jo kniete an seinem Bett. „Liebe Göttin, schau mich an, dass ich heut’ ruhig schlafen kann. Bitte gib gut auf mich acht in der langen, dunklen Nacht.“ „Etwas liegt in der Luft“, prophezeite Maria, als sie nach dem Abschluss ihres Nachtgebets zu ihm trat, der er es in der Zeit vorgezogen hatte, sein Messer in Stand zu halten. „Schütze alle, die ich mag, bis sich zeigt der neue Tag. Mit dem ersten Sonnenschein will ich brav und dankbar sein! Haahaaatschi! Uäh… Gute Nacht, Bluppi!“ Der Schleim schlürfte zu ihm unter die Decke. Draußen lamentierte der Wind. Sie stellte ihm eine Tasse mit Schwarzem Tee auf den Tisch. „Heute wird es wohl ein wenig enger werden“, fuhr sie dann mit Blick auf das einzig noch zur Verfügung stehende Schlaflager fort. „Wir können das Bettzeug vom anderen nehmen, dann brauchen wir uns wenigstens nicht um die Decke zu streiten.“ „Ich kann woanders schlafen. Morgen werde ich die Betten gleich reparieren.“ „Nicht doch. Das geht in Ordnung. Wir sind doch schließlich zwei erwachsene Menschen, nicht wahr?“ Sie ließ sich bei ihm nieder. „Durch seine Freundschaft mit dem kleinen Schleim wird Jo lernen, Monster nicht länger als bösartige Wesen anzusehen. Das war eine laudable Idee von Euch.“ Er sah auf. „Wer ließ Euch in dem Irrglauben, Monster seien keine bösartigen Kreaturen?“ „Es gibt kein Geschöpf, das verurteilt ist, von übler Gesinnung zu sein.“ „Was viele nicht daran hindert, es dennoch zu werden.“ „Habt Ihr Bedenken, ein böser Mensch gewesen zu sein?“ „Es liegt allein im Ermessen jener, die mich umgeben haben, zu entscheiden, ob ich böse gewesen bin. Bosheit – lässt man die der Narren und Verrückten außen vor – ist relativ. Ein revolutionärer Akt mag die Handlung eines Helden sein oder das Reat eines Unmenschen. Es kommt darauf an, wo man steht – in der Gesellschaft und auf welcher Seite.“ „Ich denke nicht, dass die Ansichten klar denkender Menschen so weit auseinandergehen können.“ „Eure Weltkenntnis ist, mit Verlaub, auch ziemlich beschränkt, wenn Ihr nicht einmal des Lesens kundig seid.“ „Menschenkenntnis eignet man sich nicht durch leblose Schriften an – man muss sie erfahren.“ „Und das habt Ihr hier oben, isoliert von den Zentren des Weltgeschehens?“ „Über die Ereignisse in Neos und Savella habe ich mich stets auf dem Laufenden gehalten.“ „Fakten zerfließen im Speichel der mündlichen Überlieferung.“ „Diesen Mündern konnte ich trauen.“ „Man kann niemandem trauen, der nicht dasselbe Los teilt. Oder dasselbe Leben.“ „Also überhaupt niemandem, möchtet Ihr wohl ausdrücken?“ „Es spricht zumindest nichts dagegen.“ Er stand auf, um seine Abendwäsche zu erledigen. „Ihr seid verbittert.“ „Ich bin lediglich erfahren.“ „Eure "Erfahrung" begrenzt sich bislang auf die wenigen Wochen, in denen Ihr wieder unter den Bewegten weilt.“ Sie beobachtete ihn, während er sich umzog. „Und aus diesem Grund seid Ihr noch immer entschlossen zu gehen, nicht wahr? Weil Ihr niemandem vertraut. Warum könnt Ihr Euer Schicksal nicht endlich akzeptieren?“ „Weil ich nicht willig bin, Euren Wunsch als mein Schicksal zu betrachten“, versetzte er. Maria erkannte ihren Fauxpas. „Es tut mir Leid“, hauchte sie, sich innerlich selbst maßregelnd. Er kehrte sich ab, damit sie ihre Guimpe abstreifen und gegen ein schlichtes Kopftuch tauschen konnte. Da er sich wieder zu ihr drehte, machte er eine einzige Locke aus, welche sich unter dem Stoff hervorwand. Sie war blond. „Doch wie das Licht des Tages von der Schwärze der Nacht kompensiert wird, sodass man weder erblindet noch zu sehen verlernt; wie der Mensch arbeiten als auch ruhen muss und der Himmel sich die Welt mit dem Erdreich teilt – so fügt die Vorsehung jene Menschen zusammen, die ihrem Korrelat das zu geben vermögen, was diesem fehlt, und von ihm empfangen, was sie nicht haben. Die Odyssee eines Individuums mag dauern und beschwerlich sein, jedoch irgendwann wird jeder, der nicht müde wird zu suchen, jenen Ort finden, an welchem er sein Haus errichten möchte.“ „Der Sesshafte kommt nicht voran. Ich werde niemals stehen bleiben, im Fluss der Zeit nach hinten getrieben werden und in Bedeutungslosigkeit versinken.“ Er hielt ihr die Decke auf. „Ihr wollt der Nachwelt erhalten bleiben?“ Sie legte sich zu ihm. „Ich habe sie besser machen wollen“, flüsterte er. „Erinnert Ihr Euch etwa?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist es, was die Stimmen mir gesagt haben.“ „Ihr könnt ihnen nicht trauen!“ „Das nicht, aber sie sind momentan mein einziger Anhaltspunkt.“ „Habt Ihr denn keine Angst davor, was sich Euren Augen offenbaren wird, sobald der Nebel sich klärt?“ „Vielleicht werde ich vor den Ruinen meiner Vergangenheit stehen, vielleicht vor einer mich vermissenden Familie – ich weiß es nicht, doch Angst habe ich allein davor, ein farbloser, nirgends zugehöriger Umriss zu bleiben.“ In dem Augenblick schob Maria ihre Finger unter der Decke hervor und umschloss die seinen. „Jo und ich haben Euch von Anfang an in unser Leben integriert; jeder von uns hat eine Eurer Hände genommen und Euch in diese winzige Kirche gezogen, ein Teil unserer Welt werden lassen.“ „Ihr schließt mich in ihr ein“, brummte er. „Keineswegs“, widersprach sie und löste sanft ihre Hände voneinander. „Unsere Finger werden sich öffnen, wenn Ihr gehen wollt, aber unsere Arme werden ausgestreckt bleiben, damit wir Euch auffangen können, wenn Ihr fallt.“ „Wenn ich das nächste Mal falle, wird es aus einer nicht zu überlebenden Höhe sein. Ihr solltet zurücktreten, um nicht vom Schutt meines Sturzes begraben zu werden.“ „Sorgt Ihr Euch um uns?“ „Ich möchte bloß nicht für weitere Tode Unschuldiger verantwortlich sein. Aus Euch persönlich mache ich mir nichts.“ Sie schmunzelte und tastete nach dem Wort der Mutter. „Und doch ist dies weitaus mehr, als viele andere Menschen tun würden.“ Er war irritiert. Es befremdete ihn, dass jemand auf seine Launen mit einem Schmunzeln antwortete. Wieder und wieder. Was immer er tat, was immer er sprach – es prallte nicht gegen eine Mauer. Alles wurde von dieser dünnen, blauen Robe aufgesogen. Ein zerbrechlicher Leib in einem weiten Gewand. Wie damals. An einer Stelle zogen die dichten Schwaden über dem düsteren Feld auseinander; ein Schmunzeln tauchte dahinter hervor, und seine Hände ruhten entspannt in den ihren. „Ihr habt ja wieder richtig Farbe bekommen!“, nahm Maria zur Kenntnis, dabei war sie es, der noch in der trauten Dunkelheit die tomatenrote Färbung anzusehen war. Ihre Wangen waren geschwollen, als litte sie unter fürchterlichen Zahnschmerzen; ihre Augen schimmerten feucht. „Würde es Euch etwas ausmachen, mir aus dem Wort der Mutter vorzulesen?“ Er nahm ihr das Buch ab und stutzte plötzlich. „Die Stimmen sind stumm.“ * Vögel. Neugierig hob sich die Sonne über die Gipfelkette, als wäre ihr nicht bewusst, dass eine pralle Lichtkugel wie sie schlecht zu übersehen ist. Sie warf ihre goldenen Strahlen durch die zackigen Löcher der apfelroten Baumdächer. Gleich leuchtenden Elfen wippten ihre Partikel auf jedem einzelnen Blatt. Eine frische Brise rauschte über die Hügel und brachte die unzähligen Gräser zum Lachen. Jo nieste kräftig und winkte ihm überschwänglich zu; Bluppi hopste freudesprudelnd auf der Stelle. „Schleim dich! Schleim dich!“ „Übst du mit uns weiter Fauch, wenn du zurückkommst?“ Er nickte und winkte kraftlos zurück. Maria bestellte ihr kleines Feld. Stöhnend stemmte sie die Harke in den Humus und verrückte ihre Haube, um sich über die Stirn streichen zu können. Es war ein ungewöhnlicher Anblick, aber keiner, an den er sich nicht gewöhnen könnte. Gerade, da er entschied, sie nicht zu stören, entdeckte sie ihn. „Oh! Ihr wollt schon los? Wartet einen Augenblick!“ Sie hob irgendetwas vom Boden auf, raffte ihre Robe und spurtete mit tanzenden Schultern auf ihn zu. Dabei stolperte sie, verlor die Balance und landete direkt in seinen Armen. „Seid Ihr in Ordnung?“ „Sehr…“ Das kleine Kästchen hatte sie an sich gedrückt wie einen unschätzbaren Besitz. „Wie habt Ihr geschlafen?“ „Gut, danke.“ „Oh!“ Ehe er den Anlass ihres Schrecks nachvollzogen hatte, bettete sie die Box auf die Wiese, schrubbte die Hände an ihrem Gewand sauber und zupfte an seinem Kragen. „So! Nun seid Ihr perfekt! Was… habt Ihr?“ „Ihr habt Euer Parfüm gewechselt.“ Interessanterweise handelte es sich um ein ausgesprochen Verführenwollendes. Zu verführend für eine pflichtbewusste Dienerin der Göttin. Deren Augen verschwammen, bevor sie das rote, runde Antlitz in das schmale Tal zwischen ihnen richtete. Er musste lachen. „Entspannt Euch bitte! Doch Euer vorheriges Parfüm gefällt zumindest mir eigentlich recht gut. Nichts an Euch hat es nötig, verändert zu werden.“ Als sie aufblinzelte, befürchtete er, sie würde kollabieren. Ihre Gestalt glühte – das spürte er durch ihre Ärmel – und er glaubte nicht, dass es an der schweißtreibenden Arbeit lag. „Ich danke Euch und werde mich bemühen, mich daran zu erinnern, wann immer ich demnächst in die Versuchung gerate.“ „Was habt Ihr da?“, wollte er sie in ein – hoffentlich – bequemeres Thema lenken. „Ein Stück Orichalcum?“ „Fast. Es ist etwas zu essen für Euch. Ich bete, dass es genießbar ist. Ich habe mein Möglichstes versucht.“ Er nahm ihr das Kästchen mit den heiligen Hostien nicht minder respektvoll ab. „Vielen Dank.“ „Passt heute bitte ein bisschen besser auf Euch auf.“ „Kümmert Euch deswegen nicht. Schreibt mir auf, was Ihr benötigt; ich werde es heute Abend besorgen. Jene Dinge, die Ihr noch nicht schreiben könnt, zeichnet Ihr einfach.“ „Ich befürchte, meine Zeichnungen werdet Ihr nicht eher erkennen als meine Versuche, es zu schreiben.“ Er machte sich auf den Weg. „Eines noch!“ Über die Entfernung, die sie bereits voneinander trennte, blickte er zurück. „Sofort, wenn ich nach Euch rufe, seid Ihr für mich da. Das beruhigt mich. Ja, das beruhigt mich ungemein. Danke dafür, dass Ihr Euch umgedreht habt.“ Mit der Gewähr, definitiv keinen nervtötenden Schleim mehr zu treffen und diesen an sich zu kletten, wanderte es sich wesentlich angenehmer. Stattdessen machte er am Rand des Pfades eine wahrlich aparte Blume aus. Er beschloss, sie mitzunehmen, doch da er Rydons Turm erreicht hatte, war sie bereits gänzlich eingegangen. „Dieses verkohlte Unkraut da schenkt Ihr besser nicht Maria“, riet Rydon ihm mit todernster Miene. „Weiber – in dieser Sache nicht zu Scherzen aufgelegt. Glaubt mir; ich spreche aus Erfahrung. Wollt Ihr die Narben sehen?“ Dann geschah etwas Frappierendes: Der Baumeister mit dem Konterfei so furchig wie die Borke einer Schwarzkiefer, an dessen Mundwinkeln permanent schwere, unsichtbare Brocken von Granit zu hängen schienen, brach unvermittelt in eine gar kindliche Freude aus! Dabei erinnerte er sich nicht daran, diesen Mann überhaupt einmal lächeln gesehen zu haben! „Ihr werdet es nicht glauben wollen, mein Freund, aber ich habe eine ganze Nacht auf das Planen und Proben vertan und bin endlich zu einer Lösung unseres Problems gelangt!“ „Nein!“ „Doch!“ „Aber das ist unmöglich!“, stieß er aus, geradezu erzürnt darüber, sich eines Besseren belehren lassen zu müssen. „Nichts ist unmöglich für den alten Rydon! Hört zu: Wir werden das Gewicht und die Windlast der oberen Ebenen auf die gute, alte Erde verteilen, indem wir ein umfangreiches Stützwerk unten im Hof aufbauen, mit Pfeilern und Bogen! Na? Was sagt Ihr? Ist mir alles eingefallen, als meine Enkelin mich zum Armdrücken herausgefordert hat! Jaaa – da staunt Ihr, was? Da war ich glatt über meine Niederlage hinweg! Nun kommt schon! Seid ja bloß ein schlechter Verlierer! Doch wie ich sehe, habt Ihr mir was Feines mitgebracht! Ohhh…! Lecker! Selbst kredenzt?“ Rydons Hunger war zu mächtig, als dass es klug gewesen wäre, ihn davon abzuhalten, sich über den Inhalt von Marias Kustodia herzumachen wie ein Hacksaurier nach seiner gescheiterten Diät. Er entlastete sein Gewissen gegenüber Marias Möglichstem damit, indem er es als eine notwendige Spende einstufte. Dann griff er nach der Mörtelkelle, um weiterzumachen, wo er am vergangenen Abend aufgehört hatte. „Wie geht’sch den bein’n scho?“ „Maria… geht es gut. Jo ist fest entschlossen, noch dieses Jahr ein Monsterteam zusammenzuraufen, um in der Arena auf dem südöstlichen Kontinent zu kämpfen.“ Rydon schluckte. „Hat da ja Gewaltiges vor, der kleine Kerl! Ist er überhaupt schon aus den Windeln raus? Wie will er denn die Monster rekrutieren?“ „Er hat bereits eines.“ „So? Beeindruckend!“ „Einen Schleim.“ „Vergesst, was ich gesagt habe…“ Er hielt kurz inne und lehnte sich zurück, um sein Werk zu begutachten. „Er mag nicht zum Kämpfer geboren worden sein, doch man kann alles erreichen und werden, wenn man entschlossen ist und hart dafür und an sich selbst arbeitet.“ „Große Worte, Junge. Was hält Maria denn davon? ACHTUNG!“ In letzter Sekunde riss er ihn aus der Falllinie eines Meißels, der über ihnen auf dem Baugerüst gelegen hatte. Er schoss scharf an seiner Nase vorbei. „Puh! Ging ja gerade noch mal gut! Was ist los mit Euch, Junge? Seid ja gar nicht bei der Sache!“ „Wie konnte das geschehen? Erst das Sterben der Pflanze und nun dies… Ist das ein Fluch?“ Rydon stieß ein Gelächter aus. Er hatte ein eigentümlich tiefes, stakkatoartiges Lachen, aber zugleich eines, von dem man mit Bestimmtheit behaupten konnte, dass es ehrlich war. „Raucht Euch also immer noch der Kopf wegen dieses Unkrauts! Seht her!“ Der Fels von einem Mann stapfte auf das hölzerne Gerüst, das unter jedem seiner Schritte erzitterte. Trotzdem hielt es ihn aus. Niemand verstand dieses Handwerk derart grandios wie Rydon. Als er zurückkehrte, hielt er eine pikiert piepsende Maus in der Faust. „Das ist Euer "Fluch". Treibt sich schon seit gestern hier herum. Muss sich wohl verlaufen haben. Und weil sie selbst nicht weiß, was sie hier oben verloren hat, stellt sie nun lauter Dummheiten an – wie zum Beispiel das Eisen vom Gerüst zu schieben. Wenn auf Euch wirklich ein Fluch lastet, dann wundere ich mich, wie Ihr dieses prächtige Stockwerk zustande bringen konntet.“ Das Lob aus dem Mund des Alten war so ungewohnt, dass er sich schließlich von ihm überzeugen ließ. Er nickte dankend, als die Erde plötzlich zu beben begann – oder war es nur der Turm? „Wohohohooo!“ Rydon taumelte; die Maus befreite sich aus seinem Griff und sprang in Sicherheit, wo immer sie diese noch zu finden glaubte. „Was i-i-i-ist das?!“ Das zylinderförmige Gebäude wurde geschüttelt wie in der Hand eines geübten Kretschmers. Sie befanden sich auf der höchsten Etage, die fertig war bis auf die Treppe nach oben… und der Brüstung! Rydon stolperte unmittelbar auf solch eine leere Stelle in der Mauer zu, und auch er hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Der Turm kippte! „Wa-wa-wa-was, zur Hölle…?!“ Er stieß sich von seinem Platz und sprintete auf den Architekten zu. „Werft Euch zu Boden!“ „Wenn Ihr das sagt, Junge!“ Mit einer Hand bekam er seinen Fuß zu fassen; mit den übrigen drei Gliedmaßen versuchte er krampfhaft, sich an allem, was der Steinboden hergab, festzuhalten, um nicht auf den Abgrund zuzuschlittern. Das Angebot war dürftig. Zwar gelang es ihm, aber sofort fühlte er sich wie ein zum Zerreißen gespanntes Kautschukband. Er wusste nicht, wie lange er das würde erdulden können. „MEIN KOPF HÄNGT SCHON ÜBER DEM ABGRUUUUUND!“ Alles um sie herum toste. Werkzeuge wirbelten herum; Steine knisterten wie gegen eine Scheibe trommelnder Regen. Von den unteren Räumen stieg der Lärm der umfallenden Skulpturen empor. Er schmeckte Staub auf der Zunge. Doch dann registrierte er, dass das Kippen aufgehört hatte. Nach einigen Minuten war das Rascheln der Blätter, das Zwitschern der Vögel wieder zu vernehmen. Die beiden krochen zur Treppe und mühten sich sämtliche Ebenen hinab. Was sie dort entdeckten, hinterließ sie eine Weile sprachlos. „Geht es Euch gut?“, erkundigte sich Rydon endlich. „Meine Arme sind etwas taub…“ „Echt nicht unser Tag heute, mein Freund. Der Turm ist schief, aber er steht noch. Trotzdem: Ich denke, dass es hier an der Zeit ist, einen Schlussstrich zu ziehen.“ „Wie meint Ihr das?“ Mit einem wild schwappenden Meer an Emotionen in den Augen plierte Rydon zu seinem Lebenswerk hinauf. „Dies ist der Moment, da ich dem Bau meines Turms ein Ende setze. Seht Ihr das?“ Er folgte ihm an die Stelle, wo das imposante Gebäude tief in die Grundfläche gesunken war. „Hat hier nachgelassen. Komisch. Ich habe den Boden doch peinlich geprüft, bevor ich damals mit den Arbeiten anfing. Hätte eigentlich nicht passieren dürfen.“ „Ihr scheint den Vorfall ja tatsächlich auf die leichte Schulter zu nehmen…“ „Wisst Ihr? Die Schwierigkeit und der Reiz jeder Kunst liegen darin, trotz aller Rückschläge niemals zu kapitulieren. Es ist schade, dass der Turm nicht fertig wird, doch die Zeit und Energie, die wir in ihn investiert haben, waren keinesfalls umsonst. Ich werde weitermachen, und irgendwie wird in jedem Werk, das ich ab jetzt anfertige, ein Stück Turm stecken. Und was Euch angeht: Malt Euch ja nicht aus, jetzt auf der faulen Haut liegen zu können! Würde Euch nämlich gerne in die Lehre nehmen. Ist wie mit richtig gutem Rohmaterial: Eure Ausdauer und Euer Ehrgeiz sind bemerkenswert. Irgendwann in Eurem jungen Leben wird irgendjemand irgendwas daraus machen wollen, und bevor mir einer zuvorkommt, möchte ich derjenige sein. Für heute aber geht erst mal nach Hause und Euch vom Schrecken erholen.“ Ja, das sollte er tun. Die Erschütterung war gewiss bis zur Kapelle zu spüren gewesen – Maria musste krank vor Sorge sein. „Ach! Wenn Ihr geht: Nehmt den kleinen Kerl hier mit“, fiel Rydon ein, und in den sich wie eine große, altehrwürdige Blüte öffnenden Händen des Baumeisters kam die Maus zum Vorschein – putzmunter und sich verdutzt einen Überblick verschaffend. „Unten, wo sie hingehört, wird sie auch keinen Schaden verursachen.“ Nachdem er den Turm, der von Weitem so schief nun einen sehr fremden Anblick bot, hinter sich gelassen hatte, kniete er sich ins Gras, um seine winzige Begleiterin auszusetzen. Sie schien noch immer nicht realisiert zu haben, was in der vergangenen Stunde geschehen war, schnupperte nervös und verstand dann, dass sie zuhause war. „Wo du nicht hingehörst, verursachst du nur Schaden…“, sprach er vor sich hin, während die Maus in die Schatten der Bäume huschte. Die Kapelle des Herbstes lag wie immer still, aber es war keine friedliche Stille. Er beschleunigte seinen Gang, rannte schließlich, und als er die Türen aufstieß, hieß ihn ein bekannter Geruch nach Tod willkommen. Marias Schluchzen nahm ihm den Atem, und als er Jo sah, blieb ihm das Herz stehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)